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Seite:Dresdner Geschichtsblätter Vierter Band.pdf/158

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XVI. Jahrgang          1907          Nr. 3.


Von diesen Blättern erscheinen jährlich 4 Nummern im Umfange von 1½ bis 3 Bogen. Bestellpreis für den Jahrgang
3 Mark. Die Vereinsmitglieder erhalten die Blätter unentgeltlich zugesandt.


Erlebnisse eines Annenschülers 1758–72.
Aus der Selbstbiographie des Pastors Christian Heinrich Schreyer
mitgeteilt von Dr. Otto Richter.

Christian Heinrich Schreyer, aus dessen handschriftlicher Selbstbiographie hier einige Abschnitte mitgeteilt werden sollen, wurde am 24. Dezember 1751 in Dresden geboren. Sein Vater Heinrich Schreyer, aus Großröhrsdorf gebürtig, war Maurer und versah zugleich den Dienst eines Hoffeuerwächters; er hatte sich 1748 mit Euphrosine Eleonore Grumbach, die aus einer böhmischen Gärtnerfamilie stammte, verheiratet. Christian Heinrich, ein kleiner, schwächlicher und schüchterner Knabe, erhielt die erste Anleitung zum Lesen von seiner Mutter, während diese gleichzeitig eine Anzahl Mädchen im Nähen unterrichtete. Die Erziehung, die ihm die sehr kirchlich gesinnten Eltern angedeihen ließen, war ziemlich streng, die Behandlung von seiten der Mutter, der das dürftige Kind ein Dorn im Auge war, vielfach hart und ungerecht, so daß er nicht zu trauern vermochte, als sie 1757 starb. Der Vater hatte sich dann eine frühere Nähschülerin der Verstorbenen, die Tochter eines Nagelschmieds Wustmann, zur zweiten Frau ausersehen, aber diese starb wenige Tage vor der Verlobungsfeier. Er heiratete nun 1759 die Anna Rosine Kretzschmar, die Tochter eines Maurers in Kreischa. Da sein Verdienst bei den schlechten Zeiten zur Erhaltung der Familie nicht ausreichte, betrieb die Frau die bisher von ihr geübte Strohflechterei weiter und zog zu diesen Arbeiten den Stiefsohn, den sie sonst gut behandelte, scharf heran. Sie widersetzte sich deshalb auch seinem sehnlichen Wunsche, die seit dem Tode der Mutter von ihm besuchte Ehrlichsche Armengestiftsschule mit der Annenschule zu vertauschen. Endlich erlangte er aber doch hierzu die Einwilligung der Eltern und wurde am 2. Juni 1763 als Chorschüler in die Annenschule aufgenommen. Die ärmlichen Verhältnisse der Familie verschlechterten sich noch, als der Vater 1766, nur 51 Jahre alt, starb; seitdem mußte sich der Knabe von seinem Verdienst als Chorschüler selbst erhalten, was ihm bei seinem Fleiße und seiner peinlichen Ordnungsliebe auch gelang. Er vermochte sogar noch ein kleines Sümmchen zurückzulegen, so daß er es damit wagen zu dürfen glaubte, seiner Neigung entsprechend Theologie zu studieren.

Zu Ostern 1772 bezog er die Universität Wittenberg. Die theologische Fakultät war damals dort im Zustande des Verfalls, und er fand daher in seinem Fachstudium wenig Förderung und Befriedigung, aber es war ihm wenigstens gute Gelegenheit geboten, in Seminarübungen seine von der Annenschule her noch sehr mangelhafte sprachliche Bildung zu vervollständigen. Am 15. Mai 1775 legte er vor dem Konsistorium in Dresden das Kandidatenexamen ab[1] und setzte hierauf

