Erlebnisse eines Annenschülers 1758–72
← Ungetreue Ratsherren | Erlebnisse eines Annenschülers 1758–72 (1907) von Otto Richter Erschienen in: Dresdner Geschichtsblätter Band 4 (1905 bis 1908) |
Dresdens Bedeutung in der Geschichte → |
![]() |
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext. |
mitgeteilt von Dr. Otto Richter.
Christian Heinrich Schreyer, aus dessen handschriftlicher Selbstbiographie hier einige Abschnitte mitgeteilt werden sollen, wurde am 24. Dezember 1751 in Dresden geboren. Sein Vater Heinrich Schreyer, aus Großröhrsdorf gebürtig, war Maurer und versah zugleich den Dienst eines Hoffeuerwächters; er hatte sich 1748 mit Euphrosine Eleonore Grumbach, die aus einer böhmischen Gärtnerfamilie stammte, verheiratet. Christian Heinrich, ein kleiner, schwächlicher und schüchterner Knabe, erhielt die erste Anleitung zum Lesen von seiner Mutter, während diese gleichzeitig eine Anzahl Mädchen im Nähen unterrichtete. Die Erziehung, die ihm die sehr kirchlich gesinnten Eltern angedeihen ließen, war ziemlich streng, die Behandlung von seiten der Mutter, der das dürftige Kind ein Dorn im Auge war, vielfach hart und ungerecht, so daß er nicht zu trauern vermochte, als sie 1757 starb. Der Vater hatte sich dann eine frühere Nähschülerin der Verstorbenen, die Tochter eines Nagelschmieds Wustmann, zur zweiten Frau ausersehen, aber diese starb wenige Tage vor der Verlobungsfeier. Er heiratete nun 1759 die Anna Rosine Kretzschmar, die Tochter eines Maurers in Kreischa. Da sein Verdienst bei den schlechten Zeiten zur Erhaltung der Familie nicht ausreichte, betrieb die Frau die bisher von ihr geübte Strohflechterei weiter und zog zu diesen Arbeiten den Stiefsohn, den sie sonst gut behandelte, scharf heran. Sie widersetzte sich deshalb auch seinem sehnlichen Wunsche, die seit dem Tode der Mutter von ihm besuchte Ehrlichsche Armengestiftsschule mit der Annenschule zu vertauschen. Endlich erlangte er aber doch hierzu die Einwilligung der Eltern und wurde am 2. Juni 1763 als Chorschüler in die Annenschule aufgenommen. Die ärmlichen Verhältnisse der Familie verschlechterten sich noch, als der Vater 1766, nur 51 Jahre alt, starb; seitdem mußte sich der Knabe von seinem Verdienst als Chorschüler selbst erhalten, was ihm bei seinem Fleiße und seiner peinlichen Ordnungsliebe auch gelang. Er vermochte sogar noch ein kleines Sümmchen zurückzulegen, so daß er es damit wagen zu dürfen glaubte, seiner Neigung entsprechend Theologie zu studieren.
Zu Ostern 1772 bezog er die Universität Wittenberg. Die theologische Fakultät war damals dort im Zustande des Verfalls, und er fand daher in seinem Fachstudium wenig Förderung und Befriedigung, aber es war ihm wenigstens gute Gelegenheit geboten, in Seminarübungen seine von der Annenschule her noch sehr mangelhafte sprachliche Bildung zu vervollständigen. Am 15. Mai 1775 legte er vor dem Konsistorium in Dresden das Kandidatenexamen ab[1] und setzte hierauf [154] das Studium in Wittenberg bis Ostern 1776 fort[2]. Dann kehrte er nach Dresden zurück und erhielt sich hier lange Jahre notdürftig durch Erteilen von Privatunterricht, wie dies damals allgemein das Los der Kandidaten der Theologie war. Man teilte zu seiner Zeit die „informierenden“ Kandidaten in „Bärenführer“ d. h. solche mit fester Anstellung als Hofmeister, und „Renntiere“ d. h. solche, die sogenannte Laufstunden gaben. Er schlug sich zur zweiten Gattung, die unabhängiger, aber wirtschaftlich unsicherer gestellt war. Er bezog aus dem Unterrichten jährlich durchschnittlich kaum 50 Taler, wozu ungefähr noch 50 Taler aus Weihnachtsgeschenken, sowie Honorar für schriftstellerische Arbeiten, Gelegenheitsgedichte und namentlich Druckkorrekturen hinzukamen, so daß seine Einkünfte noch nicht einmal soviel betrugen, als er früher als Chorschüler verdient hatte. Nach seinen ganz genauen Aufzeichnungen hat er in den 24¾ Jahren seines Kandidatenlebens zusammen [155] 2435 Taler 23 Groschen 10 Pfennige eingenommen. Das Darben, das er als Knabe und noch mehr als Student gelernt hatte, setzte er noch ein volles Vierteljahrhundert fort; es kam einmal vor, daß er seinem Wirte ¾ Jahr lang den Hauszins schuldig bleiben mußte. Die Familien, in denen er Unterricht erteilte und mit denen er auch gesellig verkehrte, gehörten durchgängig dem kleinen Bürger- und Beamtenstande an. Einer seiner nächsten Freunde war der Armenschullehrer Nieritz, dessen Frau er unterrichtet hatte; der Sohn, der bekannte treffliche Volksschriftsteller Gustav Nieritz, erzählt in seiner Selbstbiographie, daß er sich unter dem Bilde Schreyers immer den frommen Gellert vorgestellt habe[3].
Schreyer gab sich während seiner Kandidatenjahre einer ausgebreiteten, wenn auch nicht sehr tiefgreifenden wissenschaftlichen Tätigkeit hin. Den Inspektor beim Naturalienkabinett Chr. G. Pötzsch unterstützte er bei der Bearbeitung seiner Geschichte der Elbwasserfluten durch Anfertigung von Auszügen aus Büchern und Akten. Im Druck erschienen von ihm ein Vollständiges Kommunionbuch (Halle 1779), ein Rechenbuch für Schulen und den Hausstand (Dresden 1783), das die erste Anleitung zum Kopfrechnen enthielt, eine Leseschule für Kinder (im Selbstverlag), eine Geschichte Jesu und seiner Lehre (Leipzig 1784), eine Katechetische Erklärung der jährlichen Evangelien (Dresden 1784–1785), eine Übersetzung von Joseph Buttlers Übereinstimmung der natürlichen und geoffenbarten Religion (Leipzig 1787), eine Kurze Einleitung in die christliche Glaubens- und Sittenlehre (Leipzig 1789), endlich eine Schrift Über den Wert der neuen Propheten (Pirna 1799), gerichtet gegen des Superintendenten Typke in Dobrilugk Schrift: Welche Zeit ist es im Reiche Gottes? Zahlreiche von ihm entworfene Schriften über theologische, pädagogische und historische Gegenstände gelangten nicht zum Druck, darunter mehrere über den Meißner Brückenbau. Viele kleinere Aufsätze hat er für Zeitungen, besonders die „Dresdner Anzeigen“ geschrieben.
Daneben fand er reichlich Gelegenheit, sich im Predigen zu üben. Für die Landpfarrer in der Umgebung Dresdens hat er oft gepredigt, so für seinen ehemaligen Lehrer Hennig, der Pfarrer in Loschwitz und von schwacher Gesundheit war, in den Jahren 1777–1783 allein 70 mal. Ebenso bestieg er vertretungsweise in Dresden häufig die Kanzel, namentlich in der Sophien-, Annen- und Lazarethkirche. Er berechnet die von ihm als Kandidat gehaltenen Predigten auf nicht weniger als 214.
Außerordentlich umfangreich war seine Betätigung auf dem Gebiete der Musik. Ohne irgendwelchen musikalischen Unterricht, abgesehen von den Singestunden des angehenden Chorschülers, genossen zu haben und ohne ein Instrument spielen zu können, begann er schon als Annenschüler zu komponieren. Er hat nach seiner eignen Aufzeichnung gegen 100 Klavierstücke (wovon sechs Sonaten bei Hilscher gedruckt erschienen), 100 geistliche Lieder, 50 Kinderlieder, 150 vermischte Lieder, 54 geistliche Oden und Lieder von Gellert, sowie eine Anzahl Kantaten komponiert. Ferner fertigte er Klavierauszüge von Grauns Oratorium Tod Jesu, von Naumanns Oper Cora und von Mozarts Zauberflöte; für diese dichtete er zu zwölf Gesängen neue Texte, von denen man damals meinte, daß sie stellenweise Mozarts Komposition noch angemessener seien als seine Noten dem Originaltexte. Mit Orchester komponierte er 28 Chöre, Hymnen und Kantaten, schließlich auch ein ganzes Oratorium. Ein Zeitgenosse[4] urteilt, Schreyers musikalische Arbeiten seien, ohne tiefe Kunst zu verraten, fließend methodisch und gut ins Gehör fallend. Von diesen massenhaften Kompositionen, die er den ihm befreundeten Kantoren stets ohne jedes Entgelt zur Aufführung überließ, haben wohl nur wenige ihren Urheber lange überdauert. Immerhin hat er sich als Komponist einen Namen gemacht[5].
Schreyer teilte das Schicksal der meisten damaligen Predigtamtskandidaten und erlangte eine „Versorgung“ – so nannte man die ersehnte Pfarrstelle – erst in sehr vorgerücktem Alter. Fast 25 Jahre lang hatte er sich unzählige Male beworben, immer vergeblich, bis er es satt hatte, auf die Laufbahn zu verzichten beschloß, seinen Geistlichenanzug verkaufte und lebensmüde anfing, etwas Geld zu seinem Begräbnis zurückzulegen. Da wurde ihm endlich im Alter von 50 Jahren die Pfarrstelle zu Ortrand angeboten, er nahm sie auf des Oberhofpredigers D. Reinhard Zureden[6] an und hielt am [156] 13. März 1801 dort seine Antrittspredigt. Im Jahre zuvor hatte er doch auch noch den Entschluß gefaßt, sich zu verheiraten: er verlobte sich mit einer früheren Schülerin, der Tochter des Salzschreibers Markendorf, Lottchen, der er seit 24 Jahren heimlich zugetan gewesen; nun endlich gestand er ihr in einer volle 16 Seiten langen Epistel seine Liebe. Bald nach dem Amtsantritte in Ortrand, am 12. April 1801, erfolgte die Trauung in der Sophienkirche zu Dresden. Mehr als zwei Jahrzehnte noch hat der tüchtige, edelgesinnte und charaktervolle Mann in kinderloser, aber glücklicher Ehe gelebt und segensreich in seiner Gemeinde gewirkt. Auch hier hat er wieder eine Reihe theologischer und historischer Aufsätze verfaßt und noch etwa 40 Kirchenmusiken komponiert; zwei musikalische Werke erschienen im Druck: Vorspiele zu Übergängen und Cadenzen in andere Tonarten für die Orgel und das Pianofort (Leipzig 1813) und Kleine Generalbaßschule (Meißen 1820), letztere wohl sein bekanntestes Werk. Am 24. Januar 1823 ist er an Altersschwäche zu Ortrand gestorben. Sein Grab ist noch erhalten. Ein Bildnis von ihm gibt es nicht.
Schreyer hat unter dem Titel „Meine Lebensgeschichte“ eine 538 Quartseiten umfassende Selbstbiographie[7] hinterlassen, die in fünf Zeiträume (Kindes-, Chor-, Universitäts-, Kandidaten- und Amtsjahre) eingeteilt ist. Er hatte sich schon als Schüler Aufzeichnungen über die Erlebnisse seiner Knabenjahre gemacht und seit seiner Universitätszeit Tagebücher geführt, mit Hilfe deren er dann gegen Ende seiner Kandidatenjahre, als er den Abschluß seines entbehrungsreichen Lebens herbeisehnte, auf Bitten teilnehmender Freunde die Lebensgeschichte ausarbeitete. Bei der pedantischen Genauigkeit seiner Mitteilungen auch über die geringfügigsten Vorkommnisse seines nicht sehr ereignisvollen Lebens und bei der etwas ermüdenden Trockenheit des Tones, in dem er schreibt, würde die Selbstbiographie im ganzen für weitere Kreise schwerlich genießbar sein. Aber die ersten beiden Abschnitte, in denen er seine Erlebnisse als Kind während des Siebenjährigen Krieges[8] und dann als Chorschüler auf der Annenschule schildert, bieten doch soviel Merkwürdiges zur Dresdner Lokal- und Sittengeschichte, ganz besonders auch zur Geschichte des Schulwesens, daß sie verdienen, im wesentlichen hier wiedergegeben zu werden.
Bisher hatten meine Eltern immer in einem mäßigen Wohlstande sich befunden und zufrieden gelebt, da es beiden nicht an Gelegenheit gefehlt hatte, etwas zu verdienen, und sie für ihre Kinder wenig Aufwand bedurften. Aber mit dem Jahre 1757 traten ungünstige Verhängnisse ein, seitdem mein guter Vater sich nie wieder erholen konnte. Der Siebenjährige Krieg war ausgebrochen, der schon an sich manche Besorgnisse erregte und vermehrte, manchen Erwerb verkümmerte und manches Erworbene raubte. Auch meine Eltern spürten bereits in diesem Jahre manche Folgen von seinem nachteiligen Einflusse. . . . . .
Ich sah es ja täglich mit an, wie mühselig mein armer Vater, bei verminderter Einnahme und vermehrten Aus- und Abgaben, seine kleine Haushaltung einschränken mußte. Fast Tag für Tag war die einfachste, magerste Kost das immer wiederkehrende Einerlei unsers Tisches, von dem wir jedoch zwar mehrmals nur knapp gesättigt, aber doch nie ganz hungerig zu Bette gegangen sind. Hiervon ein unter mehrern mir besonders erinnerlich gebliebenes Beispiel: Mein Vater hatte, da im Winter bei der Profession nichts zu verdienen war, sich beim Feldkommissariat in Neustadt mit anstellen lassen, wo er zu Ende des Februar auf 2½ Monate rückständigen Lohn zu fordern hatte. Als er [157] am Morgen des Aschermittwoch ausgehen wollte, sah er den kleinen Rest des Brots mit bedenklicher Miene an und sagte: „Mein Sohn, dieses Bißchen äßest Du wohl zum Frühstücke allein auf? Aber Du mußt es einteilen, um auch auf den Mittag davon zu haben. Ich will Dir gern nichts davon nehmen, sondern sehen, wo ich etwas her bekomme. Erhalte ich heut wieder kein Geld, so müssen wir einmal versuchen, hungrig zu Bette zu gehen.“ Der Abend kam und der Vater brachte weder Geld noch Brot mit. Gleichwohl sollten wir auch diesmal nicht hungern. Eine Hausnachbarin hatte auf Veranlassung meines Vaters 1/8 Zentner des in Tonnen geschlagenen und auf den Schiffen etwas feucht gewordenen Kommismehls gekauft und eben an diesem Tage davon gebacken, daher sie meinem Vater etwas Brot zur Probe brachte. Gott segnete dieses Wenige, daß wir beide abends größtenteils unsern Hunger davon stilleten und noch ein zur Not hinreichender Rest für mich auf den Morgen und Mittag des folgenden Tags übrig blieb, an welchem ein Teil der Bezahlung erfolgt war und mein Vater Geld und Brot mitbrachte. . . . . . . . . .
Dresden war damals [1758], sowie ganz Sachsen, in den Händen der Preußen. Als die österreichische Armee der Festung sich näherte, um sie wieder einzunehmen, ließ der preußische Kommandant, um sie abzuhalten, einen Teil der Vorstädte, besonders die zunächst um den Stadtgraben gelegenen Häuser abbrennen. Dieses geschah so unerwartet und geheim, daß erst abends um 8 Uhr, am Martinstage (10. November), den Bewohnern derselben Andeutung geschahe, sich mit ihren Effekten zu salvieren, und zugleich in alle diese Häuser Stroh, Pulver und Pechkränze geschafft worden waren.
Meinen Vater traf gerade in dieser Nacht die Schloßwache. Unwissend, wie jedermann von allem, was geschehen sollte, ging er ruhig abends um 6 Uhr fort, nachdem er, wie gewöhnlich, mich zu Bette gehen lassen und eingeschlossen hatte. Früh 3 Uhr (am 11. November) wurde durch einen Kanonenschuß das Signal zum Anzünden gegeben, nach welchem jeder Kommandierte die Brennmaterialien in Flammen setzte und sich eilig in die Festung zurückzog, worauf alle Tore geschlossen wurden. Binnen einer Viertelstunde gingen fast alle Häuser um den Wall herum in Feuer auf. Ich erwachte zwar von dem Schusse, aber dergleichen nicht ungewohnt, schlief ich wieder ein, wurde jedoch bald darauf durch Getös und Menschenstimmen im Hofe wieder geweckt. Auch dieses irrete mich nicht, da ich dergleichen jeden Morgen gewohnt war, bemerkte aber doch bald, daß dieses Lärmen früher, stärker und ungewöhnlicher war, als sonst. Daher stund ich auf, hauchte mir eine Öffnung in die hart gefrorenen Fensterscheiben und erschrak nicht wenig, als ich zwar, wegen der Lage meiner Fenster, nicht das Feuer selbst, aber doch überall einen hochroten Himmel erblickte. Zugleich sahe ich, daß jedermann bemühet war, Hausgeräte durch den Hof in den anstoßenden Garten zu schaffen. In großer Angst kleidete ich mich eiligst an, wollte im Hofe mir Nachricht und Beistand holen, war aber unvermögend, das verrostete Schloß der Stubentüre aufzuziehen. Ebensowenig war ich imstande, einen mit Zuckerpapier verkleibten und fest eingefrorenen Fensterflügel zu öffnen.
Man denke sich selbst unter diesen Umständen die peinliche Lage und die Empfindungen eines Knaben von 6¾ Jahren, einsam, eingeschlossen, selbst von den Hausleuten vergessen und verlassen, die, in selbstsüchtiger Betäubung, unter den Räumenden meinen Vater und mich nicht vermißten oder nach uns fragten. Abwechselnd trieb mich bald der Frost mitsamt den Kleidern ins Bette, bald die Angst auf den Stuhl ans Fenster. Ich sahe nur immer nach den Dächern der umliegenden Häuser, wenn sie auch zu brennen anfangen würden, um dann ein Fenster einzustoßen und um Hilfe zu rufen. Diese, von meinem damaligen Kindesalter kaum zu erwartende Fassung und Besonnenheit hatte ich offenbar schon damals, wie in der Folge, dem guten Beispiele meines Vaters zu verdanken, dessen ruhiges, gesetztes Wesen bei bedenklichen Vorfällen ich zu bemerken zuweilen Gelegenheit gehabt hatte, je mehr das leidenschaftliche Benehmen meiner Mutter dagegen abstach.
Mit anbrechendem Morgen wurde die Röte am Himmel blässer und das Rumoren im Hofe stiller. Beruhigter erwartete ich nun sehnlich um 6 Uhr die gewöhnliche Ankunft meines Vaters, aber er kam nicht und konnte nicht kommen. Stunden zählen konnte ich nicht, denn ich hatte und hörte keine Uhr. Höher als vorher die Angst wegen des Feuers stieg itzt meine Angst um den Vater. Ich kleidete mich völlig an, wollte fort und ihn aufsuchen, da ich von Sperrung der Tore nichts wußte; wollte, da das Türschloß immer noch hartnäckig mir widerstund, die Türe aufsprengen, aber ebenfalls vergebens. Vom Weinen, Hin- und Hertreiben in der Stube und Lauschen auf jeden Laut ganz erschöpft, kroch ich endlich vor Frost ins Bette und schlief ein.
Ununterbrochen mochte ich wohl wenigstens drei gute Stunden die gestörte Ruhe nachgeholt haben, denn erst um 11 Uhr weckte mich das Aufschließen der Türe und der ersehnte Vater trat ein. Im höchsten Gefühl der Freude, uns wiederzusehen, da er soviel Angst um mich als ich um ihn ausgestanden hatte, flossen seine Tränen ebensosehr als die meinigen, und nach einer wiederholten Umarmung wurden wir erst fähig, einander zu erzählen. Späterhin war eine Schwägerin von uns [158] Wirtin dieses Hauses geworden. So oft ich in dasselbe kam, unterließ ich nie, in den Hof zu gehen und an die Fenster dieses mir unvergeßlichen Angststübchens hinanzublicken. Zweimal sogar ließ ich mich auch hineinführen, um mir die alten Erinnerungspunkte lebhafter wieder aufzufrischen.
Man hatte auf dem Schlosse ebensowenig gewußt, was der Kanonenschuß des Morgens bedeuten solle, bis man bald hernach die hellen Flammen um und um erblickte. Die beiden Mitwächter, deren Wohnung in der Stadt war, hatten selbst meinem Vater geraten, die Wache zu verlassen und nach Hause zu eilen. Von Tore zu Tore, in der Neustadt sowohl als in der Altstadt herumgelaufen, hatte er vergebens einen Ausweg gesucht, auch die sogenannten Ausfälle unter dem Zwingerwalle und hinter dem Jägerhofe gesperrt gefunden. Endlich, als er die Brücke zum zweiten Male passierte, bemerkte er einen Fischerkahn, der von der Fischerei in der Vorstadt, unterhalb des Brühlschen Gartens, sich herumgeschlichen und Personen aus der Stadt an das jenseitige Ufer hinter Neustadt übersetzte. Mein Vater eilt dahin, kann aber wegen Menge der Leute erst bei der dritten Ladung mit zum Einsteigen kommen. Aber nun hatte er erst die lange Tour um die Neustädter Schanzen zu machen, bis in das Friedrichstädter Gehege, wo er eine Schiffbrücke passierte, das halbe Gehege durchgehen mußte und erst über Friedrichstadt in die Wilsdruffer Vorstadt gelangen konnte.
Als wir am Abende dieses furchtbaren Tages uns zu Bette gelegt hatten, richtete er sich auf einmal in die Höhe, faltete die Hände und sagte: „Ach wie wohl hat es doch der liebe Gott gemacht, daß er unsere gute Wustmannin zu sich genommen; sie würde ihr bischen Verdienst nun auch eingebüßet haben, und nun hätten wir beide nichts“.
Bei diesem Feuer, durch welches damals 83[9] Häuser, den gedruckten Nachrichten zufolge, in die Asche gelegt wurden, war auch mein Vetter, des Vaters leiblicher Bruder, Gottfried Schreyer, mit abgebrannt. Da er sogleich kein Unterkommen finden konnte, wandte er sich zu uns mit seiner Frau und einer noch nicht ganz vierjährigen Tochter. Wie elend wir uns fünf Personen fast drei Wintermonate behelfen mußten, da das Stübchen klein, kalt und die Kammer etwas feucht war, ist leicht zu erachten. Meine Frau Muhme, die etwas zärtlich gewöhnt, dabei auch kränklich war, querulierte so lange, bis sie bereits nach Lichtmeß ein geraumeres und merklich gesünderes Logis gefunden hatten, wohin wir ihnen zu Ostern 1759 nachfolgten.
Im Sommer dieses Jahres erfolgte eine zweite Anzündung der Vorstädte, wobei 27[10] Häuser verwüstet wurden. Dieser traurigen Zeitläufte ungeachtet hatte mein Vater ganz in geheim auf eine zweite Verehelichung gedacht, und ich bekam noch in diesem Jahre eine Stiefmutter. Anna Rosine Kretzschmarin war ihr Name und ihr Geburtsort Kreischa, ein Rittergutsdorf, drei Stunden von Dresden, wo sie 1729 geboren war. Ihr Vater hatte ehedem, ebenfalls als Mäurer, in Dresden gearbeitet und meinen Vater von einer guten Seite kennen gelernt, betrieb aber itzt als Häusler seines Ortes die Strohhutarbeiten. Er war ein Mann von alter Sitte und Rechtschaffenheit, konnte mich gut leiden, so wie wiederum mich das besonders zu ihm hinzog, daß ich nun jemand hatte, den ich Großvater nennen konnte. Da seine zweite Frau meine künftige Pflegemutter von jeher stiefmütterlich behandelte, war sie bereits in ihrem zwölften Jahre nach Dresden gezogen, wo ein gewisser Richter die Strohhutarbeiten im großen betrieb, viele Arbeiter in und außer dem Hause hatte, unter denen meine Pflegerin bereits seit 18 Jahren bei ihm Arbeit sowohl als Wohnung fand.
