Folge, nach des Vaters Tode, wirkte er zwei Tische aus, deren einen, da ich denselben des Sonntags nicht füglich genießen konnte, ich bezahlt erhielt. Als das Chor um Martini 1765 kommunizierte, sagte der Kantor: „Melde Dich bei Herrn M. Schnabel und laß Dich examinieren; Du wirst schon bestehn, ob Du schon noch nicht 13 Jahre alt bist.“ Ich meldete mich, er nahm mich freundlich auf und sagte bloß: „Bei Ihm ist dies nicht nötig; ich habe Ihn bereits geprüft genug; sage Er dies seinem Herrn Kantor.“ Und so entließ er mich mit einigen Ermahnungen und Segenswünschen.
Da ich vorgedachtermaßen die Gesellschaften meiner Kameraden wenig frequentierte, so hatte ich auch weniger Veranlassung, Geld zu versplittern. Von Kindheit an ans Entbehren und Darben gewöhnt, ward es mir nicht schwer, jeder Sehnsucht nach Befriedigung meines Gaumens Einhalt zu tun. Um, wie man sagt, die Jahreszeit auch mit zu genießen, spendierte ich zuweilen einzelne Dreier oder Sechser an Obstwerk und begnügte mich, den Appetit mit Wenigem gestillet zu haben. Dies war keinesweges frühzeitige Anlage zu Knickerei, welche gerade die gegenseitige Leidenschaft meines Temperaments ist, sondern lediglich Notzwang meiner dürftigen Privatkasse, deren kleine Intraden ich nun einmal zu Papier und Büchern bestimmt hatte. Wie sorgfältig ich den kleinen Ertrag der jährlich noch nicht fünf Gulden betragenden Accidenzien zu Rate gehalten, erhellet schon daraus, daß ich binnen den ersten zwei Jahren nicht nur die erwähnten Bücher mir neu angeschafft, sondern auch noch überdies bei dem Absterben meines Vaters, am 31. März 1766, auf 3 Taler 7 Groschen bar liegen hatte, die ich jedoch zu seinen Begräbniskosten mit verwenden mußte.
Daß sein, in einem Alter von nur 50½ Jahren, uns unerwarteter Tod in meiner damaligen Lage das traurigste Ereignis meines Jugendlebens war, fällt schon von selbst in die Augen. Seine mühselige, dürftige Laufbahn, gehäufte Sorgen und manche seinen Kräften zu wenig angemessene Anstrengungen bei Tag und Nacht, die ich, leider! in den beiden letzten Jahren mit vermehren half, untergruben schon an sich seine längere Lebensdauer, obschon er bisher alle Strapazen ohne Krankenlager ausgehalten hatte und, wenn ihm ja etwas fehlte, mit einfachen Hausmitteln, Diät und Schlaf sich stärkte und aufrecht erhielt. Nachteiliger jedoch als alles dieses mochte die oben erwähnte Steinmetzarbeit auf seine Gesundheit wirken, deren feiner Staub von Zeit zu Zeit Anfälle von einem hektischen Husten erzeugte und besonders im letzten Winter ihn stärker als gewöhnlich angriff. Durch einige ihm zusagende Arzneimittel glaubte er, mit Eintritt des Frühlings, sich merklich gestärkter zu fühlen und freute sich schon im voraus, sogleich nach dem Osterfeste wieder an seine Arbeit gehen zu können.
Er befand sich auch am ersten Feiertag so wohl und heiter, als seit langer Zeit nicht, und nur die etwas rauhe Witterung hielt ihn ab, auf unsere Vorstellung, die Kirche zu besuchen, wozu er sich bereits völlig angezogen hatte. Mit mehr als gewöhnlichem Appetite genoß er eine seiner Lieblingsspeisen, und als nachmittags sein Bruder Gottfried und einer seiner Mitarbeiter ihn besuchten, erzählte er mit vieler Munterkeit in seiner gewohnten launigen Weise eine Menge Anekdoten aus seinen Lehr- und ersten Gesellenjahren, die ihn, welches bei ihm etwas Seltenes war, zu einem innigen Lachen reizten. Nach gehaltener gewohnter Abendbetstunde ließ er sich noch ein Kleidungsstück zum folgenden Tage parat legen, schlief, vom Husten weniger angefochten, zeitiger ein und am Morgen des folgenden zweiten Osterfeiertags fand ihn die Stiefmutter entseelt neben sich im Bette. So schnell und erschütternd wurden seine und unsere Hoffnungen einer völligen Wiedergenesung und längeren Lebensdauer vereitelt.
Aus einem ruhigen Schlafe von der Mutter aufgeschreckt, saß ich in stummer Betäubung ohne einer Träne fähig zu sein, bis ich um 6 Uhr das Vorlauten zur Kirche hörte. Itzt auf einmal lebte ich aus meiner Erstarrung auf, kleidete mich an, um meinen Kirchendienst zu versehen. Da ich bei der Musik eine Arie zu singen hatte, nahm ich mir vor, um so gefaßt als möglich zu bleiben, gegen niemand von dem Tode meines Vaters etwas zu erwähnen. Das erheiternde Hauptlied: „Sei fröhlich alles weit und breit“ sowie das Anfangschor: „Ertönt, ihr Hütten der Gerechten“ kamen mir dabei zu statten, mich etwas heiter zu singen. Aber kaum hatte ich den Anfang meiner Arie begonnen, mit ihrer dem Texte: „Wo find ich den, den meine Seele liebt? Des Todes und des Grabes Beute“ ganz angepaßten Melodie, da überwältigte mich die Wehmut, die ersten Metalltöne des Stimmchens wurden immer dumpfer und eine Träne nach der andern fiel auf die Notenstimme. Der Kantor, der nach der Musik wegen meines verpfuschten Singens mich zur Rede setzte, entließ mich, nachdem er die Ursache erfahren, sogleich aus der Kirche. Um mich zu zerstreuen, spazierte ich eine Menge Gassen und Straßen durch, bis ich nach dem Gottesdienste wieder ins Chor zum Kurrendesingen mußte, von welchem ich erst nachmittags wieder nach Hause kam. . . . . . . .
Seit dem Verluste meines Vaters war ich nunmehr in einem Alter von 14¼ Jahren mir selbst überlassen und mußte, ohne elterlichen Beistand, versuchen, wie ich mich von meiner geringen Einnahme in der Welt fortzuhelfen gedächte. Den spezifizierten Betrag derselben hatte ich zwar bereits damals mit möglichster Genauigkeit
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 4 (1905 bis 1908). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1905 bis 1908, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Vierter_Band.pdf/178&oldid=- (Version vom 31.1.2025)