sondern mit schicklichem Ausdrucke, so gut wir vermochten, deklamieren sollten, zu welchem Ende er mehrere Proben hielt. Tags drauf wurde zensiert und die es am besten ohne Anstoß und Fehler gemacht hatten, denen gab er aus seinem Beutel eine kleine Prämie zur Aufmunterung. Aus seiner Tasche bezahlte er auch den Choralisten von der Annenschule, der vierzehntägig Mittwochs mit uns Liedersingstunde hielt, da wir in den Betstunden selbst unsre Lieder anfangen und in Ordnung erhalten mußten.
Seines sonst sanften Temperaments ungeachtet, übte er doch eine ziemlich ernste Zucht, die er auch nötig hatte bei 50 mehrernteils mindergesitteten Knaben, von denen manche die andern verderben halfen und die kriegerischen Zeitumstände Ordnung und Sittlichkeit auch nicht beförderten. Von unsern Schulfenstern ging die Aussicht auf die nahe äußere Freiberger Straße, wo wenige Tage vergingen, da nicht einige Bataillons der Kaiserlichen Besatzung auf derselben sich stelleten, exerzierten, feuerten oder Spitzruten laufen ließen. Da war es denn nicht zu verhüten, daß nicht die Köpfe der an der ersten Tafel Sitzenden sich häufig nach den Fenstern umdreheten, und bei den Übrigen alle Attention untereinander getrommelt, gepfiffen und zusammengeschossen wurde. Mitunter fielen auch Exekutionstage ein, wo Verbrecher gehangen oder erschossen werden sollten. Da war denn vollens bei uns kein Bleibens, und der gute Hennig tat da am besten, daß er geradezu den unruhigen Geistern selbst befahl, fortzugehen, wenn sie ihre Neugierde nicht bändigen könnten. Da der gleichen mehrmals vorfiel, hörte dieses Fortlaufen nach einigen Exekutionen von selbst auf. Ein einzigesmal nur, gleich anfangs, schloß ich mich auch mit an; da es aber an diesem Morgen gerade sehr kalt war und ich kleiner Knirps vor Gedränge soviel als nichts gesehen hatte, war meine unbefriedigte Neugierde für die Folge gedämpft. Als nach dem Frieden die Stadt von den Kaiserlichen geräumt war und meine Eltern an einem der nächsten Sonntage in der Gegend der Freiberger Straße herumspazierten, zählten wir noch elf Pfähle für Gehangene und vier Sandhaufen für Erschossene.
Unter solchen Umständen konnte auch die beste Schulverfassung nicht gedeihen und unser Lehrer bei all seinen guten Lehrgaben nicht das Gute stiften, dessen er fähig war. Er ließ uns nichts auswendig lernen, was er nicht auch erklärte und durchkatechisierte, und es gelang ihm, als asketischem Prediger, dieses ebenso herzlich und eindringlich als faßlich zu tun. Da ich bereits zu Hause einer religiösen Denkungsart gewohnt war, so ging dieser doppelte Eindruck des Unterrichts um so weniger bei mir verloren. Hübners biblische Historien traktierte er fleißig; mir haben sie für meine frühzeitige Bibelkenntnis vielen Nutzen geschafft. Meine vorher in Kohls Schule zwar feste aber etwas steife Hand ward itzt, bei dem flüchtigern Duktus des neuen Lehrers, geschmeidiger, klärer und selbst etwas kritzlich, dabei ich jedoch auch wieder an mehrerer Fertigkeit gewann, sowie an Übung, fremde Hände zu lesen, da wir dergleichen öfters zum Abschreiben erhielten. Dictando geschrieben wurde zwar auch, aber nicht dadurch, sondern durch mein vieles Lesen hat sich mir die orthographische Richtigkeit, ohne näheres Bewußtsein einiger Regeln, gleichsam von selbst in den Kopf getrichtert.
Unter den Hennigschen Schulstrafen war der Stab Wehe der Bakel, sowie der Stab Sanft Heruntersetzen um einige Stellen oder das Dableiben nach der Schule. Letzteres betraf einst auch mich nebst drei andern. Während unseres Arrests hielt unser Lehrer lateinische Privatstunden mit zwei Knaben, von denen der eine, Reichel, mein dritter Vornachbar an der ersten Tafel, der andere ein fremder war. Diesem Unterrichte hörte ich mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu und konnte mirs gar nicht denken, wie jemand so etwas in den Kopf bringen könne, empfand aber große Sehnsucht, es auch zu verstehen. Wäre meine Ambition nicht ins Gedränge gekommen, ich hätte gewünscht, öfterer Arrest zu haben, um zuhören zu können. Da an Privatstunden meinerseits nicht zu denken war, so sollte nun Reichel mein Lehrer werden, der sich willig dazu bezeigte, indem ihn dieses Zutrauen zu schmeicheln schien.
Um zu diesem Privatstudio Zeit zu gewinnen, kamen wir vormittags öfters ½ Stunde früher in die noch leere Schule. Da zeigte er mir nun das ganze Gerüste des lateinischen Sprachbaues in seinem Donate[1]; Paradigmata vorn und hinten; deklinierte und konjugierte mir vor, daß mir Hören und Sehen verging, ohne in all diesen Wirrwarr im geringsten mich finden zu können, so daß mir fast alle Lust und Zutrauen zu mir selbst dabei verging. Indes war dieser Versuch nicht ohne Nutzen. Die zu Ende des Donats lateinisch und deutsch beigefügten biblischen Sprüche, die ich mehrenteils bereits gelernt hatte, fand ich sehr interessant. Da ich durch die lateinischen Hymnen im damaligen Dresdner Gesangbuche mich im Lesen dieser Sprache bereits geübt und vermittelst des Metrischen dieser Gesänge auch die Betonung der Wörter größtenteils erraten hatte, so fing ich mit vielem Eifer an, gedachte lateinische Sprüche auswendigzulernen. Es war mir, als ob ich mit den deutschen auch die lateinischen Worte verstünde, besonders in solchen Stellen, wo Wort auf Wort paßt; nur blieb es mir unbegreiflich, warum dieses nicht immer so passe. Ich hatte mir auf solche
Anmerkungen
- ↑ Die kleine Grammatik des Älius Donatus, seit dem Mittelalter das Hauptlehrbuch beim lateinischen Elementarunterricht.
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 4 (1905 bis 1908). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1905 bis 1908, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Vierter_Band.pdf/168&oldid=- (Version vom 22.1.2025)