Er richtete auch eigentlich selbst die kleine Hochzeit aus, bei deren Traktamenten ich fast das Unglück gehabt hätte, zu verhungern. Man hatte nämlich nicht für gut befunden, mich unter die zwölf Tischgäste mit aufzunehmen, weil ich alsdann der dreizehnte gewesen wäre, wogegen die Stiefstiefgroßmutter Einwendungen gemacht haben soll. Ich wurde sonach unmittelbar an die Küche gewiesen, wo man mir aber von selbst nichts anzubieten für nötig hielt und ich zu blöde, wohl auch zu ambitiös war, etwas zu fordern. Als ich aber merkte, daß die kleine Gasterei zu Ende ging, wagte ich doch das äußerste und klagte dem Vater mit nassen Augen meinen Hunger ganz heimlich, worauf er sogleich zur Stillung desselben Anstalt machte.
Meine Stiefmutter setzte nun nach der Hochzeit ihre Stroharbeiten nicht allein für Herrn Richter fort, sondern unterrichtete auch mich darinnen. Die Neuheit des Gegenstandes, der nur eine abwechselnde Beschäftigung darbot, ließ mich in kurzer Zeit die Behandlung des dazu geeigneten Weizenstrohes, im Ausschneiden, Flechten und Nähen begreifen und ausüben, und es weckte meinen Ehrsinn, besonders die feine Flechterei nicht allein von der Stiefmutter, sondern auch von andern Kennern gelobt zu hören. Auch des Nähens der Mannsmützen, Tyroler Hüte und Pferdeköpfe wurde ich immer geübter. Noch itzt habe ich diese Künste nicht verlernt und selbst in Ortrand genügende Proben davon abgelegt.
[159] Hat gleich diese Art jugendlicher Übungen auf meine künftigen Beschäftigungen keinen unmittelbaren Einfluß gehabt, so stiftete sie doch wenigstens den Nutzen, daß sie meiner Neigung zur stillen Tätigkeit neue Nahrung gab und zu dem leidigen Müßiggehen, Spielen und Herumtummeln der Knaben meines Alters keine Zeit übrig ließ. Selbst meine sich entwickelnde Anlage zu witzigen Einfällen, welche ich unter andern Umständen und unter anderer Gesellschaft vielleicht zu jugendlichen Leichtfertigkeiten gemißbraucht hätte, erhielt dadurch eine anständigere Richtung, daß ich im bunten Geflechte auf neue Muster raffinierte, die sich vor den gewöhnlich eingeführten auszeichneten und die bessern darunter nachgeahmt wurden.
Um dem Arbeitsherrn der Mutter in der Nähe zu bleiben, war mein Vater aus der Wilsdruffer Vorstadt in die gerade entgegenliegende Pirnaische Vorstadt, auf die Lange Gasse[11] gezogen, von wo aus ich die Armenschule viel zu weit hatte, daher ich die Gemeindeschule, welche der Richter Kohl mit besorgte, besuchen mußte, wo ich noch weniger als vorher zu profitieren Gelegenheit fand. Unser Lehrer war wegen Gemeindeangelegenheiten von Amtswegen oft genötigt, halbe und ganze Tage abwesend zu sein und überließ die Schularbeit unterdessen seiner betagten Ehefrau, welche, die Brille auf der Nase und assistiert von ein paar der größern Schulbengel, weiter nichts betreiben konnte, als den Kleinern Sprüche vorbeten, sie aufsagen oder lesen, Evangelien und Psalmen herschnattern zu lassen. Dieses fertige Herplappern war überhaupt das höchste Ziel der Lernvollkommenheit in dieser Schule. Die meisten, sobald sie aufgesagt hatten, nahmen ihr Buch unter den Arm oder schnalleten ihr Bündel in den Bücherriem und marschierten ihres Weges.
Bei dieser Plappermethode kam denn nun ich am meisten ins Gedränge, da ich, an das oben erwähnte bedachtsame Neumeistern[12] gewöhnt, nicht so schnell zu sprechen vermochte. Bald trieben mich die hinter mir stehenden mit Stößen in den Rücken, ich solle geschwind machen, bald drängten sie mich bei Seite und sagten: „Er kann's! – Geh weg, laß mich dran.“ Wenn ich nun mich zwingen wollte, auch schnell zu sprechen, stieß ich häufig mit der Zunge an, wodurch ich mir ein Stammeln angewöhnte, besonders bei einigen Konsonanten, die mir in der Eil nicht gleich fertig parieren wollten, oder wenn ich ja sie herauspreßte, ihnen mehrere Worte unverständlich nachrolleten. Dieser doppelte Fehler, zu dem ich in den folgenden Schuljahren immer neue Veranlassung fand, beschlich mich besonders bei mir zu bekannten und auswendig zu geläufigen Gebets- und liturgischen Formularen, Perikopen, Hauptstücken und dergleichen, nie hingegen bei ungeläufigen Sachen. Erst seitdem ich mich im Predigen versuchte, habe ich mir denselben, obschon anfangs mit vieler Anstrengung, völlig abgewöhnen können. Ich habe ihn an mehreren Predigern wahrgenommen, wahrscheinlich aus ähnlichen Verwahrlosungen in der Jugend.
Das Schreiben mochte wohl noch das beste sein, was ich in dieser ¾jährigen Schulzeit profitierte. Wenigstens hatten die vorgeschriebenen Zeilen meinen ganzen Beifall, daher ich mir schon deswegen alle Mühe gab, sie möglichst nachzuahmen, und vielleicht damals den ersten Grund zu einer leidlichen Hand legte. . . . . . . . .
Immer furchtbarer wurden indes die Ereignisse und Erwartungen des Jahres 1760. Ein starkes Belagerungskorps der Preußischen Armee rückte im Juli vor Dresden, um es von den Österreichischen Truppen und ihren Verbündeten wieder zu erobern. Die erschütternden Vorfälle bei dieser Belagerung haben auf meine Kindesseele zu tiefen Eindruck gemacht, als daß sie nicht noch itzt mir lebhaft vor Augen schweben sollten, um so mehr, da die Preußische Batterie zunächst bis an den Zinzendorfschen Garten reichte, welcher längst der Hintergebäude der Langen Gasse sich hindehnte wir also zwischen zwei Feuern wohnten und alle Kugeln aus der Festung und in dieselbe über unsere Häuser flogen. Von meinen damaligen Erfahrungen will ich nur das berühren, was unmittelbar auf mich besonderen Eindruck gemacht hat.
Am 6. Trinitatissonntage (13. Juli) wartete mein Vater nebst mir zum letztenmale den Vormittagsgottesdienst in der uns nahe gelegenen, niedlichen Waisenhauskirche[13] ab. Mitten unter der Predigt hörten wir die ersten Schüsse des beginnenden Bombardements. Häufig strömten die ziemlich zahlreich Anwesenden aus der Kirche. Der Prediger Gleditsch[14] ermahnete zur Ruhe, Fassung und Mut, und wer noch nicht fort war, ließ sich halten. Er schloß bald darauf, ohne Gebet, nur mit Vater unser, einem kurzen Gesange und Segen. Während dessen hatten auf Anregen der Wirtin sämtliche Hausleute in Kisten und Laden ihre besten Sachen in den Keller geschafft. Mit Beihilfe der Nachbarn hatte auch die allein und außer Fassung sich befindende Mutter, was sie in der Angst ergriffen, in eine Lade gepackt und nebst den meisten Betten ebenfalls in Verwahrung bringen lassen. Als wir nach Hause kamen, war der vollgepfropfte Keller bereits zugemauert.
[160] Das Bombardieren dauerte nun Tag und Nacht, bald stärker, bald schwächer fort, und ein Feuer nach dem andern sahen wir in der Stadt, zum Teil auch in der Vorstadt aufgehen, unter denen das uns so nahe gegenüberstehende (am 15. Juli) an drei Orten auf einmal brennende ansehnliche Waisenhaus nebst der Kirche den wehmütigsten Eindruck auf uns alle machte. Preußische Freipartie, die sich bis in die Vorstädte wagte, und kaiserliche Kroaten, welche außer der Festung lagen, trafen häufig aufeinander, beschossen sich als Feinde vor unsern Augen herum, ohne daß ein einziger davon gefallen wäre, und brachen hernach freundschaftlich in die Häuser, wo sie es vermochten, um zu plündern, ohnerachtet den letztern dieses strenge untersagt war. Grad unsern Fenstern gegenüber lag ein Kroatenkapitän, vor dessen Türe mehrmals täglich sogar von Weibern und Kindern herbeigeschleppte Verbrecher dieser Art auf stets bereit liegende Schütten Stroh geworfen wurden, tüchtige Stockprügel ad posteriora erhielten und doch wieder plünderten. Die schlimmsten unter ihnen war das Marketendergesindel und ihre Weiber. Ein Kerl von ihnen erhielt Tags vor unserm Exil sogar dreimal diese Strafe. Daß es der nämliche war, erkannten wir an seinem aus gezeichnet gellenden Geschrei: „A Jäsens Mari!“ Den gräßlichsten Lärm verführten bei solchen Exekutionen die Weiber, die auf dem Pflaster sich wälzend um Gnade schrien und wenn sie es zu arg machten, durch Buckelhiebe fortgestöbert wurden.
Dieses Kroatengesindel und ihr Anhang war die furchtsamste Rasse und unnützeste Bagage, welche die Kaiserliche Armee mit sich herumschleppte. Bei jedem Schusse aus dem Lager, der sie doch nicht treffen konnte, bückten sie sich tief. Fünf solcher Kerls kamen einst durch unser Hausgärtchen, dessen Zaun bereits die Freipartie zum Verbrennen gestohlen hatte, und sprengten die Hoftüre. Ihre Augen flogen zwar überall herum, doch wagten sie nicht, etwas anzurühren, da mehrere Hausleute sich im Hofe befanden. Der alten Wirtin, welche sie mit Schimpfreden empfing, gaben sie zu verstehen, ihnen die Haustüre zu öffnen. Indem sie es tat, ergriff der eine ihre auf der Wäschemandel liegende Sackmütze. Sie bemerkte es, zog den Kerl von der Gasse wieder ins Haus zurück, und da er sie hinwarf, ließ sie ihn kreischend nicht eher fort, als bis er sie aufgehoben und wieder an den vorigen Ort gelegt hatte. An eben diesem Tage hatte unser nächster Nachbar, ein Kaufmann, auch einen Plünderer erwischt, den er zum Hause heraus und gerade in die vorbeifließende Kaitzbach warf, ja gar mit dem Fuße in den Schlamm niederdrückte. Verschiedene seines Gelichters sahen es mit an und schlichen fort.
Den tollsten Spektakel bei solchen Mausereien machten die Weiber, die über die Beute fast allemal in Schlägerei gerieten. Das erste bei solchen Rupturen war das Abreißen der Hauben und das Zausen bei den Haaren, bis sie hinstürzten und unter Zetergeschrei auf dem Pflaster so lange sich herumwälzten, bis sie es satt hatten. Gemeiniglich kam ein dritter Spitzbube hinzu, der den Raub wegstibitzte. Ihr komisches Staunen über die verlorene Mühe zwang uns doch, bei aller Angst, ein unwillkürliches Lachen ab.
Die Bogenschüsse aus Kanonen, welche am fünften Tage häufiger wurden und niedriger gingen als die Bomben, gestatteten uns ferner keinen sicheren Aufenthalt, nicht einmal im Hofe, da die durchs Dach des drei Geschoß hohen Hauses fliegenden Kugeln unaufhörlich die Ziegel herabwarfen. Donnerstag (17. Juli) nachmittags um 4 Uhr entschlossen auch wir uns, mit der größern Hälfte von elf Familien auszuwandern, und was sich in einem gepackten Korbe und in den Händen fortbringen ließ, mitzunehmen. Es war auch die höchste Zeit, denn folgenden Vormittags lag das Haus und fast die ganze Gasse bereits im Schutte. Wir flüchteten zuerst in den Großen Garten, wo wir auf dem sehr geräumigen Boden des ansehnlichen Palais schon um und um fast alles von Flüchtlingen besetzt und kaum noch ein Plätzchen zum Niederlassen und Ausruhen fanden. Ehe wir so weit gelangen konnten, kamen zwei Preußische Offiziers, welche den ganzen Boden durchgingen und andeuteten, daß alles hier geräumt werden müsse, da alle Verwundete und Kranke aus dem Lager hierher geschafft werden sollten.
Die Beherztern entschlossen sich, es abzuwarten, wir nebst andern Furchtsamern setzten den Wanderstab weiter fort, ohne zu wissen, wohin? Ein Kamerad meines Vaters, der sich unterwegs zu uns fand und im Dorfe Strehlen eine bekannte Familie wußte, riet uns, mit ihm es zu versuchen, und es glückte uns, daß der Bauer Ludwig auch uns ganz Unbekannte nach einigem Bitten aufnahm. Wahrscheinlich mochte ihn das willfähiger machen, daß er nun durch uns einige Gehilfen mehr zu schleuniger Einbringung seiner in Gefahr stehenden Erntefrüchte bekam. Für mich war es ein ungewohntes Vergnügen, fleißig auf dem geleerten Erntewagen mit des Wirts beiden Kindern aufs Feld fahren zu können.
Als dieses auch den folgenden Sonnabend (19. Juli) in den Nachmittagsstunden geschah und wir Kinder immer die Augen auf die vielen Feuer in der Stadt gerichtet hatten, bemerkten wir auf einmal das eine Seitentürmchen der Kreuzkirche brennen. Dieses wurde zwar wieder gelöscht, aber bald darauf stund der hohe Hauptturm in vollen Flammen, und ehe wir noch auf dem Rückwege das Haus erreichten, sahen wir die lange Spitze sich etwas rückwärts neigen; heftiger schlugen nun die Luft erhaltenen Flammen um sie herum und bald darauf stürzte die ganze brennende Masse mit einem so [161] starken Krachen, als ob es im Dorfe selbst wäre, auf das Dach, schlug dieses und das Gewölbe durch und setzte die Kirche in Brand, deren vieles Holzwerk bis in die späte Nacht, wie man sich einen entzündeten Vulkan denken kann, Flammen und Dampf aus dem wie ein Berg hervorragenden, ansehnlichen Gebäude in die Höhe trieb und einen horriblen, mir unvergeßlichen Anblick gewährte. Folgenden Sonntags abends gegen 9 Uhr sahen wir auch die mir so liebe Annenkirche im Feuer stehen, welche jedoch nicht das Bombardement erreichte, sondern nebst der Schule und Pastoratwohnung angezündet worden war.
Der Rücken des Preußischen Lagers reichte bis an das Dorf, in welches Tag und Nacht Soldaten kamen, um Wasser zu holen und die Pferde zu tränken, wo es denn nun freilich sehr laut zuging. Sonst taten sie den Einwohnern wenig zu leide, außer daß sie fast alle Planken und Zäune wegholeten, auch einst das alte, mitten im Dorfe ganz frei stehende Gemeindehaus durch vorgespannete Pferde an die Ecksäulen auseinanderrissen, daß es zusammenfallen mußte. Dieses Lager kam besonders uns Exulanten sehr zu statten, da wir alles benötigte Brot und Fleisch um leidlichen Preis hier kaufen konnten.
Wir waren ohngefähr eine Woche hier, als wir eines Morgens das ganze Lager geräumt und außer einigen abgemärschelten Pferden, vielerlei Holzwerk und Stroh, keine lebendige Seele mehr fanden. Kaum hatten wir angefangen, wegen der nun aufgehobenen Belagerung ruhiger zu werden, als am dritten Tage ein Kommando preußische Soldaten alle Häuser durchsuchten, besonders die Fremden, unter denen einige sich als Spione hätten gebrauchen lassen, scharf examinierten, deren auch zwen, die ihnen verdächtig schienen, mitnahmen, allen aber andeuteten, noch diesen Tages das Dorf zu verlassen, widrigenfalls letzteres in Brand gesteckt werden sollte.
Unser freundlicher Wirt war selbst hierüber ganz außer sich und weinte, nebst den Seinigen, die bittersten Tränen beim Abschiede. Er gab uns den Rat, in das ¾ Stunden entfernte Dorf Kaitz uns zu wenden, von den sogenannten Katzenhäusern einige leer stünden, und wenn wir auch da nicht unterkämen, gerades Weges wieder zu ihm zu kommen. „Ich hoffe“ – setzte er hinzu – „es wird sich wohl legen und keine Gefahr haben.“ Mich hob er in die Höhe, küßte mich recht herzlich und gab mir ein ledernes Beutelchen, in welchem sich vier kleine, nicht kurante Silbermünzen, einige Groschen am Werte, befanden, die ich bis itzt aufgehoben habe, und sagte: „Da hast Du was zum Andenken, guter Junge, weil Du so hübsch Schule gehalten hast“. Es mochte ihm gefallen haben, daß ich alle seine Bücher durchrevidierte und wir Kinder uns abends im Lesen übten, in welchem sie noch zurück waren, ich auch ihnen verschiedene mir geläufige Sprüche vorsprach, die sie ziemlich faßten, worin sie noch ganz ungeübt schienen.
Sobald wir vorgeschlagenermaßen nach Kaitz kamen, meldeten wir uns beim Richter, welcher auch keine Umstände machte, uns von den gedachten Häusern das vorletzte einzuräumen, dessen Besitzer beide binnen fünf Tagen weggestorben und die Kinder anderswo untergebracht worden waren. Es enthielt eine Ober- und Unterstube, in jeder einen Tisch und Spanbette, einige Wandbänke und Schemel. Der Bettstellen jedoch uns zu bedienen, wagten wir nicht. Sogleich folgenden Morgens eilte mein Vater nach Dresden, um zu sehen, wie es mit der Brandstelle und den Sachen im Keller stehe. Er fand mehrere Hausleute bereits seit einigen Tagen beschäftigt, doch erst am vierten Tage seiner Anwesenheit hatte man endlich vor dem sehr vielen Schutte des hohen Hauses und der schwer zu dämpfenden Hitze soweit kommen können, den Keller zu öffnen, wo zwar alles glücklich erhalten worden, jedoch was die Wände berührt hatte, versengt und kohligt worden war. Auf einem geliehenen Schiebebocke brachte er des Abends Lade und Betten ganz unversehrt nach Kaitz.
Mittlerweile hatte meine Pflegemutter Gelegenheit gefunden, ihrem Vater Nachricht von unserm Befinden und Aufenthalte zukommen zu lassen, und sogleich des folgenden Tages, als wir unser gerettetes Eigentum wieder erlangt hatten, kam ihr leiblicher Bruder an, um uns und unsere Sachen nach Kreischa zu holen. Hier lebten wir nun freilich bequemer und ruhiger, und der gutgesinnte Großvater behandelte uns mit aller Willfährigkeit und Herzlichkeit, allein die Großmutter, die ihrer Stieftochter ohnehin nie günstig gewesen war, ließ es uns bei jeder Gelegenheit merken und selbst fühlen, wie lästig ihr diese Gäste waren, „die nur verzehrten, aber nichts verdienten“, ohnerachtet meine Mutter allen Fleiß anwandte, um keinen Bissen Brot umsonst zu genießen.
Am meisten war ich Müssiggänger ihr im Wege, um so mehr, da der Stiefgroßvater mich gut leiden konnte und ich bei ihm mich zu insinuieren (einzuschmarotzen nannte sie es) wußte. Wenn sie mir zuweilen des Nörgelns und Brömmelns zuviel machte, retirierte ich mich zum Herrn Schulmeister Meinelt, der mich ebenfalls lieb gewann, mich bedauerte, wenn ich ihm von meinen bereits erlebten Geschichten etwas vorerzählte, Karl und Jettchen staunend zuhörten und der Vater mitunter den aufgestemmten Arm auf den Tisch fallen ließ und sagte: „Nun, da seh mir eins einmal!“ Karl, ohngefähr meines Alters, spielte mir fleißig etwas vor, und um zu zeigen, was er in der Musik schon alles begriffen habe, suchte er mit rechter Anstrengung mir Begriffe von Klavier, Geige und Noten beizubringen. Entweder fehlte es mir an Fassungskraft oder ihm an Belehrungsgabe [162] – genug, ich begriff von allem, was er mir vordemonstrierte, wenig oder nichts. Besser gelang es ihm mit dem Vorsingen kleiner Arien, die ich, wenn ich sie einigemal gehört hatte, richtig nachzusingen vermochte. Herr Meinelt knipp mich, als er dazu kam, in die Backen und sagte: „Um Dich, armer Schelm, wäre es doch schade; Du könntest einmal ein recht gutes Stimmchen kriegen.“
Mein Vater war der grämischen Stiefschwiegermama am wenigsten im Wege, denn er befand sich die ganze Woche in Dresden, wo es in seiner Profession an vieler und oft gut bezahlter Arbeit damals nicht fehlte. Nur Sonntags früh besuchte er uns und ging des Abends wieder nach Dresden zurück. Zugleich gab er sich alle Mühe um eine Wohnung, die aber itzt ebenso rar als teuer geworden waren. Er mußte also, gleich unzählig andern Abgebrannten, es sich gefallen lassen, zu einem Schuhmacher namens Bucke zu ziehen, der uns seine Kammer einräumte und zugleich den Aufenthalt in der Stube mit erlaubte. Dahin nun zogen wir zu Michaelis 1760, nachdem unser Aufenthalt in Kreischa etwas über sechs Wochen gedauert hatte. . . . .
Zu Ostern 1761 bezogen wir eine eigene Wohnung in der Nähe des Schießhauses, wozu die drei Töchter der Wirtin Veranlassung gegeben hatten, da sie ehedem nacheinander Nähterschülerinnen meiner seligen Mutter gewesen waren und uns itzt viele Gefälligkeiten erwiesen. Meine Mutter gebar um Weihnachten ihr erstes Kind, ein Mädchen. Die Freude, ein Schwesterchen zu haben, war fast noch größer als bei der Geburt meines jüngeren Bruders, dauerte aber nur 17 Tage.
Eine Menge Gegenstände und Ansichten, die ich malen wollte, wie es nach der Belagerung in Dresden aussahe, wenigstens an den Orten, wo ich hingekommen bin, gaukeln mir noch wie Bilder vor den Augen herum. Die lange breite Straße[15] vom Wilsdruffer Tore bis an die abgebrannte Annenkirche enthielt eine darin angelegte zweite Gasse, die aus lauter bretternen Häusern und Buden bestund. Man nannte dieses das Österreichische Hauptquartier. Marketender, Raitzen und Zigeuner fand man hier im wilden Gewühl untereinander. Hier herrschte ein betäubendes Lärmen und Schreien, Tanzen und Geigen vom Morgen bis in die Nacht und bis wieder an den Morgen. Hier wurde gespielt und gesoffen, Unzucht aller Art getrieben, gezankt und geprügelt, duelliert und gemordet. Mehrere halb und ganz verwesete Körper fand man unter den Fußböden, als nach dem Frieden alle diese Hütten den Meistbietenden überlassen und von ihnen weggerissen wurden. Hier konnte man nicht nur fast alles, sondern auch wohlfeiler zu kaufen bekommen, da dieses Gesindel in alles pfuschte und keine Abgaben bezahlte. Ich wurde gewöhnlich hierher geschickt, um Kommisbrote zu holen. Acht Groschen Kupfermünze für eines derselben fassete meine Hand nicht, sie fülleten fast ganz die kleine Tasche meines Westchens aus.
Mein guter Vater mußte sich es freilich damals, wie tausend andere seinesgleichen, blutsauer werden lassen. Außer der Tagesarbeit, die er zuweilen wohl nach dem Feierabende noch durch ein Scharwerkchen verlängerte und deswegen erst manchmal zwei bis drei Stunden später nach Hause kam, wartete er auch die ihn treffenden Nachtwachen auf dem Schlosse ab. Das scheinbar Viele, was er zuweilen zu verdienen glaubte, war gegen die enormen Preise aller Bedürfnisse, soviel damals zu meiner Kenntnis kam, immer nur als wenig zu rechnen. Meine Pflegemutter legte nebst mir die Hände auch nicht in den Schoß, und da sie in ihre Stroharbeiten so ziemlich fertig mich eingehetzt hatte, so stocherten und flochten wir um die Wette miteinander, um auch einen Beitrag zu erwerben. Ohne Übertreibung kann ich wohl sagen, daß der Wert des auf meinen Anteil kommenden Verdienstes ziemlich dem gleichkommen mochte, was ich verzehrte. Durch diese gemeinschaftliche Tätigkeit gewannen meine Eltern doch soviel, daß sie ihr notdürftiges, ob schon spärliches Auskommen hatten, ohne Schulden blieben und auch noch einen Bissen Brot für andere erübrigten. . . . . .
