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ADB:Droysen, Johann Gustav

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Artikel „Droysen, Johann Gustav“ von Otto Hintze in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 48 (1904), S. 82–114, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Droysen,_Johann_Gustav&oldid=- (Version vom 24. Dezember 2024, 18:34 Uhr UTC)
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Droysen: Johann Gustav D., geboren am 6. Juli 1808, † am 19. Juni 1884, ist eine der bedeutendsten unter den Gelehrten-Persönlichkeiten, durch die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Fortschritt des deutschen Geisteslebens von den litterarisch-ästhetischen zu den ethisch-politischen Interessen vollzogen hat. In dem Gange seines Lebens und seiner Studien spiegelt sich ein Stück des geistigen Processes, in dem das Volk der Dichter und Denker sich seinen Staat geschaffen hat. Bei aller Einheit dieser festgeschlossenen Persönlichkeit lassen sich doch deutlich drei große Abschnitte seines Lebens, Arbeitens und Wirkens unterscheiden, die durch den Wechsel der äußeren Verhältnisse und das damit zusammenhängende Eingreifen politischer Bewegungen bedingt sind. Der erste Abschnitt reicht bis zu der Berufung nach Kiel (1840); er gipfelt in dem gelehrten Berliner Stillleben, in dem noch durchaus die Beschäftigung mit dem classischen Alterthum überwiegt. Der zweite umfaßt das Jahrzehnt von 1840–1850, die Zeit der national-politischen Bestrebungen, der patriotischen Hoffnungen und Enttäuschungen; hier sehen wir den Gelehrten zum modernen und vaterländischen Geschichtsstudium übergehen und den Patrioten thätigen Antheil nehmen an den großen politischen Bewegungen, die auf die Erhaltung des Deutschthums in den gefährdeten Grenzlanden und auf die Schöpfung eines deutschen Staates gerichtet sind; wissenschaftliche und politische Thätigkeit hängen dabei eng zusammen, durchdringen und bestimmen einander [83] gegenseitig. Mit dem Scheitern dieser Bestrebungen, seit 1850, gewinnt wieder die rein gelehrte Wirksamkeit das natürliche Uebergewicht; aber sie ist in diesem dritten Lebensabschnitt, schon in Jena und vollends in Berlin, vorwiegend dem Studium der Geschichte des Staates gewidmet, dessen Beruf zur Einigung Deutschlands dem Geschichtsforscher und Patrioten ein historisch-politischer Glaubensartikel geworden war. – Der Zusammenhang und die Einheit dieser verschiedenen „Anläufe und Abbrüche“, als die D. selbst einmal in allzu bescheidener Selbstkritik die wissenschaftlichen Bestrebungen und Leistungen seiner verschiedenen Lebensabschnitte charakterisirt hat, liegt nicht nur in der geistigen Individualität, die sich darin bethätigt, auch nicht bloß in der philosophischen Ideenwelt, die über dem Ganzen schwebt, sondern zugleich auch in einem praktisch-politischen Zuge, der schon in den ersten, dem classischen Alterthum gewidmeten Arbeiten hervortritt, in einer Art von preußisch-deutschem Patriotismus, der von dem ethischen Idealismus der Freiheitskriege durchdrungen ist und seinen Ursprung offenbar in dem fortwirkenden Geiste des Vaterhauses und großer Kindheitserinnerungen hat.

Droysen’s Vater (Johann Christoph) war, als ihm sein erster Sohn, eben unser Johann Gustav, geboren wurde, Garnisonprediger zu Treptow a. R., wo sich damals das Hauptquartier Blücher’s befand. Das Schicksal seines Hauses hatte zugleich mit dem des Staates und des Heeres eine jähe Wendung erfahren. Seit 1803 war er als Feldprediger beim Kürassierregiment des Generalmajors v. Baillozd in Treptow a. R. angestellt; ein Jahr darauf hatte er die Tochter des dortigen Eisenkrämers Kasten geheirathet. Den Feldzug von 1806 hat der Feldprediger D. nicht mitgemacht; er blieb bei dem Depôt des Regiments in Treptow zurück. Nach der Katastrophe, bei der Annäherung des Feindes, ging er mit diesem Depôt nach Colberg. Hier hat er die Belagerung mitgemacht; in seiner Wirksamkeit als Feldprediger ist er Gneisenau bekannt geworden, der ihn an Blücher empfahl. Das Kürassierregiment wurde nach dem Frieden aufgelöst; D. wurde, nachdem Blücher sich vergeblich für seine Anstellung als Superintendent in Pasewalk verwandt hatte, Garnisonprediger in Treptow a. R., dem Mittelpunkte der damaligen Cantonnementsquartiere des Blücherschen Corps. Hier ist Gustav, wie er gewöhnlich genannt wurde, geboren worden und bis in sein viertes Jahr geblieben. Seine frühesten Kindheitserinnerungen sind mit den Bildern der Helden des Befreiungskrieges verschmolzen. „Noch heut ist mir lebhaft in der Erinnerung“ – schrieb er 1850 an Schön – „wie der alte Blücher, vor dem väterlichen Pfarrhause haltend, mich vor sich auf das Pferd hob, erinnerlich, wie er mit Eyßenhardt und Scharnhorst – ich meine im Sommer 1811 – in des Vaters Studierstube empfangen wurde.“ Rittmeister v. Eyßenhardt war Blücher’s Adjutant und der Organisator des Treptower Zweigvereins des Tugendbundes; in seiner Abwesenheit hat der Vater Droysen’s die Correspondenz mit dem Geh. Kriegsrath Ribbentrop in Königsberg geführt. Er war und blieb ein Vertrauensmann der Patrioten, auch nachdem er die ihm angebotene leitende, active Stellung an der Spitze des Treptower Zweigvereins als nicht recht verträglich mit seinem geistlichen Amte abgelehnt hatte. Die ersten Kindeserinnerungen Gustav Droysen’s reichen also in jenes kritische Jahr zurück, in dem die Patrioten zum zweiten Mal die Erhebung gegen die Fremdherrschaft geplant haben, während die Reorganisation der Staatsverwaltung, die Umgestaltung der bürgerlichen Gesellschaft und des Heeres, in rastlos-geräuschloser Arbeit ins Werk gesetzt wurde. Das „specifische Preußenthum“, das dem Geschichtschreiber der preußischen Politik, wie er selbst später einmal gesagt hat, von der Heimath her anhaftete, trug von Anbeginn die Färbung der Stein-Scharnhorst’schen [84] Zeit, nicht die des particularistischen Staates Friedrich’s des Großen. – Als der Befreiungskrieg ausbrach, hatte die Familie D. ihren Aufenthaltsort bereits gewechselt. Der Vater war 1812 als Diaconus nach Greiffenhagen übergesiedelt. Auch hier blieb er nicht ohne Verbindung mit den alten Freunden und dem Heer: Blücher ist 1812 noch einmal zu einer politischen Besprechung nach Greiffenhagen herübergeritten; und 1813 ist der Garnisonprediger zugleich ein Landwehr- und Landsturmprediger geworden. Als dann Tauenzien vor Stettin lag, wurde das Predigerhaus zu Greiffenhagen der Mittelpunkt für die Sammlung von Liebesgaben; in der Pfarrküche wurde wochenlang täglich für 600–1000 Mann gekocht. Mit gespannter Antheilnahme verfolgte man hier weiterhin die kriegerischen Ereignisse. Das Tagebuch des Vater D., aus dem Duncker alle diese Nachrichten entnommen hat, bringt unterm 11. April 1814 – ebenfalls nach Duncker’s Mittheilung – die Notiz: „Heute Abend 8 Uhr kam die Nachricht: unsere Truppen sind in Paris. Das war der herrlichste Beschluß unseres Osterfestes. Gustav sprang an meiner Hand unter dem Kanonendonner vor Freude. Er wird den heutigen Abend nie vergessen!“ – Der Knabe wuchs zur Freude seiner Eltern heran. Der Vater hat sein Wesen, wie es sich damals darstellte, folgendermaßen charakterisirt: „Feurige Wißbegier, Fröhlichkeit und Lebendigkeit, gepaart mit Fügsamkeit und Gewissenhaftigkeit, sinnige Aufmerksamkeit für bildliche Darstellungen, Beharrlichkeit beim Spiel wie beim Lernen.“ Man erkennt darin Züge, die auch dem Manne eigen geblieben sind. Die ganze Charakteranlage des Knaben scheint vornehmlich väterliches Erbtheil gewesen zu sein. Blücher hat den Vater D. einmal empfohlen als einen „vortrefflichen, moralisch guten Menschen, vorzüglichen Kanzelredner, ausgezeichnet verdienten, sehr fleißigen Schullehrer.“ Von der Hallischen Universität her, wo er unter Niemeyer und Ribbeck studirt hatte, war er Rationalist, dabei von kräftiger, lebendiger Frömmigkeit, gewissenhaft, pflichttreu, ein trefflicher Hausvater, wenig bekümmert um Hab und Gut, ganz aufgehend in der Erfüllung seiner Pflichten und in der Erziehung seiner Kinder. So etwa hat ihn Max Duncker geschildert, dem seine eigenen Aufzeichnungen und die Erinnerungen der Familie zu Gebote gestanden haben. – Im J. 1814 kehrte die Familie in ihre alte Heimath, nach Treptow a. R. zurück, wo der Vater die Stelle des Superintendenten erhalten hatte. Das Amt brachte viel Mühe und Arbeit bei schmalen Einkünften, und die Gesundheit des früher rüstigen Mannes war schon gebrochen. Trotzdem hat er eine Berufung als Consistorialrath nach Cöslin ausgeschlagen, weil seine Familie mit starken Wurzeln an der Heimath haftete und die Wirksamkeit in diesem Kreise ihn ganz befriedigte. Sie sollte nicht mehr von langer Dauer sein: am 30. April 1816 ist er einem Lungenleiden erlegen. – Die Wittwe, die mit fünf Kindern zurückblieb, von denen das jüngste kurz vor dem Tode des Vaters geboren war, hatte mit schweren Sorgen zu kämpfen. Gustav war damals 8 Jahre alt; es fehlte an den Mitteln, ihm eine gelehrte Erziehung zu geben. Da traten die alten Studiengenossen des Vaters, Hallenser Pommern, für den ältesten Sohn des verstorbenen Freundes ein. Auf einer Zusammenkunft in Colbatz beim Amtsrath Krause beschlossen sie auf Anregung des Treptower Stadtgerichtsdirectors Misch, der ihnen den kleinen Gustav vorstellte, die Summe von 300 Thalern zu sammeln, um ihm den Besuch des Gymnasiums und weiterhin der Universität zu ermöglichen. 1820 bezog Gustav das Marienstiftsgymnasium zu Stettin. Er fand einigen Anhalt bei Freunden des Vaters, die hier lebten (v. Winterfeldt, Hoffiscal Krause); seit seinem 14. Jahre gab er Privatstunden; in den Sommerferien wanderte er wohl zu Fuß nach Treptow zu der Mutter und den Geschwistern, [85] denen er eng verbunden blieb. – Zu Ostern 1826 bestand er die Reifeprüfung, aber er erhielt kein unbedingtes Zeugniß der Reife. In einem Gegenstande wurde ihm, bei sonst vorzüglichen Leistungen, die Anerkennung der vollen Reife versagt: in der Geschichte. Es war eine herbe Enttäuschung und eine höchst empfindliche Kränkung für den ehrgeizigen, pflichteifrigen Jüngling; einen Moment drohte sie ihn aus dem psychischen Gleichgewicht zu bringen; in Bitterkeit und Verzweiflung stürmte er an die Oder hinab – so hat er es seinem Freunde Duncker später erzählt - – ; aber er bezwang seinen Unmuth und faßte den Entschluß, die Scharte auszuwetzen.

