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Seite:Dresdner Geschichtsblätter Vierter Band.pdf/180

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Mit dem Einrücken in das halbe Geld trat ich denn auch aus der Schule meines Kantors und zugleich aus der bisherigen Nähe um ihn und seine Familie. Indessen bediente er sich meiner noch immer zum Schreiben der Noten und der Gevatterbriefe, wenn die letztern Sonntags unter der Kirche bestellet wurden, aus welcher er mich dann mit dem Schlüssel zum Schreibepulte in seine Wohnung schickte. Die Noten erhielt ich zum Abschreiben mit nach Hause. Auch in den übrigen Verhältnissen des zutraulichen Umgangs mit ihm sowie des Dableibens in seiner Behausung bei seiner und der Familie Abwesenheit, blieb es größtenteils beim alten. Doch verlangte er dergleichen nunmehr nicht unbedingt als Pflicht, sondern als Gefälligkeit und gewöhnlich mit dem Zusatze, wenn ich sonst nichts versäume, von mir. Auch gab er mir zuweilen für etwas größere Partituren zwei bis vier Groschen als eine kleine Gratifikation für meine Mühe.

Aus der Schule des Kantors ging ich denn nun zugleich in die zweite Klasse des Rektors, als meines nunmehrigen Lehrers. Dieser, M. Christoph Johann Gottfried Haymann, ein Sohn des derzeitigen Superintendents in Meißen, welcher im Advent 1763 seine hiesige Probe als Rektor tat und beim Antritte des Amts erst 22¼ Jahr alt war[1]. Mehrere der obern Schüler, die er hier vorfand, waren wenig jünger und der Präfektus Franke sogar zwei Jahre älter als er. Daher fast alle Extraner auf andere Schulen sich wendeten und mehrere der Obern auch das Chor verließen, Auch ohne Rücksicht auf seine Jugend und seine durch einen Schlagfluß in der Kindheit total gelähmte und verkrummte linke Hand, stach er gegen seinen Vorgänger Goldschad, der die erste Landpredigerstelle des Rats in Leubnitz erhielt, sowohl im Äußern als Innern merklich ab, dessen donum proponendi und gereifte wissenschaftliche Kenntnisse ihm fast ganz abgingen. Sein Auditorium war in der Folge bloß mit seinen zwölf Choralisten besetzt, Extraner fanden sich nie in seiner Schule, außer zuweilen einem und dem andern Privatisten auf seiner Stube. Nur sein guter Charakter ersetzte einigermaßen die Mängel seiner Amtsgaben.

Stellt man diese kurze Ansicht des Rektors mit meinen vorigen Bemerkungen über den Kantor und die Schulverfassung überhaupt zusammen, so ersiehet man, daß zu meiner Zeit in wissenschaftlichen Fächern auf dieser Schule nicht viel zu profitieren war, wenn man nicht durch Kopf und Fleiß die Lücken des ungenügenden Unterrichts auszufüllen vermögend war. Ich sollte z. B. nun beim Rektor die griechischen Lektionen mit treiben, von denen doch in der Schule des Kantors unter uns allen kein Auge etwas gesehen, kein Ohr etwas gehört hatte. Das, was ich aus der Halleschen Grammatik, die ich bald nach meines Vaters Tode bei einem Antiquar mir kaufte, nach und nach herausstudiert und begriffen haben mochte, war fast meine einzige Kenntnis von dieser Sprache.

Zum Glück fand sich in der Klasse des Rektors ein gewisser Hofmann, der mit unter die Fähigeren und Fleißigen gehörte, weswegen ich mit ihm einigen nähern Umgang unterhielt. Dieser, welcher ehedem noch ein Schüler des Kantors Drobisch gewesen war und im Griechischen einen guten Grund bei ihm gelegt hatte, auch überhaupt für diese Sprache besonders portiert war und in der Folge bei Beziehung der Akademie mit einer griechischen Rede paradierete, war ohngefähr ein halbes Jahr vor meiner Versetzung ebenso geneigt als fähig, mir in dieser Wissenschaft vorläufig fortzuhelfen, so daß ich an den griechischen Lektionen nicht ganz unvorbereitet Anteil nehmen konnte. Da er ehedem bei seinem Lehrer die Briefe Johannis als die leichteste Übung in den Anfangsgründen der griechischen Sprache an sich bewährt gefunden hatte, legten wir dieselben ebenfalls zum Grunde, bis ich hernach beim Rektor Apollodor, Theophrasts moralische Schilderungen und einige Stücke aus Gesners griechischer Chrestomathie zu treiben anfing.

Bei meiner Versetzung zum Rektor befremdete es mich nicht wenig, daß die sechs Obern nachmittags gar keine Schulstunden hatten und nur mit den sechs Mittlern eine Rechenstunde gehalten wurde, welche denn auch von geringem Belang war, da einige, die aus Landschulen ins Chor gekommen waren, mehr Rechenkenntnisse mitbrachten, als sie hier profitierten. Der vorgedachte Hofmann, für dessen Lernbegierde dieses zu wenig war, brachte es jedoch beim Rektor dahin, daß diese magere Rechenstunde in eine nützlichere lateinische Nachhilfstunde verwandelt wurde, die in der Folge, als wir ebenfalls in die erste Klasse aszendierten, in eine ordentliche Nachmittagsschule überging. Hier trat doch in der Tat der seltene Fall ein, daß die Schüler den Lehrer zum Fleiße anregten, da sonst das Gegenteil stattzufinden pflegt. Freilich bekam der Rektor von jedem seiner zwölf Choralisten wöchentlich nur zwei Groschen Schulgeld, wofür er im Durchschnitt gegen 24 öffentliche Lehrstunden sollte halten, für welche ein Taler auf die Woche freilich eine zu geringe Vergütung war. Dagegen hatte der vorige Rektor jederzeit mehr als 12, meistens gegen 20 Extraner noch daneben, von denen jeder wenigstens drei, die meisten vier Groschen wöchentlich bezahlten und dadurch seine Schulstunden reichlich vergüten halfen. Was konnten wir Choralisten dafür, daß er keine Extraner hatte und ihr Zutrauen nicht zu

Anmerkungen

  1. Er trat 1813 bei seinem 50jährigen Amtsjubiläum in den Ruhestand und starb 1816. Vgl. C. G. Schramm, Geschichte der Annenschule. Dresden 1860, S. 77.
Empfohlene Zitierweise:
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 4 (1905 bis 1908). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1905 bis 1908, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Vierter_Band.pdf/180&oldid=- (Version vom 31.1.2025)