In unserer itzigen Wohnung hatten wir die Ehrlichsche Armenschule noch näher als ehedem, daher ich abermals in dieselbe geschickt wurde. Der nunmehrige Lehrer der Knabenklasse, namens Hennig[16], hatte in jedem Betracht, als Prediger sowie als Schullehrer, Vorzüge vor dem vorigen und hatte manche verbessernde Einrichtungen eingeführt, welche seine Nachfolger allmählich wieder eingehen ließen. Durch sein Versetzen der Fleißigern und Folgsamern über einige Schlechtere weckte er doch bei manchen die Ambition, sich von einer bessern Seite auszuzeichnen. Er entließ uns nie in Masse aus der Schule, sondern las allezeit acht bis zehn von der Liste an der Türe ab, mit Ermahnung, ohne Lärmen zu gehen, sahe ihnen vom Saalfenster ein Weilchen nach, und so mit den Folgenden. Wir mußten uns sowohl Sonntags vor der Nachmittagspredigt in der Lazarettkirche, als Mittwochs vor der Betstunde unausbleiblich in der Schule versammeln und paarweise nebst ihm in die Kirche ziehen, wo die von der ersten und zweiten Tafel Tags darauf vorzeigen mußten, was sie von der Predigt nachgeschrieben hatten. Statt der Sonntags vor dem Altare zu rezitierenden Hauptstücke führte er Festtags gewisse Fragen ein, die wir nicht herbeten, [163] sondern mit schicklichem Ausdrucke, so gut wir vermochten, deklamieren sollten, zu welchem Ende er mehrere Proben hielt. Tags drauf wurde zensiert und die es am besten ohne Anstoß und Fehler gemacht hatten, denen gab er aus seinem Beutel eine kleine Prämie zur Aufmunterung. Aus seiner Tasche bezahlte er auch den Choralisten von der Annenschule, der vierzehntägig Mittwochs mit uns Liedersingstunde hielt, da wir in den Betstunden selbst unsre Lieder anfangen und in Ordnung erhalten mußten.
Seines sonst sanften Temperaments ungeachtet, übte er doch eine ziemlich ernste Zucht, die er auch nötig hatte bei 50 mehrernteils mindergesitteten Knaben, von denen manche die andern verderben halfen und die kriegerischen Zeitumstände Ordnung und Sittlichkeit auch nicht beförderten. Von unsern Schulfenstern ging die Aussicht auf die nahe äußere Freiberger Straße, wo wenige Tage vergingen, da nicht einige Bataillons der Kaiserlichen Besatzung auf derselben sich stelleten, exerzierten, feuerten oder Spitzruten laufen ließen. Da war es denn nicht zu verhüten, daß nicht die Köpfe der an der ersten Tafel Sitzenden sich häufig nach den Fenstern umdreheten, und bei den Übrigen alle Attention untereinander getrommelt, gepfiffen und zusammengeschossen wurde. Mitunter fielen auch Exekutionstage ein, wo Verbrecher gehangen oder erschossen werden sollten. Da war denn vollens bei uns kein Bleibens, und der gute Hennig tat da am besten, daß er geradezu den unruhigen Geistern selbst befahl, fortzugehen, wenn sie ihre Neugierde nicht bändigen könnten. Da der gleichen mehrmals vorfiel, hörte dieses Fortlaufen nach einigen Exekutionen von selbst auf. Ein einzigesmal nur, gleich anfangs, schloß ich mich auch mit an; da es aber an diesem Morgen gerade sehr kalt war und ich kleiner Knirps vor Gedränge soviel als nichts gesehen hatte, war meine unbefriedigte Neugierde für die Folge gedämpft. Als nach dem Frieden die Stadt von den Kaiserlichen geräumt war und meine Eltern an einem der nächsten Sonntage in der Gegend der Freiberger Straße herumspazierten, zählten wir noch elf Pfähle für Gehangene und vier Sandhaufen für Erschossene.
Unter solchen Umständen konnte auch die beste Schulverfassung nicht gedeihen und unser Lehrer bei all seinen guten Lehrgaben nicht das Gute stiften, dessen er fähig war. Er ließ uns nichts auswendig lernen, was er nicht auch erklärte und durchkatechisierte, und es gelang ihm, als asketischem Prediger, dieses ebenso herzlich und eindringlich als faßlich zu tun. Da ich bereits zu Hause einer religiösen Denkungsart gewohnt war, so ging dieser doppelte Eindruck des Unterrichts um so weniger bei mir verloren. Hübners biblische Historien traktierte er fleißig; mir haben sie für meine frühzeitige Bibelkenntnis vielen Nutzen geschafft. Meine vorher in Kohls Schule zwar feste aber etwas steife Hand ward itzt, bei dem flüchtigern Duktus des neuen Lehrers, geschmeidiger, klärer und selbst etwas kritzlich, dabei ich jedoch auch wieder an mehrerer Fertigkeit gewann, sowie an Übung, fremde Hände zu lesen, da wir dergleichen öfters zum Abschreiben erhielten. Dictando geschrieben wurde zwar auch, aber nicht dadurch, sondern durch mein vieles Lesen hat sich mir die orthographische Richtigkeit, ohne näheres Bewußtsein einiger Regeln, gleichsam von selbst in den Kopf getrichtert.
Unter den Hennigschen Schulstrafen war der Stab Wehe der Bakel, sowie der Stab Sanft Heruntersetzen um einige Stellen oder das Dableiben nach der Schule. Letzteres betraf einst auch mich nebst drei andern. Während unseres Arrests hielt unser Lehrer lateinische Privatstunden mit zwei Knaben, von denen der eine, Reichel, mein dritter Vornachbar an der ersten Tafel, der andere ein fremder war. Diesem Unterrichte hörte ich mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu und konnte mirs gar nicht denken, wie jemand so etwas in den Kopf bringen könne, empfand aber große Sehnsucht, es auch zu verstehen. Wäre meine Ambition nicht ins Gedränge gekommen, ich hätte gewünscht, öfterer Arrest zu haben, um zuhören zu können. Da an Privatstunden meinerseits nicht zu denken war, so sollte nun Reichel mein Lehrer werden, der sich willig dazu bezeigte, indem ihn dieses Zutrauen zu schmeicheln schien.
Um zu diesem Privatstudio Zeit zu gewinnen, kamen wir vormittags öfters ½ Stunde früher in die noch leere Schule. Da zeigte er mir nun das ganze Gerüste des lateinischen Sprachbaues in seinem Donate[17]; Paradigmata vorn und hinten; deklinierte und konjugierte mir vor, daß mir Hören und Sehen verging, ohne in all diesen Wirrwarr im geringsten mich finden zu können, so daß mir fast alle Lust und Zutrauen zu mir selbst dabei verging. Indes war dieser Versuch nicht ohne Nutzen. Die zu Ende des Donats lateinisch und deutsch beigefügten biblischen Sprüche, die ich mehrenteils bereits gelernt hatte, fand ich sehr interessant. Da ich durch die lateinischen Hymnen im damaligen Dresdner Gesangbuche mich im Lesen dieser Sprache bereits geübt und vermittelst des Metrischen dieser Gesänge auch die Betonung der Wörter größtenteils erraten hatte, so fing ich mit vielem Eifer an, gedachte lateinische Sprüche auswendigzulernen. Es war mir, als ob ich mit den deutschen auch die lateinischen Worte verstünde, besonders in solchen Stellen, wo Wort auf Wort paßt; nur blieb es mir unbegreiflich, warum dieses nicht immer so passe. Ich hatte mir auf solche [164] Weise von einer guten Partie lateinischer Vokabeln den deutschen Sinn selbst herausgefunden, als einst mein Reichel mir ein gereimtes Vokabularium mitbrachte, welches durchaus in den Ton gestimmt war: Deus Gott, panis Brot, ars Kunst, ardor Brunst, bos Rind, puer Kind usw. Das schien mir ein wichtiges Buch, welches mir mein Kamerad mit nach Hause erlauben mußte und aus dem ich mehrere Blätter auswendig lernte, bis mir der tote Vokabelkram doch zu trocken wurde.
Zu dergleichen wissenschaftlichen Privatübungen mußte ich denn freilich die ungestörten Zeitmomente oft mühsam zusammenstoppeln, da meine Stiefmutter mich itzt dringender zu ihren Stroharbeiten anhielt und über jede Viertelstunde nörgelte, die ich für mich anwenden wollte. Dadurch machte sie selbst mir diese Arbeiten immer lästiger, da deren Neuheit nun schon veraltert war und ich den Kopf itzt mit anderen Dingen voll hatte, die mich mehr interessierten. Ich wollte itzt immer lieber flechten als nähen, weil ich zu jenen, wie beim Stricken, die Augen weniger brauchte und dabei in das neben mir liegende Vokabelbuch mit sehen und lernen konnte, welches sie mir mehr als einmal wegriß und beiseite steckte. Die Folge davon war, daß wir uns beide über einander ärgerten und dadurch der erste Grund zu einer wechselseitigen Unzufriedenheit zwischen uns gelegt wurde, welche vorher seit fast drei Jahren nicht stattgehabt hatte. Durch mein Raffinieren auf neue farbige Flechtmuster hatte ich mir gleichsam eine Rute gebunden und die Mutter ebenfalls zum Raffinieren veranlaßt, wie sie, um mehr zu verdienen, besser in die Augen fallende Nähkörbchen, Tellerchen, Badewische und dergleichen fertigen könnte, die sie Jahrmarkts feil hatte; wodurch ich jedoch noch mehr zu tun bekam als gewöhnlich.
Ich sah freilich ein, daß dieses mütterliche Mitverdienen für die Umstände meiner Eltern nötig war, und schon dieses Gefühl erhielt zum Teil meine Willigkeit. Aber außerdem, daß ich dadurch in meinem Lernen aufgehalten wurde, litt auch offenbar meine Gesundheit darunter. Mein ohnehin schwacher Wuchs wurde noch mehr gehindert. Die Engbrüstigkeit von der Wiege an nahm itzt so zu, daß, wenn ich zuweilen mit andern Kameraden schnell laufen wollte, ich mich in der Luftröhre so verfing, daß ich mir unbewußt auf freiem Wege umfiel und mit dem Ersticken kämpfte. Hierzu kam im Jahre 1762 öfters Nasenbluten und selbst vier Anfälle von Blutsturz, der letzte sogar in meiner Geburtsnacht, die beinahe auch meine Todesnacht hätte werden können. . . . . . .
Es war aber des guten Vaters Wille nicht, mich sterben zu lassen, daher er sogleich folgenden Morgens einen der Hofärzte konsultierte, der mich auch zweimal besuchte und wieder zurechtbrachte, wiewohl es lange dauerte, ehe ich wieder zu völligen Kräften kam. Erst am 17. Februar [1763], als der zu Hubertusburg geschlossene Friede in Dresden ausgeblasen wurde, bin ich mit der Mutter zum ersten Male wieder öffentlich ausgegangen. Was ich bei dieser Gelegenheit in dem ungeheuren Menschengedränge bemerkt und erinnerlich behalten habe, ist, daß die Postillons vor Betrunkenheit auf den Pferden hin- und herwankten; daß ihr Blasen, von welchem ich mir etwas feierlich Schönes erwartet hatte, nur ein grelles untereinander Schmettern ausdrückte; daß auf der Schloßgasse Geld aus den Fenstern mancher Häuser ausgeworfen ward, wobei Hunderte vom Pöbel sich, etlicher geringhaltiger Silbermünzen wegen, wie das Vieh auf der Erde herumwälzten, einander wie die Hunde anfielen, die erhaschte Beute wieder aus den Händen rissen und darüber zankend und schreiend ins Handgemenge gerieten. Mir wurde Angst und wir hatten Mühe, uns wieder aus dem Gedränge zu winden. . . . . . . . .
So wenig die Masse meiner in diesen Kinderjahren erlangten Kenntnisse betrug, so wird man doch aus manchen Proben bemerkt haben, daß auch dieses Wenige zum Teil mehr durch eigenes Nachdenken, Üben und Versuchen, als durch wirklich genügenden Unterricht ich mir zu eigen gemacht und aus eigenem Triebe manche meiner Anlagen in Tätigkeit zu setzen mich bestrebt habe. Diese Bemerkung wird man in den folgenden Abschnitten meiner Geschichte häufig aufs neue zu machen Gelegenheit finden. Von dieser Art sind auch die ersten kindischen Versuche, Lieder zu dichten. Ich finde unter meinen noch vorhandenen ältern Papieren und Sammlungen aus diesem Zeitraume drei dergleichen von mir gefertigte Lieder; eins vom November 1762 auf die Kriegszeit, eins vom 19. März 1763 auf den Frieden und eins vom 9. Mai, Ermunterung zum Lobe Gottes überschrieben. Wer sie unparteiisch beurteilt, wird nicht in Abrede sein, daß im alten Dresdner Gesangbuche mehrere sich befinden, die noch nicht so erträglich geraten sind.
Auch als Prediger bin ich in diesem Zeitraume aufgetreten. Eine Menge mir geläufige Sprüche und Liederverse, welche meine Mutter in ein passendes Ganzes zusammengereihet hatte, mußte ich nicht nur zu Hause fertig üben, sondern auch anderwärts damit paradieren, wobei denn mein gewöhnliches leutescheues Wesen keineswegs mich störte, sondern ich ganz dreist mich benahm und desto mehr Herz hatte, je mehr der Zuhörer waren. Bald nach der Mutter Tode hörte jedoch diese Spielerei auf einmal auf, da ich einst durch das Plaudern zweier Anwesenden disgustiert mich glaubte und etwas irre gemacht worden war. In der Folge hielt ich es für unschicklich, mit fremden Gedanken [165] groß zu tun und wagte es, zu Anfange des Jahres 1760, zwei Aufsätze proprio ex Koppo zu fabrizieren, die künftig meine Predigten vorstellen sollten. . . . . .
Ein Chorschüler zu werden, war schon längst mein sehnlichster Wunsch gewesen, war das höchste Ziel, wonach ich damals strebte. Das Herz im Leibe lachte mir, wenn ich eines von den Dresdner Chören irgendwo singen hörte, und ich wäre ihnen gern ganze Gassen nachgelaufen, um meine Ohren nicht nur, sondern auch meine Augen an ihnen zu weiden. Der schwarze Rock und Mantel mit der damals üblichen Stutzperücke, der geistlichen Uniform so nahe verwandt, schien mir so etwas Ehrwürdiges, Religiöses zu haben, welches ganz mit meiner angewöhnten Stimmung harmonierte. Herrn Meinelts Urteil über meine Stimme und Singfähigkeit hatte ich mir gut gemerkt und ich traute mir selbst zu, daß er recht habe. An Anlage zu musikalischem Gehör und Gefühl fehlte mir es auch in der Tat nicht. Eine Menge der damals üblichen Chorarien faßte ich, bloß durch das mehrmalige Hören, melodisch richtig und taktmäßig ins Gedächtnis und bemerkte das von andern unrichtig Aufgefaßte. Manche Passagen befriedigten mein Ohr so sehr, daß ich sie zu repetieren nicht satt werden konnte. Verstund ich gleich nicht, warum mich etwas dergleichen mehr affizierte, so fühlte ich es doch, und dieses Selbstgefühl hat in der Folge sehr oft den Unterricht bei mir ersetzt.
Weniger profitierte ich durch die Chorschüler im Choralgesange, da im gewöhnlichen Kurrendesingen die Lieder zu eilfertig, mehr gedroschen als gesungen wurden und dieserwegen nicht gut ins Gehör fielen. Sogenannte Ansingen[18], wo der Choral auf kirchliche Weise behandelt wurde, hatte ich zu hören nur selten Gelegenheit. Desto richtiger faßte ich dagegen die Oberstimme der Melodien bei den öfteren Besuchen der Gottesdienste. Die häuslichen Abendbetstunden trugen auch nicht wenig hierzu bei, da mein Vater, gleich wie sein Bruder Gottfried, ein tonfester Sänger war, welches beide ihrem alten Schulmeister verdankten. Noch mehr wirkte die Liedersingstunde in der Armenschule. Der Choralist, der sie uns gab, sollte eigentlich zuvor bei der Betstunde den Vorsänger machen. Da er jedoch nur selten prompt 2 Uhr da sein konnte, erdreistete ich mich einigemal, selbst das erste Lied anzufangen, welches vorher nur selten einer von uns gewagt hatte. Da mein Kantorvikariat ohne Fehler ablief, kam unser Choralist nachher gewöhnlich nur erst gegen das Ende der Betstunde und bald versuchten mehrere, es mir nachzutun. Sonach dünkte ich mich hinlänglich fähig, einen tüchtigen Chorsänger vorzustellen. Was ich sonst noch dazu bedurfte, was dabei sonst noch zu lernen, zu wissen, zu beobachten, ja selbst auch zu dulden nötig war, davon hatte ich freilich damals weder Begriff noch Ahnung.
Mein Vater hatte anfangs gegen meine Neigung, Chorschüler zu werden, manche Bedenklichkeiten, und die Stiefmutter nicht weniger; beide jedoch aus verschiedenen Ansichten. Sie ihrerseits besorgte, ihren fleißigen Mitarbeiter dadurch zu verlieren, der ich doch nicht immer bleiben konnte, er dagegen hatte wiederum andere Gründe. Das gewöhnliche Resultat derselben, wenn ich meine Wünsche gegen ihn äußerte, fiel immer dahin aus: „Das können wir nicht ausführen; das kostet uns mehr, als Du dabei verdienen kannst; Du bist auch zu schwach dazu.“ Das letztere schien ihm nicht nur selbst sehr wahrscheinlich, besonders wegen meiner Engbrüstigkeit und mehrmaligen Keuchhustens, sondern es bestärkten ihn auch einige Wachkameraden, welche geäußert hatten: den Strapazen eines Chorschülers mich auszusetzen, sei nicht viel geringer, als ob er mich mit eigener Hand totschlage. Dieser Trumpf stimmte ihn noch mehr gegen meine Wünsche, so daß er zuletzt kurz vor Weihnachten mit auffahrender Ungeduld mir verbot, kein Wort mehr davon zu erwähnen.
Hierüber grämte ich mich insgeheim nicht wenig, und da die Mutter über den kurzen Text des Vaters mehrmals nörgelnde Noten machte, so wurde mein empfindliches Temperament um so mehr zur verbissenen Ärgernis gereizt. Diese mochte wahrscheinlich auch meine Vollblütigkeit in Wallung gesetzt und den Ausbruch des letzten starken Blutsturzes veranlaßt haben. Hierzu kam besonders dies, daß, als mein Vater, wie er gewöhnlich tat, in meiner Geburtsstunde mich bei der Hand nahm, mir einige gute Ermahnungen gab und seinen Segenswunsch mit der Äußerung begleitete: „Sei ferner hübsch fromm und fleißig! Der liebe Gott wird schon auch für Dein künftiges Fortkommen sorgen, wenn es gleich im Chore nicht sein kann,“ betrübte ich mich darüber im Stillen nicht wenig, und alles sonstige Vergnügen über meinen Geburtstagsabend schien mir dadurch verbittert. Hieraus läßt sich nun von selbst meine in der bald hernach erfolgten Krankheit geäußerte Lust, zu sterben, erklären. . . . .
Doch diese Todesgedanken gab ich bald von selbst auf. Denn als der mich besuchende Hofmedikus sein Urteil über meine Krankheit geäußert und einiges verschrieben hatte, fiel es meinem Vater glücklicherweise ein, gleichsam als ob er wegen seiner Weigerung sich selbst Luft machen wollte, anzufangen: Ob der Herr Doktor nicht auch die Befriedigung meiner Neigung, ein Chorschüler zu werden, für bedenklich und meiner [166] schwächlichen Gesundheit für nachteilig erachte? Hochaufhorchend lüftete ich mein Ohr, denn hier schien es mir auf Tod und Leben zu gelten. Nach einem kurzen Besinnen war der Hauptinhalt des ärztlichen Resultats: „Nein, keineswegs! Das hätte Er ihm immer erlauben können; ich merke, der Bursche brütet zu viel; die Motion im Chore würde ihm gesünder sein.“ – O, der gute Hofmedikus, mein Lebensretter! Fiel sein Urteil gegenseitig aus: wer weiß, ob ich nicht weniger am Blutsturze und der Krankheit, als an Grillen und kindischem Chagrin gestorben wäre. Diese Trostworte trugen zu meiner baldigern Besserung vielleicht noch mehr bei als alles aus der lateinischen Küche mir Verschriebene, denn es lag mir nun selbst viel daran, gesund zu werden und zu leben, als ich vorher mir in den Kopf gesetzt hatte, zu sterben. . . . . . . .
Da nach dem ersten erlaubten Ausgange meine Gesundheit völlig wiederhergestellt war, kamen auch die Chorangelegenheiten wieder in Vortrag, welche besonders unsere Wirtstöchter, welche auch dafür portiert waren, durch ihren Stiefvater zu vermitteln suchten. Dieser, der auf dem Chore der Interims-Annenkirche einen eigenen Stuhl besaß, hatte mit dem Kantor meinetwegen gesprochen und von ihm zur Antwort erhalten, daß zwar itzt keine Stelle offen sei, ich aber bis dahin die Schule mit besuchen und zugleich die Singestunden abwarten solle. Mein kindischer Eigendünkel, daß ich bereits ein geübter Sänger sei, war vermutlich an der Grille schuld, daß mir das Abwarten der Singestunden und das Notenlernen so widerlich auffiel und mich das Glück, ein Chorschüler zu werden, in einem minder reizenden Lichte erblicken ließ. Es war, als wenn mir der Mut gelähmt wäre, ferner etwas davon zu erwähnen, sowie mein Vater aus ökonomischen Ursachen auch nicht geneigt dazu schien.
Vielleicht wäre mein Lieblingsplan in aller Stille von uns aufgegeben worden, hätte nicht unser Vizewirt uns wieder in Trab gesetzt, indem er uns benachrichtigte, daß der Herr Kantor selbst nach mir gefragt und seine Verwunderung bezeugt habe, daß ich ihm noch nicht präsentiert worden wäre. Zugleich trieb er uns an, dieses so bald als möglich zu tun. Dies geschah denn auch an dem noch in dieser Woche einfallenden Marienfeste, so sauer uns auch aus einer uns eigenen Blödigkeit dieser Gang ankam. Er empfing uns jedoch sehr freundlich, wodurch ich nicht allein frischen Mut schöpfte, sondern auch Zutrauen zu ihm gewann. Dies bewirkte, daß ich ein paar Choräle, die er zur Probe mich singen ließ und auf dem Klaviere begleitete, mit einer furchtlosen Dreistigkeit anstimmte, die ihm selbst gefiel und er seine Verwunderung bezeigte, daß ich bereits eine (wie er es nannte) so eingesungene und tonfeste Stimme hätte, wie fast keiner seiner itzigen Diskantisten. Wieviel er eigentlich damit sagen wollte, verstund ich itzt noch nicht ganz, aber leugnen kann ichs nicht, daß ich dabei insgeheim mir selbst gefiel und gern noch mehr gesungen hätte. Ja, noch ehrenvoller und schmeichelnder schien mir der stille Beifall der ältesten seiner drei noch jüngeren Mädchen zu sein, welche sich dicht neben mich drängte und freundlich bald den Vater, bald mich ansahe.