Im Sommer 1826 bezog D. die Universität Berlin, an der er sein ganzes akademisches Studium absolvirt hat. Seine äußere Lage war eine sehr bescheidene; einen erheblichen Theil seines Unterhalts mußte er sich durch Privatstunden verdienen. Mit dem Elternhause blieb er aus der Ferne in beständiger geistiger Verbindung. Während der Studienzeit ist ihm auch die Mutter gestorben: um so enger wurde das schöne innige Verhältniß zu den jüngeren Geschwistern in der Heimath, denen er nun die Eltern ersetzen mußte; namentlich für die drei Schwestern hat er nach Kräften gesorgt. – Die Enge der äußeren Verhältnisse hemmte ihm aber den Schwung der Seele nicht. In begeisterter Freude gab er sich den Studien hin, die seine Seele ganz erfüllten. Mit einer Anzahl geistig angeregter Studiengenossen, unter denen namentlich Abeken, Ludwig Wiese, Hotho, Werder sich später einen Namen gemacht haben, gründete er einen Verein, die „Akademie“, in der mit jugendlicher Ueberschwänglichkeit Kunst und Philosophie getrieben wurde. Zu diesem Kreise gehörten auch die Brüder Louis und Albert Heydemann, mit denen D. noch späterhin in engeren, freundschaftlichen Beziehungen gestanden hat, der eine Jurist und später Professor in Berlin, der andere Philologe, später Director des Stettiner Marienstiftsgymnasiumes; außer ihnen stand ihm der Theologe Arend, später Staatsrechtslehrer an der belgischen Universität Löwen, besonders nahe. Am herzlichsten und bedeutungsvollsten aber waren die Beziehungen Droysen’s zu Felix Mendelssohn-Bartholdy, die nicht auf dem Boden akademischer Geselligkeit erwachsen waren und die dem jungen Studenten eine neue Welt eröffneten. – Das Mendelssohn’sche Haus war eines der ersten in der Residenz. Dort, in dem alten Recke’sche Palais, das an der Stelle des heutigen Herrenhauses stand, fand sich alles zusammen, was Berlin an wissenschaftlichen und künstlerischen Berühmtheiten besaß; dabei herrschte aber in diesen vornehmen und behaglichen Räumen ein einfacher, familienhafter Geist, der in einer höchst verständigen Fürsorge der Eltern für die heranwachsenden Kinder seinen Ausdruck fand. In dieses Haus trat D., empfohlen durch Böckh, 1827, als Lehrer des nur um ein halbes Jahr jüngeren Felix ein, der damals vor dem Abschluß seines Gymnasialcursus stand und längst ein berühmter Musiker war. Mit dem liebenswürdigen, genialen Jüngling, der schon viel gereist war, der 7 Jahre früher als 11jähriges Wunderkind in Weimar das Wohlgefallen des alten Goethe erregt hatte, der eben damals so bedeutende Sachen wie die Ouverture zum Sommernachtstraum componirte 1828), verband D. bald eine herzliche und innige Freundschaft, die auf der gemeinsamen künstlerischen Grundstimmung und dem warmherzigen Idealismus dieser beiden verwandten Naturen beruhte, deren verschiedenartiges Streben durch die verständnisvolle Theilnahme des einen für das Schaffen des andern gerade zu einem Moment gegenseitiger Anziehung wurde. Felix’ Schwester Fanny charakterisirt den neuen jungen Freund des Hauses in einem ihrer Briefe (1828) mit folgenden Worten: „Ein 19jähriger Philolog, mit aller Frische und lebendigen thätigen Theilnahme seines Alters, einem Wissen über [86] sein Alter und einem reinen poetischen Sinn und gesunden liebenswürdigen Gemüth für jedes Alter begabt …“ In dem anregenden Verkehr mit den heiteren, klugen und bedeutenden Menschen dieses Kreises hat D. reiche Nahrung für Geist und Gemüth und manche entscheidenden Impulse für seine Bildung empfangen; die ästhetische Seite seines Wesens bildete sich besonders reich und stark aus; seine Interessen entfalteten sich zunächst vornehmlich nach dieser Richtung.

Neben diesen Anregungen des geselligen Lebens und in mannichfacher Verflechtung mit ihnen machen sich nun die ernsten Studien geltend. Die Universität Berlin stand damals im Zeichen der Hegel’schen Philosophie. Auch D. studirte Philosophie neben dem eigentlichen Hauptfach, der Philologie. Außer Hegel, bei dem er unter anderm auch Philosophie der Geschichte hörte, hat namentlich Böckh, der Meister der Alterthumskunde, auf ihn eingewirkt; Boeckh und Hegel hat er jedes Semester gehört. Bei Lange hörte er Homer und Aeschylos, bei Heinrich Ritter Geschichte der Philosophie, bei Stuhr Mythologie, später auch bei Hotho Aesthetik, bei Karl Ritter Geographie und Ethnographie, bei Wilken mittelalterliche Geschichte, bei Eduard Gans neueste Geschichte und englisches Staatsrecht, ferner bei Bopp Sanscrit, bei Lachmann und Bernhardy lateinische Autoren und griechische Litteraturgeschichte; den eben erst aufblühenden germanistischen Studien scheint er fern geblieben zu sein. – Die classischen Studien überwogen; aber sie wurden von vornherein mehr in historischem, als in rein-philologischem Geiste getrieben, mehr im Geiste Böckh’s und Niebuhr’s, der von Bonn aus herüberwirkte, als im Geiste Lachmann’s das lebendige Verständniß des antiken Geistes erschien als die Hauptsache. Daneben hat die Neigung zur philosophischen Welt- und Geschichtsbetrachtung nach Hegel’scher Art in Droysen’s Geiste starke Wurzeln geschlagen; aber er stand diesem Meister doch immer freier und selbständiger gegenüber als die meisten seiner Zeit- und Studiengenossen; ein eigentlicher Hegelianer ist er nie gewesen. Er unterscheidet sich darin z. B. auch von seinem späteren Freunde, dem drei Jahre jüngeren Max Duncker, der Ende der zwanziger Jahre seine Studien in Berlin trieb; und wenn Duncker in seinem Lebensabriß Droysen’s besonders darauf hinweist, daß bei diesem von vornherein die historisch-classische Tendenz die philosophisch-constructive überwogen habe, so wird er dabei an den Gegensatz gedacht haben, in dem seine eigene Entwicklung zu der des Freundes gestanden hat.

Ein langer Aufenthalt auf der Universität verbot sich für D. aus äußeren Gründen. Unmittelbar nach Absolvirung des Trienniums bestand er das Oberlehrer-Examen (1829) und war nach der üblichen Probezeit als Collaborator am grauen Kloster thätig, wo er, noch unter dem Directorat seines Gönners Köpke, eines Freundes seines Vaters, dem er beim Beziehen der Universität empfohlen worden war, 1831 als ordentlicher Lehrer angestellt wurde. Es ist dasselbe Gymnasium, an dem Ostern 1832 Otto v. Bismarck das Zeugniß der Reife erworben hat, indessen ist D. nicht mehr unter seinen Lehrern gewesen. 1830 erschien die Erstlingsarbeit des jungen Gelehrten im Druck, es ist der Aufsatz „über die griechischen Beischriften der Berliner Papyros, der Niebuhr’s Beifall fand und von ihm ins Rheinische Museum aufgenommen wurde. Erst 1831 holte D. die bisher versäumte Doctorpromotion nach. Seine Dissertation handelte über das Lagidenreich unter Ptolemäus VI. Philometor, auf den er durch jene Papyrosabhandlung geführt worden war; unter seinen Opponenten bei der Disputation befand sich der spätere Ministerialrath Ludwig Wiese. – Um die Kosten der Promotion zu decken entschloß sich der junge Gymnasiallehrer, eine halb gelehrte, halb poetische Arbeit herauszugeben, [87] die in der Hauptsache noch als eine Frucht seiner Studienjahre bezeichnet werden kann: die Uebersetzung der Werke des Aeschylos (1832, 2 Bde.). Es war ein kecker Wurf, der wohl gelang. Strenge Philologen, wie K. W. Krüger, fanden zwar die Uebersetzung als solche mangelhaft; aber das feine Gefühl für die künstlerischen Absichten des Dichters, die poetische Kraft der Nachempfindung und Nachdichtung, die ungemeine Formgewandtheit, mit der die schwierige Aufgabe der Nachbildung antiker Chor-Metren gelöst war, haben dieser frischen Jugendarbeit doch im allgemeinen eine sehr günstige Aufnahme bereitet. Sie hat vier Auflagen erlebt, deren letzte den Autor noch in seinem letzten Lebensjahre beschäftigt hat; unermüdlich ist er bestrebt gewesen, die Fortschritte im Verständniß des schwierigen Textes, die die Zeit und eigenes Studium brachten, dem ersten Entwurfe bessernd einzufügen. Die Droysen’sche Uebersetzung der Orestie, die in der äußeren metrischen Form das Original treu wiedergibt, wird von Kennern auch heute noch neben der eleganteren, philologisch gründlicheren, aber in der Form doch fast modern anmuthenden von Wilamowitz geschätzt. Mit welcher poetischen Freiheit und Kühnheit D. der Ueberlieferung gegenüber verfuhr, zeigt sich namentlich darin, daß er es gewagt hat, in einer Skizze das verlorene Satyrspiel, das der Trilogie folgte und dessen Hauptfigur der Meergreis Proteus ist, nach den in der Trilogie selbst enthaltenen Andeutungen in freier Phantasie zu ergänzen – ein Versuch, der freilich wol kaum den Anspruch erheben darf, die unbekannten Intentionen des Dichters wiedergefunden und wahrscheinlich gemacht zu haben. – Der junge Autor hat dies erste größere Werk „den Freunden seines Vaters“ gewidmet: es war der Dank für die Unterstützung der wackern Männer, die ihm den Weg zum Studium geebnet hatte. Der Biograph Droysen’s wird aber noch einen anderen Punkt hervorheben müssen, an dem sich der Zusammenhang dieser philologisch-poetischen Arbeit mit der starken und tiefen Grundströmung in dem geistigen und sittlichen Leben ihres Verfassers verräth. Trendelenburg hat bei der Aufnahme Droysen’s in die Akademie darauf hingewiesen: „Wenn Sie die Perser des Aeschylos nachbildeten, den stolzen Heldengesang von jenem Tage bei Salamis, der griechische Sitte und griechische Bildung wahrte, so tönt darin ein menschlicher Klang aus alter Zeit in alle Zukunft der Geschichte, und auch ein Anklang an die Stimmung der deutschen Freiheitskriege, welche Sie später schrieben“. Daß dieser Zusammenhang dem Autor selbst wol zum Bewußtsein gekommen ist, zeigen einige charakteristische Bemerkungen in der voraufgeschickten Abhandlung (I, 170 und 180). Er vermißt in der zeitgenössischen deutschen Dichtung nationale Eigenthümlichkeit und Unabhängigkeit. In der Dramatik hat der letzte Rest davon aufgegeben werden müssen. „Sie darf nicht Interessen berühren, die höher oder tiefer liegen, als die normale Wasserhöhe der beglaubigten Unschädlichkeit. Die schönste Tragödie unseres größten Dichters ist von der Bühne verbannt, weil sie ein Volk preist, das seine Freiheit gegen ein erlauchtes deutsches Fürstenhaus zu vertheidigen genöthigt war.“ Diesem traurigen Zustand stellt er das Hellas des Aeschylos gegenüber: „Das ist das Eigenthümliche der griechischen Freiheitskriege, nicht ermattet, sondern gekräftigt zu haben, nicht in einer Anzahl kleiner wohlmeinender Talente zersplittert und verkommen zu sein, sondern sich in den tiefsinnigen Geist eines großen Dichters versenkt zu haben, um wie ein theurer Schatz für alle Zukunft aufbewahrt zu bleiben“. Man sieht, daß es nicht bloß ästhetisch-litterarische Neigungen sind, die den jungen Philologen gerade zu Aeschylos geführt haben.

