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Seite:Dresdner Geschichtsblätter Vierter Band.pdf/179

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aufgemerkt, in der Folge aber habe ich diese Rechnungen unter meinen Papieren nicht wieder aufgefunden. Um indes diese Lücke möglichst richtig zu ergänzen, habe ich, da in den letzten Jahren meines Kandidatenlebens ich den ersten Entwurf meiner Biographie bearbeitete, alle in den Rechnungsbüchern des Annenchores auf meinen Anteil eingeschriebenen Geldposten, an wöchentlichem Kurrende-, Quartal-, Martini-, Neujahr-, Konzertisten- und Johannesgelde, mit Vergünstigung des damaligen Rektors exzerpiert. Die dreijährige Summe von allem à 116 Gulden 10 Groschen 3 Pf. in drei Teile zerspalten, gibt auf jedes einzelne Jahr 38 Gulden 17 Groschen 5 Pf. Zu diesen die Accidentien vom Tüchel- und Gabelgelde jährlich höchstens auf 3½ Gulden geschätzt, dazu gerechnet, beträgt die Summe auf jedes der drei Jahre im Durchschnitt 42 Gulden 6 Groschen 11 Pf. oder 37 Taler 5/8 Pfennig.

Meine Stiefmutter, welche aus dem, was ich bisher von meinem ordentlichen Chorverdienste dem Vater jedesmal übergeben hatte, den Ertrag meines Einkommens zu beurteilen vermochte, befand es für gut, sogleich nach des Vaters Tode mich gleichsam für majorenn zu erklären und meine Kassenangelegenheiten meiner eignen Disposition zu überlassen. Sie konnte in der Tat auch nicht anders, da das, was sie zu verdienen vermochte, nur unzureichend ihren eigenen Bedürfnissen Genüge tat und ich sonach irgend eine Unterstützung von ihr weder verlangen noch erwarten konnte. Wir richteten indes unsere kleine Wirtschaft also ein, daß sie alles aufschrieb, was gemeinschaftlich für uns beide an Kost, Holz, Licht und andere Bedürfnisse auszugeben nötig war, wozu ich durchgängig den halben Anteil beitrug, alle übrigen persönlichen Erfordernisse allein bestreiten mußte.

So äußerst eingeschränkt und spärlich wir auch solcher Gestalt unsere armselige Haushaltung führten, so vermißten wir doch überall den väterlichen Erwerb als die Hauptquelle. Um zum Hauszinse einen Beitrag zu gewinnen, da wir unsere bisherige gesunde und bequeme Wohnung gern behalten wollten, nahmen wir zweimal jemand zu uns auf die Stube, welches jedoch uns beide und mich am meisten belästigte und nicht selten aus Verdruß mich verleitete, außer dem Hause Umgang und Zerstreuung zu suchen, wodurch ich gleichwohl weder an Erheiterung noch an wissenschaftlichen Fortschritten gewann. Nachdem wir 5/4 Jahr auf solche Weise kümmerlich miteinander gelebt hatten, erachteten wir beiderseits für notwendig, uns zu trennen. Die Mutter zog zu Johannis 1767 in Dienste zu einer bekannten Familie und ich erhielt Quartier bei einer andern Freundin der Mutter, die nebst ihrem Manne mir einen Teil ihrer geräumigen Stubenkammer einräumte.

2. Die zwei Jahre im halben Gelde.

Ein Vierteljahr vor besagter Trennung von meiner Pflegemutter bald nach Ostern erfolgte dieses Avancement in den zweiten oder mittelsten Rang eines Chorschülers der Annenschule, und zwar früher, als es eigentlich der Ordnung oder Anciennetät nach würde geschehen sein. Ich wurde nämlich über meinen Vordermann hinweggesetzt, welches gleichsam eine Schadloshaltung dafür war, daß derselbe drei Jahre vorher beim Einrücken ins Chor mir vorgesprungen war. Dieses bewog ihn, das Chor zu verlassen, welches an ihm auch nichts verlor, da er durchaus kein musikalisches Temperament hatte, nicht nur selbst liederlich war, sondern auch andere verleitete, die er, wenn sie nur Partie mit ihm machten, gern freihielt, da er immer Geld hatte, welches er seinem Großvater wegstibitzte, auch endlich, da er Büchsenträger war, stark in Verdacht kam, dieselbe bestohlen zu haben.

Nun hatte ich doch die drei beschwerlichsten Dienstjahre überstanden, von denen das letztere mir als Waise, der väterlichen Unterstützung beraubt, um so drückender werden mußte. So oft ich die damaligen Situationen meines Jugendlebens in einzelnen Partien sowie im Zusammenhange, die meiner Erinnerungskraft noch unverloschen vorschweben, mir zurückdenke, so ist es gleichsam ein Wunder vor meinen Augen, wie mein sonst schwächlicher und im Wachstum zurückgebliebener Körper alle dergleichen Strapazen in Frost und Hitze, Nässe und Kot, ja ich kann hinzusetzen, in Blöße und Hunger hat aushalten können. Meine zwar vollständige, aber doch nur notdürftige und für den Eindruck rauher Witterung nicht ganz zureichende Kleidung wurde überdies durch den angestrengten Gebrauch, durch das Schleppen einer Menge gebundener Chorbücher unter dem Arme und in den Taschen, durch das viele Abnutzen auf dem Pflaster manchen Beschädigungen und Defekten ausgesetzt, die nicht allemal sogleich repariert werden konnten. Zwischen den Vor- und Nachmittagskurrenden blieb oft so wenig Zeit, daß ich dazwischen nicht zu Hause gehen konnte, besonders solange meine Eltern noch auf der entfernten Schießgasse wohnten, um, zumal in rauher Jahreszeit, etwas Erwärmendes zu genießen, sondern mich begnügen mußte, in der Hausflur des sogenannten Röhrhofes[1], wo zur Nachmittagskurrende unser gewöhnlicher Versammlungsort war, mit einem trocknen Dreierbrote vorlieb zu nehmen und einen Hut voll Röhrwasser dazu zu trinken. Zuweilen wurde mir auch wohl selbst dieser magere Genuß verkümmert, wenn es etwa einem unbilligen Großen einfiel, mir in dieser an sich kurzen Zwischenzeit noch eine Laufkommission aufzutragen.

Anmerkungen

  1. In der Annenstraße, Ecke der Röhrhofsgasse.
Empfohlene Zitierweise:
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 4 (1905 bis 1908). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1905 bis 1908, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Vierter_Band.pdf/179&oldid=- (Version vom 31.1.2025)