Eine Schulprobe ließ mich der Herr Kantor nicht tun; es war ihm genug zu hören, daß der Herr Katechet Hennig, den auch er schätzte, mein bisheriger Lehrer gewesen sei. Wir erhielten zuletzt den Bescheid, daß ich nach dem Osterfeste zu jeder Zeit in seiner Schule antreten könne, vorher aber sei es notwendig, daß, da die Rezeption der Chorschüler eigentlich Sache des Rektors sei, wir so bald als möglich bei demselben uns produzieren, aber von dem heutigen Besuche bei ihm durchaus uns nichts merken lassen sollten. Erleichterten Herzens schieden wir von ihm und getrosther ward sogleich der nächstfolgende Palmsonntag dazu bestimmt, auch bei dem Herrn Rektor Goldschad[19] uns zu präsentieren. Mein Vater, der sonst schwer an eine Veränderung ging, befolgte doch auch hier seine Maxime: „Was du einmal angefangen hast, da ruhe nicht ehe, als bis du es zu Ende gebracht hast.“
Schon der erste Anblick dieses, ernstern Blickes und mit passendem Anstande eines Rektors sich uns darstellenden Mannes stimmte merklich meinen Mut zurück. Die Gegenwart seiner uns neugierig angaffenden und jedes Wort auffassenden fünf Kinder machten mich noch schüchterner und beklommener, zumal da die Blicke der beiden älteren Knaben mir es zu sagen schienen, daß sie wohl etwas mehr gelernt haben möchten als ich. Er fing an, mich zu tentieren; aber was er gefragt, was und wie ich ihm geantwortet, bin ich mir vielleicht damals selbst kaum bewußt gewesen. Da er als vormaliger Choralist auf eben dieser Schule[20] gleichfalls musikalisch war, verlangte er auch eine Probe im Singen von mir und gab mir den Vers: „O Lamm Gottes unschuldig etc.“ auf. Wie mein Gesang, bei dem ich vor Ängstlichkeit und naher Ofenhitze in einem Schwitzbade dastund, ausgefallen sein mag, kann ich ebenfalls nicht sagen; wenigstens äußerte er weder Gutes noch Böses darüber, welches mich doch ingeheim kränkte. Wir eilten, uns zu verabschieden, und er entließ uns mit dem Bescheide, daß ich erst beim Kantor mich gehörig zustutzen lassen müsse, damit ich mit der Zeit im Chore gebraucht werden könne.
Auf dem Heimwege tat ich ganz kleinlaut; mein Vater tröstete mich aber, daß ich ja vorerst zum Kantor [167] käme, wo alles besser gehen würde, als ich mir einbildete, zumal da ich ihm und seiner Familie gefallen hätte. Dies war mir auch die beste Beruhigung für den, meines Bedünkens mir verpfuschten Palmsonntag. Ich gab mir deswegen nun auch alle Mühe, das, was ich zeither gelernt hatte, noch recht fleißig zu repetieren und einzuüben, um auch in der Schule sogleich beim Eintritt eine gute Miene anzunehmen, wozu meine geschmeichelte Eitelkeit sich selbst gefällige Hoffnung machte.
Mit meinen Vorbereitungen verbanden meine Eltern denn auch die ihrigen, wozu diese Veränderung sie ebenfalls aufforderte. Im Ehrlichschen Gestifte wie in der Kohlschen Gemeindeschule war es freilich erlaubt, als Barfüßer, auch ohne Weste und Kopfbedeckung, sowie mit löcherichtem und defektem Anzuge zu erscheinen. Dieses fiel nun freilich in der Annenschule gänzlich hinweg, daher meine Eltern zwar auf einen ganz einfachen, aber doch ihren Verhältnissen angemessen anständigen Anzug vom Kopf bis zu den Füßen bedacht sein mußten. Da dieses ihre Ausgaben vermehrte, lamentierte meine an sich peinlich gestimmte Pflegemutter mehrmals darüber, dagegen der Vater in aller Stille auch hierzu Rat zu schaffen sich bemühete. Dies beruhigte mich einigermaßen, je mehr es mir wehe tat, wenn ich bemerkte, daß er eigentlich doch lediglich um meinetwillen itzt öfters einige Stunden nach dem Feierabende mit Extraarbeiten sich plackte.
Darüber verstrich denn die ganze Zeit zwischen Ostern und Pfingsten 1763, so daß ich nicht ehe, als Donnerstag in der Trinitatiswoche (2. Juni) als Extraner die Schule des Herrn Kantors besuchen konnte. Ich wurde zwar bei meinem Eintritte an die zweite oder sogenannte runde Tafel, doch nicht ganz zu unterst loziert, welches ich mit heimlicher Zufriedenheit, sowie auch mein Vater, für eine gute Zensur deutete. Ich fühlte auch in kurzer Zeit, daß ich die Saiten meines Zutrauens zu mir selbst doch nicht zu hoch gespannt habe, denn ich wurde nicht allein schon in der elften Woche an die erste oder lange Tafel gewiesen, sondern ich bemerkte auch, daß einige, die über mir saßen, noch weniger zu leisten vermochten als ich. Im ganzen waren jedoch meine itzigen Mitschüler gebildeter als alle bisherige, und ich hatte hier nicht nur mehr Gelegenheit, meine wenigen mitgebrachten Kenntnisse vorteilhafter zu produzieren, sondern auch mehr Antrieb für meine Ambition, denen, die mich übertrafen, nachzukommen, wozu ich in der Armenschule keine Veranlassung hatte. Ein Beweis der Zufriedenheit meines itzigen Lehrers sowohl als seiner Billigkeit war, daß er in Rücksicht der Vermögensumstände meines Vaters nur die Hälfte des gewöhnlichen Schulgeldes von ihm annahm.
Eine vorläufige Schilderung von ihm dürfte um so mehr hier zweckmäßig sein, da ich in der Folge nicht allein mit ihm in mancher näheren Verbindung gestanden, sondern ihm auch in verschiedener Rücksicht vieles Gute für die Gegenwart und Zukunft zu verdanken hatte.
Er hieß Ehrenfried Weber, war 1739 zu Stolpen geboren, auch daselbst sowie in Kamenz auf der Schule gewesen. In Leipzig hatte er erst ¾ Jahr studiert, als er Gelegenheit gefunden, das Kantorat in Hoyerswerda zu erhalten. Von da kam er 1762 als Annenkantor nach Dresden, wo er im Februar 1780 verstarb. Da er bereits im 20. Jahre sein erstes und im 23. Jahre sein zweites Amt antrat, war es freilich von ihm weder zu erwarten noch zu verlangen, daß er seinen mehr als doppelt so alten Vorgänger Drobisch[21] in literärischen sowohl als musikalischen Kenntnissen es gleich tun konnte. Es fehlte ihm freilich noch an so manchen Sprachkenntnissen, um die Schüler seiner Klasse für die Klasse des Rektors gehörig vorzubereiten. Indessen, was ihm von dieser Seite mangelte, ersetzte er durch die ihm vorzüglich eigene Gabe, das Wenigere, was er wußte, andern faßlich vorzutragen. Besonders zeigte er im Katechisieren eine eigene Gewandheit, die er nicht nur im Religionsunterrichte, sondern auch selbst in den lateinischen Anfangsgründen zu benutzen wußte, welche ich selbst durch seine Methode leichter aufgefaßt und genauer mir imprimiert habe. Verschiedene meiner damaligen Zeitgenossen, die ihm sonst eben nicht gewogen waren, haben als nachherige Schullehrer es ihm noch hintennach verdankt, daß sie durch ihn katechisieren gelernt hatten.
Er war ein ungemein tätiger Mann, den man immer arbeitend fand und der nur selten sich eine Zerstreuung erlaubte. Er hielt besonders in Chor- und Kirchendienstsachen streng auf pünktliche Ordnung und Sittlichkeit; war scharf gegen Fehler dieser Art, zuweilen auch zu hitzig und auffahrend, gegen die Kleinen nicht nur, sondern auch gegen die Größern, die er zuweilen dadurch disgustierte, aber auch diejenigen nicht minder human behandelte, die er von einer bessern Seite kannte. Er sorgte überhaupt für das Beste des Chors und suchte demselben etwas zuzuwenden. Auch für einzelne verwendete er sich bestens bei ihren Patronen oder bei der Bürgerschaft.
Nicht minder leicht und faßlich ist mir auch der musikalische Unterricht von ihm geworden, obschon natürliche Anlage und Lust meinerseits ebenfalls dazu beitrugen. So oft ich vorher Noten zu Gesichte bekam, schien es mir unbegreiflich, wie es möglich sei, durch diese Charaktere ebenso leicht und fertig musikalisch singen und spielen zu lernen, als ich durch die Figuren der Buchstaben Lesen gelernt hatte, welches ich doch [168] unschwer begriffen hatte. Unbeschreiblich war daher mein Vergnügen, als ich schon in der ersten Singstunde die Noten der angeschriebenen Skale zu verstehen, sie auf- und abwärts nachzusingen fähig gewesen war. Jede neue Lektion des fortgesetzten Unterrichts, Intervalle, Pausen, Takt und dergleichen betreffend, machte mir neue Lust und gab mir gleichsam neue Kraft sie zu begreifen. . . . . . . .
. . . . . So verstrich denn von Trinitatis 1763 bis nach Ostern 1764 fast ein ganzes Jahr, daß ich als Extraner mich zum Chorschüler vorbereitete, ehe ich als solcher am 2. Sonntage nach Ostern meinen Dienst antreten konnte. Nach Michaelis war zwar eine Stelle erledigt worden, aber der Enkel eines reichen Gerbers und Gemeinderichters wurde mir vorgezogen. Ehe ich jedoch meine Chorgeschichte selbst beginne, finde ich für dienlich, zu besserm Verständnisse des Folgenden eine kurze Übersicht von der damaligen Verfassung der Dresdner Annenschule vorausgehen zu lassen.
Die Schule hat seit ihrer Stiftung die offenbar verhunzte Einrichtung gehabt, daß sie nur in 2 Klassen mit ebensowenig Lehrern geteilt wurde. Die untere Klasse kann von ihrem Lehrer, wenn er auch ein sehr geschickter Mann ist, da er zugleich als Kantor so viele andere Geschäfte mit berücksichtigen muß, schwerlich so weit gebracht werden, daß sie ohne alle Zwischenstufe mit Nutzen in die 1. Klasse übergehen kann, deren Rektor noch zuviel nachzuholen hat, und es folglich fast nicht zu vermeiden ist, daß nicht die obern Schüler durch die untern oder diese um jener willen versäumt werden müssen. Ist nun, wie es gerade zu meiner Zeit der Fall war, der untere Lehrer nicht stark genug, dem ersten gehörig in die Hand zu arbeiten, so werden die Lücken in den Fortschritten der Schüler noch größer. Die Choralisten, welche ohnehin, durch eine Menge Chor- und Kirchendienste versäumt, mit den Extranern nicht gleichen Schritt halten können, sind sonach noch übler dran, wenn nicht Talent und angestrengter Fleiß sie einigermaßen wieder entschädigt. Von den 18 Choralisten gehörten 12 in die Schule des Rektors, die übrigen 6 in die Klasse des Kantors. Der gewöhnlichen Rangordnung nach aber wurden sie in 3 Klassen verteilt nach der verschiedenen Repartition des Chorgeldes, da denn die untersten 7 im kleinen Gelde, die mittlern 5 im halben Gelde und die 6 obersten im ganzen Gelde stunden, dergestalt, daß, wenn ein Großer z. B. 1 ganzen Gulden oder 21 Groschen bekam, ein Mittlerer ½ Gulden oder 10 Groschen 6 Pfennige und ein Kleiner 1/3 Gulden oder 7 Groschen erhielt. Außer dem wöchentlich verteilten Chorgelde, wozu auch das Quartalgeld ingleichen die Martini- und Neujahrssingen mit gehörten, gab es noch einige Accidentien vom Gabeltragen[22] und den Wagenleichen, an denen jedoch nicht alle Anteil nahmen, sowie auch die obern Sänger in jeder Stimme ein sogenanntes Konzertistengeld erhielten.
Eine Menge anderer die Chorverfassung insonderheit betreffender Umstände und Observanzen lasse ich unberührt und werde einiger derselben nur da gedenken, wo sie mich besonders angehn. Da aber der vorgedachte dreifache Genuß des Chorgeldes einen merklich verschiedenen Einfluß auf das Befinden eines damaligen Chorschülers hatte, so will ich die Fortsetzung meiner Chorjahre in diese drei Abschnitte verteilen.
Wenige Wochen vor meinem Eintritte ins Chor wäre ich beinahe ertrunken. Mitten auf der Schießgasse[23] in der Vorstadt, wo wir damals wohnten, befand sich ein nachher ausgefüllter kleiner Teich. Nach einem starken Gewitterregen sah ich eine Menge hineingeschwemmter Zimmerspäne darauf schwimmen, die ich mit einem Rechen herausholen wollte. Ich gleitete von der durch den Regen schlüpfrig gewordenen Ausschalung des Teiches ab und sank, da der Schlamm unter meinen Füßen nachgab, bis an den Hals ins Wasser. Der Schreck versetzte mir den Odem, daß ich nicht um Hilfe zu rufen fähig war. Zum Glück ergriff ich eine Lücke in der Verschalung, an der ich mich festhalten konnte; das Wasser hob mich zugleich und die Angst muß meine Anstrengung unterstützt haben, daß ich ohne jemandes Beistand, obschon mit Mühe, mir allein heraushalf, so daß ich selbst nicht begreifen konnte, wie ich es möglich gemacht hatte. In der ganzen Nachbarschaft hatte niemand etwas davon bemerkt.
Da meine Eltern bei Zeiten, um ihrerseits ja nichts zu verabsäumen, auf meinen künftigen schwarzen Anzug bedacht gewesen waren, riet mir der Kantor, dem Gregorius-Singen mit beizuwohnen, um mich vorläufig dem Chore zu präsentieren. Da wußte man denn freilich, indem ich weder Geige spielen oder die gewöhnlichen Gesangstrophen mitsingen konnte, mich weiter zu nichts zu gebrauchen, als zum Noten halten. Meine Ambition fühlte sich nicht wenig gekränkt, daß ich bei dieser Chorsolemnität nur einen so unwichtigen Appendix vorstellen sollte. Das war die erste Verbitterung meines bevorstehenden Chorlebens.
Eine zweite schloß sich zunächst an diese mit an. Ich hatte bei dem Gregorius Umgange auch in den Augen der Primaner eine teils zu unansehnliche, teils ihnen anstößige Figur gespielt, welches sie veranlaßte, [169] gegen meine Aufnahme zu appellieren. Meines Zurückbleibens im Wuchse ist schon gedacht worden. Auch itzt war ich für mein Alter von 12¼ Jahren verhältnismäßig zu klein, da, wenn ich an einem Tische von gewöhnlicher Höhe stand, das Kinn mit dem Tischblatte gerade parallel war. Ich stach sonach auch wirklich gegen die Kleinsten im Chore ab, und man hielt mich daher für zu schwach und untauglich, die eingeführte Dienstbüffelei der sechs Untern gehörig leisten und aushalten zu können. Hiernächst war es damals Sitte, daß alle Dresdner Choralisten der Kreuz-, Neustädter und Annenschule, auch die ganz Kleinen, Perücken trugen, die man an mir vermißt hatte und deswegen besorgte, daß ich ohne dieses Diadem sowohl die übrigen als mich selbst verunzieren würde. Der Kantor war aber mit der Vorstellung durchgedrungen, man solle nur erst die Probe machen, wie viel oder wenig ich in der Hauptsache leisten würde.
Hierzu bedurfte es nun eben nicht lange Zeit. Meine in den Singstunden fast ganz ausgebildete Diskantstimme zeichnete mich doch merklich vor den andern Diskantisten aus. Noch unerwarteter fand man meine bereits geübte Fähigkeit im Treffen, in welcher die allermeisten, selbst unter den Primanern, nicht fest genug waren, weswegen die Motetten und Arien durch eine Menge lästiger Proben erst einstudiert werden mußten. Ohnerachtet ich meinerseits dieser Proben größtenteils nicht bedurfte, so dienten sie doch dazu, mich im Treffen vollends zu perfektionieren. In den Singstunden hatte ich dasselbe doch nur mechanisch nach einer die Sache nicht ganz erschöpfenden Methodik gelernt und da, wo es mit dieser nicht fortwollte, verließ ich mich auf die mir nachhelfende Geige des Kantors. Bei den Chorproben mußte ich mir selbst forthelfen, und dies nötigte mich, auf Vorteile zu raffinieren, vorkommende schwere Intervalle doch mit Gewißheit auch ohne Instrument treffen zu können, mit welchem ich damals noch nicht versehen war.
Da der erste Konzertist im Diskante, der sonst einer der bessern Sänger und Treffer war, für diese Stimme nun zu alt wurde und der zweite in beiden wenig taugte, wurden mir, als dem untersten unter sieben Diskantisten, auf Veranlassung des Kantors und mit Zufriedenheit der Primaner, sowohl bei den Kirchenmusiken als im Chore bereits mit der 18. Woche nach meinem Eintritte die Vices beider größtenteils übertragen, so daß jene das gewöhnliche Konzertisten-Emolument am Gelde fortgenossen und ich einsweilen auf Hoffnung umsonst diente, bis nach fast ¾ Jahren ich sogleich mit dem Gehalte zum ersten Konzertisten gewählt und drei andern vorgezogen wurde.
Die Chorstrapazen waren meiner ebenso zärtlichen als feinen Diskantstimme nichts weniger als günstig. So gut und durchgreifend sie sich im Freien, wenn die Luft rein, still und temperiert war, ausnahm, so leicht unterlag sie bei widriger Witterung, anhaltendem Singen, besonders bei Fackeldampfe, der Heiserkeit, welche oft hartnäckig warmen und kalten Brustmitteln widerstund. Meine Kameraden pflegten in diesem Falle mit Heringe, den sie mit den Gräten verzehrten, sich zu kurieren. Auch ich bediente mich dieses Mittels anfänglich mit Erfolg, bis einmal der Kantor vor einem Pfingstfeste zu Wiederherstellung der bei einem Fackelansingen verlorenen Stimme mich nötigte, einen tüchtigen Napf Suppe und drei derbe Stücken Hering bis zur vomierenden Überladung zu verschlucken. Hierdurch erlangte ich zwar zu den Feiertagen meine Stimme wieder, aber auch viele Jahre lang einen unüberwindlichen Abscheu schon vor dem bloßen Geruche von Heringen. Sonst konnte ich fette Sachen jeder Art, selbst vom Schweinefleisch, ohne Nachteil der Stimme genießen.
Bessere Dienste tat dieselbe in der Kirche bei Solostücken. Ehe die abgebrannte Annenkirche 1769 wieder eingeweiht werden konnte, war der Kirchfahrt der eigentlich für die Operndekorationen bestimmte, ohngefähr 80 Ellen lange Zimmer- und Malersaal auf der Gerbergasse zu einer Interimskirche eingeräumt und aptiert worden. Die innere Einrichtung desselben, welches nur ein Parterre und keine Emporkirchen hatte, trug wahrscheinlich dazu bei, daß, sowie die Solotöne von Blasinstrumenten, also auch meine Stimme hell und hörbar lang hintönte, wogegen ich in der neuen Kirche, welche zu beiden Seiten vierfach überbauet war, mit meiner nachherigen, ebenfalls vollen und hohen Tenorstimme diese hellen Töne nicht mehr herausbringen können.
Mit gleicher Stärke war ich ohne Fistel imstande, bis ins dreigestrichene f hinaufzusteigen. Selbst meine bisherige Engbrüstigkeit verminderte sich durch die Anstrengung des Atmens, und ich vermochte Läufer zu 3–4 Takten lang ohne absetzen zu singen und einzelne Töne noch länger auszuhalten, sowie ich vorher vollen Odem geschöpft hatte. Die vorgeschriebenen Noten mußte ich freilich singen, wie sie dastunden; aber wenn Kadenzen vorkamen, die mir der Kantor anfangs auch vorschrieb, nahm ich mir doch die Freiheit, teils höhere Töne mit einzuschalten, teils andere merklich lange auszuhalten, um in beiden meine Künste zu zeigen. Mein selbstgewagtes Gesinge schien doch einigermaßen zu gefallen, welches ich daraus schloß, daß ich sowohl in der Engelapotheke, als auf dem Vorwerke des Falkenhofs, sowie bei zwei Kaufleuten und einem Seifensieder meine bei ihnen geholten Bedürfnisse gemeiniglich unentgeltlich erhielt.
Daß der Hofmedikus ehedem sehr richtig geurteilt hatte – die Motion im Chore werde mir gesünder [170] sein – davon habe ich eine glückliche Probe gemacht. An überreichlicher, mit nicht unbedeutenden Strapazen verknüpfter Motion fehlte es denn nun im Chore keinesweges. Das Anstrengen der Lungen in drückender Hitze, sowie im Sturm, Regen und Graupelwetter, das oft lange Stehen an einem Orte in großer Kälte oder im nassen Kote und aufgetaueten Schneeschlicker mit stets nassen erkälteten Füßen, das anhaltend angestrengte, Kräfte und Luft abspannende Martini- und Neujahrssingen, von vormittags 8–12 und nachmittags von 2 bis abends ½9 Uhr, eine ganze Woche nacheinander, waren allgemeine, uns alle betreffende Strapazen.
Aber noch mehrere derselben lasteten besonders auf uns sechs Untern. Das Mitführen der Motetten-, Arien- und anderer Chorbücher unter dem Arme, das Schleppen und nach Hause befördern der abgelegten Mäntel bei Wagenleichen, die Jungendienste, die wir den sechs Obern leisten, für sie da- und dorthin laufen, holen, bestellen und ausrichten mußten, waren ebenso beschwerlich als nachteilig für die Kleidungsstücke, die man oft ganze Tage nicht vom Leibe brachte. Verschiedene andere Besorgnisse lagen denen ob, die von uns Sechsen der Reihe nach die Wochendienste und den Chorschlüssel hatten. Der, den es traf, mußte allemal der erste auf dem Chore sein, Bücher, Leuchter und Lichter besorgen und wieder aufheben, Sonnabends das Chor auskehren, den Kantor in die Schule begleiten und ihm die Bücher nachtragen, an Musiktagen die Kirchenstücken abholen und wieder nach Hause bringen und dergleichen.
Alles dieses habe ich drei Jahre ausgehalten ohne Nachteil meiner Gesundheit, obschon ich von jeher einen schwächlichen Körper gehabt hatte. Allen sonst wenig gewohnten Witterungsbeschwerden war ich itzt auf einmal ausgesetzt, konnte mir zu Hause wenig zu gute tun, empfand oft mit defekten Strümpfen und Schuhen die Folgen von Nässe und Erkältung der Füße, ehe ich beides gewohnt wurde, mußte mehrmal die noch nicht trocken gewordenen Kleidungsstücke ebenso naß wieder anziehen als ich sie abgelegt hatte, genoß besonders nach des Vaters Tode nicht einmal mehr die nötige häusliche Bequemlichkeit und Pflege unter fremden Leuten. Selbst der während dieser drei Jahre nähere Umgang mit meinem Kantor diente mir keineswegs zur Erleichterung, sondern hatte wieder andere Unbequemlichkeiten, obschon er sonst für mich nicht ohne Nutzen war. . . . . . . .
Da es ihm an Musikalien zu Kirchenstücken fehlen mochte, borgte er deren überall zusammen, probierte sie Sonnabends in der großen Singstunde mit Instrumenten, und was ihm gefiel, wurde abgeschrieben. Was er nicht selbst abzuschreiben imstande war, verteilte er unter einige aus der Unter- und Mittelklasse, die er hierzu brauchen konnte. An mich kamen gewöhnlich die Partituren, da ich seine kompresse Hand hierzu nachzuahmen mich gewöhnt hatte. Bald nachher, als ich ins Chor eingerückt war, geschah es oft mehrere Tage nacheinander, daß ich nach der Schule und Singstunde dableiben und in der Schulstube, solange ich sehen konnte, Noten schreiben mußte, da ich denn gewöhnlich vor dem Fortgehn von der Frau Kantorin mit einem tüchtigen Butterschnitte und Glase Bier abgefüttert zu werden pflegte.
Zuweilen jedoch, wenn auch nichts zu schreiben war, verlangte sie, daß ich gleichwohl dableiben und die drei Mädchen mit etwas beschäftigen sollte, besonders, wenn etwa Besuch da war. Ich tat alles, was ich ersinnen konnte, um sie bei guter Laune zu erhalten, welches mir denn auch leider! ziemlich glücklich gelang, zumal bei Fritzchen, der Ältesten, deren sich entwickelnde Wißbegierde nur immer neue Erzählungen verlangte, unter denen die abenteuerlichern immer die liebsten waren. Auch damit konnte ich dienen, da ich deren ehedem von den Nähtermädchen meiner Mutter, denen das Maul selten stille stand, eine Menge derselben aufgeschnappt hatte. Auch meine eigene Lebensgeschichte, soweit sie damals reichte, gewährte mir Stoff genug dazu, und ich mußte einzelne Auftritte derselben bis zum Ekel immer wieder erzählen. Dadurch gewöhnten sich aber die Kinder so an mich, daß sie diese Unterhaltung auch dann verlangten, wenn ich notwendig zu schreiben hatte; da denn manche Note, auch wohl ganze Takte verpudelt wurden, bis ich einmal dem über mein Verschreiben unwilligen Kantor die Veranlassung dazu gestund; da er denn, weil das Verbot an die Kinder wenig fruchtete, auf meine Vorstellung mir die Schreibereien mit nach Hause gab.