Das große politische Problem, vor dem die deutschen Patrioten seit den Freiheitskriegen standen, wird auch im Hintergrunde der ersten größeren, [88] historischen Arbeit sichtbar, mit der D. kurz nach dem Erscheinen der Aeschylosübersetzung hervortrat: in dem „Alexander“ (1833). Die Gesammtauffassung und das politische Urtheil ist durch die Analogie der deutschen Verhältnisse beeinflußt, ohne dadurch verfälscht zu sein. Die Stellung der makedonischen Militärmonarchie gegenüber dem zersplitterten, particularistischen Hellenenthum erscheint fast als ein Seitenstück zu dem von patriotischen Männern gewünschten Supremat Preußens über die deutschen Kleinstaaten. Die nationale Einigung, der nationale Gesammtstaat erscheint als die oberste Forderung der Zeit und als der Maßstab des historischen Urtheils. Darum fällt alles Licht auf Alexander, aller Schatten auf Demosthenes. Der Sieg des Demosthenes hätte nicht zu einer national-politischen Regeneration, sondern zur Erhaltung des kleinstaatlichen Particularismus, der inneren Zwistigkeiten, der Abhängigkeit vom Auslande, von Persien, geführt. Die Hellenen waren unfähig, aus eigener Kraft den Entschluß zur nationalen Einigung zu finden: so mußte sie ihnen von außen, von dem stammverwandten Militärstaat an der Grenze, aufgezwungen werden. – Neben dieser politischen Auffassung, die der herkömmlichen Parteinahme für die republikanische Freiheit und Unabhängigkeit scharf entgegentrat, tritt in dem Werke die große universalhistorische Culturidee, die sich an den Namen Alexander’s knüpft, stark hervor. Hier spürt man einen Hauch vom Geiste Hegel’s. Der Hegel’sche Gedanke von der Verkörperung der großen weltbewegenden Ideen in den Helden der Geschichte, dieser Gedanke, der ja auch Wilhelm v. Humboldt und die ganze idealistische Philosophie jener Zeit erfüllte, findet hier an einem großen classischen Musterbeispiel seine Ausführung; aber nicht in vagen Speculationen, sondern in quellenmäßig begründeter Geschichtsdarstellung. Die Arbeiten über das Lagidenreich sind als Vorstudien dazu zu betrachten; der Alexandergedanke mit seiner ideellen und poetischen Kraft hatte offenbar schon früh im Geiste des jungen Gelehrten gezündet. Die eigentlich quellenkritische Forschung tritt freilich in dem Buche selbst zurück vor dem Bemühen um lebendiges Verständniß und anschauliche Darstellung der geschichtlichen Zusammenhänge; die Bedingungen des staatlichen Lebens, die Verkettung der Ereignisse, die Eigenart der handelnden Personen werden mit politischem Verstand und künstlerischer Freude dargestellt. Philologen und Historiker fanden denn auch mancherlei zu tadeln; aber einen bessern „Alexander“ hat uns trotzdem bisher die Wissenschaft nicht bescheert. – Das gilt auch von den beiden Bänden, die im Laufe eines Jahrzehnts dem Alexander folgten: über die Nachfolger Alexander’s und die Bildung des hellenist. Staatensystems (1836. 1843). Man muß sie im Zusammenhang mit dem „Alexander“ betrachten und würdigen. Im „Alexander“ hatte D. zeigen wollen, wie in der Person dieses Heldenkönigs das altheimische makedonische Wesen und die Beschränktheit des Griechenthums überwunden, die neue Zeit vorgebildet erscheint. Es sollte keine Monographie, keine Biographie sein, sondern die Einleitung zu dem größeren Werke, das auch mit den beiden erwähnten Bänden nach der ursprünglichen Intention des Autors noch nicht abgeschlossen war. Der Gegenstand dieses Werkes war die Entstehung und Ausbreitung der hellenistischen Cultur in den Staatenkämpfen und Völkermischungen der griechisch-orientalischen Welt seit den Eroberungszügen Alexander’s. Der ursprüngliche Plan des Werkes ging dahin, den ganzen Zeitraum zu erforschen und darzustellen, der zwischen Alexander und Cäsar liegt, und der aus dem Griechenthum zum Christenthum hinüberführt. Es schien dem Verfasser möglich, „in der Geschichte dieser Jahrhunderte, die wie ein unbestelltes und gern gemiedenes Feld zwischen den Studien der classischen Philologie und denen der Theologen lag, das hellenistische Wesen als das eigentlich maßgebende [89] und befruchtende nachzuweisen und dessen Antheil an der Schaffung der neuen Weltepoche, die da werden sollte, zu entwickeln“. Die Bezeichnung „hellenistisch“ war bis dahin nur von der Sprache der west-östlichen Völkermischung gebraucht worden; D. verwandte sie für den neuen, von ihm zuerst aufgestellten Begriff einer eigenthümlichen west-östlichen Cultur, wie sie jenem Idiom entsprach. Er betont die Bedeutung dieser Culturepoche für die allgemeine Geschichte der Menschheit. Die Vermischung des abendländischen und des morgenländischen Lebens hat die altnationalen Culturen zerstört, hat den Untergang des Heidenthums vermittelt, hat in das Leben der Völker jenen Bruch gebracht, aus dem sich das Bedürfniß des Trostes und einer Religion, die über das traurige Hienieden erhob, entwickeln mußte. Dieselbe Gebrochenheit beherrscht auch die politischen Gestaltungen des Lebens und hat die Ausdehnung des Römerreichs, die Entstehung des Sassanidenreichs, schließlich auch die muhamedanischen Staatenbildungen auf diesem Boden ermöglicht. Aber das hellenistische Wesen, diese neue, durch Macedonier und Griechen vermittelte Cultur hat seine staatliche Existenz überlebt, um als Bildung und Mode, als Philosophie und Aufklärung, als Wissenschaft und Aberglaube fortzudauern und selbst die römische Welt zu beherrschen, um noch das beginnende Christenthum durch endlosen Dogmenstreit und Häresie zu durcharbeiten, bis es endlich erst vor dem Muhamedanismus aus der östlichen Welt ganz verschwunden ist. – Diesen ganzen geschichtlichen Proceß wollte D. eigentlich darstellen. Der mit dem Siegeszuge Alexander’s beginnenden Umbildung Griechenlands und des Orients, der Gestaltung des hellenistischen Staatensystem’s, wie sie in den drei erwähnten Bänden geboten werden, sollte noch die Darstellung des Hinsiechens dieser Staatenwelt im Osten und Westen, der ihr zur Seite gehenden Zersetzung der alten Nationen und ihrer Culturen mit den charakteristischen Erscheinungen der Theokrasie, des Serapismus und Chaldäismus folgen. Diese Fortsetzung hat D. nicht mehr geschrieben. Andere wissenschaftliche und praktische Interessen hatten ihn inzwischen ergriffen. Aber die Nachprüfung und Verbesserung der drei erschienenen Bände hat er sich fortdauernd angelegen sein lassen. In der zweiten Auflage wurden sie in einem einheitlichen Rahmen als „Geschichte des Hellenismus“ zusammengefaßt (1877. 1878). Die kritische Fundirung hat darin noch erhebliche Fortschritte gemacht, wenn auch eine gewisse Willkürlichkeit im Deuten und Combiniren, wie sie durch die Lückenhaftigkeit und Dürftigkeit der Ueberlieferung bedingt war, sich als unvermeidlich für eine geschlossene und zusammenhängende Darstellung erwies. Namentlich die Chronologie ist durch eingehende Forschungen vielfach berichtigt worden; die neuen Ergebnisse, die aus den Forschungen der Orientalisten, aus den griechischen Inschriften und Münzfunden zu gewinnen waren, sind mit gewissenhafter Sorgfalt in den eingehend revidirten Text und in die vermehrten kritischen Excurse hineingearbeitet worden. Neben den neuen Darstellungen von B. Niese und von Kaerst wird das Werk Droysen’s in seiner scharf ausgeprägten Eigenart immer einen ehrenvollen Platz behaupten.

Zwischen die Herausgabe des „Alexander“ und des ersten Theils der „Diadochen“ fällt wieder eine poetische Philologenarbeit, die Nachdichtung der Komödien des Aristophanes, die in 3 Bänden 1836–38 erschien, und die 1864 eine zweite, 1881 eine dritte Auflage erlebt hat. Die äußere Anregung dazu hat des Verfassers Freund, Felix Mendelssohn gegeben; was D. innerlich zu der Arbeit hinzog, war nicht allein die künstlerische Freude an dem geistreichen Spiel der Phantasie dieses ausgelassensten aller griechischen Poeten, sondern vor allem der frische Hauch lebendiger historischer Wirklichkeit, der aus diesen politischen Satiren sprach: die unmittelbare Vergegenwärtigung des [90] Lebens und Treibens der attischen Demokratie, auf deren Boden diese Kunstproducte erwachsen waren, für die Nachwelt zugleich historische Denkmäler ersten Ranges, beredte Zeugen des Geistes ihrer Zeit. Wie viele von unsern Gebildeten kennen den Aristophanes nur aus dieser mit feinstem künstlerischen Verständniß, mit Geist und Laune, leicht und gefällig und doch mit so eindringender Sorgfalt geschaffenen Nachbildung! Es ist ein Buch, das dem Vossischen Homer, dem Schlegel’schen Shakespeare an die Seite gestellt werden darf.

Dies Jahrzehnt einer fast überreichen litterarischen Production (1830 bis 1840) war für D. zugleich eine Zeit angestrengtester Berufsthätigkeit und geistreicher Geselligkeit; in dieser Epoche hat er sich auch sein Haus gegründet. – Sobald es zulässig, drei Jahre nach der Promotion, kurz nach dem Erscheinen des „Alexander“, hat sich der junge Gymnasiallehrer als Privatdocent für classische Philologie an eben der Universität habilitirt, an der er seine akademische Bildung genossen hatte (1833); zwei Jahre darauf (1835) ist er zum außerordentlichen Professor ernannt worden. Er bezog als solcher kein Gehalt. Die Lehrthätigkeit am Gymnasium und das damit verbundene Gehalt von 800 Thalern blieb die ökonomische Grundlage seiner Existenz. Die Lage war nicht glänzend, aber sie erlaubte ihm immerhin, an die Begründung einer eigenen Häuslichkeit zu denken. Seit Jahren verkehrte er in dem Friedlaenderschen Familienkreise, in den ihn einer seiner Freunde, der damalige Custos an der königlichen Bibliothek, spätere Archivar Gottlieb Friedlaender eingeführt hatte; wie zart und innig diese Beziehungen waren, zeigen anmuthige poetische Gaben aus den „guten Tagen“ des Frühlings und Sommers 1834, die zu einem Familienfeste für die Mitglieder dieses Kreises gedruckt worden sind. In dieser Zeit werden sich die Bande gesponnen haben, die im Jahre darauf zur Vermählung Droysen’s mit der schönen, noch sehr jugendlichen Tochter des Buchhändlers Mendheim, einer Enkelin des Friedlaender’schen Hauses, gediehen sind. Es war eine glückliche Ehe, die aber schon nach zwölf Jahren (1847) durch den Tod der Frau gelöst worden ist; ihr entstammen zwei Söhne und zwei Töchter. – Eigenes Vermögen besaß die junge Frau nicht; es kann keine Rede davon sein, daß D., wie ein Nekrolog zu erzählen weiß, allen pecuniären Sorgen durch diese Heirath enthoben und aus der bisherigen Enge seiner wirthschaftlichen Existenz in eine Wohlhabenheit versetzt worden sei, die ihm erst die freie Entfaltung seiner Talente ermöglicht hätte. Er konnte nicht daran denken, sein Lehramt am Gymnasium aufzugeben, wie er es wohl gewünscht hätte; außer den 20 wöchentlichen Lehrstunden, die er hier zu ertheilen hatte, gab er noch 6 Stunden in der Woche Unterricht an der Gewerbeschule; und die Vorlesungen an der Universität beanspruchten bis zu 10 Stunden wöchentlich. An der Universität las er über alte Geschichte und alte Geographie, Geschichte der Griechen, Geschichte des griechischen Dramas, Geschichte der attischen Beredsamkeit. Manche leichtere litterarische Arbeit mußte neben alledem noch gemacht werden; an Ruge’s Hallischen Jahrbüchern und an anderen Zeitschriften hat D. damals fleißig mitgearbeitet; in diesen Artikeln und Recensionen, die zum Theil anonym erschienen sind, kommt die geistreiche Lebendigkeit seines Wesens, sein umfassendes wissenschaftliches Interesse vielleicht am glänzendsten zum Ausdruck. Dabei fand er immer noch Zeit, sich dem Verkehr in einem künstlerisch und poetisch angeregten Freundschaftskreise zu widmen, zu dem außer Felix Mendelssohn und Moritz Veit (dem späteren Verleger) noch der Jurist Louis Heydemann und Eduard Bendemann gehörten. Er war der Poet dieses Kreises, wie Mendelssohn der Musiker und Bendemann der Maler; zu mehreren Liedern von Felix und Fanny Mendelssohn [91] hat D. die Texte gedichtet, meist zarte, anmuthige, aber auch ernste und kräftige Verse (Ed. Peters rev. von Alfred Dörffel Nr. 64, 66, 68; 35, 57, 63). Durch die Musikabende im Mendelssohn’schen Hause wurden D. die Schöpfungen von Bach, Beethoven, Mozart, Schubert aufs innigste vertraut; er hat sich später mit der „Zukunftsmusik“ von Liszt und Wagner nie recht befreunden können. Schon 1829 hatte D. bei der von Felix Mendelssohn unternommenen Erstaufführung von Bach’s Matthäuspassion durch verständnißvolle Aufsätze in Berliner Journalen mitgewirkt, wobei er namentlich den protestantischen Geist dieser Musik hervorhob. Das Malerische spielt in diesem talentvollen Kreise, zu dem auch J. Hübner und andere Künstler in nahen Beziehungen standen, eine große Rolle; D. selbst, dadurch angeregt, hat sich in Zeichnungen und an der Staffelei versucht; seinem Freunde Bendemann, einem Schüler des Düsseldorfer Wilhelm Schadow, hat er bei der Auswahl malerischer Vorwürfe oft mit seinem Rath zur Seite gestanden; zu den Radirungen der mythologischen Fresken, die Bendemann für die Festräume des Dresdner Schlosses gemalt hatte, hat er ästhetische und mythologische Erläuterungen geschrieben.

