gegen meine Aufnahme zu appellieren. Meines Zurückbleibens im Wuchse ist schon gedacht worden. Auch itzt war ich für mein Alter von 12¼ Jahren verhältnismäßig zu klein, da, wenn ich an einem Tische von gewöhnlicher Höhe stand, das Kinn mit dem Tischblatte gerade parallel war. Ich stach sonach auch wirklich gegen die Kleinsten im Chore ab, und man hielt mich daher für zu schwach und untauglich, die eingeführte Dienstbüffelei der sechs Untern gehörig leisten und aushalten zu können. Hiernächst war es damals Sitte, daß alle Dresdner Choralisten der Kreuz-, Neustädter und Annenschule, auch die ganz Kleinen, Perücken trugen, die man an mir vermißt hatte und deswegen besorgte, daß ich ohne dieses Diadem sowohl die übrigen als mich selbst verunzieren würde. Der Kantor war aber mit der Vorstellung durchgedrungen, man solle nur erst die Probe machen, wie viel oder wenig ich in der Hauptsache leisten würde.
Hierzu bedurfte es nun eben nicht lange Zeit. Meine in den Singstunden fast ganz ausgebildete Diskantstimme zeichnete mich doch merklich vor den andern Diskantisten aus. Noch unerwarteter fand man meine bereits geübte Fähigkeit im Treffen, in welcher die allermeisten, selbst unter den Primanern, nicht fest genug waren, weswegen die Motetten und Arien durch eine Menge lästiger Proben erst einstudiert werden mußten. Ohnerachtet ich meinerseits dieser Proben größtenteils nicht bedurfte, so dienten sie doch dazu, mich im Treffen vollends zu perfektionieren. In den Singstunden hatte ich dasselbe doch nur mechanisch nach einer die Sache nicht ganz erschöpfenden Methodik gelernt und da, wo es mit dieser nicht fortwollte, verließ ich mich auf die mir nachhelfende Geige des Kantors. Bei den Chorproben mußte ich mir selbst forthelfen, und dies nötigte mich, auf Vorteile zu raffinieren, vorkommende schwere Intervalle doch mit Gewißheit auch ohne Instrument treffen zu können, mit welchem ich damals noch nicht versehen war.
Da der erste Konzertist im Diskante, der sonst einer der bessern Sänger und Treffer war, für diese Stimme nun zu alt wurde und der zweite in beiden wenig taugte, wurden mir, als dem untersten unter sieben Diskantisten, auf Veranlassung des Kantors und mit Zufriedenheit der Primaner, sowohl bei den Kirchenmusiken als im Chore bereits mit der 18. Woche nach meinem Eintritte die Vices beider größtenteils übertragen, so daß jene das gewöhnliche Konzertisten-Emolument am Gelde fortgenossen und ich einsweilen auf Hoffnung umsonst diente, bis nach fast ¾ Jahren ich sogleich mit dem Gehalte zum ersten Konzertisten gewählt und drei andern vorgezogen wurde.
Die Chorstrapazen waren meiner ebenso zärtlichen als feinen Diskantstimme nichts weniger als günstig. So gut und durchgreifend sie sich im Freien, wenn die Luft rein, still und temperiert war, ausnahm, so leicht unterlag sie bei widriger Witterung, anhaltendem Singen, besonders bei Fackeldampfe, der Heiserkeit, welche oft hartnäckig warmen und kalten Brustmitteln widerstund. Meine Kameraden pflegten in diesem Falle mit Heringe, den sie mit den Gräten verzehrten, sich zu kurieren. Auch ich bediente mich dieses Mittels anfänglich mit Erfolg, bis einmal der Kantor vor einem Pfingstfeste zu Wiederherstellung der bei einem Fackelansingen verlorenen Stimme mich nötigte, einen tüchtigen Napf Suppe und drei derbe Stücken Hering bis zur vomierenden Überladung zu verschlucken. Hierdurch erlangte ich zwar zu den Feiertagen meine Stimme wieder, aber auch viele Jahre lang einen unüberwindlichen Abscheu schon vor dem bloßen Geruche von Heringen. Sonst konnte ich fette Sachen jeder Art, selbst vom Schweinefleisch, ohne Nachteil der Stimme genießen.
Bessere Dienste tat dieselbe in der Kirche bei Solostücken. Ehe die abgebrannte Annenkirche 1769 wieder eingeweiht werden konnte, war der Kirchfahrt der eigentlich für die Operndekorationen bestimmte, ohngefähr 80 Ellen lange Zimmer- und Malersaal auf der Gerbergasse zu einer Interimskirche eingeräumt und aptiert worden. Die innere Einrichtung desselben, welches nur ein Parterre und keine Emporkirchen hatte, trug wahrscheinlich dazu bei, daß, sowie die Solotöne von Blasinstrumenten, also auch meine Stimme hell und hörbar lang hintönte, wogegen ich in der neuen Kirche, welche zu beiden Seiten vierfach überbauet war, mit meiner nachherigen, ebenfalls vollen und hohen Tenorstimme diese hellen Töne nicht mehr herausbringen können.
Mit gleicher Stärke war ich ohne Fistel imstande, bis ins dreigestrichene f hinaufzusteigen. Selbst meine bisherige Engbrüstigkeit verminderte sich durch die Anstrengung des Atmens, und ich vermochte Läufer zu 3–4 Takten lang ohne absetzen zu singen und einzelne Töne noch länger auszuhalten, sowie ich vorher vollen Odem geschöpft hatte. Die vorgeschriebenen Noten mußte ich freilich singen, wie sie dastunden; aber wenn Kadenzen vorkamen, die mir der Kantor anfangs auch vorschrieb, nahm ich mir doch die Freiheit, teils höhere Töne mit einzuschalten, teils andere merklich lange auszuhalten, um in beiden meine Künste zu zeigen. Mein selbstgewagtes Gesinge schien doch einigermaßen zu gefallen, welches ich daraus schloß, daß ich sowohl in der Engelapotheke, als auf dem Vorwerke des Falkenhofs, sowie bei zwei Kaufleuten und einem Seifensieder meine bei ihnen geholten Bedürfnisse gemeiniglich unentgeltlich erhielt.
Daß der Hofmedikus ehedem sehr richtig geurteilt hatte – die Motion im Chore werde mir gesünder
Dr. Otto Richter (Hrsg.): Dresdner Geschichtsblätter Band 4 (1905 bis 1908). Wilhelm Baensch Dresden, Dresden 1905 bis 1908, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Dresdner_Geschichtsbl%C3%A4tter_Vierter_Band.pdf/174&oldid=- (Version vom 26.1.2025)