So war ich denn schon damals der Amanuensis meines Lehrers, der Abbé seiner Kinder und leider! auch der gehorsame Diener seiner Frau. Sie hatte sich überhaupt die unbillige Freiheit herausgenommen, uns sechs Kleinen in der Klasse des Kantors zu mancherlei Verrichtungen zu gebrauchen, die sich mehr für eine Magd als für einen Schwarzrock schickten. Es schien ihrem Stolze sehr zu schmeicheln, wenn beim Ausgehn auf den Markt oder zur Visite ein Chorschüler in seiner Uniform hinter ihr her trabte und den Serviteur machte, auch wohl ein gefülltes Netz oder gar ein Kälberviertel auf seinen geduldigen Schultern ihr nachschleppte. Freilich taten nicht alle, was und wie sie es haben wollte. Manchmal entwischte ihr einer, wenn ihm der Einkauf außerm Spaße zu werden schien, und eilte fort mit der wichtigen Entschuldigung: „Es schlägt zehn, ich muß in die Kurrende, sonst kriege ich Ohrfeigen,“ sie mochte gute oder böse Worte geben. Indessen lag das Joch, das meine [171] Kameraden abzuschütteln zuweilen sich erlaubten, nun desto schwerer auf mir, da meine übrigen Verhältnisse mit diesem Hause von Zeit zu Zeit mich immer sklavischer an dasselbe banden.
Noch im Sommer dieses ersten Jahres verreisete die Frau Kantorin auf 14 Tage nach Kamenz zu ihren Eltern mit den drei Kindern und der Magd, weswegen ich die Anweisung erhielt, diese Zeit über nicht nur am Tage dem Kantor stets zur Hand zu bleiben, sondern auch des Nachts in einem der Kinderbetten zu schlafen. Nur die Chordienste durfte ich abwarten, alle übrige Zeit, selbst während der Schulstunden, von denen ich ganz dispensieret war, mußte ich in der Stube bleiben. Eine benachbarte Frau besorgte morgens das Frühstück und einige andere weibliche Geschäfte; alles übrige, was ich zu verrichten fähig, wozu auch das Auskehren mit gehörte, wurde mir übertragen. Das Bierabziehen besorgte der Herr Kantor selbst, wobei ich ihm jedoch Handreichung leistete und dagegen von ihm über die Behandlung dieses Geschäfts instruiert wurde. Mittags brachte ein Ladenbursche des Kaufmanns Burscher in zinnernen übereinander gesetzten Geschirren, durch deren Henkel ein Tragriemen gezogen war, das Essen für uns beide; abends genossen wir kalte Küche. Vor dem Schlafengehen mußte ich aus Starkens Handbuche eine Abendbetrachtung und aus dem Zittauer Gesangbuche ein oder auch zwei Abendlieder lesen, wobei er mit gefalteten Händen sehr andächtig zuhörte und während meines Lesens stellenweise halblaut die Worte aussprach: „Ach Gott, ja!“ So sehr mir anfangs vor diesem einsamen Umgange mit meinem Lehrer und Gebieter grauete, so bald gewöhnte ich mich daran, zumal der Kantor sich hier ungleich gelassener benahm, als es sonst seine Art nicht war.
Nur ein Punkt meines Dienstreglements setzte mich in eine nicht geringe Verlegenheit. Ich sollte nämlich jeden Morgen um 5 Uhr meinen Kantor wecken, welches für mich eine ganz ungewohnte Sache war, da zu Hause mich meine Eltern weckten, wenn es zuweilen nötig war. Um diesem Befehle Genüge zu leisten, schlief ich die ganze Nacht mit Sorgen und hörte nur immer auf das Schlagen der in der Stube stehenden Wanduhr, die zum Glück auch Viertelstunden angab, da wegen der Fensterladen ich nicht bemerken konnte, wie hoch es am Tage war. Um recht sicher zu gehn, stund ich auf, wenn ich auch wohl zwei bis drei Stunden früher erwachte, zog mich halb an und setzte mich in der Stube aufs Kanapee zunächst der Uhr, bis ich es endlich fünf schlagen hörte.
So hatte ich sieben Nächte mit Anstrengung mir den Schlaf verkümmert, aber am achten Morgen, wo ich ebenfalls nach 3 Uhr aufgestanden war, hatten die erschöpften Kräfte doch den Forderungen der Natur untergelegen und mich in einen festen Schlaf versenkt, aus dem ich erst ½7 Uhr durch Wagengerassel erwachte. Ich riß die Laden auf, weckte meinen Kantor mit dem Vermelden, wie spät es bereits sei, da er gerade an diesem Morgen um 7 Uhr zum Gebet ausgehn und in aller Eil sich anziehen mußte. Ich besorgte ein Donnerwetter; aber in einer Art von schlaftrunkener Betäubung und bloß aufs Fertigwerden bedacht, ging er bloß mit finsterer Miene und ohne ein gutes oder böses Wort gesprochen zu haben, fort, außer, daß er mir etwas hastig befahl, das Frühstück, sobald es fertig, ihm nachzubringen. Erst Mittags, nachdem er eine gute Weile ganz still gegessen hatte, fragte er endlich ziemlich gelassen, wie es gekommen sei, daß ich erst heut es verschlafen habe. Ich erzählte ihm gradeweg meine bisherigen Anstrengungen, worauf er erwiderte: „Ja, da kann ich Dir nicht helfen; das mußt Du Dir durchaus abgewöhnen;“ worauf noch einige Moralen folgten über das Thema: Morgenstund hat Gold im Mund. Die folgenden Morgen klopfte die Nachbarin allemal um 5 Uhr an den Fensterladen, welches er aus Vorsicht ihr mochte befohlen haben. Aber dieser mich ziemlich erschütternde Vorfall hatte mich auf immer von meiner Langschläferei kuriert, an die ich zu Hause mich immer mehr verwöhnt haben würde.
Als mit dem Zurückkommen der Familie mein Vikariat glücklich zu Ende ging, beschenkte mich die Frau Kantorin für meine treu geleisteten Dienste mit einer ganz neuen Troddelmütze, welche sie, wie ich von der Magd erfuhr, in Kamenz eigentlich für ihren Vater gestrickt hatte, aber für sein Haupt zu enge befunden worden war, sowie ich dagegen für meinen Kopf sie zu weit befand. Auch mein Kantor, der mich ebenfalls nicht unbelohnt lassen und zugleich einem richtigen Bedürfnisse abhelfen wollte, verehrte mir eine von seinen Perücken, da er bemerkt hatte, daß ich wegen Mangels derselben als der einzige im Chore immer gehudelt wurde. Die Frau des Perückenmachers bedauerte in meine Seele das reine Hinwegschnippeln meines schönen Flachshaares, und Er wußte seinem Leibe keinen Rat, die weite Haarhaube für meinen, fast die Hälfte kleinern Kopf so zu verengern, daß der erste Windstoß sie mir nicht vom Kopfe führte. Da sahe ich denn nun freilich aus wie der kleine David in Sauls Rüstung und Harnisch, und es läßt sich von selbst erwarten, daß dieses unförmliche Diadem mich mehr verunstalten als zieren mußte. Aber meine Kameraden waren doch nun endlich beruhigt und ihre zufriedenen Blicke schienen mir gleichsam zu sagen: „Siehe, Schreyer ist worden als unser Einer!“
Mit dem Hause meines Kantors kam ich durch die glücklich abgelegte Probe auch meiner häuslichen Brauchbarkeit von nun an in immer mehrere Einverleibung. [172] Sonst, wenn die Familie Besuche machte, blieb er meistenteils zu Hause; seitdem er aber glaubte, sich auf mich verlassen zu können, war er öfterer abwesend. Nicht genug, daß ich alsdann allein das Haus zu hüten angewiesen wurde, sondern er vertrauete mir auch das offenstehende Schreibpult mit den darin liegenden Papieren, Manualen und selbst einigen kleinen Schachteln mit darin befindlichen mäßigen Geldposten. Da bei ihm alle Kirchengebühren entrichtet und von ihm Sonnabends spezifiziert an die Behörden verteilt wurden, so erhielt ich Anweisung, alle kirchlichen Bestellungen und Ansagen von Geburten, Trauungen und Leichen nach der schematischen Observanz genau mir angeben zu lassen, in die verschiedenen Manuale einzutragen und das in jedem Falle zu entrichtende Geld nach der Gebührenmatrikel, von welcher ich noch eine Abschrift besitze, in Empfang zu nehmen. Auch bestellte Gevatterbriefe, wozu gedruckte Formulare vorhanden waren, hatte ich auszufüllen und zu überschreiben, welches ich nicht selten auch dann tun mußte, wenn dergleichen unter der Vormittagsschule verlangt wurden.
In der Woche ließ mir mein Kantor, wenn er nicht zu Hause war, immer vollauf Arbeit mit Notenschreiben zurück, sowohl für die lange Weile, als für die bösen Gedanken. „Arbeite, so ficht Dich der Teufel nicht an!“ war ohnehin eine seiner Lieblingssentenzen, die ich nie vergessen und fleißig geübt habe. Sonntags dagegen benutzte ich meine einsame Freiheit, entweder auf dem Klaviere für mich etwas herauszustümpern oder noch lieber seinen Büchervorrat, der an die anderthalb hundert Bände und Broschüren enthalten mochte, durchzumustern. Besonders suchte ich diejenigen herauszufinden, deren er in der Schule, zumal beim Religionsunterrichte, sich bediente. Diese waren z. B. Petersens Laienbibel, Löseckens Zergliederung und Erklärung der Episteln und Evangelien, Ejusdem zergliederter und er klärter Katechismus, ingleichen dessen Passionsgeschichte, Rambachs Handbuch in vier Teilen und einige andere, welche für damalige Schullehrer allerdings sehr brauchbar waren. Da ruhete ich denn nun nicht eher, als bis ich eins nach dem andern mir angeschafft hatte. Da ich das ganze Chorgeld meinen Eltern aushändigte, so sammlete ich zum Behuf meiner Bibliothek sorgfältig alle Accidentien vom Gabelgelde bei Leichen und Tüchelhalten bei Kommunionen. Durch Hülfe derselben konnte ich mich auf die Lektionen nun besser vorbereiten und antworten. Mein Kantor, der es merkte, daß ich „mit seinem Kalbe pflügte“, war doch so fein, diese Bücher mir selbst zu empfehlen. Überhaupt haben die Tage und Stunden, die ich während dieser drei Jahre in des Kantors Hause verlebte, frühzeitig vieles Gute bei mir bewirkt. Da ich den Wert des in mich gesetzten Zutrauens fühlte und ich mir insgeheim etwas darauf zu gute tat, so erhielt schon dadurch meine cholerische Ambition eine vorteilhaftere Richtung, welche sie vor jugendlicher Eitelkeit verwahrete. Ich gewann zugleich Sinn, Applikation und Trieb für das Üben in verschiedenen Geschäftsfächern und der dazu nötigen Brauchbarkeit, welches in der Folge ein ausgezeichneter Zug meines Charakters geblieben ist. Das sklavische zu Hause Brüten, wenn andere meinesgleichen ihre Freiheit genossen oder an schönen Tagen zahlreiche Spaziergänger bei den Fenstern vorbeiwandelten, fand ich gar bald nicht mehr so lästig als anfangs, besonders, wenn ich erfuhr, daß meine Kameraden durch Mißbrauch ihrer Freistunden dumme Streiche und sich selbst straffällig gemacht hatten. Da gewährte mir es denn ein heimliches Wohlbehagen, daß ich verhindert worden war, mit ihnen Partie zu machen. Exzesse dieser Art schreckten mich auch so ernstlich ab, daß ich nur schwer daran ging, mit mehreren an irgend etwas Anteil zu nehmen, daher ich, auch als Kleiner, nur mit einigen Wenigen, die für mich paßten, näheren Umgang hielt.
So natürlich gut und unverdorben ich auch immer sein mochte, so fehlte es mir doch noch sehr an der nötigen Politur, die ich denn freilich zu Hause nicht in dem Maße erlangen konnte, als es zu meiner bessern Empfehlung nötig war. Hier fand sich denn nun Gelegenheit genug, meine steife Blödigkeit aufzumuntern und für das sittlich gefällige Benehmen mich abzuschleifen und zu dressieren. Mein Kantor hatte außer seiner leiblichen Schwester noch andere Verwandte in Dresden, an welche er häufig etwas zu bestellen oder zu übersenden hatte. Ich gewann bei dergleichen Verschickungen nicht nur an Dreistigkeit und manierlicher Gewandheit, sondern es schien mir auch, daß man es gern sahe, wenn ich der Bote war. Die Schwester, welche die Gattin des Kaufmanns van der Brehling[24] war, entließ mich nie, ohne mich mit etwas zu traktieren, und der jüngere Kaufmann Burscher drückte mir gewöhnlich eine Hand voll Rosinen oder ein Päckchen Zuckerkand in die meinige. „Dein Kleiner“ – sagte er einst zum Kantor in meinem Beisein – „ist ein naiver Zwickel“, ohne daß ich damals verstund, ob dieses Urteil gelobt oder getadelt war.
Auch der im Pfarrhause mit wohnende damalige Diakonus Schnabel[25], der fast täglich bei Kantors einsprach, konnte mich gut leiden und bat mich mehrmals bei meinem Lehrer aus, bald etwas abzuschreiben, bald zu Aufträgen und Verschickungen, besonders an den Superintendent oder den Kircheninspektor. In der [173] Folge, nach des Vaters Tode, wirkte er zwei Tische aus, deren einen, da ich denselben des Sonntags nicht füglich genießen konnte, ich bezahlt erhielt. Als das Chor um Martini 1765 kommunizierte, sagte der Kantor: „Melde Dich bei Herrn M. Schnabel und laß Dich examinieren; Du wirst schon bestehn, ob Du schon noch nicht 13 Jahre alt bist.“ Ich meldete mich, er nahm mich freundlich auf und sagte bloß: „Bei Ihm ist dies nicht nötig; ich habe Ihn bereits geprüft genug; sage Er dies seinem Herrn Kantor.“ Und so entließ er mich mit einigen Ermahnungen und Segenswünschen.
Da ich vorgedachtermaßen die Gesellschaften meiner Kameraden wenig frequentierte, so hatte ich auch weniger Veranlassung, Geld zu versplittern. Von Kindheit an ans Entbehren und Darben gewöhnt, ward es mir nicht schwer, jeder Sehnsucht nach Befriedigung meines Gaumens Einhalt zu tun. Um, wie man sagt, die Jahreszeit auch mit zu genießen, spendierte ich zuweilen einzelne Dreier oder Sechser an Obstwerk und begnügte mich, den Appetit mit Wenigem gestillet zu haben. Dies war keinesweges frühzeitige Anlage zu Knickerei, welche gerade die gegenseitige Leidenschaft meines Temperaments ist, sondern lediglich Notzwang meiner dürftigen Privatkasse, deren kleine Intraden ich nun einmal zu Papier und Büchern bestimmt hatte. Wie sorgfältig ich den kleinen Ertrag der jährlich noch nicht fünf Gulden betragenden Accidenzien zu Rate gehalten, erhellet schon daraus, daß ich binnen den ersten zwei Jahren nicht nur die erwähnten Bücher mir neu angeschafft, sondern auch noch überdies bei dem Absterben meines Vaters, am 31. März 1766, auf 3 Taler 7 Groschen bar liegen hatte, die ich jedoch zu seinen Begräbniskosten mit verwenden mußte.
Daß sein, in einem Alter von nur 50½ Jahren, uns unerwarteter Tod in meiner damaligen Lage das traurigste Ereignis meines Jugendlebens war, fällt schon von selbst in die Augen. Seine mühselige, dürftige Laufbahn, gehäufte Sorgen und manche seinen Kräften zu wenig angemessene Anstrengungen bei Tag und Nacht, die ich, leider! in den beiden letzten Jahren mit vermehren half, untergruben schon an sich seine längere Lebensdauer, obschon er bisher alle Strapazen ohne Krankenlager ausgehalten hatte und, wenn ihm ja etwas fehlte, mit einfachen Hausmitteln, Diät und Schlaf sich stärkte und aufrecht erhielt. Nachteiliger jedoch als alles dieses mochte die oben erwähnte Steinmetzarbeit auf seine Gesundheit wirken, deren feiner Staub von Zeit zu Zeit Anfälle von einem hektischen Husten erzeugte und besonders im letzten Winter ihn stärker als gewöhnlich angriff. Durch einige ihm zusagende Arzneimittel glaubte er, mit Eintritt des Frühlings, sich merklich gestärkter zu fühlen und freute sich schon im voraus, sogleich nach dem Osterfeste wieder an seine Arbeit gehen zu können.
Er befand sich auch am ersten Feiertag so wohl und heiter, als seit langer Zeit nicht, und nur die etwas rauhe Witterung hielt ihn ab, auf unsere Vorstellung, die Kirche zu besuchen, wozu er sich bereits völlig angezogen hatte. Mit mehr als gewöhnlichem Appetite genoß er eine seiner Lieblingsspeisen, und als nachmittags sein Bruder Gottfried und einer seiner Mitarbeiter ihn besuchten, erzählte er mit vieler Munterkeit in seiner gewohnten launigen Weise eine Menge Anekdoten aus seinen Lehr- und ersten Gesellenjahren, die ihn, welches bei ihm etwas Seltenes war, zu einem innigen Lachen reizten. Nach gehaltener gewohnter Abendbetstunde ließ er sich noch ein Kleidungsstück zum folgenden Tage parat legen, schlief, vom Husten weniger angefochten, zeitiger ein und am Morgen des folgenden zweiten Osterfeiertags fand ihn die Stiefmutter entseelt neben sich im Bette. So schnell und erschütternd wurden seine und unsere Hoffnungen einer völligen Wiedergenesung und längeren Lebensdauer vereitelt.
Aus einem ruhigen Schlafe von der Mutter aufgeschreckt, saß ich in stummer Betäubung ohne einer Träne fähig zu sein, bis ich um 6 Uhr das Vorlauten zur Kirche hörte. Itzt auf einmal lebte ich aus meiner Erstarrung auf, kleidete mich an, um meinen Kirchendienst zu versehen. Da ich bei der Musik eine Arie zu singen hatte, nahm ich mir vor, um so gefaßt als möglich zu bleiben, gegen niemand von dem Tode meines Vaters etwas zu erwähnen. Das erheiternde Hauptlied: „Sei fröhlich alles weit und breit“ sowie das Anfangschor: „Ertönt, ihr Hütten der Gerechten“ kamen mir dabei zu statten, mich etwas heiter zu singen. Aber kaum hatte ich den Anfang meiner Arie begonnen, mit ihrer dem Texte: „Wo find ich den, den meine Seele liebt? Des Todes und des Grabes Beute“ ganz angepaßten Melodie, da überwältigte mich die Wehmut, die ersten Metalltöne des Stimmchens wurden immer dumpfer und eine Träne nach der andern fiel auf die Notenstimme. Der Kantor, der nach der Musik wegen meines verpfuschten Singens mich zur Rede setzte, entließ mich, nachdem er die Ursache erfahren, sogleich aus der Kirche. Um mich zu zerstreuen, spazierte ich eine Menge Gassen und Straßen durch, bis ich nach dem Gottesdienste wieder ins Chor zum Kurrendesingen mußte, von welchem ich erst nachmittags wieder nach Hause kam. . . . . . . .
Seit dem Verluste meines Vaters war ich nunmehr in einem Alter von 14¼ Jahren mir selbst überlassen und mußte, ohne elterlichen Beistand, versuchen, wie ich mich von meiner geringen Einnahme in der Welt fortzuhelfen gedächte. Den spezifizierten Betrag derselben hatte ich zwar bereits damals mit möglichster Genauigkeit [174] aufgemerkt, in der Folge aber habe ich diese Rechnungen unter meinen Papieren nicht wieder aufgefunden. Um indes diese Lücke möglichst richtig zu ergänzen, habe ich, da in den letzten Jahren meines Kandidatenlebens ich den ersten Entwurf meiner Biographie bearbeitete, alle in den Rechnungsbüchern des Annenchores auf meinen Anteil eingeschriebenen Geldposten, an wöchentlichem Kurrende-, Quartal-, Martini-, Neujahr-, Konzertisten- und Johannesgelde, mit Vergünstigung des damaligen Rektors exzerpiert. Die dreijährige Summe von allem à 116 Gulden 10 Groschen 3 Pf. in drei Teile zerspalten, gibt auf jedes einzelne Jahr 38 Gulden 17 Groschen 5 Pf. Zu diesen die Accidentien vom Tüchel- und Gabelgelde jährlich höchstens auf 3½ Gulden geschätzt, dazu gerechnet, beträgt die Summe auf jedes der drei Jahre im Durchschnitt 42 Gulden 6 Groschen 11 Pf. oder 37 Taler 5/8 Pfennig.
Meine Stiefmutter, welche aus dem, was ich bisher von meinem ordentlichen Chorverdienste dem Vater jedesmal übergeben hatte, den Ertrag meines Einkommens zu beurteilen vermochte, befand es für gut, sogleich nach des Vaters Tode mich gleichsam für majorenn zu erklären und meine Kassenangelegenheiten meiner eignen Disposition zu überlassen. Sie konnte in der Tat auch nicht anders, da das, was sie zu verdienen vermochte, nur unzureichend ihren eigenen Bedürfnissen Genüge tat und ich sonach irgend eine Unterstützung von ihr weder verlangen noch erwarten konnte. Wir richteten indes unsere kleine Wirtschaft also ein, daß sie alles aufschrieb, was gemeinschaftlich für uns beide an Kost, Holz, Licht und andere Bedürfnisse auszugeben nötig war, wozu ich durchgängig den halben Anteil beitrug, alle übrigen persönlichen Erfordernisse allein bestreiten mußte.
So äußerst eingeschränkt und spärlich wir auch solcher Gestalt unsere armselige Haushaltung führten, so vermißten wir doch überall den väterlichen Erwerb als die Hauptquelle. Um zum Hauszinse einen Beitrag zu gewinnen, da wir unsere bisherige gesunde und bequeme Wohnung gern behalten wollten, nahmen wir zweimal jemand zu uns auf die Stube, welches jedoch uns beide und mich am meisten belästigte und nicht selten aus Verdruß mich verleitete, außer dem Hause Umgang und Zerstreuung zu suchen, wodurch ich gleichwohl weder an Erheiterung noch an wissenschaftlichen Fortschritten gewann. Nachdem wir 5/4 Jahr auf solche Weise kümmerlich miteinander gelebt hatten, erachteten wir beiderseits für notwendig, uns zu trennen. Die Mutter zog zu Johannis 1767 in Dienste zu einer bekannten Familie und ich erhielt Quartier bei einer andern Freundin der Mutter, die nebst ihrem Manne mir einen Teil ihrer geräumigen Stubenkammer einräumte.
Ein Vierteljahr vor besagter Trennung von meiner Pflegemutter bald nach Ostern erfolgte dieses Avancement in den zweiten oder mittelsten Rang eines Chorschülers der Annenschule, und zwar früher, als es eigentlich der Ordnung oder Anciennetät nach würde geschehen sein. Ich wurde nämlich über meinen Vordermann hinweggesetzt, welches gleichsam eine Schadloshaltung dafür war, daß derselbe drei Jahre vorher beim Einrücken ins Chor mir vorgesprungen war. Dieses bewog ihn, das Chor zu verlassen, welches an ihm auch nichts verlor, da er durchaus kein musikalisches Temperament hatte, nicht nur selbst liederlich war, sondern auch andere verleitete, die er, wenn sie nur Partie mit ihm machten, gern freihielt, da er immer Geld hatte, welches er seinem Großvater wegstibitzte, auch endlich, da er Büchsenträger war, stark in Verdacht kam, dieselbe bestohlen zu haben.