Auf die Dauer war dies angeregte, aber auch übermäßig anstrengende Leben und Arbeiten selbst seiner ungemein elastischen Natur doch unerträglich. Er sehnte sich nach einer Lage, in der er sich auf die akademische Berufsthätigkeit beschränken konnte. So kam ihm ein Ruf nach Kiel sehr gelegen, der im Herbst 1839 an ihn erging und ihm für die Uebernahme des Ordinariats ein Gehalt von 1200 Thalern in Aussicht stellte. Allerdings verließ er Preußen und Berlin sehr ungern; er wäre gern geblieben, wenn man ihm sein Gymnasiallehrergehalt als Besoldung für das Extraordinariat gewährt hätte, so daß er das Schulamt hätte aufgeben können. Der vortragende Rath im Ministerium, Johannes Schulze, war dem geistvollen jungen Docenten sehr gewogen; die Beziehungen, die zwischen ihnen bestanden, haben auch nach Droysen’s Entfernung von Berlin fortgedauert. Aber die Erfüllung der Wünsche Droysen’s ist dadurch nicht befördert worden, weder damals noch später. Der Minister Altenstein wollte nicht darauf eingehen; bei aller Anerkennung seiner Leistungen wollte er höchstens 800 Thaler bewilligen. So hat sich denn D. entschlossen, den Ruf nach Kiel anzunehmen und ist zu Ostern 1840 dorthin übergesiedelt. – In Kiel hatte D. das Fach der Geschichte in seiner ganzen Ausdehnung zu vertreten. Er las hintereinander die Geschichte des Alterthums, des Mittelalters, der neueren Zeit, je in einem Semester; erst 1842 gab er das Mittelalter an Waitz ab. Neben diesen allgemeineren Vorlesungen hat er auch noch Gegenstände aus der griechischen Litteraturgeschichte, namentlich Dramatiker und Redner, behandelt; vor allem aber hat er hier zum ersten Mal deutsche Geschichte und Geschichte der Freiheitskriege vorgetragen. Wissenschaft und Leben stehen dabei in engem Zusammenhang. In Kiel, an den gefährdeten Grenzmarken deutschen Lebens ist die ethisch-politische, deutsch-patriotische Grundströmung seines Wesens zum Durchbruch gelangt; die Beschäftigung mit dem Alterthum, die ästhetisch-humanistischen Interessen treten zurück vor der großen Forderung des Tages, die auch an die Vertreter der historischen Wissenschaften erging: mitzuhelfen an dem Bau des nationalen Staatswesens. So ist aus dem Berliner Philologen der Kieler Historiker geworden und zugleich der politische deutsche Professor der vierziger Jahre, dessen historischen Typus gerade D. mit am kräftigsten darstellt. Das erste litterarische Denkmal dieser Wandlung sind die 1846 herausgegebenen „Vorlesungen über die Freiheitskriege“ (2 Bde.). Es ist ein Colleg über die allgemeine europäische Geschichte vom Aufstand der amerikanischen Colonien bis zum Wiener Frieden und der heiligen Allianz; [92] es ist gedruckt wie es im Winter 1842/43 gelesen worden ist, und es hat durch den Druck nicht verloren. Es ist ein Buch voll Geist und Feuer, voll Enthusiasmus und sittlicher Wärme, weniger eine pragmatische Geschichtserzählung, als das historische Fundament für ein politisches Programm, das deutlich genug zum Ausdruck kommt. Die Tendenz zur Freiheit – zur „königlichen Vollfreiheit des sittlichen Menschen“ in Fichte’s Sinne -– erscheint dem Verfasser als der positive Inhalt dieser ganzen Epoche. Der äußeren Freiheit und Unabhängigkeit der Staaten muß die innere Freiheit entsprechen; sie kann nur erreicht werden, indem die Staatsmacht, die unbedingt erhalten werden muß, sich mit den geretteten und wiederbelebten Elementen freier Selbstbestimmung der Völker verbindet: constitutionelle Verfassung und nationale Staatsbildung sind die großen Forderungen, auf die das ganze hinaus läuft. „Der Staat, der dem Volke verloren gegangen ist, soll wieder des Volkes werden“. In den Ideen Stein’s, in seiner Wirksamkeit sieht der Verfasser das Programm der Zukunft; das neue Preußen, wie es den Männern der Reform vorschwebte, würde der kräftige Führer des neuen Deutschlands geworden sein. Die Reformgesetzgebung ist für Preußen gewesen, was für Frankreich die Revolution war; ihre weiteren Consequenzen müssen gezogen werden. Die thatsächliche Gestaltung der Dinge befriedigt die Wünsche der Patrioten nicht, weder die büreaukratische Wendung der Reformgesetzgebung in Preußen, noch der Föderalismus des Bundestages, noch die legitimistischen Neigungen aus der Zeit der heiligen Allianz, die mit beißender Ironie kritisirt wird. Eine deutliche und entschiedene Ansicht über die Zukunft Deutschlands, über die Lösung der deutschen Frage finden wir noch nicht. Die Auffassung, der warme, begeisterte Ton der Rede, der starke ethische Accent, sind die Hauptsache an dem Buche, das Alfred Dove die „liebenswürdigste von Droysen’s Schriften“ genannt hat. Es hat aber auch wissenschaftlich unzweifelhafte Verdienste. Der weite Horizont der historischen Betrachtung, die gleichermaßen das staatliche, das wirthschaftlich-sociale, das geistige Leben in seinen markantesten Aeußerungen umfaßt und das alles zu einem historischen Gesammtproceß verknüpft, die großen Perspectiven, in die die jüngste Phase der europäischen Entwicklung gestellt wird, die reiche und vielseitige Bildung, die damit in den Dienst der neuesten Geschichtschreibung gestellt war, bedeuten einen entschiedenen historiographischen Fortschritt. Nach der Seite quellenmäßiger Forschung ist das Buch heute durch die inzwischen erfolgte Eröffnung der Archive überholt. D. hat nur gedrucktes Material zu Gebote gestanden. Mit beredten Worten hat er es beklagt, daß unsere Geschichte stumm sei, daß unsere Archive verschlossen blieben, daß wir uns die Geschichte der letzten entscheidenden Epoche, die Preußen und Deutschland erlebt hatte, von Ausländern müßten erzählen lassen, die den Engländern oder gar den Russen den Hauptruhm des großen Befreiungskampfes zurechneten. „Die geschichtliche Auffassung dieser großen Zeit“ – so hat er noch später geurtheilt – „auch die in unserer Litteratur und in vielen Kreisen unseres Volkes vorherrschende, stand gleichsam unter dem Joch derselben Fremdherrschaft, die in so stolzer Erhebung und in so glorreichen Schlachten gebrochen worden war; von unserer Geschichte jener Zeit kam kaum hier und da ein einzelnes Blatt zum Vorschein; es wurde bis in die vierziger Jahre hinein in unseren officiellen Kreisen nicht gewürdigt, von welcher auch politischen Bedeutung es sei, dem Volk in seiner Geschichte das Bild seiner selbst zu geben.“ – Unter diesem Gesichtspunkt muß das Buch beurtheilt werden. Es war mehr für das gebildete Publicum, als für die eigentlichen Fachgelehrten geschrieben, und in dieser Hinsicht hat es seine Wirkung nicht verfehlt. In den gelehrten Kreisen, wenigstens bei [93] der Ranke’schen Schule, fand es keine günstige Aufnahme. W. Giesebrecht kritisirte es scharf und nicht eben wohlwollend in der „Staatszeitung“; H. v. Sybel wandte sich in Adolf Schmidt’s Hist. Zeitschrift namentlich gegen die Auffassung Burke’s. In den officiellen preußischen Kreisen verstimmte die scharfe Kritik der bestehenden Zustände und die entschiedene liberale Haltung. Friedrich Wilhelm IV. hat den ersten Band noch entgegengenommen; den zweiten sandte er dem Verfasser zurück, weil die Sarkasmen über die heilige Allianz ihn tief verletzt hatten. In Preußen war D. damit zunächst unmöglich geworden. Dagegen hat ihm das Buch einen Ruf nach Jena eingetragen, wo die schwere Erkrankung Luden’s einen Ersatz nöthig machte. Die Verhandlungen sind jedoch damals (1846) an den ungenügenden Jenenser Gehaltsverhältnissen gescheitert. – Es war wichtig für Droysen’s weitere Entwicklung, daß er zunächst in Kiel blieb, wo er übrigens eine erfolgreiche akademische Wirksamkeit und die besten collegialischen Beziehungen hatte; namentlich mit Justus Olshausen, Otto Jahn, Georg Waitz, auch mit Dorner, Madai, Falck, Hegewisch, Ravit stand er zum Theil in freundschaftlichen Verhältnissen. Die schleswig-holsteinsche Bewegung war damals bereits im Gange; in den nächsten Jahren wuchs sie zu ungeahnten Dimensionen und brachte auch die deutsche Frage in lebhaften Fluß, bis das Sturmjahr 1848 die verhängnißvolle Krisis herbeiführte. An dem ganzen Verlauf dieser Bewegung ist D. in hervorragender Weise als Publicist und Parteimann bethätigt gewesen.

