Wirtin dieses Hauses geworden. So oft ich in dasselbe kam, unterließ ich nie, in den Hof zu gehen und an die Fenster dieses mir unvergeßlichen Angststübchens hinanzublicken. Zweimal sogar ließ ich mich auch hineinführen, um mir die alten Erinnerungspunkte lebhafter wieder aufzufrischen.
Man hatte auf dem Schlosse ebensowenig gewußt, was der Kanonenschuß des Morgens bedeuten solle, bis man bald hernach die hellen Flammen um und um erblickte. Die beiden Mitwächter, deren Wohnung in der Stadt war, hatten selbst meinem Vater geraten, die Wache zu verlassen und nach Hause zu eilen. Von Tore zu Tore, in der Neustadt sowohl als in der Altstadt herumgelaufen, hatte er vergebens einen Ausweg gesucht, auch die sogenannten Ausfälle unter dem Zwingerwalle und hinter dem Jägerhofe gesperrt gefunden. Endlich, als er die Brücke zum zweiten Male passierte, bemerkte er einen Fischerkahn, der von der Fischerei in der Vorstadt, unterhalb des Brühlschen Gartens, sich herumgeschlichen und Personen aus der Stadt an das jenseitige Ufer hinter Neustadt übersetzte. Mein Vater eilt dahin, kann aber wegen Menge der Leute erst bei der dritten Ladung mit zum Einsteigen kommen. Aber nun hatte er erst die lange Tour um die Neustädter Schanzen zu machen, bis in das Friedrichstädter Gehege, wo er eine Schiffbrücke passierte, das halbe Gehege durchgehen mußte und erst über Friedrichstadt in die Wilsdruffer Vorstadt gelangen konnte.
Als wir am Abende dieses furchtbaren Tages uns zu Bette gelegt hatten, richtete er sich auf einmal in die Höhe, faltete die Hände und sagte: „Ach wie wohl hat es doch der liebe Gott gemacht, daß er unsere gute Wustmannin zu sich genommen; sie würde ihr bischen Verdienst nun auch eingebüßet haben, und nun hätten wir beide nichts“.
Bei diesem Feuer, durch welches damals 83[1] Häuser, den gedruckten Nachrichten zufolge, in die Asche gelegt wurden, war auch mein Vetter, des Vaters leiblicher Bruder, Gottfried Schreyer, mit abgebrannt. Da er sogleich kein Unterkommen finden konnte, wandte er sich zu uns mit seiner Frau und einer noch nicht ganz vierjährigen Tochter. Wie elend wir uns fünf Personen fast drei Wintermonate behelfen mußten, da das Stübchen klein, kalt und die Kammer etwas feucht war, ist leicht zu erachten. Meine Frau Muhme, die etwas zärtlich gewöhnt, dabei auch kränklich war, querulierte so lange, bis sie bereits nach Lichtmeß ein geraumeres und merklich gesünderes Logis gefunden hatten, wohin wir ihnen zu Ostern 1759 nachfolgten.
Im Sommer dieses Jahres erfolgte eine zweite Anzündung der Vorstädte, wobei 27[2] Häuser verwüstet wurden. Dieser traurigen Zeitläufte ungeachtet hatte mein Vater ganz in geheim auf eine zweite Verehelichung gedacht, und ich bekam noch in diesem Jahre eine Stiefmutter. Anna Rosine Kretzschmarin war ihr Name und ihr Geburtsort Kreischa, ein Rittergutsdorf, drei Stunden von Dresden, wo sie 1729 geboren war. Ihr Vater hatte ehedem, ebenfalls als Mäurer, in Dresden gearbeitet und meinen Vater von einer guten Seite kennen gelernt, betrieb aber itzt als Häusler seines Ortes die Strohhutarbeiten. Er war ein Mann von alter Sitte und Rechtschaffenheit, konnte mich gut leiden, so wie wiederum mich das besonders zu ihm hinzog, daß ich nun jemand hatte, den ich Großvater nennen konnte. Da seine zweite Frau meine künftige Pflegemutter von jeher stiefmütterlich behandelte, war sie bereits in ihrem zwölften Jahre nach Dresden gezogen, wo ein gewisser Richter die Strohhutarbeiten im großen betrieb, viele Arbeiter in und außer dem Hause hatte, unter denen meine Pflegerin bereits seit 18 Jahren bei ihm Arbeit sowohl als Wohnung fand.
Er richtete auch eigentlich selbst die kleine Hochzeit aus, bei deren Traktamenten ich fast das Unglück gehabt hätte, zu verhungern. Man hatte nämlich nicht für gut befunden, mich unter die zwölf Tischgäste mit aufzunehmen, weil ich alsdann der dreizehnte gewesen wäre, wogegen die Stiefstiefgroßmutter Einwendungen gemacht haben soll. Ich wurde sonach unmittelbar an die Küche gewiesen, wo man mir aber von selbst nichts anzubieten für nötig hielt und ich zu blöde, wohl auch zu ambitiös war, etwas zu fordern. Als ich aber merkte, daß die kleine Gasterei zu Ende ging, wagte ich doch das äußerste und klagte dem Vater mit nassen Augen meinen Hunger ganz heimlich, worauf er sogleich zur Stillung desselben Anstalt machte.
Meine Stiefmutter setzte nun nach der Hochzeit ihre Stroharbeiten nicht allein für Herrn Richter fort, sondern unterrichtete auch mich darinnen. Die Neuheit des Gegenstandes, der nur eine abwechselnde Beschäftigung darbot, ließ mich in kurzer Zeit die Behandlung des dazu geeigneten Weizenstrohes, im Ausschneiden, Flechten und Nähen begreifen und ausüben, und es weckte meinen Ehrsinn, besonders die feine Flechterei nicht allein von der Stiefmutter, sondern auch von andern Kennern gelobt zu hören. Auch des Nähens der Mannsmützen, Tyroler Hüte und Pferdeköpfe wurde ich immer geübter. Noch itzt habe ich diese Künste nicht verlernt und selbst in Ortrand genügende Proben davon abgelegt.
Anmerkungen
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 4 (1905 bis 1908). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1905 bis 1908, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Vierter_Band.pdf/163&oldid=- (Version vom 20.1.2025)