Nun hatte ich doch die drei beschwerlichsten Dienstjahre überstanden, von denen das letztere mir als Waise, der väterlichen Unterstützung beraubt, um so drückender werden mußte. So oft ich die damaligen Situationen meines Jugendlebens in einzelnen Partien sowie im Zusammenhange, die meiner Erinnerungskraft noch unverloschen vorschweben, mir zurückdenke, so ist es gleichsam ein Wunder vor meinen Augen, wie mein sonst schwächlicher und im Wachstum zurückgebliebener Körper alle dergleichen Strapazen in Frost und Hitze, Nässe und Kot, ja ich kann hinzusetzen, in Blöße und Hunger hat aushalten können. Meine zwar vollständige, aber doch nur notdürftige und für den Eindruck rauher Witterung nicht ganz zureichende Kleidung wurde überdies durch den angestrengten Gebrauch, durch das Schleppen einer Menge gebundener Chorbücher unter dem Arme und in den Taschen, durch das viele Abnutzen auf dem Pflaster manchen Beschädigungen und Defekten ausgesetzt, die nicht allemal sogleich repariert werden konnten. Zwischen den Vor- und Nachmittagskurrenden blieb oft so wenig Zeit, daß ich dazwischen nicht zu Hause gehen konnte, besonders solange meine Eltern noch auf der entfernten Schießgasse wohnten, um, zumal in rauher Jahreszeit, etwas Erwärmendes zu genießen, sondern mich begnügen mußte, in der Hausflur des sogenannten Röhrhofes[26], wo zur Nachmittagskurrende unser gewöhnlicher Versammlungsort war, mit einem trocknen Dreierbrote vorlieb zu nehmen und einen Hut voll Röhrwasser dazu zu trinken. Zuweilen wurde mir auch wohl selbst dieser magere Genuß verkümmert, wenn es etwa einem unbilligen Großen einfiel, mir in dieser an sich kurzen Zwischenzeit noch eine Laufkommission aufzutragen.
[175] Mit dem Einrücken in das halbe Geld trat ich denn auch aus der Schule meines Kantors und zugleich aus der bisherigen Nähe um ihn und seine Familie. Indessen bediente er sich meiner noch immer zum Schreiben der Noten und der Gevatterbriefe, wenn die letztern Sonntags unter der Kirche bestellet wurden, aus welcher er mich dann mit dem Schlüssel zum Schreibepulte in seine Wohnung schickte. Die Noten erhielt ich zum Abschreiben mit nach Hause. Auch in den übrigen Verhältnissen des zutraulichen Umgangs mit ihm sowie des Dableibens in seiner Behausung bei seiner und der Familie Abwesenheit, blieb es größtenteils beim alten. Doch verlangte er dergleichen nunmehr nicht unbedingt als Pflicht, sondern als Gefälligkeit und gewöhnlich mit dem Zusatze, wenn ich sonst nichts versäume, von mir. Auch gab er mir zuweilen für etwas größere Partituren zwei bis vier Groschen als eine kleine Gratifikation für meine Mühe.
Aus der Schule des Kantors ging ich denn nun zugleich in die zweite Klasse des Rektors, als meines nunmehrigen Lehrers. Dieser, M. Christoph Johann Gottfried Haymann, ein Sohn des derzeitigen Superintendents in Meißen, welcher im Advent 1763 seine hiesige Probe als Rektor tat und beim Antritte des Amts erst 22¼ Jahr alt war[27]. Mehrere der obern Schüler, die er hier vorfand, waren wenig jünger und der Präfektus Franke sogar zwei Jahre älter als er. Daher fast alle Extraner auf andere Schulen sich wendeten und mehrere der Obern auch das Chor verließen, Auch ohne Rücksicht auf seine Jugend und seine durch einen Schlagfluß in der Kindheit total gelähmte und verkrummte linke Hand, stach er gegen seinen Vorgänger Goldschad, der die erste Landpredigerstelle des Rats in Leubnitz erhielt, sowohl im Äußern als Innern merklich ab, dessen donum proponendi und gereifte wissenschaftliche Kenntnisse ihm fast ganz abgingen. Sein Auditorium war in der Folge bloß mit seinen zwölf Choralisten besetzt, Extraner fanden sich nie in seiner Schule, außer zuweilen einem und dem andern Privatisten auf seiner Stube. Nur sein guter Charakter ersetzte einigermaßen die Mängel seiner Amtsgaben.
Stellt man diese kurze Ansicht des Rektors mit meinen vorigen Bemerkungen über den Kantor und die Schulverfassung überhaupt zusammen, so ersiehet man, daß zu meiner Zeit in wissenschaftlichen Fächern auf dieser Schule nicht viel zu profitieren war, wenn man nicht durch Kopf und Fleiß die Lücken des ungenügenden Unterrichts auszufüllen vermögend war. Ich sollte z. B. nun beim Rektor die griechischen Lektionen mit treiben, von denen doch in der Schule des Kantors unter uns allen kein Auge etwas gesehen, kein Ohr etwas gehört hatte. Das, was ich aus der Halleschen Grammatik, die ich bald nach meines Vaters Tode bei einem Antiquar mir kaufte, nach und nach herausstudiert und begriffen haben mochte, war fast meine einzige Kenntnis von dieser Sprache.
Zum Glück fand sich in der Klasse des Rektors ein gewisser Hofmann, der mit unter die Fähigeren und Fleißigen gehörte, weswegen ich mit ihm einigen nähern Umgang unterhielt. Dieser, welcher ehedem noch ein Schüler des Kantors Drobisch gewesen war und im Griechischen einen guten Grund bei ihm gelegt hatte, auch überhaupt für diese Sprache besonders portiert war und in der Folge bei Beziehung der Akademie mit einer griechischen Rede paradierete, war ohngefähr ein halbes Jahr vor meiner Versetzung ebenso geneigt als fähig, mir in dieser Wissenschaft vorläufig fortzuhelfen, so daß ich an den griechischen Lektionen nicht ganz unvorbereitet Anteil nehmen konnte. Da er ehedem bei seinem Lehrer die Briefe Johannis als die leichteste Übung in den Anfangsgründen der griechischen Sprache an sich bewährt gefunden hatte, legten wir dieselben ebenfalls zum Grunde, bis ich hernach beim Rektor Apollodor, Theophrasts moralische Schilderungen und einige Stücke aus Gesners griechischer Chrestomathie zu treiben anfing.
Bei meiner Versetzung zum Rektor befremdete es mich nicht wenig, daß die sechs Obern nachmittags gar keine Schulstunden hatten und nur mit den sechs Mittlern eine Rechenstunde gehalten wurde, welche denn auch von geringem Belang war, da einige, die aus Landschulen ins Chor gekommen waren, mehr Rechenkenntnisse mitbrachten, als sie hier profitierten. Der vorgedachte Hofmann, für dessen Lernbegierde dieses zu wenig war, brachte es jedoch beim Rektor dahin, daß diese magere Rechenstunde in eine nützlichere lateinische Nachhilfstunde verwandelt wurde, die in der Folge, als wir ebenfalls in die erste Klasse aszendierten, in eine ordentliche Nachmittagsschule überging. Hier trat doch in der Tat der seltene Fall ein, daß die Schüler den Lehrer zum Fleiße anregten, da sonst das Gegenteil stattzufinden pflegt. Freilich bekam der Rektor von jedem seiner zwölf Choralisten wöchentlich nur zwei Groschen Schulgeld, wofür er im Durchschnitt gegen 24 öffentliche Lehrstunden sollte halten, für welche ein Taler auf die Woche freilich eine zu geringe Vergütung war. Dagegen hatte der vorige Rektor jederzeit mehr als 12, meistens gegen 20 Extraner noch daneben, von denen jeder wenigstens drei, die meisten vier Groschen wöchentlich bezahlten und dadurch seine Schulstunden reichlich vergüten halfen. Was konnten wir Choralisten dafür, daß er keine Extraner hatte und ihr Zutrauen nicht zu [176] gewinnen wußte. Ich schäme mich, zu erwähnen, wie nach diesem Maßstabe auch hier der Unterricht, sowie im Ganzen, also auch besonders in der mittlern Klasse, zu erwarten war. Ich war das eingezogene und immer nach Gegenständen der Tätigkeit strebende Leben seit den ersten drei Jahren unter Leitung meines Kantors nun einmal gewohnt, so daß ich itzt, da ich etwas mehr Freiheit genoß, noch mehr Neigung dazu fühlte, zumal da es mir an anlockenden Gegenständen zum Fleißigsein nie mangelte. Durch die meinem Temperamente eigene emsige Anstrengung, mit der ich alles betrieb, erwarb ich mir in den meisten Arbeiten eine gewisse Fertigkeit, welche mich in den Stand setzte, mit wenigerm Zeitaufwande vieles zu prästieren.
Besonders fand ich itzt Veranlassung, mich häufig mit dem Lesen zu beschäftigen. Aus der Büchersammlung meines Kantors hatte ich bereits vorher vieles gelesen, was er entweder mir empfohlen oder ich selbst auch besonders ansprechend gefunden hatte. Durch Hofmann bekam ich itzt manche andere brauchbare Schriften in die Hände, die ich mit Aufopferung mancher Nachtstunden lesen mußte, da er selbst sie nur gelehnt erhielt. Manche andere suchte ich mir bei einem Antiquar aus, für die ich wöchentlich 6 Pfennig Lesegeld gern bezahlte. Unter mehrern anderen gefielen mir außer den Gellertschen Schriften und den „Belustigungen des Verstandes und Witzes“ vornehmlich Rabeners Satiren in vier Teilen und Joh. Peter Millers „moralische Schilderungen“ ebenfalls in einigen Bänden, welche besonders meiner Neigung zu freien Ansichten und Urteilen Nahrung gaben. Auch die Gestriegelte Rocken-Philosophie[28] darf ich hier nicht vergessen, deren satirische Ansichten meine Antipathie gegen jede Art des Aberglaubens nicht wenig bestärkte. Nicht wenig Reiz für meine Leselust hatten auch Reisebeschreibungen und selbst Robinsonaden, auch diejenigen unverachtet, welche damals aus dem Tintenfasse des Dresdner Kreuztürmers am Ende[29] flossen. Sein Mastrichter Mahler, Martin Speelhoven und Peter Robert, deren ich mich noch jetzt erinnere; was ihnen ja am gebildetern Stile abging, konnte doch jeder Jüngling ohne Bedenken lesen und manches aus andern bessern Schriften darin Zusammengeschichtete benutzen, unbedenklicher, als man es in dem zweideutigen Geschmiere unserer beliebten Leseschriften wagen darf.
Meine damalige Lektüre hatte für mich doch immer einen doppelten Nutzen; teils sammlete ich aus derselben mir manche nützliche allgemeine Welt- und selbst Menschenkenntnisse, die den eingeschränkten Gesichtskreis meiner Schule merklich erweiterten, teils wurde ich auch dadurch gereizt, in eigenen Ausarbeitungen mich zu üben. Mehrere kleine Aufsätze und Meditationen entwarf ich damals über Gegenstände, welche in der Schule unvollständig, unrichtig und ungenügend vorgekommen waren und ich hier und da in meinen Lesebüchern berichtigter, deutlicher und befriedigender aufgefunden hatte, wodurch ich nicht nur frühzeitig am Nachdenken, sondern auch an Übung des Stils gewann.
Meine damals freilich noch schülerhaften Reimereien, welche ich fleißig fortzusetzen nicht ermangelte, will ich hier weiter nicht erwähnen. Sie bestunden größtenteils aus geistlichen Oden, Liedern und einigen musikalischen Kantaten, die, vermöge des untergesetzten Datums, in diesem zweijährigen Zeitraum ausgeheckt worden. Waren gleich sie in den damaligen Ton ähnlicher Poesien gestimmt, so siehet man doch manchen selbst in ihrer gekünstelten Anlage das Streben nach etwas Besserm und Gedachterm an.
Hiermit verband sich meine Vorliebe für das musikalische Fach, in welchem ich durch selbst gewagte Übungen im Generalbasse und in der Komposition es weiter zu bringen suchte. Da ich gewöhnlich von meinem Kantor Partituren abzuschreiben erhielt, zerbrach ich mir oft den Kopf über die Signaturen der Orgel- und Generalbaß-Stimme. Ohnerachtet einige meiner Kameraden, welche Klavierstunden bezahlen konnten, sich besonders auch im Choralspielen übten und dadurch über die Signaturen, deren Bedeutung und Auflösung Unterricht erhielten, war doch keiner im stande, mir einen deutlichen, genügenden und mehr als bloß mechanischen Begriff davon zu geben.
Um diese Zeit war ich so glücklich, bei meinem Antiquar den ersten Teil von des Hamburgischen Bachs deutlicher und vollständiger Anweisung zum Generalbaß für den Selbstunterricht aufzufinden. Außer mir vor Freuden, schon um des berühmten Namens willen, bezahlte ich ohne vieles Handeln die geforderten neun Groschen und eilte mit dem erbeuteten Schatze nach Hause. Ich wünsche jedem Glück, der hieraus einen genügenden Selbstunterricht ohne Beihilfe eines recht faßlichen Lehrers zu schöpfen vermag. Auch hier sowie in der Folge in vielen andern gedruckten und geschriebenen Anweisungen dieser Art fand ich zwar eine Menge Regeln und Beispiele, Signaturen mechanisch zu behandeln und aufzulösen, keineswegs aber eine eigentliche Gründung derselben auf die musikalische Theorie des Generalbasses, woran mir doch besonders zum Behuf der Komposition am meisten gelegen war. Manches wußte ich mir durch eigenes Raffinieren bereits selbst deutlicher zu denken, als es hier schwerfällig vorgetragen und auseinandergesetzt war.
Ich sahe mich also aufs neue genötiget, ohne Bachs und andere Beihilfe das, was ich zu wissen wünschte, [177] größtenteils mir selbst herauszubuchstabieren, und es gelang mir nach und nach, durch Vergleichung der in den Partituren übereinander stehenden Vokal- und Instrumentalstimmen von ihren Verhältnissen zu dem Grundbegriffe des Generalbasses und der Bedeutung seiner Signaturen eine ziemlich richtige Ansicht mir zu verschaffen, ohnerachtet an einer vollständigen und fehlerfreien Theorie voritzt noch vieles ermangeln mußte, wie ich bald zu erfahren Gelegenheit hatte.
Mein ganzes Streben war nun auf Versuche in der Komposition gerichtet. Die erste Probe machte ich am 7. November 1767 mit einer vierstimmigen Chorarie auf einen selbst gefertigten Text, welche ich unserm Organisten Fehre[30] zeigte und mir sein Urteil ausbat. Er hatte drei Noten in der Harmonie geändert und unten die Zensur beigeschrieben: „Thema und Ausführung sind gut, nur müssen verbotene Quinten vermieden werden.“ Ich hatte in meinem Bach zwar bereits ein Langes und Breites über verbotene Quinten gefunden, ohne in dieses weitschichtige Raisonnement mich finden zu können oder daraus zu erfahren, warum sie verboten wären. Aus der Korrektur meiner Komposition erfuhr ich es ebensowenig und ich studierte vergebens darüber, warum meine weggestrichenen Noten fehlerhaft und die dafür gesetzten richtiger wären. Ich hätte nun freilich kurz und gut meinen Zensor um Belehrung ersuchen sollen, aber da ich keine Klavierstunden bei ihm nehmen konnte, war ich zu blöde, ihn damit zu bemühen. Er hatte indes doch alles übrige für gut taxiert; dies machte mir Mut, die von ihm gebesserte Arie mit Verschweigung meines Namens ins Chor zu geben, und da sie durchgängig gefiel, so wagte ich noch einige derselben ohne Korrektur auf gut Glück und ohne mir darüber den Kopf zu zerbrechen, wieviel oder wenig verbotene Quinten darin sich unnütz machen möchten. Meine Sänger wenigstens haben dergleichen nicht gefühlt. Mit gleichem Glücke wagte ich auch zwei Motetten, doch mein zu voreiliges Selbstzutrauen mußte erst durch einen noch gröberen Schnitzer, als verbotene Quinten, ein wenig scheu gemacht werden.
Eine Menge von den Partituren, die mir der Kantor mit nach Hause gab, schrieb ich, wenn es die Zeit erlaubte, heimlich noch besonders für mich ab. Hierzu mußte ich denn nun freilich einen Teil der Nächte mit zu Hilfe nehmen, wodurch ich den ersten Grund zur Kurzsichtigkeit meiner sonst sehr scharfen Augen gelegt haben mag, wiewohl auch schon mein cholerisches Temperament dazu geeignet war, ein Myops zu werden. Außerdem nun, daß ich hierdurch eine ziemlich fertige und gute Hand im Notenschreiben mir angewöhnte, war diese Mühe auch nicht ganz ohne Nutzen. Die gesammleten Partituren studierte ich nun mit Muße möglichsten Fleißes und gewann dadurch immer richtigere Ansichten von dem Regelmäßigen oder Fehlerhaften in der Komposition. Hierbei gewann ich noch auf eine andere Weise, indem ich alle dergleichen kopierte Partituren dem oben gedachten Schulmeister Meinelt in Kreischa kommunizierte, welchen ich jährlich einigemal besuchte, da ich den dreistündigen Weg in einem Tage hin und her recht füglich gehen konnte. Da ihm die mitgebrachten neuen Musikalien lieb waren, drückte er mir gewöhnlich beim Abschiede ½ Gulden in die Hand, äußerte aber fast allemal den Wunsch, ihm doch auch Stücke aufs Ernte- und Kirchweihfest mitzubringen, deren mein Kantor freilich nicht bedurfte.
Durch die geübte Bekanntschaft mit Partituren trauete ich mir nun selbst soviel Fähigkeit zu, ebenfalls ein Musikstück mit Vokal- und Instrumentalstimmen zu setzen. Um nun Herrn Meinelts Verlangen Genüge zu tun, entwarf ich mir 1768 den Text zu einer Erntemusik, der ich unter andern Instrumenten auch zwei Hörner beifügte. Ich schickte ihm dieselbe zu mit dem Vorgeben, dieses Kirchenstück bei einem andern Schulmeister, dessen Sohn ebenfalls im Chore sei, aufgetrieben zu haben. Ein Glück war es, daß ich, um mein erstes Kunstwerk dieser Art zu hören, am Tage der Aufführung nicht füglich mir Urlaub ausbitten konnte.
Als ich bald darauf ihn besuchen konnte, kam er mir gleich mit der Anrede entgegen: „Sag Er mir einmal um Gotteswillen, wo Er diese Musik her hat? Sie ist durchgängig ein recht niedliches Ding, aber die Hörner hat ein Pfuscher dazu gemacht“, mit der Erklärung: „die kann kein Teufel blasen“. Das war nun eine komische Zensur, süß und bitter, gelobt und geschimpft, zehnmal schlimmer als Fehrens Rüge der verbotenen Quinten. Ich war wie aus den Wolken gefallen, hatte Mühe, mein persönliches Interesse hierbei zu verbergen und schob geradezu alle Schuld auf meinen vorgeblichen Kameraden und seinen Vater, welche mir die Partitur nicht besser gegeben hätten. Mit schwerem Herzen über diese so zweideutig ausgefallene musikalische Autorschaft eilte ich nach Hause, und es glückte mir, jemand aufzufinden, der mir über die verfehlte Tonleiter der Hörner eine völlig befriedigende Auskunft zu erteilen vermochte.
Ungern sahe ich mich noch vor Ende dieses Zeitraums genötiget, mein bisheriges sehr bequemes und behagliches Quartier zu verändern, da mein Wirt, ein ziemlich betagter Greis, verstarb und die Wittbe Gelegenheit fand, sich anderweit zu verheiraten. Da beide einsam lebten und mich nichts störte, beide auch überhaupt teilnehmend, uneigennützig und willfährig mich [178] behandelten, hatte ich es kaum gefühlt, daß ich als Waise nun unter fremden Leuten lebte, und war dabei nicht im mindesten behindert worden, fleißig zu sein.
Da mein mehrgenannter Vaters-Bruder Gottfried mir es anbot, zu ihm zu ziehen, nahm ich es freilich seinetwegen mit Dank an, so wenig ich auch Neigung dazu hatte, da ich nun die vorige Bequemlichkeit, Ruhe, Ordnung und übrige günstige Lage merklich vermißte. Ich mußte mit meinem Bette und andern Habseligkeiten in einer Bodenkammer kampieren, deren kleines trübes Fensterchen mir nur ein ärmliches Licht gewährte. Das locker gefugte Dach ließ überall Regen und Schnee durch. Von letzterm war ich nebst dem Bette und den anzuziehenden Kleidern oft ganz überdeckt, und so im Ankleiden schon dem Froste ausgesetzt, mußte ich, ungewärmt, wöchentlich dreimal früh in die kalte Kirche wandern; genoß in der Schule der Wärme auch nicht viel und stund dann beim Kurrendesingen unter freiem Himmel die Kälte aufs neue aus. In der Stube war für meine Schreibereien an einem gemeinschaftlichen Tische auch nur ein sehr eingeschränkter Raum. So brachte ich den noch in diesen Zeitraum fallenden ersten Winter zu.
Meine gesamte, aus den Chorbüchern extrahierte Einnahme auf diese zwei Jahre des halben Geldes betrug 116 Gulden 10 Groschen 2 Pfennig, so daß im Durchschnitte aufs Jahr nur 58 Gulden 5 Groschen 1 Pfennig oder fast 51 Taler kommen, da nunmehr die Accidentien bei Leichen und Kommunionen nicht mehr statt hatten und durch andere nicht ersetzt wurden. Gleichwohl muß ich mit diesem Wenigen doch als ein guter Wirt Haus gehalten haben, da ich dem ohngeachtet soviel davon zurückgelegt hatte, daß ich noch im ersten Vierteljahre nach meiner Versetzung unter die Großen sowohl eine silberne Uhr um 14 Taler 12 Groschen, als eine Garnitur silberne Schnallen um 5 Taler 6 Groschen anzuschaffen vermögend war.
Beim Hinaufrücken auf diese Stufe zu Ostern 1769 war ich immer noch genötiget, den Diskant zu singen oder vielmehr nur durch die Fistel zu pfeifen, wenigstens als erster Konzertist, besonders bei Kirchenmusiken. Im Chore vertrat ich meistenteils die Vizes des zweiten Altisten, der wenig zu gebrauchen war. Der Kantor wünschte besonders, den Rest meines Diskants bis zur Einweihung unserer Annenkirche, welche am 8. Oktober d. J. vor sich ging, aufzusparen und zu schonen. Bei der ansehnlichen Musik dieses feierlichen Tages war nicht nur überhaupt vieles zu singen, sondern ich hatte auch in der dunstvollen Atmosphäre unzähliger Menschen mich über die Maßen anstrengen müssen, daß ich mir dadurch eine so enorme Heiserkeit zugezogen, welche ganzer vier Wochen lang mich hinderte, nur ein lautes Wort zu sprechen, geschweige denn irgend einen musikalischen Ton herauszubringen.
Meinem Kantor war ebensowenig als mir selbst wohl dabei aus Besorgnis, ich möchte durch das angestrengte Singen etwas verletzt und die Stimme ganz verloren haben oder eine fortdauernde Heiserkeit behalten. Doch der Apotheker Bauerfeind, einer meiner Gönner in der Kirchfahrt, wandte gratis alles an, meinen Hals wieder in Ordnung zu bringen. Meine bereits ziemlich gut eingesungene Altstimme ging aber verloren und der nun sich bildende Tenor intonierte anfangs zu scharf und hoboenartig, bis er nach und nach durchs Aussingen mehr Geschmeidigkeit und Höhe erhielt. Es glückte mir, daß ich sogleich wieder zweiter Tenorist werden und fast die ganzen acht Jahre meines Chorlebens als Konzertist dienen konnte. Sobald ich diese Stimme begann, sprang plötzlich der Knoten meines bisher gehinderten Wachstums und ich erreichte binnen Jahr und Tag fast ganz meine nachberige Länge.
Meine nunmehrigen Umstände verbesserten sich denn freilich um ein Merkliches. Ich genoß nunmehr Freiheit und Bequemlichkeit, war nicht mehr der untertänige Diener anderer, sondern konnte mich des Rechts bedienen, eben die Dienste von den Untern zu fordern und anzunehmen, die ich vorher den Obern hatte leisten müssen. Aber der vermöge meines empfindlichen Temperaments ehedem so oft verbissene Unwille bei unbilligen Zumutungen oder Begegnungen. hatte das Nachgefühl dessen, was vorher mir selbst wohl oder wehe getan hatte, mir zu nachdrücklich imprimiert, als daß ich fähig gewesen wäre, das ebenfalls zu tun, was ich so bitter empfunden hatte. Auf das, was zur allgemeinen Ordnung in der Chorverfassung gehörte, hielt ich zwar strenger, pünktlicher und eigensinniger, als manche andere unter den Oberen taten, aber was ich dabei auf irgend eine Art erleichtern konnte, tat ich gewiß. Anstatt in den meisten Kurrenden und bei Ansingen die eingebundenen schweren und unbehilflichen Motettenbücher von den Kleinern mit herumschleppen zu lassen, wodurch sie nur zeitiger abgenutzt und zerrissen wurden, hatte ich stets die linke Tasche voll von dergleichen Singestücken, wie sie etwa jedesmal nötig waren, die ich für mich selbst mir abgeschrieben und gesammlet hatte. Ebenso ließ ich häufig mein eigenes kleines Arienbuch in Oktav die Stelle des dicken Chorbuchs in Quart vertreten.