Der Beginn der Bewegung trifft ungefähr mit der Uebersiedlung Droysen’s nach Kiel zusammen. Seit der Thronbesteigung Christian’s VIII. (1839) trat die Frage der Erbfolge hervor für den wahrscheinlichen Fall, daß dessen Sohn und Nachfolger, Friedrich (VII.), ohne Erben bleiben würde. Dann hätten rechtmäßiger Weise die in bloßer Personalunion mit Dänemark stehenden Herzogthümer, unter dem erbberechtigten Prinzen Christian von Augustenburg von der dänischen Monarchie, in der die weibliche Erbfolge galt, getrennt werden müssen. Dagegen verfolgte Dänemark seit 1815 den Plan, einen Einheitsstaat herzustellen und wenigstens Schleswig der dänischen Monarchie völlig einzuverleiben, aber auch Holstein, dessen Zugehörigkeit zum deutschen Bunde einer solchen Incorporirung entgegenstand, bei Dänemark zu erhalten. Die verschärften Danisirungsbestrebungen seit 1839 riefen die Opposition der Deutschen hervor, und D. war neben Samwer, Waitz, Olshausen, Falck, einer der lebendigsten und wärmsten Vertreter der deutschen Interessen. Zu einer bedeutsamen öffentlichen Kundgebung war es schon im J. 1843 gekommen, anläßlich der Jubelfeier des Vertrages von Verdun, die nach der romantischen Geschichtsanschauung ihres Urhebers, König Friedrich Wilhelm’s IV., dem tausendjährigen Bestehen des deutschen Reiches gelten sollte. Bei der akademischen Feier in Kiel hielt D. die Festrede und er benutzte diese Gelegenheit zu einer Demonstration im deutsch-nationalen Sinne, die den anwesenden Curator in die größte Verlegenheit versetzte. Das Volksfest, das sich daran schloß, und an dem gegen 10 000 Festgenossen, darunter viele Bauern aus der Umgegend, theilnahmen, bot eine erwünschte Gelegenheit zur nationalen Propaganda durch Trinksprüche und Festreden. Diesem Vorspiel waren bald gewichtigere Ereignisse gefolgt. Auf dem Landtage von Roeskilde war auf den Antrag des Bürgermeisters von Kopenhagen, Allgreen-Ussing, von den dänischen Ständen eine Resolution gefaßt worden, die den König aufforderte, in dem ganzen Umfange der Monarchie die Geltung des Königsgesetzes und die cognatische Erbfolge zu proclamiren, d. h. also die Trennung der Herzogthümer von Dänemark für jenen in Aussicht stehenden Fall zu verhüten, Gegen diese Absicht hatte sich eine rührige Opposition in den Herzogthümern erhoben, [94] an deren Spitze die Kieler Universität in enger Vereinigung mit den übrigen wissenschaftlichen Anstalten der Länder stand. D. hatte eine Adresse dagegen verfaßt, die in 1000 Exemplaren gedruckt und im Lande verbreitet wurde, um dann, mit vielen Unterschriften bedeckt, an die zu Itzehoe versammelten schleswig-holsteinschen Stände überreicht zu werden. Der Eindruck dieser Opposition war sehr bedeutend gewesen, aber er hatte die dänische Gesammtstaatspolitik nicht zu hemmen vermocht. Am 3. Juli 1846 erschien der bekannte Offene Brief Christian’s VIII., der mit Berufung auf ein Abkommen mit dem Herzog von Holstein-Gottorp von 1721, Schleswig sammt dem Gottorp’schen Antheil von Holstein für Dänemark als integrirenden Bestandtheil der Gesammtmonarchie reclamirte. Auf diese Provocation antwortete ein Gutachten von neun Kieler Professoren, unter denen sich auch D. befand, „über das Staats- und Erbrecht des Herzogthums Schleswig“. D. selbst hatte einen erheblichen Antheil an dieser Schrift. Trotz des königlichen Verbotes wurde sie in Hamburg gedruckt und im Wege des Buchhandels verbreitet. Die Regierung ging mit dem Plane um, die ungehorsamen Professoren abzusetzen; aber sie wagte es schließlich doch nicht, mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung, die überall in den Herzogthümern auf Seite der Verfasser des Gutachtens stand. Die Stände der Herzogthümer hatten die unauflösliche Verbindung der beiden Länder und ihr gemeinsames Erbrecht in der Erklärung von Neumünster gewahrt, die Agnaten hatten gegen den „Offenen Brief“ protestirt, der Bundestag war, wenn auch in sehr zahmer Form, für ihre Rechte eingetreten. Die erregte öffentliche Meinung wurde durch einen zweiten Brief vom 18. September beschwichtigt; die Verfasser des „Gutachtens kamen mit einem Verweise davon: statt des erwarteten Donnerschlages traf sie der zähe, kalte Dauerregen obrigkeitlicher Mißgunst. D. aber machte sich nun daran, die schwierige Materie, um die es sich handelte, in einer gründlichen historisch-staatsrechtlichen Untersuchung ans Licht zu stellen; er vereinigte sich dazu mit seinem Freunde und früheren Schüler, dem Advocaten Karl Samwer, der die staatsrechtliche Seite der Sache bearbeitete; aus ihren gemeinschaftlichen Bemühungen ging ein Buch hervor, das den Titel führt: „Die Herzogthümer Schleswig und Holstein und das Königreich Dänemark. Actenmäßige Geschichte der dänischen Politik seit 1806“. (1850 Hannover.)

Die Bewegung trat in eine neue Phase durch den Tod Christian’s VIII. und die Thronbesteigung Friedrich’s VII. Ein Patent des neuen Königs vom 28. Januar 1848 suchte durch Gewährung einer constitutionellen Gesammtverfassung für die ganze Monarchie mit Einschluß der Herzogthümer die Idee des Einheitsstaates zu verwirklichen und den nationalen Widerstand durch die Reize des Constitutionalismus zu überwinden. Der Plan befriedigte weder die Herzogthümer noch die eiderdänische Partei, die die Geltung der neuen Verfassung auf Schleswig beschränken wollte. D. ließ am 5. Februar 1848 eine Flugschrift gegen das königliche Patent ausgehen, die den Titel führt: „Die gemeinsame Verfassung für Schlewig-Holstein und Dänemark“, in der er den Köder des Constitutionalismus zurückwies und vor allem an dem nationalen Princip festzuhalten mahnte. Er erklärte mit drastischer Deutlichkeit, „daß die Schleswig-Holsteiner sich zu gut hielten, eine Mulatten-Nation zu werden“. Die Erregung des Moments wurde gesteigert durch die Nachricht von der Pariser Februar-Revolution. Während die Deputation einer Schleswig-Holsteinschen Notabeln-Versammlung, die in Rendsburg abgehalten worden war, eine besondere Repräsentation für die Herzogthümer und die Einfügung Schleswigs in den deutschen Bund verlangte, wurde König Friedrich VII. durch das neue Ministerium, das ihm die radicale eiderdänische Partei aufgedrängt [95] hatte, zu der Erklärung veranlaßt, daß Holstein eine besondere Verfassung erhalten, Schleswig aber in Dänemark einverleibt und unter die gemeinsame Verfassung gestellt werden würde. Alles war vorbereitet, um die Herzogthümer, die man überraschen zu können glaubte, durch Waffengewalt zur Annahme dieser Entscheidung zu zwingen. – In den Herzogthümern war es indessen auf die Kunde von der Berufung eines eiderdänischen Ministeriums bereits zum Aufstande gekommen. Eine provisorische Regierung wurde gebildet, am 23. März 1848; am 24. März rückte der Prinz von Noer mit einer schnell zusammengerafften Mannschaft nach Rendsburg, wo die Besatzung sofort zu den Aufständischen übertrat. An diesem Zuge hat sich auch eine Anzahl Kieler Professoren, unter ihnen D., mit ihren Studenten betheiligt. D. wurde von der provisorischen Regierung nach Frankfurt gesandt, um für ihre Anerkennung beim Bundestage zu wirken und um dann weiterhin die Vertretung Holsteins in dem Ausschuß der siebzehn Vertrauensmänner zu übernehmen, die der Bundestag (nach den siebzehn Curien des „engeren Rathes“) eingeladen hatte, bei dem neuen Verfassungswerk mitzuwirken.

Am 6. April 1848 trat D., bevor noch der Bundestag die provisorische Regierung in Kiel anerkannt hatte, als Mitglied in diese Körperschaft der Siebzehn ein. Wie er hier gewirkt hat, geht aus den Aufsätzen hervor, die er 1849 unter dem Titel: „Beiträge zur neuesten deutschen Geschichte“ veröffentlicht hat. Es war nicht seine Meinung, daß der Entwurf einer Verfassung die Hauptsache sei und daß die Siebzehn sich darauf beschränken sollten, diesen Entwurf auszuarbeiten, um ihn dann durch den Bundestag dem künftigen Parlament vorlegen zu lassen. Er hielt diese Bestrebungen, die sich in erster Linie auf das Verfassungswerk und seine constitutionellen Fragen richteten, für doctrinär; worauf es ihm in erster Linie ankam, das war „die einheitliche Machtbegründung“ für Deutschland, und er war der Meinung, daß der Bundestag selbst, in dem ja bereits manche vom Geist der Zeit berührte, wohlmeinende und patriotische Männer saßen, diese Aufgabe in die Hand nehmen müsse. Dazu sollte ein Antrag führen, den die Siebzehn auf eine Anregung und Vorlage Droysen’s hin am 17. April an die Bundesversammlung gerichtet haben. Dieser Antrag bezweckte, die Bundesgewalt zu energischer Bethätigung auf dem Gebiet der Militärverfassung und der auswärtigen Politik anzutreiben. Er empfahl die allgemeine Volksbewaffnung, d. h. die Ausdehnung des preußischen Systems der allgemeinen Wehrpflicht und der Landwehr auf alle deutschen Staaten von Bundes wegen; er verlangte ferner die Schaffung einer deutschen Kriegsflotte, die bei dem in Aussicht stehenden Kriege mit Dänemark von ganz besonderer Bedeutung sein mußte; und er forderte endlich, daß der Bund die auswärtigen Angelegenheiten kräftig in die Hand nehme, den dänischen Krieg nicht bloß, wie es die Absicht war, Preußen überlasse, sondern im allgemein-deutschen Interesse darauf einwirke, womöglich im Bündniß mit Schweden und Holland, mit Belgien, mit Nordamerika. Indessen diese Anregung scheiterte an der principiellen Abneigung der beiden Großmächte und an der Unklarheit über die Form einer Bundes-Executivbehörde. Die Verfassungsfrage behielt doch die Oberhand und in diesen Dingen war Dahlmann die leitende Persönlichkeit unter den Siebzehn. Das Schicksal seines Verfassungsentwurfes, der aus den Berathungen dieser Körperschaft hervorging, ist bekannt. Er fand nicht die Zustimmung des Bundestages und ist gar nicht vor das Parlament gelangt. Die Aufgabe des Verfassungswerkes entglitt damit überhaupt dem Bundestage und den Vertrauensmännern und ging an die inzwischen zusammengetretene Nationalversammlung selbst über. D. aber hielt seinen Standpunkt fest, nach dem die erste Bedingung für den [96] neuen deutschen Staat die Begründung einer wirkungsfähigen Macht war. „Wir bedürfen“, erklärte er in der Denkschrift vom 29. April –, „eines mächtigen Oberhauptes! Die Macht Oesterreichs war unsere Ohnmacht, während Preußen der Einheit Deutschlands bedarf, um die Lücken seiner Macht zu füllen.“ „Oesterreich kann, will es mit uns gehen, nicht anders als eine reine Personalunion seiner gemengten Staaten werden wollen; und nur so weit es das wird, kann es mit uns gehen“; die Gesammtstaatsidee müsse es aufgeben. „Preußen ist schon Deutschland in der Skizze. Es wird in Deutschland ‚aufgehen‘, d. h. statt sich constitutionell abzuschließen als Staatsindividualität, wird es durch Entwicklung der provinzialständischen Verfassung seine Vergliederung mit Deutschland und die der deutschen Staaten mit sich ermöglichen, um seine große und gesunde Machtorganisation – sein Heer- und Finanzwesen voran – als Rahmen für das Ganze zu bieten. Den Hohenzollern gebührt die Stelle, die seit den Hohenstaufen leer geblieben.“

