Weise von einer guten Partie lateinischer Vokabeln den deutschen Sinn selbst herausgefunden, als einst mein Reichel mir ein gereimtes Vokabularium mitbrachte, welches durchaus in den Ton gestimmt war: Deus Gott, panis Brot, ars Kunst, ardor Brunst, bos Rind, puer Kind usw. Das schien mir ein wichtiges Buch, welches mir mein Kamerad mit nach Hause erlauben mußte und aus dem ich mehrere Blätter auswendig lernte, bis mir der tote Vokabelkram doch zu trocken wurde.
Zu dergleichen wissenschaftlichen Privatübungen mußte ich denn freilich die ungestörten Zeitmomente oft mühsam zusammenstoppeln, da meine Stiefmutter mich itzt dringender zu ihren Stroharbeiten anhielt und über jede Viertelstunde nörgelte, die ich für mich anwenden wollte. Dadurch machte sie selbst mir diese Arbeiten immer lästiger, da deren Neuheit nun schon veraltert war und ich den Kopf itzt mit anderen Dingen voll hatte, die mich mehr interessierten. Ich wollte itzt immer lieber flechten als nähen, weil ich zu jenen, wie beim Stricken, die Augen weniger brauchte und dabei in das neben mir liegende Vokabelbuch mit sehen und lernen konnte, welches sie mir mehr als einmal wegriß und beiseite steckte. Die Folge davon war, daß wir uns beide über einander ärgerten und dadurch der erste Grund zu einer wechselseitigen Unzufriedenheit zwischen uns gelegt wurde, welche vorher seit fast drei Jahren nicht stattgehabt hatte. Durch mein Raffinieren auf neue farbige Flechtmuster hatte ich mir gleichsam eine Rute gebunden und die Mutter ebenfalls zum Raffinieren veranlaßt, wie sie, um mehr zu verdienen, besser in die Augen fallende Nähkörbchen, Tellerchen, Badewische und dergleichen fertigen könnte, die sie Jahrmarkts feil hatte; wodurch ich jedoch noch mehr zu tun bekam als gewöhnlich.
Ich sah freilich ein, daß dieses mütterliche Mitverdienen für die Umstände meiner Eltern nötig war, und schon dieses Gefühl erhielt zum Teil meine Willigkeit. Aber außerdem, daß ich dadurch in meinem Lernen aufgehalten wurde, litt auch offenbar meine Gesundheit darunter. Mein ohnehin schwacher Wuchs wurde noch mehr gehindert. Die Engbrüstigkeit von der Wiege an nahm itzt so zu, daß, wenn ich zuweilen mit andern Kameraden schnell laufen wollte, ich mich in der Luftröhre so verfing, daß ich mir unbewußt auf freiem Wege umfiel und mit dem Ersticken kämpfte. Hierzu kam im Jahre 1762 öfters Nasenbluten und selbst vier Anfälle von Blutsturz, der letzte sogar in meiner Geburtsnacht, die beinahe auch meine Todesnacht hätte werden können. . . . . . .
Es war aber des guten Vaters Wille nicht, mich sterben zu lassen, daher er sogleich folgenden Morgens einen der Hofärzte konsultierte, der mich auch zweimal besuchte und wieder zurechtbrachte, wiewohl es lange dauerte, ehe ich wieder zu völligen Kräften kam. Erst am 17. Februar [1763], als der zu Hubertusburg geschlossene Friede in Dresden ausgeblasen wurde, bin ich mit der Mutter zum ersten Male wieder öffentlich ausgegangen. Was ich bei dieser Gelegenheit in dem ungeheuren Menschengedränge bemerkt und erinnerlich behalten habe, ist, daß die Postillons vor Betrunkenheit auf den Pferden hin- und herwankten; daß ihr Blasen, von welchem ich mir etwas feierlich Schönes erwartet hatte, nur ein grelles untereinander Schmettern ausdrückte; daß auf der Schloßgasse Geld aus den Fenstern mancher Häuser ausgeworfen ward, wobei Hunderte vom Pöbel sich, etlicher geringhaltiger Silbermünzen wegen, wie das Vieh auf der Erde herumwälzten, einander wie die Hunde anfielen, die erhaschte Beute wieder aus den Händen rissen und darüber zankend und schreiend ins Handgemenge gerieten. Mir wurde Angst und wir hatten Mühe, uns wieder aus dem Gedränge zu winden. . . . . . . . .
So wenig die Masse meiner in diesen Kinderjahren erlangten Kenntnisse betrug, so wird man doch aus manchen Proben bemerkt haben, daß auch dieses Wenige zum Teil mehr durch eigenes Nachdenken, Üben und Versuchen, als durch wirklich genügenden Unterricht ich mir zu eigen gemacht und aus eigenem Triebe manche meiner Anlagen in Tätigkeit zu setzen mich bestrebt habe. Diese Bemerkung wird man in den folgenden Abschnitten meiner Geschichte häufig aufs neue zu machen Gelegenheit finden. Von dieser Art sind auch die ersten kindischen Versuche, Lieder zu dichten. Ich finde unter meinen noch vorhandenen ältern Papieren und Sammlungen aus diesem Zeitraume drei dergleichen von mir gefertigte Lieder; eins vom November 1762 auf die Kriegszeit, eins vom 19. März 1763 auf den Frieden und eins vom 9. Mai, Ermunterung zum Lobe Gottes überschrieben. Wer sie unparteiisch beurteilt, wird nicht in Abrede sein, daß im alten Dresdner Gesangbuche mehrere sich befinden, die noch nicht so erträglich geraten sind.
Auch als Prediger bin ich in diesem Zeitraume aufgetreten. Eine Menge mir geläufige Sprüche und Liederverse, welche meine Mutter in ein passendes Ganzes zusammengereihet hatte, mußte ich nicht nur zu Hause fertig üben, sondern auch anderwärts damit paradieren, wobei denn mein gewöhnliches leutescheues Wesen keineswegs mich störte, sondern ich ganz dreist mich benahm und desto mehr Herz hatte, je mehr der Zuhörer waren. Bald nach der Mutter Tode hörte jedoch diese Spielerei auf einmal auf, da ich einst durch das Plaudern zweier Anwesenden disgustiert mich glaubte und etwas irre gemacht worden war. In der Folge hielt ich es für unschicklich, mit fremden Gedanken
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 4 (1905 bis 1908). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1905 bis 1908, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Vierter_Band.pdf/169&oldid=- (Version vom 25.1.2025)