Anmerkungen

  1. Er schildert das Examen folgendermaßen: Die ganze übrige Zeit verging mir beinahe mit lauter Hudeleien wegen des Examens. Alle Sessionstage mußten wir Kompetenten im Hause des Oberhofpredigers erscheinen, und ohne ihn zu sprechen, doch durch den Bedienten unser Dasein melden lassen und dann wieder fortgehen. Ich bin dieses Examens wegen in allem 19mal in seinem Hause gewesen und nur viermal vor ihn gekommen.
    Es hatten sich damals 63 gemeldet, von denen nur 31 admittiert wurden; die übrigen 32, die zum Teil weit her waren und an einem fremden Orte viel Geld verzehret hatten, mußten nach langem, vergeblichem Warten traurig wieder fortziehen. Mir würde es diesmal nicht besser geglückt haben, hätte nicht der Kapelldirektor Richter sich für mich verwendet. Die Tochter des Oberhofpredigers war ehedem eine seiner Schülerinnen gewesen, an diese schrieb er ein Billet mit der Bitte, sich für mich bei ihrem Vater zu verwenden. Ich hätte als Einheimischer eher noch als ein Fremder warten können, aber so viele vergebliche Gänge hätten mich doch sehr gedauert.
    Das am 15. Mai gehaltene Examen war wie gewöhnlich. Der Oberhofprediger (Hermann) schwadronierte, more suo, ohne bestimmten Anhaltepunkt, hie und da herum. Ins Tiefere ging er nicht leicht, daher auch Schwache bei ihm durchkommen konnten, zumal, da er viele Fragen gleich selbst beantwortete, wenn jemand nicht prompt sich explizierte, und wenn er so recht im Zuge des Sprechens war, las und vertirte er die aufgeschlagenen Schriftstellen größtenteils mit. Der Superintendent D. Am Ende machte es im ganzen auch nicht schwer, blieb aber doch genauer bei der systematischen Klinge, nur hatte er zuweilen eigene Einfälle. Er begann mit der Einleitung, daß, nachdem er bisher einiges über die Lehre von Gott verhandelt habe, er nun auf die Anthropologie übergehen wolle und fragte mich, ob mir nicht eine hierher passende Stelle aus dem Augustino beifalle? Diese fiel mir nun freilich nicht bei, da ich die zwölf Foliobände starken Opera Augustini omnia nie gesehen, geschweige gelesen hatte. Um nicht zu verstummen, fingierte ich ex tempore den Satz: Cognosce Deum et te ipsum. Er schüttelte den Kopf und sagte, die Stelle, die er meine, laute also: Summum Christianismi in eo consistit, nosse Creatorem, nosse peccatorem, nosse Saluatorem. Er ging hierauf das Dogma vom göttlichen Ebenbilde durch. Meine abverlangte kurze Definition, es sei conformitas cum Deo, ließ er zwar gelten, fragte aber auch zugleich, ob mir nicht der Titel eines ähnlich benannten Buchs aus der Kirchengeschichte bekannt sei? Es war bloßer Zufall, daß mir sogleich auf der Stelle des heiligen Francisci liber conformitatum Jesu einfiel und nicht mit nescio antworten mußte.
    Die Kandidatenpredigt abzuhören stund D. Hermann an der Reihe, zu welcher er mir Levit. XXVI, 11, 12 als Text vorschrieb und ich 18 Stunden hernach, inklusive der Nacht, die lateinische Disposition davon bei ihm einreichen mußte. Diese und das Fragment der gehaltenen Predigt zensierte er hernach mit Bezeigung seiner völligen Zufriedenheit. Um aber doch etwas zu tadeln, machte er viel Aufhebens über ein verschriebenes et, für welches ich ex gesetzt hatte, und wie viele Mühe es ihm gemacht habe, den dadurch entstellten Sinn herauszubringen. Wer sollte solchen Stumpfsinn wohl von einem lateinischen Schulknaben, geschweige von einem Oberhofprediger, Kirchenrate und Oberkonsistorialassessor erwarten.
    Ohnerachtet wir vier Examinandi einander merklich ungleich waren, so wurden wir doch alle über einen Kamm geschoren und bekamen, einer wie der andere, die zweite Zensur, worüber besonders der eine Leipziger, der wegen seiner Suade eine bessere erwartet hatte, äußerst unzufrieden war. Zur künftigen Beförderung nützten dergleichen Zensuren nur sehr selten etwas, da zu meiner Zeit beim Anhalten um eine Stelle wenig darnach gefragt oder darauf reflektiert wurde, da fast alles nur von Gunst, Empfehlung und Zufall abzuhangen pflegte.
Empfohlene Zitierweise:
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 4 (1905 bis 1908). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1905 bis 1908, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Vierter_Band.pdf/158&oldid=- (Version vom 19.1.2025)