Auch D. selbst hatte ein Mandat zu der Nationalversammlung durch einen holsteinischen Wahlkreis erhalten. Er gehörte mit seinen Kieler Freunden und anderen Gesinnungsgenossen dem rechten Centrum an und wirkte unermüdlich für eine starke Reichsgewalt, für das hohenzollernsche Kaiserthum. Als Redner in der Paulskirche ist er nicht hervorgetreten, obwol er – nach dem Zeugniß von Robert v. Mohl – „sehr gut sprach, kräftig, staatsmännisch, mit bündiger Kürze“. Er legte mehr Gewicht darauf zu überzeugen als zu überreden, und darum wirkte er mehr im kleinen Kreise und hinter den Coulissen. Niemand verstand besser als er, im persönlichen Gespräch politische Fragen fruchtbar und zweckvoll zu erörtern, die Lauen zu stärken, die Unentschiedenen zu gewinnen, die Partei zusammenzuhalten. In den Fractionssitzungen war er eine unentbehrliche Person; in den Ausschüssen bewährte sich seine Arbeitskraft, sein eindringendes Verständniß, seine Fähigkeit, schnell und scharf zu formuliren und zu redigiren. In diesem Sinne entfaltete er ein bedeutendes parlamentarisches Talent, durch das er auch hervorragenden Einfluß gewann. Mohl rechnet ihn zu den „politisch am besten organisirten Köpfen der Versammlung“. Sehr anschaulich hat Heinrich Laube seine Wirksamkeit in der Paulskirche geschildert: wie der kleine Mann mit seinem Stock und seiner großen Brille unverdrossen zwischen den Bänken der verschiedenen Parteien umherwandert, hier beweisend, dort spottend, hier scheltend, dort beredend, um Uebereinstimmung in wichtigen Fragen zu bewirken; wie er dann wol einem befreundeten Fractionsgenossen im Vorübergehen einen Sarkasmus zuflüstert, ohne daß aber das kleine ernste Gesicht dabei eine Miene verzogen hätte. Fast immer sah man ihn mit seinem Greifswalder Collegen und Parteigenossen Georg Beseler, dem Bruder des schleswig-holsteinischen Statthalters, zusammen. „Sie waren beide“ – sagt Laube – „mit voller Seele bei dem schweren Werke für unser Vaterland. Das Gelingen des Werkes war ihnen das Gelingen ihres Lebens; sie gingen so darin auf, daß vom Mai 48 bis Juni 49 nur die kurzen Stunden ihres Schlafes leer blieben vom Dichten und Trachten, vom Reden und Treiben, vom Versöhnen und Verbinden für das Zustandekommen eines deutschen Reiches.“ Und Robert v. Mohl hat Droysen’s Haltung mit den Worten charakterisirt: „Zu allen Stunden und an jedem Orte lebte in dem kleinen unruhigen Manne kein Gedanke als der der Ordnung des Vaterlandes. Selbst während des Mittagstisches ging er im Club umher, „um zu ermuntern, vorwärts zu bringen, zu bessern und zu verbessern“. Nach den Clubsitzungen war er fast jeden Abend im Englischen Hof zu finden, dem Hauptquartier der regierenden [97] Partei, wo die Aristokratie des Geistes, der Geburt, des Amtes, des Einflusses sich zusammenfand.

Ein wesentlicher Theil der Thätigkeit Droysen’s entfällt auf die Arbeiten des Verfassungsausschusses, dem er mit Dahlmann, Waitz und Beseler angehörte und in dessen Sitzungen er das Protokoll führte; er hat später, nach der Auflösung der Nationalversammlung, einen Theil dieser Protokolle, die aus seiner Feder stammen, zum Druck befördert und damit der Nachwelt nicht bloß eine wichtige Geschichtsquelle, sondern, wie er meinte, auch eine Quelle politischer Belehrung zugänglich gemacht. Bei der Lectüre dieser „Verhandlungen des Verfassungsausschusses der deutschen Nationalversammlung“ (1849) wird man das Urtheil Mohl’s bestätigt finden, daß dies „meisterhafte Protokoll zwar nur einen geringen kanzleimäßigen Anstrich hat, aber die Verhandlungen auf das unterhaltendste und geistreichste abzeichnet“.

D. hatte zu viel politischen Verstand und historische Erfahrung, um, wie die Mehrheit des Ausschusses und der Versammlung überhaupt, die Feststellung der individuellen Grundrechte zu überschätzen. Das Hauptgewicht legte er auch hier auf die Machtfragen, d. h. auf das Verhältniß der Einzelstaaten zur Centralgewalt und namentlich auch auf das Verhältniß des neuen Bundesstaates zu Oesterreich. Seine Meinung in dieser Hinsicht kennen wir schon. Er traf darin selbständig mit Dahlmann zusammen und der Verfassungssausschuß beschloß demgemäß. Dahlmann und D. haben es dann auch vornehmlich bewirkt, daß bei der Berathung des Verfassungsentwurfs im Plenum die entscheidende Frage des Verhältnisses zu Oesterreich vorangestellt wurde. Der Antrag des Ausschusses ging dahin, daß kein Theil des deutschen Reiches mit nichtdeutschen Ländern zu einem Staat vereinigt sein dürfe; hat ein deutsches Land mit einem nichtdeutschen dasselbe Oberhaupt, so ist das Verhältniß zwischen beiden Ländern nach den Grundsätzen der Personalunion zu ordnen. Für Oesterreich bedeutete das die Zerreißung in Cis- und Transleithanien, die Unterordnung der deutschen Kronländer unter die Centralgewalt des Reiches. Niemand zweifelte, daß die österreichische Regierung sich diesen Bestimmungen nicht unterwerfen würde; es war der Satz der Verfassung, an dem sich die Geister schieden: auf der einen Seite die großdeutschen Idealisten, die Ultramontanen und Particularisten, auf der andern die entschlossenen kleindeutschen, für die preußische Führung entschiedenen Politiker. Die bisherige Majorität ging darüber in die Brüche; aber trotzdem wurde der Antrag mit großer Mehrheit am 27. October 1848 angenommen. – In diesem mit Dahlmann gemeinschaftlich eingeleiteten Versuch, „den Stier bei den Hörnern zu packen“, dürfte der Höhepunkt der Wirksamkeit Droysen’s in dem Frankfurter Parlament zu erblicken sein. Es ist bekannt, zu welch’ heftigen Kämpfen es später in der Versammlung über den Ausschluß Oesterreichs gekommen ist, wie dann Schmerling, von kurzen Verhandlungen mit Schwarzenberg zu Olmütz im Januar 1849 nach Frankfurt zurückgekehrt, durch dilatorische Erklärungen Oesterreichs dem Beschluß des Parlaments die politische Spitze abzubrechen verstanden hat. D. hat später einmal erzählt, wie er damals in Frankfurt zufällig, im Vorbeigehen die hämischen Worte von dem Oesterreicher gehört habe: „Da haben wir den Preußen einmal ordentlich in die Suppe gespuckt“. – Es ist hier nicht der Ort, auf die weiteren Beschlüsse und taktischen Manöver in der Versammlung einzugehen; es mag genügen, darauf hinzuweisen, daß D. namentlich bei den wiederholten Abstimmungen über die Frage des Erbkaiserthums, so bei dem Antrag Welcker, die rührigste agitatorische Thätigkeit entfaltete. Als schließlich durch die Vereinigung der [98] Centrumsfractionen mit der radicalen Fraction Heinr. Simon’s die Entscheidung für das preußische Erbkaiserthum gefallen war (28. März 1849), als die Deputation nach Berlin abgeordnet wurde, um König Friedrich Wilhelm IV. die Kaiserkrone anzutragen, da eilte auch D., obgleich ohne officiellen Auftrag, nach Berlin, um die Stimmung zu sondiren und womöglich vorzubereiten; er war auf das lebhafteste und persönlichste an der bevorstehenden Entscheidung interessirt. Damals ist er auch, zum ersten Mal, soviel wir wissen, bei Ranke gewesen, der die Kaiserwahl mißbilligte. D. hat ihn nicht von der Möglichkeit und Heilsamkeit dieser Wendung zu überzeugen vermocht. „Sie verstehen die Geschichte nicht!“ rief ihm der Freund Friedrich Wilhelm’s IV. zu; und D. erwiderte: „Die Geschichte wird einst zeigen, wer sie besser verstand, wir oder Sie!“

Die Ablehnung Friedrich Wilhelm’s IV. warf das ganze Verfassungswerk von Frankfurt über den Haufen und schuf eine Lage, die nur noch die Wahl zwischen Selbstauflösung der Nationalversammlung und Revolution ließ. D. hat mit Entschiedenheit dafür gewirkt, daß seine Partei aus der Versammlung ausschied, was dann ja nach und nach alle gemäßigten Elemente überhaupt gethan haben. Ohne Preußen gab es für ihn kein Deutschland; gegen Preußen konnte auch die Revolution nicht helfen: sie würde nur zu einer engeren Verbindung des deutschen Zukunftsstaates mit Rußland und Oesterreich gegen die nationalen Bestrebungen in Deutschland gedrängt haben. Das war seine Auffassung der Lage. Die Zusammenkunft der erbkaiserlichen Partei in Gotha zum Zweck moralischer Unterstützung der preußischen Unionspolitik, die mit dem Dreikönigsbündniß inaugurirt worden war, hatte er nicht gebilligt; er hielt sich fern von dieser unberufenen Versammlung, die seiner Meinung nach nichts Rechtes wirken konnte. Ihm hatte sich durch die Erfahrungen von Frankfurt die Ueberzeugung aufgedrängt und befestigt, daß die deutsche Frage eine Machtfrage sei, daß der preußischen Regierung nunmehr überlassen werden müsse, den Weg zur Lösung zu finden. Als die Frucht dieser Ueberzeugung ist in jenen Tagen eine Flugschrift entstanden, die unter dem Titel „Gutachten eines Schleswig-Holsteiners“ am 7. August veröffentlicht wurde; sie hat später den vollen Beifall Bismarck’s gefunden, der öfters einen Neudruck gewünscht hat; mit Rücksicht darauf ist sie in die Sammlung der Abhandlungen aus der neueren Geschichte aufgenommen worden, wo sie den Titel führt: „Preußen und das System der Großmächte“. In dieser Flugschrift führt D. aus, daß die deutsche Frage in erster Linie eine Frage der auswärtigen Politik sei. „Nicht von der ‚Freiheit‘, nicht von nationalen Beschlüssen aus war die Einheit Deutschlands zu schaffen. Es bedurfte einer Macht gegen die anderen Mächte, ihren Widerspruch zu brechen, ihren Eigennutz von uns zu wehren …“ „Die Sache der Nation ist jetzt bei Preußen“ … „Preußen muß die Stellung in Deutschland, die es mit Oesterreich gemeinsam üben sollte, fortan allein über sich nehmen; aber es muß sich bewußt sein, daß es damit den Boden des 1815 gegründeten Völkerrechts verläßt, daß das Bestehen eines engeren Bundes innerhalb des ehemaligen eine nur fictive Fortsetzung des ‚Rechtes über Deutschland‘ ist, das Oesterreich so lange mißbraucht hat“ … „Preußen darf sich nicht mehr dabei beruhigen wollen, doch nur die zweite Macht in Deutschland zu sein. Die deutsche Macht zu sein ist seine geschichtliche Aufgabe“ … „In diesem Sinne an die Spitze Deutschlands tretend, erneuere uns Preußen die wahrhafte Idee des Kaiserthums, wie sie seit dem fünften Karl an der dynastischen Politik Oesterreichs zu Grunde gegangen ist!“ So klar und überzeugend hatte Niemand bisher den Weg bezeichnet, auf dem allein [99] noch die große nationale Angelegenheit ihrer Regelung entgegengeführt werden konnte, den Weg der zukünftigen Bismarck’schen Politik.