In Ansehung meiner übrigen und Privatbehandlungsweise der Untern konnte ich gewiß jeden derselben auffordern, zu gestehen, ob ich jemals, außer bei Dienstnotfällen, von ihm oder einem andern einen Hofedienst verlangt; ob ich irgend einen der Kleinen, wie viele der [179] Größern taten, hart behandelt oder auf der Gasse öffentlich bestraft habe? Wenn ich ja in meinen eigenen Angelegenheiten einen verschickte, richtete ich es gern so ein, daß es nicht in seinen Freistunden, sondern unter der Kurrende oder auch wohl Kirche geschahe. Meine Perücke zum Akkommodieren hin und her zu tragen, habe ich von keinem Kleinen als eingeführte Schuldigkeit verlangt; aber ich hatte immer einen und den andern, der sich von selbst erbot, da ich selten etwas annahm, ohne es mit kleinen Geldgaben oder auf irgend eine andere Weise zu vergüten. Sehr oft trank ich bei Kindtauf-Ansingen keinen Wein, sondern ließ meinen Anteil den Untern zu gut gehen, wenn das Gegebene nicht bis auf alle herabreichte.
So glimpflich ich mich überhaupt gegen Niedere benahm, so ernstlich suchte ich mich itzt gegen meinesgleichen in Positur zu setzen. Einem und dem Andern, der, als ich ins Chor kam, 10–13 Stufen über mir war und den ich nun eingeholt hatte, ließ ich itzt seinen dummen Bauerstolz, mit dem er ehedem mich und meinesgleichen behandelt hatte, wieder fühlen. Überhaupt begann eine merkliche Umformung meines Temperaments, seitdem ich ins ganze Geld gerückt war. Der cholerische Anteil desselben siegte nunmehr über die melancholisch-phlegmatische Schüchternheit und stilles Schmiegen unter Übermacht, ohnerachtet ich sahe, daß es den Hals nicht kostete, wenn manche meiner Kameraden das Maul brauchten oder weniger Gehorsam bezeigten.
In der armseligen Lage, in der ich mich bisher befunden hatte, wagte ich es nicht, dem Gedanken, studieren zu wollen, nachzuhängen, entfernt von allen Aussichten der Möglichkeit dazu, so sehr er auch mein innerer Wunsch war. Ich strebte voritzt, es nur wenigstens soweit zu bringen, daß ich mit den nötigen musikalischen Kenntnissen, wie einige aus dem Chore getan hatten, um eine Schulmeister- oder Kantorstelle mich zu bewerben wagen dürfte. Aber seitdem ich nun in der ersten Klasse mehrere wissenschaftliche Fortschritte zu machen Gelegenheit fand, auch alljährlich Einer und der Andere von den Abgehenden ebenfalls ohne häusliche Unterstützung auf gutes Glück es wagte, die Akademie zu beziehen, reifte der Entschluß, es ebenfalls zu versuchen, bei mir immer mehr, zumal, da mein Rektor nicht viel Einwendungen dagegen machte. Daher ich itzt die mehrere Zeit auf die wissenschaftlichen Fächer verwandte, und da die Schullektionen zu magere Beiträge hierzu lieferten, mußte ich meiner Wißbegierde größtenteils durch Lektüre nachhelfen.
Als 1770 unser Präfekt das Chor verlassen mußte, beschlossen beide Lehrer gemeinschaftlich, mich von der vierten Stelle sogleich zum Adjunkt zu machen, da der an der Reihe stehende Tertius Wächter der musikalischen Direktion des Chors nicht gewachsen war. Ich bat aber ernstlich, ihn nicht zu übergehen, und erbot mich, in allen vorkommenden Fällen ihm freundschaftlich beizustehen, daß keine Fehler in meinem Beisein vorgehen sollten. Dadurch lehnte ich den Verdacht ab, als habe ich selbst nach seiner Stelle gestrebt, welches doch ganz gegen meinen Charakter war. Ich gewann dadurch bei meinen Lehrern sowohl als bei Wächtern, der von dieser Zeit an sich ganz besonders an mich anschloß, sowie ich dagegen alles tat, in Schulsachen sowohl als in Chorsachen ihm fortzuhelfen. Da er zu Ostern 1771 das Chor freiwillig verließ, rückte ich ohnedem an seine Stelle.
Itzt hatte ich als Adjunkt einige Vorteile mehr vor den andern Obern zu genießen, sowohl an Freiheit von manchen Chor- und Kirchendiensten, als an Zeit, die ich für mich nützlich anwenden konnte. Denn alle Kurrenden, Ansingen am Tage, Wochenpredigten und Betstunden hatte ich mit dem Präfekt Hofmann wechselsweise und folglich nur zur Hälfte zu besorgen. Vorzüglich aber war ich nun imstande, ganz meiner Neigung gemäß, Verbesserungen zu machen und mehr Ordnung einzuführen. Meine beiden Freunde, Hofmann und Diettrich, zwischen denen ich saß, halfen mir manches mit ausführen. Die Abneigung der Übrigen überwand ich teils durch Beharrlichkeit, teils auch zuweilen durch die Auktorität des Kantors. Von den damals vorhandenen Chormusikalien war wenigstens die Hälfte von meiner Hand geschrieben. Die meisten Sachen, die wir einer dem andern auswendig nachlernten, weil die Noten nicht mehr vorhanden waren und daher nur larifari mit vielen Schnitzern gesungen wurden, setzte ich regelmäßig auf, damit wenigstens die Anfänger in jeder Stimme sie richtig singen lernten. Alle Chorsachen ließ ich in den Schulschrank legen, dessen Schlüssel ich dem Präfekt überließ und mir einen eignen verschaffte. Alle diese und andere gute Einrichtungen habe ich nachher in großer Unordnung gefunden. Der Schrank stund offen, die Schlüssel waren verloren, Bücher und Stimmen lagen größtenteils zerrissen auf den Tafeln herum.
Wir hatten wenigstens alle Sonnabende große Singestunde mit Musik, welche der Kantor mit der Violine dirigierte, und wobei die eine Hälfte des Chors spielte, die andere aber sang. Bei solchen Singestunden sang ich nur selten, sondern spielte die Geige. Ich beredete den Kantor, in den Vespern vor einem Feste oder Feiertage statt der gewöhnlichen Motette ein Chor mit Instrumenten aufzuführen. Da er sahe, daß dieses guten Erfolg hatte, versuchte er es auch bei Brautmessen und andern nicht zu vollstimmigen Kirchenmusiken, wodurch er manchen Taler für fremde Musiker ersparete. Überhaupt war er, sowie in allen seinen Amtsgeschäften, so auch in Übung der Musik unermüdet. Selbst wenn Unpäßlichkeiten ihn hinderten, [180] eine große Singstunde zu halten, übertrug er dieselbe dem Fähigsten unter den Obern.
Mein itzt erwähntes Geigenspiel war nun freilich nicht von Belang und konnte es auch nicht sein, da ich hier ebenfalls mein eigener Lehrer sein mußte. Zu meiner Zeit wurden die Gregorius-Umgänge auf der Dresdner Kreuz- und Annenschule mit Vokal- und Instrumentalmusik gehalten, da denn auch die Kleinen ihre Geige spielen oder kratzen mußten. Mein Kantor gab mir eine, die wegen ihrer etwas kleinren Mensur für meine kleine Hand paßte und auf der er ehedem als Knabe selbst sich exerziert hatte. Sie war von Steiner gefertigt, dessen Instrumente damals unter die bessern gerechnet wurden. Der Kantor versicherte, daß sein Vater sie ehedem neu mit 5 Talern bezahlt habe; von mir verlangte er aber nur 1 Gulden. In der Folge habe ich als Kandidat sie an einen meiner Schüler verkauft, der mir freiwillig 2 Taler dafür bezahlte.
Sobald ich die nötigen Anfangsgründe der Fingersetzung und Applikatur mir teils durch Absehen imprimiert und abgelernt, teils durch näheres Zurechtweisen von instruierten Violinspielern unter meinen Kameraden begriffen hatte, brachte ich ohne weitern methodischen Unterricht das übrige durch Studium und Übung vollens von selbst heraus und spielte, was ich beim Gregorius oder in Singestunden zu spielen bekam, keck und wenigstens ohne bedeutende Schnitzer von meiner Stimme ab, obschon im ganzen alles mehr gestrichen als gespielt sein mochte; gnug, ich stellete doch meinen Mann. Aus Mangel einer zweckmäßigen Anweisung fehlte es mir denn freilich an vielen, diesem Instrumente eigenen Handgriffen, an der bequemen und leichten Behandlung desselben, an der gelenken Fertigkeit der Finger bei schnellen Passagen, sowie an sicherer Festigkeit der Hand bei veränderten Applikaturen und noch an vielem anderen, was man von einem nur mittelmäßigen Spieler erwarten und verlangen kann. Aber ich vermochte doch wenigstens da, wo man keinen Hauptspieler brauchte, eine Lücke mit auszufüllen und eine Musik durch ein Instrument mehr zu verstärken. Zu meinem Hauptzwecke war dieses genug; ein mehreres wäre Zeitverschwendung gewesen. Mein bischen Kenntnis von der Violine hat mir in der Folge bei Instrumentalkompositionen nicht unbedeutende Dienste geleistet.
Im Klaviere war und blieb ich jedoch ein noch schwächerer Held. Es wurden einst, als ich noch in der untern Klasse war, einige Annenschüler nach Harthau bei Tharandt zu einer Oberförsterhochzeit verlangt, weil man einer tiefen Familientrauer wegen keine Musik haben konnte und dieselbe durch Gesang ersetzen wollte, die Hochzeit aber, weil es bereits hoch Zeit sein mochte, nicht füglich aufschieben durfte. Der Kantor wählte mich als ersten Diskantisten aus, deutete mir aber auch zugleich an, daß er das dafür zu erhaltende Douceur selbst in Empfang nehmen und zu Anschaffung eines Klaviers verwenden wolle. Er hatte mir auch eines besorgt, welches zwar alt und unansehnlich, aber doch noch in brauchbarem Zustande war und mit einigen kleinen Reparaturen nur 2 Taler 5 Groschen kostete. Auf diesem stümperte ich denn nun wohl so oft ich konnte, mancherlei heraus und zusammen, aber bei weitem nicht mit dem Glücke, als auf der Geige. Mein Kantor war so gütig, Klavierstunden mit mir anzufangen, aber bereits nach der fünften kam lieb Weibchen in die Wochen, und dieser Unterricht war auf einmal geschlossen. Mit wehmütigen Empfindungen sahe ich Einen und den Andern meiner Kameraden zu Herrn Organist Fehre in die Klavierstunden gehen, die meine Armut mir versagte. Bei meinem nicht schwerfälligen Fassungsvermögen, bei meiner Anlage zum Selbstraffinieren hätte ich vielleicht binnen ½ Jahre hinlänglichen Grund gelegt, mich dann selbst fortzufinden, soviel ich bedurfte. Ja, ich würde schon von Zuhören beim Unterrichte Anderer, von Zusehen bei Fingersetzen ihres Spiels vieles aufgefaßt haben. Doch es konnte, ja es sollte selbst zu meinem Besten, auch nicht sein; ich hätte vielleicht, wie so viele andere tüchtig geübte Klavierspieler und gewordene Meister, mehr in die Finger als in den Kopf gelernt.
Bei all diesen musikalischen Mängeln, besonders in Ansehung des Klaviers, setzte ich doch, auch in diesem Zeitraume, die Übungen in der Komposition fleißig fort, und um nicht ganz ohne Lehrer, Zurechtweiser und Korrektor zu sein, schuf ich mir selbst Einen, der einsweilen die Vizes desselben vertreten mußte. Ich setzte mir nämlich die mir bekannten melodischen Hauptstimmen von Arien, Motetten und selbst von Musikchören aus, komponierte die übrigen Stimmen dazu, verglich dann meine Machwerke mit den Originalen, kritisierte über beides und abstrahierte mir dadurch manche Regel, aber auch manchen Wink über das Fehlerhafte von meiner Seite. Man wird hiernach von selbst einsehen, wie ich auf diesem zwar etwas mühsamen, aber doch in grader Richtung meinem Ziele mich entgegenführenden Wege nicht oberflächliche Musikkenntnisse mir erwerben konnte, da ich des Vorteils anderer Komponisten entbehren mußte, meine musikalischen Inventionen mir auf dem Klaviere vorspielen zu können.
Ein gewisser Meyer[31], der nachher erst Kantor in Jöhstadt und dann Rektor in Zwönitz wurde, war damals unter uns der geschickteste Musikus, nicht nur auf mehrern Instrumenten geübt, sondern setzte auch [181] Verschiedenes für das Chor. So lange dieser mich übertraf, wagte ich nur anonymisch mit meinen Erfindungen mich heraus; nach seinem Abgange aber auf die Akademie verleugnete ich meinen Namen nicht ferner.
Da ich als nachheriger Adjunkt mit dem Präfekt in der Direktion des Chores alternierte, setzte ich fast allemal für meine Woche mir eine neue Motette, die ich vorher einprobierete und in meinen Kurrenden mehrmals aufführete. Da sie gewöhnlich auf den Sonntag Beziehung hatten, machte selbst mein Kantor nicht selten in der Vesper vorher davon Gebrauch. Im Jahre 1771 spielte ich ihm zweimal auch zwei von mir vollstimmig mit Trompeten- und Paukenbegleitung gesetzte Kirchenstücke von mir, auf Ostern und den ersten Advent, doch ohne meinen Namen, in die Hände, den er erst erfuhr, nachdem er das zweite mit Zufriedenheit aufgeführt hatte. Mit gleicher Zufriedenheit befriedigte ich auch meinen Meinelt in Kreischa mit zwei andern Stücken aufs Ernte- und Kirchweihfest, so wie er nun auch die wahren Umstände von dem ersten Stücke mit den skandalösen Hörnern erfuhr und sein: „Nun da sehe mir eins einmal“ aufs Neue mehrmals zu repetieren Gelegenheit hatte.
Als Adjunkt war ich ferner gleich meinem Präfekt Hofmann eine Woche um die andere von den Wochenpredigten frei. Da wir nun beide uns vereinigt hatten, nicht nur Theologie zu studieren, sondern auch miteinander die Akademie zu beziehen, so benutzten wir beide die Freistunde unter dem Wochengottesdienste zu einer hebräischen Stunde bei dem Rektor, in der ich es freilich nicht über das mechanisch Grammatische brachte, bis ich zu Wittenberg in einer Rabbinischen Stunde durch das Lesen ohne Punkte näher mit der Grammatik dieser Sprache bekannt wurde.
Seit dem Anfange des Jahres 1771 frequentierten wir beide eine französische Stunde bei einem alten Magister Kohlmann. Unser Zweck ging nicht auf das fertige Parlieren der Sprache, wozu unser Lehrer auch nicht mehr geeignet war, sondern nur eine französische Schrift oder das Sprechen Anderer notdürftig verstehen zu lernen. Wir trieben zu dieser Absicht die französische Übersetzung des Terenz von der Madame Dacier. Hofmann bediente sich hierbei der Grammaire des Peplier und ich Rädleins französischen Sprachmeisters in zwei Teilen, der mir von einem Sprachverständigen seiner besonderen Gründlichkeit wegen empfohlen wurde. In der Folge benutzte ich zu meiner Privatübung den französischen Cornelius Nepos, par le Gras, mit deutschen Noten nach der Methode des Emanuel Sinceri von Kritzinger. Vom folgenden Jahre 1772 an übten wir uns auch vier Monate lang in der englischen Sprache, binnen welcher Zeit wir die sämtlichen Vokabeln der ersten 17 Psalmen memorierten und grammatisch durchpeitschten.
Im Sommer 1770 legte der Pastor Schnabel ein Predigerkollegium in der Annenkirche an, welches Mittwochs sogleich nach der Betstunde gehalten wurde und manche von uns dabei als Zuhörer verweileten. Dies reizte, außer Hofmann und mir, zugleich die beiden nächsten nach uns, auch eine Übung im Predigen unter uns zu veranstalten, wozu wir die sonntägigen Nachmittage des folgenden Winters bestimmten und Hofmanns Stube, als des einzigen, der bei seinen Eltern wohnen konnte, zum Versammlungsorte wählten. Auf gemeinschaftliche Kosten ließen wir ein Pult fertigen, an dem jedesmal einer von uns vieren eine willkürlich ausgeheckte Predigt hielt; die andern drei nebst Hofmanns Eltern, auch etwa jemand von den Hausnachbarn, waren Zuhörer. Des eigentlichen Zensierens enthielten wir uns, doch sprachen wir gewöhnlich, wenn wir nicht sogleich auseinander gingen, über Inhalt oder Vortrag des Gepredigten, so gut wir es zu verstehen glaubten. Solcher Predigten, deren in allem 22 herauskamen, habe ich auf meinen Anteil sieben gehalten.
Doch daran genügte mir indeß noch nicht. Ich wünschte, ehe ich die Akademie bezöge, mich auch öffentlich pro concione zu versuchen, wozu denn ebenfalls Rat geschafft wurde. Ein Kamerad von mir, welcher nahe Anverwandte in Fürstenau[32] an der böhmischen Grenze hatte, ließ, von mir gleichsam angesteckt, vor den Seinigen sich hören zu lassen, dieserwegen bei dem dortigen Pfarrer anfragen und erhielt von demselben zur Antwort: „Er dürfe zwar keinem Unstudierten die Kanzel zu betreten erlauben, der nicht vom Superintendent in Pirna einen Konzessionsschein dazu ihm vorzeigte: wollten wir aber es uns gefallen lassen, in seiner Abwesenheit statt einer vom Schulmeister abgelesenen Predigt eine selbst ausgearbeitete am Pulte zu halten, so könne er uns dieses nicht verwehren.“ Hierzu schlug er uns den ersten Epiphansonntag 1772 vor, wo er als Konfessionarius in matre et filia abwesend sein werde.
Weder die Entfernung von vier Meilen, noch die rauhe Jahreszeit schreckte uns beide ab, dahin zu reisen, jeder von uns mit einer fertigen und memorierten Predigt in der Tasche und im Kopfe. Wir waren darüber einig, daß Bohrmann – so hieß mein Gefährte – als Einheimischer die seinige vor den Ohren seiner Mutter, Verwandten und Bekannten in matre, ich dagegen als Fremder die meinige auf dem Filiale halten sollte. Als wir jedoch an Ort und Stelle kamen, entfiel ihm der Mut und er bat mich, es die Seinigen durchaus nicht merken zu lassen, daß er mit einem ähnlichen Vorsatze als ich, sondern lediglich mir zur [182] Begleitung hierher gekommen sei. Sonach hielt ich meine Predigt in matre glücklich mit aller Dreistigkeit und vielen Lobsprüchen, besonders des Schulmeisters, der so etwas noch nicht in Finsterwalde[33] gehört haben wollte. Dieses Urteil schien insofern auch nicht übertrieben zu sein, da, soviel ich dem alten Pfarrer einen halben Tag lang bei meinem Besuche abmerken konnte, sehr wenig dazu gehören mochte, eine bessere Predigt als er zu halten. Um so weniger hatte ich nun Bedenken, mich dem geistlichen Stande zu widmen.
Der Unbequemlichkeit meines zweiten Quartiers bei meines Vaters Bruder Gottfried habe ich bereits gedacht. Was mir jedoch dasselbe bei allen echt herzlichen Gesinnungen meines Herrn Vetters gleichwohl noch mehr verleidete, war der Umgang mit seiner Familie. . . . . . . .
Dies nötigte mich, dieses zweite Quartier mit dem dritten und letzten zu vertauschen, so ungern auch mein guter Onkel diese Trennung sah, da es ihn bisher wohlgetan hatte, daß er Abends jemand fand, mit dem er seiner Neigung gemäß über theologische und andere wissenschaftliche Dinge gründlicher als mit vielen andern diskurrieren konnte. Mein guter Genius führte mich von Michaelis 1770 an zu zwein Wittben, Mutter und Tochter; jene, die Opitzin, damals 62, diese, die Walterin, 39 Jahre alt, welche beide mit Fertigung und Appretierung verschiedener Familienwäsche sich ernährten, wodurch denn auch mein eigener Wäschevorrat ebenso vorteilhaft erweitert und verbessert wurde. Die 7/4 Jahre, die ich bei und mit ihnen lebte, waren auch meine beste und angenehmste Zeit, sowohl in den Chor- als häuslichen Verhältnissen. Da an der Wohnstube zwei separierte Kammern angebaut waren und mir die eine davon gänzlich eingeräumt wurde, konnte ich um so bequemer und ungestörter den letzten Rest meiner Schul- und Vorbereitungszeit noch recht fleißig benutzen. Überdies wurde ich von beiden gutmütig, wie Sohn und Bruder, behandelt. Ich aß mit ihnen, was sie hatten; sehr einfach zwar, aber reinlich und ordentlich zugerichtet um einen sehr billigen wöchentlichen Beitrag.
Meine in den Chorbüchern verzeichneten Einnahmen in diesem Zeitraum betrugen 368 Gulden 17 Groschen 6 Pfennig, wodurch im Durchschnitt aufs Jahr 119 Gulden 12 Groschen 10 Pfennig oder 104 Taler 4 Groschen 71/4 Pfennig kamen, wozu man etwa jährlich noch 5 Taler an andern Accidenzien von Wagenleichen, Bäckergelde und Douceurs bei Ansingen rechnen konnte. Man wird erwarten, daß, da ich vorher beim Genusse des kleinen und halben Geldes in Wenigen treu und als guten Wirt mich gezeigt hatte, ich nunmehr, da ich im ganzen Gelde über vieles gesetzt war, es noch weit mehr gewesen sein und ein hübsches Sümmchen zusammen gespart haben werde. Dies war auch allerdings mein Wollen, Wünschen und Hoffen. Wie ernstlich ichs damit gemeint habe, beweist ein noch vorhandenes Pappkästchen, welches ich damals zu dieser Absicht fertigte, in dessen neun Schubfächerchen die eingehenden Summen sortenweise von den Spezies-Talern an bis zu den Pfennigen separiert zu liegen kommen sollten. Daß aber diesmal der gute nicht auch zugleich der wohlhabende Haushalter wurde, damit ging es ganz natürlich zu.
Als Oberer mußte ich erstens mich nun auch ordentlicher in der Kleidung halten, und dieses zu vernachlässigen, hatte ich zuviel Ambition. Da ich vorher an die 20 Taler zu Uhr und Schnallen gesammelt hatte, so war zweitens eine Zeit lang nichts an Kleidung und Wäsche gewendet worden, daher ich itzt mancherlei neu anschaffen mußte. Mein auf einmal mit dem Ende des Jahres 1769 schnell beginnendes Wachstum verursachte mir drittens ebenfalls einen vermehrten Aufwand, da ich nicht nur itzt ungleich mehr bedurfte als bisher, sondern auch binnen Jahresfrist zweimal mich fast ganz neu kleiden mußte. Ich hatte zur Einweihungsfeier der Annenkirche am 8. Oktober 1769 mir ein vollständiges Kleid nebst anderm Zubehör geschafft, welches ich bis Michaelis folgenden Jahres so entwachsen hatte, daß ich es durchaus nicht mehr tragen konnte und wieder erneuern mußte. Hierzu kam, daß ich viertens zur Beziehung der Akademie, wo die schwarze Uniform nicht mehr Vorschrift war, verschiedene bunte Kleidungsstücke anzuschaffen, auch mit vollständiger Wäsche auf vier Jahre mich zu versorgen genötigt wurde. Es gehörte schon viel Wirtschaftlichkeit dazu, allen diesen Bedürfnissen mit ohngefähr jährlich 100 Talern Genüge zu tun, aber fünftens die seit der mißlungenen Ernte 1771 ausgebrochene Teuerung und Hungersnot fraß auch den letzten gesparten Taler mit auf. Viele Kurrendenkunden dankten ab, fast alle Ansingen hörten auf und ich erhielt manchen Sonnabend weniger Chorgeld als ich die Woche lang für Brot und Kostgeld bezahlt hatte.
