sein – davon habe ich eine glückliche Probe gemacht. An überreichlicher, mit nicht unbedeutenden Strapazen verknüpfter Motion fehlte es denn nun im Chore keinesweges. Das Anstrengen der Lungen in drückender Hitze, sowie im Sturm, Regen und Graupelwetter, das oft lange Stehen an einem Orte in großer Kälte oder im nassen Kote und aufgetaueten Schneeschlicker mit stets nassen erkälteten Füßen, das anhaltend angestrengte, Kräfte und Luft abspannende Martini- und Neujahrssingen, von vormittags 8–12 und nachmittags von 2 bis abends ½9 Uhr, eine ganze Woche nacheinander, waren allgemeine, uns alle betreffende Strapazen.
Aber noch mehrere derselben lasteten besonders auf uns sechs Untern. Das Mitführen der Motetten-, Arien- und anderer Chorbücher unter dem Arme, das Schleppen und nach Hause befördern der abgelegten Mäntel bei Wagenleichen, die Jungendienste, die wir den sechs Obern leisten, für sie da- und dorthin laufen, holen, bestellen und ausrichten mußten, waren ebenso beschwerlich als nachteilig für die Kleidungsstücke, die man oft ganze Tage nicht vom Leibe brachte. Verschiedene andere Besorgnisse lagen denen ob, die von uns Sechsen der Reihe nach die Wochendienste und den Chorschlüssel hatten. Der, den es traf, mußte allemal der erste auf dem Chore sein, Bücher, Leuchter und Lichter besorgen und wieder aufheben, Sonnabends das Chor auskehren, den Kantor in die Schule begleiten und ihm die Bücher nachtragen, an Musiktagen die Kirchenstücken abholen und wieder nach Hause bringen und dergleichen.
Alles dieses habe ich drei Jahre ausgehalten ohne Nachteil meiner Gesundheit, obschon ich von jeher einen schwächlichen Körper gehabt hatte. Allen sonst wenig gewohnten Witterungsbeschwerden war ich itzt auf einmal ausgesetzt, konnte mir zu Hause wenig zu gute tun, empfand oft mit defekten Strümpfen und Schuhen die Folgen von Nässe und Erkältung der Füße, ehe ich beides gewohnt wurde, mußte mehrmal die noch nicht trocken gewordenen Kleidungsstücke ebenso naß wieder anziehen als ich sie abgelegt hatte, genoß besonders nach des Vaters Tode nicht einmal mehr die nötige häusliche Bequemlichkeit und Pflege unter fremden Leuten. Selbst der während dieser drei Jahre nähere Umgang mit meinem Kantor diente mir keineswegs zur Erleichterung, sondern hatte wieder andere Unbequemlichkeiten, obschon er sonst für mich nicht ohne Nutzen war. . . . . . . .
Da es ihm an Musikalien zu Kirchenstücken fehlen mochte, borgte er deren überall zusammen, probierte sie Sonnabends in der großen Singstunde mit Instrumenten, und was ihm gefiel, wurde abgeschrieben. Was er nicht selbst abzuschreiben imstande war, verteilte er unter einige aus der Unter- und Mittelklasse, die er hierzu brauchen konnte. An mich kamen gewöhnlich die Partituren, da ich seine kompresse Hand hierzu nachzuahmen mich gewöhnt hatte. Bald nachher, als ich ins Chor eingerückt war, geschah es oft mehrere Tage nacheinander, daß ich nach der Schule und Singstunde dableiben und in der Schulstube, solange ich sehen konnte, Noten schreiben mußte, da ich denn gewöhnlich vor dem Fortgehn von der Frau Kantorin mit einem tüchtigen Butterschnitte und Glase Bier abgefüttert zu werden pflegte.
Zuweilen jedoch, wenn auch nichts zu schreiben war, verlangte sie, daß ich gleichwohl dableiben und die drei Mädchen mit etwas beschäftigen sollte, besonders, wenn etwa Besuch da war. Ich tat alles, was ich ersinnen konnte, um sie bei guter Laune zu erhalten, welches mir denn auch leider! ziemlich glücklich gelang, zumal bei Fritzchen, der Ältesten, deren sich entwickelnde Wißbegierde nur immer neue Erzählungen verlangte, unter denen die abenteuerlichern immer die liebsten waren. Auch damit konnte ich dienen, da ich deren ehedem von den Nähtermädchen meiner Mutter, denen das Maul selten stille stand, eine Menge derselben aufgeschnappt hatte. Auch meine eigene Lebensgeschichte, soweit sie damals reichte, gewährte mir Stoff genug dazu, und ich mußte einzelne Auftritte derselben bis zum Ekel immer wieder erzählen. Dadurch gewöhnten sich aber die Kinder so an mich, daß sie diese Unterhaltung auch dann verlangten, wenn ich notwendig zu schreiben hatte; da denn manche Note, auch wohl ganze Takte verpudelt wurden, bis ich einmal dem über mein Verschreiben unwilligen Kantor die Veranlassung dazu gestund; da er denn, weil das Verbot an die Kinder wenig fruchtete, auf meine Vorstellung mir die Schreibereien mit nach Hause gab.
So war ich denn schon damals der Amanuensis meines Lehrers, der Abbé seiner Kinder und leider! auch der gehorsame Diener seiner Frau. Sie hatte sich überhaupt die unbillige Freiheit herausgenommen, uns sechs Kleinen in der Klasse des Kantors zu mancherlei Verrichtungen zu gebrauchen, die sich mehr für eine Magd als für einen Schwarzrock schickten. Es schien ihrem Stolze sehr zu schmeicheln, wenn beim Ausgehn auf den Markt oder zur Visite ein Chorschüler in seiner Uniform hinter ihr her trabte und den Serviteur machte, auch wohl ein gefülltes Netz oder gar ein Kälberviertel auf seinen geduldigen Schultern ihr nachschleppte. Freilich taten nicht alle, was und wie sie es haben wollte. Manchmal entwischte ihr einer, wenn ihm der Einkauf außerm Spaße zu werden schien, und eilte fort mit der wichtigen Entschuldigung: „Es schlägt zehn, ich muß in die Kurrende, sonst kriege ich Ohrfeigen,“ sie mochte gute oder böse Worte geben. Indessen lag das Joch, das meine
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 4 (1905 bis 1908). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1905 bis 1908, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Vierter_Band.pdf/175&oldid=- (Version vom 29.1.2025)