Für den Vertreter der schleswig-holsteinschen Sache bedurfte es einer unerschütterlichen Zuversicht in die deutsche Zukunft Preußens, um nicht irre zu werden an der preußischen Politik jener Tage. Der Waffenstillstand von Malmö bedeutete eine schwere Probe; aber D. hat sich dadurch nicht von seinen preußisch-deutschen Ueberzeugungen abbringen lassen. Nach dessen Kündigung nahm der Krieg, wie bekannt, zunächst eine günstige Wendung für die deutsche Sache; aber die Einmischung der Mächte trat ihr hindernd in den Weg: unter englischer Vermittlung wurde am 10. Juli 1849 der Berliner Waffenstillstand geschlossen, der zugleich die Friedenspräliminarien festsetzte. Danach sollte Holstein unter der Regierung der Reichsstatthalterschaft bleiben, die inzwischen von der deutschen Centralgewalt eingesetzt worden war; Schleswig sollte, unbeschadet seiner politischen Union mit der dänischen Krone, legislative und administrative Selbständigkeit genießen und trat zunächst unter eine abgesonderte Verwaltung; die Herzogthümer sollten also getrennt werden. Bei dieser Wendung hat D. wieder seine Stimme für die Sache Schleswig-Holsteins erhoben. In einem „Sendschreiben“ an den Baron Pechlin, den vormaligen Vertreter Holsteins am Bundestage, erklärte er (im Herbst 1849): diese Friedensbasis sei für die Herzogthümer unannehmbar, für Dänemark unvortheilhaft, für die Ruhe Europas gefährlich. Nach seiner Meinung war es die Pflicht Preußens, im deutschen Sinne für die Sache der Herzogthümer einzutreten; die preußische Unionspolitik und die schleswig-holsteinsche Frage erschienen ihm als zwei Seiten desselben politischen Problems. Diese Auffassung hat ihn auch (April 1850) zu dem Unionsparlament nach Erfurt geführt, obwol er kein Mandat dazu hatte, da Holstein ja nicht zu der Union gehörte. Aber die Unentschlossenheit der preußischen Politik, wie sie in der schwankenden Haltung Friedrich Wilhelm’s IV., in der Abneigung, anders als im Einverständniß mit Oesterreich zu handeln, hervortrat, eröffnete keine günstigen Aussichten; und die Befürchtungen Droysen’s bestätigten sich, als unter dem Druck der auswärtigen Mächte, namentlich Rußlands, der Definitivfriede vom 2. Juli 1850 zu Stande kam, der die Herzogthümer in der Hauptsache sich selbst überließ. Es ist bekannt, wie dann die Dinge weiter verliefen, bis nach der Punctation von Olmütz der wiederhergestellte deutsche Bund die Beendigung des Freiheitskrieges der Schleswig-Holsteiner erzwang und auch Holstein den Dänen auslieferte. D. selbst mußte als Mitglied der schleswig-holsteinschen Landesversammlung nothgedrungen seine Zustimmung zu der neuen Ordnung der Dinge geben.

Von der dänischen Reaction, die nun einsetzte, durfte er nichts Gutes erwarten. Seine Freiheit und Sicherheit war in Gefahr. So kam ihm damals (1851) die Erneuerung des einst abgelehnten Rufes nach Jena sehr gelegen. Dennoch zögerte er, sein Schicksal von dem seiner Freunde zu trennen. In Berathungen mit diesen, namentlich mit Planck[WS 1] (so berichtet Willy Boehm nach eigenen Erzählungen Droysen’s) wurde beschlossen, daß er nur bleiben solle, wenn die mit der Ausführung der Friedensbestimmungen beauftragten Civilcommissarien übereinstimmend erklären würden, daß gegen die Universitätsprofessoren nicht (wie früher in Hannover) nach Willkür, sondern nach Urtheil und Recht verfahren werden solle. Der österreichische und der preußische Commissar gaben diese Erklärung, der dänische nicht. Darauf entschloß sich D. den Ruf anzunehmen und siedelte 1851 nach Jena über. – In seinem Hause hatte sich inzwischen eine schicksalsvolle Veränderung vollzogen. Seine erste Gemahlin war schon 1847 gestorben; 1849 hatte er seinen Kindern [100] eine zweite Mutter gegeben, Emma Michaelis, die Tochter des Kieler Gynäkologen, eine Nichte seines Freundes Otto Jahn. Von ihr ist ihm noch ein Sohn geboren worden. Sie ist ihm 32 Jahre hindurch eine treue und verständnißvolle Lebensgefährtin gewesen.

Unter den politischen Erregungen der letzten Jahre war die wissenschaftliche Production Droysen’s nicht verkümmert: gerade in dieser Epoche hat er ein Werk geschaffen, das vielleicht als sein vollkommenstes litterarisches Erzeugniß bezeichnet werden kann: den „York“. Der erste Band dieses Buches ist noch in Kiel vollendet worden, in den Tagen der Agonie des schleswig-holsteinischen Freiheitskampfes; die beiden folgenden Bände fallen in die Zeit des Jenaer Aufenthalts. – Der Plan zu dem Werke hängt mit den politisch-wissenschaftlichen Interessen zusammen, die D. zur Beschäftigung mit den Freiheitskriegen geführt hatten. Sein Herzenswunsch wäre gewesen, eine Geschichte jener großen Zeit nach den preußischen Staatsacten zu schreiben. Aber dazu hätte die Berufung nach Berlin gehört und ein Auftrag, der ihm die streng verschlossen gehaltenen Archive öffnete. Unter dem Regiment Manteuffel’s war darauf kaum zu rechnen: die Geschichte der preußischen Erhebung ließ sich daher zunächst nur biographisch bearbeiten, mit Hülfe von Familienpapieren, und der Zufall hatte D. ein gutes Material dieser Art über den alten Feldmarschall zugeführt, an dessen Person die Ueberlieferung den Beginn der großen Erhebung anknüpfte. Da fand D. den Mann, wie er damals noch in der Armeetradition lebte, eine Figur von altpreußischer Herbheit und Strenge, „scharf wie gehacktes Eisen“. Was ihn vornehmlich zu dem Stoffe hinzog, war gerade das „specifisch Preußische“ und das Militärische daran, die Mischung von strenger soldatischer Pflichterfü1lung und kühner patriotischer Entschlußkraft. Er wollte der matten und zerfahrenen Gegenwart ein Bild des preußischen Wesens vorhalten, wie es in den großen Tagen der Freiheitskriege gewesen war. Er wollte an einer typischen Figur die moralischen Kräfte demonstriren, die damals in der Armee lebendig waren und das Vaterland gerettet hatten. Es ist bewundernswerth, in welchem Maße ihm das gelungen ist. Eine Atmosphäre von sittlicher Energie herrscht in dem Buche, deren stählenden Einfluß der Leser auch heute noch spürt. Der preußischen Armee sind dadurch Achtung und Sympathie verschafft worden in Kreisen, die damals nur Haß und Hohn für den Militarismus hatten. Das ideale Preußenthum, wie es im Geiste des Verfassers lebte, trat in historischer Verkörperung als eine mahnende und aneifernde Kraft hervor, die auch über die Zeit der Entstehung des Buches hinaus weithin fortgewirkt hat: der „York“ ist eines der populärsten deutschen Geschichtsbücher geworden. – Er ist zugleich auch das Musterbild der militärisch-politischen Biographie neueren Stils, wie sie noch heute bei uns gepflegt wird; man darf sagen, daß D. mit dem „York“ eine neue historiographische Stilgattung geschaffen hat. Es kam darauf an, ein scharfes und klares Porträt der Persönlichkeit zu geben, deren Schicksale das Ganze der Composition beherrschen und zusammenhalten mußten, und doch zugleich in diesem Rahmen soviel von den politischen und militärischen Ereignissen und Zusammenhängen darzustellen, daß der historische Wirkungskreis des Helden in seiner Größe und Bedeutung veranschaulicht wird. Wie schwierig die Lösung einer solchen Aufgabe war, das zeigen einerseits die glatten, aber flachen, novellistisch-stilisirten Lebensbilder von Feldherren und Staatsmännern, wie sie Varnhagen v. Ense geschaffen hat, und andererseits die formlose, breit zerfließende Stoffmasse, die Pertz in seinem Leben Stein’s und später auch in dem Gneisenau’s an Stelle einer künstlerischen Biographie darbot. Der erste Band des „Stein“ war 1849, zwei Jahre vor dem „York“ erschienen; er ist nach Form und Inhalt [101] für D., bei aller sachlichen Belehrung, die er brachte, doch in der Hauptsache nur ein Beispiel dafür gewesen, wie man es nicht machen müsse; D. hat scharfe kritische Randglossen dazu in der Allgemeinen Monatsschrift von Roß und Schwetschke veröffentlicht; eine Kritik, die ihm der einflußreiche Berliner Oberbibliothekar und Akademiker so wenig verziehen hat, wie den überraschenden buchhändlerischen Erfolg des mit dem „Stein“ gewissermaßen rivalisirenden „York“, dessen erster Band in kurzer Zeit vergriffen war. – Die historisch-kritische Fundirung des „York“ hatte sich der Verfasser eben so eifrig angelegen sein lassen, wie die künstlerische Bearbeitung. Ein wichtiger Umstand war es, daß er das Archiv des großen Generalstabs benutzen durfte, auf dem er seine Vormittage bei Ferienaufenthalten in Berlin in eifrigster Arbeit zubrachte: die militärischen Acten wurden damals vor den Historikern nicht so streng gehütet wie die politischen. Aber wie vieles blieb noch dunkel und zweifelhaft. Trotz dieser archivalischen Grundlage, und trotz der Familienpapiere war es keine leichte Sache, das für die Biographie nöthige Material zusammen zu bekommen und aus den vielfach sich widersprechenden Informationen über zweifelhafte Punkte das richtige herauszufinden. Ja, das Charakterbild des Helden selbst mußte erst auf gelehrte Weise aus der Ueberlieferung wieder erweckt und belebt werden, und das ist zum Theil in scharfem Widerspruch gegen solche geschehen, die York noch persönlich gekannt und in Gemeinschaft mit ihm gewirkt hatten. Im Jahre 1847 hatte sich D., schon längere Zeit mit den Vorarbeiten zu der Biographie beschäftigt, auch an den einzigen damals noch lebenden Staatsmann aus der Zeit der Erhebung Preußens, den Minister v. Schön, gewandt, mit der Bitte, seine Arbeit durch Mittheilung von historischem Material zu unterstützen. Das hat zu einem lebhaften Briefwechsel geführt, der vor kurzem durch Rühl herausgegeben worden ist und sehr charakteristische Züge für beide Correspondenten enthält. Das Bild, das Schön von York hatte, war ein ganz anderes als das, welches D. entworfen hat. Schön bestritt dem Feldmarschall jede moralische Größe; er war ihm ein tapferer Soldat, den das Glück unverdienter Weise in hervorragender Stellung an großen historischen Ereignissen hatte theilnehmen lassen, daneben aber auch ein Schauspieler, der immer anders scheinen wollte als er war. Schön meinte, D. habe sich durch diese Schauspielerei täuschen lassen und habe den falschen York für den wahren genommen. Den Adel der Familie hielt er für usurpirt, der Fabelei von dem englischen Ursprung sprach er alle bona fides ab; York oder, wie er schreiben wollte, Jorck, war ihm ein Glücksritter, ein militärischer Aventurier von dunkler Herkunft und noch dunkleren Charaktereigenschaften; bei der Convention von Tauroggen war der General nach seiner Meinung durch frühere königliche Weisungen einigermaßen gedeckt; er habe höchstens die Pensionirung zu fürchten gehabt, und der Bericht, in dem er dem König die Capitulation anzeigte, mit der bekannten Wendung, daß er auf dem Sandhaufen so ruhig wie auf dem Schlachtfelde die Kugeln erwarten werde, sei ein bloßer Theatercoup gewesen. Daß in dieser ganzen Auffassung des Charakters ein Körnchen Wahrheit lag, ist D. nicht entgangen; hat er doch bei einem Besuch in Arnau nach längeren Unterhaltungen mit Schön einmal geäußert: wenn York nicht preußischer Officier geworden wäre, so würde er ein Räuberhauptmann geworden sein. Aber auf Grund einer umsichtigen, sorgfältigen Kritik, wie sie Schön’s Sache nicht eben war, ist er doch zu einer anderen Auffassung dieses „complicirten Charakters“ gekommen; und auch seine Anschauung von Tauroggen ruht auf guten historischen Fundamenten, die durch das vermehrte Material und die erneuten Untersuchungen der Gegenwart noch keineswegs umgestoßen sind; wenn auch diese Materie heute in höherem Grade als controvers erscheinen muß, als [102] man bei der Lectüre der Droysen’schen Darstellung annehmen möchte. – Dieser Gegensatz in der Auffassung York’s, die den alten Heißsporn Schön schließlich zu einer scharfen und ungerechten Verurtheilung des Droysen’schen Buches geführt hat, ist die Ursache geworden für die Erkaltung und den Abbruch der Beziehungen zwischen dem Historiker und dem Staatsmann, die doch beide in ihrer idealistischen Staatsauffassung und philosophischen Bildung manche Berührungspunkte hatten, wenn auch die politischen Ueberzeugungen und Programme in wichtigen Fragen, nicht bloß hinsichtlich Schleswig-Holsteins, sondern auch Deutschlands, auseinandergingen. Immerhin waren diese Differenzen nicht so stark, daß nicht trotzdem ein Plan ausführbar gewesen wäre, der im Laufe ihrer Correspondenz und ihres persönlichen Verkehrs hervorgetreten ist, daß nämlich D. auch das Leben Schön’s schreiben sollte, womit die historische Darstellung des wichtigsten Moments der Erhebungszeit verbunden gewesen wäre. Dieser Plan ist mit dem Abbruch der persönlichen Beziehungen zwischen den beiden Männern begraben worden; doch haben beide auch später noch immer eine hohe Achtung vor einander bewahrt: Schön hielt, wie er sagte, das Bild Droysen’s als eines wirklichen Historikers nach seinem Herzen fest, und D. hat dem greisen Staatsmanne ein verehrungsvolles Andenken bewahrt und sich nach dessen Tode sogar für die Herausgabe seiner Papiere lebhaft interessirt, wenn auch die Art, wie diese geschehen ist, ihm schwerlich zugesagt haben wird.