Fast alle meine Kameraden, auch manche der Untern, fanden Gelegenheit, eine oder die andere Stunde zu geben, sollte es auch nur im A B C oder Buchstabierenlernen sein, wobei der kleine Verdienst kaum die Schuhsohlen bezahlte. Ich allein hatte kein Glück, nebenbei noch etwas zu verdienen, obschon ich einheimisch war und selbst meine beiden Lehrer sich Mühe gaben, mir zu einer wissenschaftlichen Lehrstunde zu verhelfen. Zweimal zwar schien das Glück auch meiner sich huldreich zu erinnern. Ein beweibter Töpfergeselle nämlich verlangte Unterricht im Briefschreiben, war aber in der Fähigkeit des Schreibens selbst noch weit zurück. [183] Ich plackte mich mit dem Dummhute, der nur Abends um 8 Uhr Zeit hatte, bis er noch vor Ende des zweiten Monats durch die Lappen ging, Weib und Kind nebst manchen Schulden hinterließ. Ohne einen Pfennig von ihm erhalten zu haben, gab ich der trostlosen Frau die vierthalb Groschen, die ich eben bei mir hatte, auch noch dazu. Mit etwas besserm Glücke gab ich im letzten Winter 1772 der Mamsell Braut meines Perüquiers eine Schreibestunde, wofür ich zwar ebenfalls kein Geld, aber doch eine neue, sehr gute Beutelperücke erhielt.
Verfassungsmäßig hielten die, welche als Academici das Chor verließen, nach gehaltenem Abschieds-Actu einen Valediktionsumgang bei der Bürgerschaft, der meinen Vorgängern immer zwischen 30 und 40 Taler eingebracht hatte. Auch dieses Emolument wurde mir sehr verkümmert, da teils durch die enorme Teuerung die Freigebigkeit der Wohltäter merklich zusammen schrumpfte, teils wir beide zugleich Abgehende diesmal das Erhaltene teilen mußten, so daß meine Hälfte nicht mehr als 14 Taler 10 Groschen betrug. Hierzu kam noch 1 Dukaten von zwei etwas distinguiertern Bürgermädchen, deren Bekanntschaft ich durch meine Verseleien gemacht hatte und mit denen ich zuweilen einen mir anständigen Umgang zu führen Gelegenheit fand, da ich hingegen zu ambitiös war, die Mädchenbekanntschaften meiner Kameraden oder das „Schülergut“, wie unser Pastor Schnabel sie nannte, nach meinem Geschmacke zu finden. Daher auch nie ein Mädchen es wagte, mir bei Gregorius-Umgängen ein Band an die Geige zu offerieren, mit denen andere buschweise als mit Ordensbändern zu paradieren strebten. Selbst bei meinen beiden Freundinnen hatte ich mir diese Höflichkeit im Voraus verbitten lassen.
Vom Sonntage Estomihi 1772 ging meine sogenannte Kandidatenfreiheit an, wo ich zum erstenmale mit Ablegung des schwarzen Ornats und der Stutzperücke in bunter Kleidung, Beutelperücke oder eigenen Haaren erscheinen konnte, von allen und jeden Chor- und Kirchendiensten befreiet war, die gewöhnlichen Chorintraden aber exklusive der Accidenzien bis Sonnabends vor Johannis alter Observanz gemäß fortgenoß. Am 1. Juni, Montags nach Exaudi, hielt ich bei unserm gemeinschaftlichen Abschieds-Actu zuerst eine lateinische Rede über das vom Rektor vorgeschriebene Thema: Largitas claros facit, oder: Über das Ruhmwürdige der Freigebigkeit, und zum Schlusse ein selbstgefertigtes Empfehlungs- und Danksagungsgedicht. Zwei andere Reden hatte ich bei ähnlichen Gelegenheiten bereits in den beiden vorigen Jahren gehalten. Der Herr Rektor unterließ zwar nicht, sowohl im Programm als in den beiden Testimoniis mit sehr vielen Lobsprüchen uns den Gönnern und Wohltätern nachdrücklich zu empfehlen; aber es war um jeden verschriebenen Tropfen Tinte schade, da weder in Dresden, noch in Wittenberg jemand die mindeste Notiz davon genommen hat. Donnerstags nach Pfingsten geschahe unsere gemeinschaftliche Abreise auf einem Elbkahne. . . . . .
Bei all der eingeschränkten und zum Teil sehr kümmerlichen Lebensweise, die ich seit meiner Kindheit in meiner Vaterstadt geführt hatte, durfte ich doch ebensowenig mich beschweren, daß es mir, besonders in den drei letzten Jahren, eigentlich übel gegangen sei, als ich hoffnungsvolle Aussicht gehabt hätte, in Wittenberg ein besseres Schicksal erwarten zu dürfen. Gleich wohl war die Begierde nach diesem mir ganz fremden Orte bei mir ebenso stark, als die indolente Gleichgiltigkeit, mit der ich Dresden und alles, womit ich bisher in Verbindung gestanden hatte, aufzugeben und zu verlassen bereit war. Die kindische Laune, von welcher ältere nicht minder als jüngere Leute zuweilen mehr oder weniger befallen werden, Liebe zur Veränderung, lag auch hier offenbar bei mir zum Grunde. Dresden, das sonst so mannigfaltig anziehendes hat. war mir seit 20 Jahren nun zu alltäglich geworden, und ich würde vielleicht bloß der Veränderung wegen die Reise in die Tartarei angetreten haben, um andere Menschen und Gegenstände zu sehen.
Doch nicht diese sinnliche Laune allein, sondern auch zugleich ein edleres Streben wirkte ebenso dringend hierbei mit. In jedem der verflossenen acht Jahre hatte wenigstens einer von uns Choralisten zu Ostern die Akademie bezogen. Diese Herren Studenten, welche während der Ferien längere oder kürzere Zeit sich auch in Dresden einfanden und nicht nur ihre Person, sondern auch ihre neuen akademischen Studien und Kenntnisse mit moquanten Seitenblicken auf ihren durchlaufenen Schulkursus sich zu produzieren bestens beflissen waren, trugen nicht wenig dazu bei, die Vorzüge des akademischen Lebens zu empfehlen und besonders auch in mir die Sehnsucht nach einer höhern wissenschaftlichen Ausbildung aufzuregen, jemehr ich es fühlte, wie nur langsam und kindische Fortschritte in reifern Kenntnissen ich auf dieser Schule zu machen vermöge. Alle übrige Schwindeleien von den Annehmlichkeiten des sogenannten freien Burschenlebens hatten für mich keinen Reiz, da ich auf der Schule dazu weder verwöhnt noch geneigt war.
Das bisherige Hemmen in meiner Lernbegierde und der ungenügende Unterricht waren hauptsächlich daran schuld, daß es mir in Dresden nicht mehr gefallen wollte und ich mit Hofmann forteilte, da ich doch noch ein Jahr wenigstens seine Stelle als Präfekt hätte bekleiden und wahrscheinlich um 50 Taler reicher den armseligen Anfang meiner neuen Karriere beginnen können.
[184] Auf einem der beiden Elbkähne, welche in Dresden Getreide abgeladen hatten und leer nach Magdeburg zurückkehrten, hatten ich, Hoffmann und noch ein Freiberger Gymnasiast Namens Fleischer nebst noch drei andern Passagieren unsere Fahrt mit unsern wenigen Habseligkeiten verdungen. Der zweite leere Kahn hatte kaum Raum genug, das ansehnliche Gepäcke eines andern im akademischen Ofen neu zu backenden Studenten zu fassen, den sein Vater, der Rentschreiber Raabe, nach Wittenberg begleitete und der uns drei arme Schlucker in den Hintergrund zu stellen Miene machte. Wir richteten indeß unsere dreitägige Reisewirtschaft nach unsern Beuteln ein und genossen mit den Schiffleuten zum Frühstücke eine Kofentsuppe. Den Einkauf für den Mittags- und Abendtisch besorgte ein an uns sich anschließender Bildhauer; eine Korbmachersfrau half uns mit Tisch- und Küchengeschirr aus und eine bisherige Köchin unsers Rektors, die zu ihrem Manne nach Torgau reisete, besorgte unsere Küche. Eine mit einer Schürze bedeckte Schifferkiste war unser Tisch, um den wir alle sechs uns drängten, stehend unsere Mahlzeiten hielten und jedes sein bischen witzige Laune als Gewürz dazu spendierte.
Diese Reise fanden wir am Tage unterhaltend genug, da wir von Ort zu Ort auf beiden Seiten der Elbe lauter uns neue Gegenstände erblickten, von denen die gesprächigen Schiffleute uns manches Histörchen und Märchen zu erzählen wußten. Nur die ziemlich kalten Nächte wollten uns nicht behagen, da in der Kajüte für uns Fremden nicht Raum genug war und wir uns nicht trennen wollten, wenn auch innerhalb derselben einer oder der andere ein leidliches Plätzchen gefunden hätte. Da wir in der ersten Nacht auf dem Wasser die Kälte noch mehr gefühlt hatten, legten die Schiffsleute am zweiten Abende unterhalb Pretzsch bei einem Gehölze an. Wir stiegen insgesamt aus, sammelten dürre Reiser zu einem großen Feuer an einem gedeckten Orte, um welches wir uns lagerten und die Kälte weniger fühlend, zum Teil auch schliefen. Folgenden Vormittags, nachdem wir zwei Tage und einige Stunden mit dieser Wasserreise zugebracht hatten, erreichten wir Wittenberg, und ich durfte auf die ganze Fahrt für mich, einen Koffer, ein Lädchen und einen Bettsack nicht mehr als 16 Groschen bezahlen. Für diesen sehr billigen Preis habe ich keine der folgenden Elbreisen wieder getan.
- ↑ Er schildert das Examen folgendermaßen: Die ganze übrige Zeit
verging mir beinahe mit lauter Hudeleien wegen des Examens.
Alle Sessionstage mußten wir Kompetenten im Hause des Oberhofpredigers erscheinen, und ohne ihn zu sprechen, doch durch den Bedienten unser Dasein melden lassen und dann wieder fortgehen. Ich bin dieses Examens wegen in allem 19mal in seinem Hause gewesen und nur viermal vor ihn gekommen.
Es hatten sich damals 63 gemeldet, von denen nur 31 admittiert wurden; die übrigen 32, die zum Teil weit her waren und an einem fremden Orte viel Geld verzehret hatten, mußten nach langem, vergeblichem Warten traurig wieder fortziehen. Mir würde es diesmal nicht besser geglückt haben, hätte nicht der Kapelldirektor Richter sich für mich verwendet. Die Tochter des Oberhofpredigers war ehedem eine seiner Schülerinnen gewesen, an diese schrieb er ein Billet mit der Bitte, sich für mich bei ihrem Vater zu verwenden. Ich hätte als Einheimischer eher noch als ein Fremder warten können, aber so viele vergebliche Gänge hätten mich doch sehr gedauert.
Das am 15. Mai gehaltene Examen war wie gewöhnlich. Der Oberhofprediger (Hermann) schwadronierte, more suo, ohne bestimmten Anhaltepunkt, hie und da herum. Ins Tiefere ging er nicht leicht, daher auch Schwache bei ihm durchkommen konnten, zumal, da er viele Fragen gleich selbst beantwortete, wenn jemand nicht prompt sich explizierte, und wenn er so recht im Zuge des Sprechens war, las und vertirte er die aufgeschlagenen Schriftstellen größtenteils mit. Der Superintendent D. Am Ende machte es im ganzen auch nicht schwer, blieb aber doch genauer bei der systematischen Klinge, nur hatte er zuweilen eigene Einfälle. Er begann mit der Einleitung, daß, nachdem er bisher einiges über die Lehre von Gott verhandelt habe, er nun auf die Anthropologie übergehen wolle und fragte mich, ob mir nicht eine hierher passende Stelle aus dem Augustino beifalle? Diese fiel mir nun freilich nicht bei, da ich die zwölf Foliobände starken Opera Augustini omnia nie gesehen, geschweige gelesen hatte. Um nicht zu verstummen, fingierte ich ex tempore den Satz: Cognosce Deum et te ipsum. Er schüttelte den Kopf und sagte, die Stelle, die er meine, laute also: Summum Christianismi in eo consistit, nosse Creatorem, nosse peccatorem, nosse Saluatorem. Er ging hierauf das Dogma vom göttlichen Ebenbilde durch. Meine abverlangte kurze Definition, es sei conformitas cum Deo, ließ er zwar gelten, fragte aber auch zugleich, ob mir nicht der Titel eines ähnlich benannten Buchs aus der Kirchengeschichte bekannt sei? Es war bloßer Zufall, daß mir sogleich auf der Stelle des heiligen Francisci liber conformitatum Jesu einfiel und nicht mit nescio antworten mußte.
Die Kandidatenpredigt abzuhören stund D. Hermann an der Reihe, zu welcher er mir Levit. XXVI, 11, 12 als Text vorschrieb und ich 18 Stunden hernach, inklusive der Nacht, die lateinische Disposition davon bei ihm einreichen mußte. Diese und das Fragment der gehaltenen Predigt zensierte er hernach mit Bezeigung seiner völligen Zufriedenheit. Um aber doch etwas zu tadeln, machte er viel Aufhebens über ein verschriebenes et, für welches ich ex gesetzt hatte, und wie viele Mühe es ihm gemacht habe, den dadurch entstellten Sinn herauszubringen. Wer sollte solchen Stumpfsinn wohl von einem lateinischen Schulknaben, geschweige von einem Oberhofprediger, Kirchenrate und Oberkonsistorialassessor erwarten.
Ohnerachtet wir vier Examinandi einander merklich ungleich waren, so wurden wir doch alle über einen Kamm geschoren und bekamen, einer wie der andere, die zweite Zensur, worüber besonders der eine Leipziger, der wegen seiner Suade eine bessere erwartet hatte, äußerst unzufrieden war. Zur künftigen Beförderung nützten dergleichen Zensuren nur sehr selten etwas, da zu meiner Zeit beim Anhalten um eine Stelle wenig darnach gefragt oder darauf reflektiert wurde, da fast alles nur von Gunst, Empfehlung und Zufall abzuhangen pflegte. - ↑ Über sein Zusammentreffen mit dem späteren Oberhofprediger
D. Franz Volkmar Reinhard im Konvikte der Universität
zählt er: Als ich nach meiner Rückkunft von Dresden mich wieder
im Konvikte meldete, wählte mich der Lokator zum Senior am
vierten Tische, an welchem der nachherige D. Reinhard auf die
vierte Stelle gewiesen war und ich dadurch Gelegenheit fand, ihn
näher kennen zu lernen. Er war bereits ein Jahr in Wittenberg,
wo er als ein homo obscurus lebte, in keinem Collegio irgend
eines Professors gesehen wurde, außer bei D. Schmidt, bei dem
er, gleich bei seinem Eintritte in die akademische Welt, als Famulus
figurierte, worüber jedermann sich wunderte und seine
finstere Physiognomie ebenso auffallend als abstoßend fand, sowie
nicht minder seine auszeichnende Kleidung, welche in einem blaßblauen
Rocke, roter Weste, schwarzen Beinkleidern und weißen
Strümpfen bestand. In diesem Anzuge habe ich ihn diese zwei
Jahre über stets und nie anders gesehen. Erst nachdem D. Tittmann
zu Johannis 1775 Propst an der Schloßkirche wurde, besuchte
Reinhard dieselbe, vorher aber wollte ihn niemand in einer
Kirche bemerkt haben. Das einzige Kollegium, wo ich ihn getroffen,
war bei D. Dresde, im Rabbinico, wo er nebst mir und dem nachherigen
Hofprediger Jacobi in Dresden auf einer Bank saß und
nach und nach uns alle überholete.
Soviel auch sonst bei Tische im Konvikte geplaudert wurde: Reinhard allein beobachtete ein Pythagorisches Schweigen. Indes hatte ich zweimal die Ehre, einiger Worte von ihm gewürdigt zu werden. Es sollten einst Kaldaunen verauktioniert werden, welche R. sehr gern aß und ich nicht minder. Indem der Judex dieselben ausbot und ich ihm winkte, auf mein licitum zuzuschlagen, während R. dieselben noch näher besichtigen wollte, ließ er seinen Unwillen darüber gegen mich aus. (Manche Speisen wurden an jedem Tische verauktioniert, so daß nur der sie genoß, der sie erstund, z. B. die großen Rosinen, das Netz von der gebackenen Leber, statt des Bratens, die Rindsflecke oder Kaldaunen.) Ein andermal war er selbst Judex gewesen, welches wöchentlich abwechselte. Statt daß jeder Abtretende das geführte Tischrechnungsbüchlein dem Senior in die Hand gab, welcher nach geschehener Durchsicht es dem sequenti überreichte, tat Reinhard dieses nie, sondern legte es wie verstohlen mir jedesmal auf den Teller. Da mich die konfuse Zusammenstellung der aufgeführten Posten frappierte und ich ganz ruhig ihn fragte, warum es ihm nicht gefallen habe, wie überall geschehen, Einnahme und Ausgabe zu separieren, erhielt ich eine ziemlich hämische Sottise zurück, die ich zu erwidern nicht für gut erachtete, die Tischgesellschaft aber nicht minder frappieren mochte, da auf einmal alles Gespräch stockte und nur nach und nach wieder in Gang kam. Reinhard mochte sich selbst schämen, länger an diesem Tische zu bleiben, da er sogleich folgenden Tages sich an den elften Tisch setzen ließ. Auch hier blieb er nur einige Wochen, da ihn D. Schmidt ganz in sein Haus und zugleich an seinen Tisch nahm, sowie er von nun an der Gründer seines nachherigen Glücks directe und indirecte ward. - ↑ G. Nieritz, Selbstbiographie, Leipzig 1872, S. 31.
- ↑ J. G. A. Kläbe, Neuestes gelehrtes Dresden, Leipzig 1796, S. 149.
- ↑ Vgl. Riemann, Musiklexikon, 5. Aufl., Leipzig 1900, S. 1018.
- ↑ Er berichtet eingehend über den Besuch, den er bei diesem
Anlasse dem Oberhofprediger D. Reinhard am 16. November 1800
machte, und erzählt darüber u. a. folgendes: . . . Gegen 7 Uhr
trat der Bediente ein, ohne ein Wort zu sagen, den er mit dem
kurzen: Es ist gut! abfertigte. Itzt faßte er meine Hand und sagte:
Er mache, kurz und gut, es mir zur Gewissenssache, den geistlichen
Stand nicht zu verlassen, da ich desselben fähig und würdig mich
gezeigt habe. Ich solle wiederkommen, er gäbe mir sein Wort,
daß ich bei der ersten Gelegenheit versorgt werden solle, wenn es
auch, der Form gemäß, nicht die ganz erste sein könne, doch gewiß
die nächste. „Allein mit der Bedingung – setzte er hinzu – erwähnen
Sie des Vergangenen nicht und wir werden auch nichts
erwähnen.“ Gerührt drückte ich ihm die Hand und versprach,
seinem Rate zu folgen. So stunden wir auf; beim Eintritte ins
Wohnzimmer fanden wir den Tisch mit vier Couverts gedeckt.
„Sie bleiben da und essen eine Suppe mit uns.“ Sein Famulus
war der vierte Tischgast.
So human er im Kabinett sich gegen mich benommen hatte, so gesprächig und herzlich, ja selbst heiter und spaßhaft benahm er sich bei Tische. Er erwähnte gegen seine Gemahlin, daß wir Zeitgenossen in Wittenberg, beide „arme Schlucker“ gewesen wären und im Konvikte an Einem Tische gespeist hätten. „Ach – fuhr er fort – war nicht ein kleiner Zwist einmal zwischen uns? Erzählen Sie es doch meiner Frau.“ Ich war verlegen; der verpfuschten Tischrechnung konnte ich nicht gedenken, dafür erwähnte ich die Geschichte mit den Kaldaunen, worüber er recht herzlich lachte und sagte: „Ja, ja, so war es“. Unter andern fragte er nach meiner Wohnung; als ich deren Lage (in Fischersdorf) ihm angab, sagte er: „Ei, da sind wir ja wohl im Sommer recht nahe Nachbarn“? Ich versicherte, daß ich aus meinen Fenstern sein Gartenhaus sehen könne und wir beide Einen Nachtwächter hätten, über dessen Gesang er ebenfalls sich lustig machte. Als nach dem Aufstehen vom Tische ich mich empfehlen wollte, sprach er: „Nein, Sie bleiben noch“, und sprach ambulierend noch mancherlei mit uns beiden, empfahl zu Erleichterung des Memorierens das möglichst enge Konzipieren, holte zur Probe eine Hand voll seiner Predigtkonzepte, welche sämtlich auf feines Papier sehr kompreß auf höchstens sieben Quartseiten in gespaltenen Kolumnen geschrieben waren. Halb 10 Uhr hatte ich Erlaubnis, Abschied zu nehmen.
Unvergeßlich bleibt mir dieser merkwürdige Abend, sowohl in Ansehung D. Reinhards, den ich hier in vita privata ganz anders fand, als ich weder vor- noch nachher in vita publica ihn nie gefunden habe, als auch in Ansehung der Folgen desselben für mich. Redlicher als Tittmann hielt er sein Versprechen, und nach nicht länger als acht Wochen war, hauptsächlich durch seine Vermittelung, mein künftiges Schicksal durch die Designation nach Ortrand zu meinem Besten entschieden. - ↑ Die Handschrift befindet sich noch im Besitz der Familie und ist mir von den Geschwistern Margarethe, Martin und Henri Scheuffler zur Veröffentlichung freundlichst überlassen worden.
- ↑ Die Abschnitte über die Kriegsereignisse sind bereits im Dresdner Anzeiger vom 29., 31. Oktober und 5. November 1876 veröffentlicht, dort aber natürlich jetzt kaum noch zugänglich.
- ↑ Diese (erst nachträglich eingefügte) Zahl beruht auf Irrtum; es waren in Wirklichkeit 285 Häuser, größtenteils in der Pirnaischen Vorstadt, abgebrannt.
- ↑ Ebenfalls unrichtig; am 30. August 1759 wurden in der Wilsdruffer Vorstadt 85 Häuser zerstört.
- ↑ Jetzt Zinzendorf-Straße.
- ↑ Er hatte sich die pathetische Aussprache des alten Pastors Neumeister, zu dessen Predigten er häufig mit in die Annenkirche genommen worden war, angewöhnt.
- ↑ Am jetzigen Georg-Platz, abgebrochen 1897.
- ↑ Heinrich Zacharias Gleditsch, seit dem 24. März 1760 Waisenhausprediger, seit 1772 Pfarrer in Leuben, gest. 1781.
- ↑ Annen-Straße.
- ↑ M. Joh. David Hennig, seit 1760 Prediger am Ehrlichschen Gestift, seit 1774 Pfarrer in Loschwitz, gest. 1787.
- ↑ Die kleine Grammatik des Älius Donatus, seit dem Mittelalter das Hauptlehrbuch beim lateinischen Elementarunterricht.
- ↑ Bestellte Ständchen bei Familienfesten und dergleichen.
- ↑ M. Gotthelf Conrad Goldschad, geb. in Possendorf 1719, Rektor seit 1750, von 1763 an Pfarrer in Leubnitz, gest. 1793.
- ↑ Muß heißen: auf der Krenzschule.
- ↑ Joh. Friedr. Drobisch, seit 1753, gest. 1762.
- ↑ Dier Schüler trugen Gabeln, die sie unter die Bahre setzten, wenn die Leichenträger wechseln oder ausruhen wollten.
- ↑ Schützengasse.
- ↑ Handelshaus van der Breling, auf der Hauptstraße im sogenannten „Gottessegen“.
- ↑ M. Joseph Amadeus Schnabel, seit 1751 Diakonus, seit 1770 Pfarrer an der Annenkirche, gest. 1786.
- ↑ In der Annenstraße, Ecke der Röhrhofsgasse.
- ↑ Er trat 1813 bei seinem 50jährigen Amtsjubiläum in den Ruhestand und starb 1816. Vgl. C. G. Schramm, Geschichte der Annenschule. Dresden 1860, S. 77.
- ↑ Die gestriegelte Rockenphilosophie oder Untersuchung vieler Weiber hochgehaltenen Aberglaubens. Chemnitz 1759.
- ↑ Johann Gottlieb am Ende, gestorben 1781.
- ↑ Christoph Ludwig Fehre, seit 1757, gest. 1772.
- ↑ Johann Georg Meyer, 1777 Kantor in Jöhstadt, 1787 in Zwönitz, gestorben 1817.
- ↑ Wohl Fürstenwalde.
- ↑ Wohl Fürstenwalde.