In Schrift und Lehre stand der politische Geist, den D. vertrat, in schroffem Gegensatz zu den damaligen preußischen Regierungstendenzen. Die preußische Unterrichtsverwaltung verhielt sich trotz der persönlichen Zuneigung von Johannes Schulze nach wie vor ablehnend gegen D.; Friedrich Wilhelm IV. hat von dem „York“ überhaupt keine Notiz genommen. Aus seiner scharfen Verurtheilung der Reaction unter dem Ministerium Manteuffel hat D. nie ein Hehl gemacht; aber trotz alledem blieb er dem Ideal des preußischen Staates, das er im Herzen trug, treu. Mit seinen preußischen Studien und Interessen kam er sich in Jena doch fast wie im Exil vor; das kleinstaatliche Leben war nicht der politische Boden, den er brauchte. Von den Höfen, die ihm manche Gunst erwiesen, hielt er sich ganz unabhängig; den Wunsch des Großherzogs Karl Alexander, der auch zuweilen in seinen Vorlesungen erschien, er möchte eine Geschichte Karl August’s schreiben, hat er nicht erfüllt, obwohl er ein Interesse an dem Stoffe nahm, den er einmal in einer Jubiläumsrede behandelt hatte; nur über „Karl August’s deutsche Politik“ hat er 1857 eine Schrift veröffentlicht, die den warmen Beifall des englischen Prinz-Gemahls Albert fand und von der Princeß royal, der späteren preußischen Kronprinzessin und deutschen Kaiserin ins Englische übersetzt worden ist (1858). Vergeblich hoffte man von D. auf eine Geschichte der Jenaer Universität zu dem Jubiläum von 1858; D. ist bei dieser Feier gar nicht hervorgetreten. Auch den Bestrebungen des Thüringischen Geschichtsvereins, der 1852 in Jena begründet worden war, hat er kein lebhaftes, werkthätiges Interesse zugewandt. Der in Jena herrschenden Sitte akademischer „Rosenvorlesungen“ vor einem gemischten Publicum von Damen und Herren, wie sie Göttling, Karl Hase, Kuno Fischer, Schleiden und andere Professoren hielten, mochte sich D. nicht anbequemen. In engere freundschaftliche Beziehungen zu den Collegen wie zu Kiel ist er hier kaum getreten; das Prorectorat hat er einmal, als die Reihe an ihn kam, ausgeschlagen. – Trotz alledem gestaltete sich seine akademische Wirksamkeit in Jena sehr bedeutend. Er war nun ein berühmter Mann, und unter seinen Hörern im ersten Semester befanden sich auch ein paar preußisch gesinnte Collegen von der Universität, der Kirchenrath Schwarz, der Zoologe [103] Oscar Schmidt und der Philosoph Constantin Rößler; D. las in Jena Geschichte des Alterthums, neuere Geschichte von der Reformation bis zur Revolution, Geschichte des Revolutionszeitalters (bis 1815) und neueste Geschichte seit 1815 in regelmäßigem Wechsel. Dazu kamen hier zwei neue Vorlesungen, die von dem Fortschritt, den seine Studien nahmen, Zeugniß ablegen: die preußische Geschichte und die Encyklopädie und Methodologie des Geschichstsstudiums, für die der „Grundriß der Historik“ (1858) geschrieben war. Hier in Jena begann er auch stärkeres Gewicht auf „historische Uebungen“ mit den Studenten zu legen. Er begründete seine „historische Gesellschaft“, in der er Themen aus der griechischen Geschichte, aus dem 15. und 16. Jahrh., aus der Zeit der französischen Revolution bearbeiten ließ, und stiftete aus eigenen Mitteln einen Preis für die beste historische Arbeit über ein jährlich von ihm und der Facultät gestelltes Thema. Er hielt täglich eine Sprechstunde ab, die von den Studenten eifrig besucht wurde. Eine Anzahl tüchtiger Schüler schlossen sich ihm an.

Dabei ging seine litterarische Production rastlos weiter und sie blieb in der Bahn der preußischen Interessen. Man hat wohl bedauert, daß D. nicht der „griechische Mommsen“ geworden ist, daß er damals einen Antrag der Weidmann’schen Buchhandlung, eine Griechische Geschichte zu schreiben, – an Stelle von Ernst Curtius, an den man sich später wandte –, abgelehnt hat. Aber sein Geist war damals von einem Plan erfüllt, der die volle Arbeit eines Menschenlebens forderte. Er wollte die Geschichte der preußischen Politik schreiben; 1855 ist der erste Band dieses Werkes erschienen, das den Autor dann bis an sein Lebensende beschäftigt hat und das er unvollendet hat zurücklassen müssen. Das Erscheinen der ersten drei Bände dieses Werkes fällt noch in die Jenaer Zeit (1855, 1857, 1859); sie behandeln die „Gründung“ und die „territoriale Zeit“ des brandenburgischen Staatswesens, bis zu dem Höhepunkt der kaiserlichen Erfolge im 30jährigen Kriege. Die Fortsetzung gehört der neuen Phase an, in die Droysen’s Leben 1859 durch die Berufung nach Berlin getreten ist.

Diese Wendung hing zusammen mit dem Eintritt der „neuen Aera“ in Preußen unter dem Prinz-Regenten, der damals in mancher Hinsicht unter dem Einflusse des Prinzen Albert stand, und dessen Gemahlin eine Enkelin Karl August’s war. Der Geist, der sich damals in Preußen regte, stimmte besser zu den politischen Idealen Droysen’s, als der reactionäre Geist der Manteuffel’schen Zeit. Diesen Geist hatte D. nicht nur auf dem Katheder, sondern auch mit der Feder, als Publicist, bekämpft. Die „Constitutionelle Zeitung“, die Rudolf Haym 1850–51 in Berlin redigirte, die aber bald der polizeilichen Verfolgung erlag, hatte an ihm einen Berather und hochgeschätzten Mitarbeiter gehabt. Als dann 1858 die „Preußischen Jahrbücher“ begründet wurden, rechnete man vor allem auf seine Mitwirkung; aber hier versagte er sich, trotzdem die Richtung der neuen Zeitschrift ganz mit seinen eigenen politischen Anschauungen übereinstimmte. „Der vornehme feine Mann – so motivirt es Haym in seinen Lebenserinnerungen –, ging selten mit der großen Menge; er pflegte sich gern etwas vorzubehalten, seine besondere Meinung zu haben, seine eigenen Wege zu gehen. Er hatte auch diesmal in unserem Rath nicht mitgesessen und war überdies augenblicklich sehr in seinen großen Plan einer Geschichte der preußischen Politik vertieft. Er war gegen das Publicum, das sich von Tag zu Tag so leicht, zu nachhaltigem ernsten Handeln so schwer bewegen läßt, und eben damit gegen alle Publicistik verstimmt. Die langsam belehrende, erzieherische Einwirkung auf die Jugend, die er vom Katheder übte, die Hoffnung, mit dem schweren Geschütz historischer Darstellung in die Entwicklung [104] der Dinge erfolgreicher eingreifen zu können, beschäftigte ihn ausschließlich.“ Bezeichnend sind die ablehnenden Worte, wie sie Haym wiedergibt: „Wenn ich schreiben soll, – sagte ihm D. –, so muß ich mich an eine bestimmte Adresse richten dürfen – nicht an den großen Niemand, den gedankenlosen, vergeßlichen, unfaßbaren. Denkschriften an bestimmte Persönlichkeiten, sagen wir beispielsweise an die Prinzessin von Preußen, aber nicht Aufsätze mag ich schreiben.“ Das war im September 1858, in Jena, wo Haym den Freund seines Mentors, Max Duncker, aufgesucht hatte. Ein Jahr darauf ist D. nach Berlin übergesiedelt. Friedrich v. Raumer war damals von seiner Berliner Geschichtsprofessur zurückgetreten. Ranke schlug den Heidelberger Professor Ludwig Häusser zu dessen Nachfolger vor, aber im Cultusministerium wirkten Justus Olshausen und Ludwig Wiese, die alten Freunde Droysen’s, für dessen Berufung, und der Minister v. Bethmann-Hollweg folgte ihrem Votum. Die Entscheidung des Regenten fiel für D. aus. Es entstand nun für ihn die Frage, ob er annehmen solle trotz Ranke’s ablehnender Haltung, der auch mit der „Geschichte der preußischen Politik“ und mit dem „Grundriß der Historik“ keineswegs einverstanden war. D. entschloß sich dazu und trat zu Michaelis 1859 die Berliner Professur an, in der er bis an sein Lebensende auf das fruchtbarste gewirkt hat. Das Verhältniß zu Ranke wurde zwar kein freundliches, aber ein ganz erträgliches; Pertz, der andere große Gegner Droysen’s, hatte keinen sehr erheblichen Einfluß mehr.

D. las in Berlin in der Regel zwei vierstündige Collegien, über eben die Gegenstände, die er bisher behandelt hatte; dazu trat als ein neues die Quellenkunde der neueren Geschichte; erst in den letzten Jahren hat er die Vorlesungen über die griechische Geschichte, die mit zu seinen interessantesten gehörten, eingestellt. Sein sorgfältig vorbereiteter, scharf pointirter, bis auf die kleinen Wirkungen mit künstlerischer Feinheit durchdachter Vortrag sammelte ein immer größeres Auditorium um sein Katheder; daneben behandelte er in seiner „Historischen Gesellschaft“, die in seinem Hause zusammenkam und deren Bibliothek der Grundstock der heutigen Seminarbibliothek geworden ist, Probleme aus der neueren Geschichte, die in der Regel Schritt hielten mit seinen Arbeiten an der „Geschichte der preußischen Politik“ und so vom 15. u. 16. Jahrhundert über die Epoche des Krieges allmählich bis an die Schwelle des 7jährigen Krieges fortgerückt sind. Häufig wurden dabei, da es an Aktenpublicationen noch fehlte, Flugschriften zu Grunde gelegt; mit kurzer Andeutung des Problemes wurden die Themen, die zur Bearbeitung kommen sollten, im Anfang des Semesters vertheilt und dann von den Bearbeitern vorgetragen; die lebhaften Debatten, zu denen es darüber bei einer Tasse Thee, oft bis in die späten Abendstunden hinein, kam, und bei denen der Meister in seiner lebendigen, geistreichen, oft drastischen Art eingriff, werden den Theilnehmern unvergeßlich bleiben. Eine Reihe tüchtiger Historiker sind aus dieser Schule hervorgegangen, außer Bernhard Erdmannsdörffer, der schon in Jena promovirt hatte, die Söhne Gustav und Hans Droysen, Reinhold Koser und viele andere. Dabei hat es D. immer vermieden, seine Schüler auf bestimmte Themen zu größeren gelehrten Arbeiten, namentlich auch zu Doctor-Dissertationen hinzuweisen; die „künstliche Fischzucht“ in der Gelehrsamkeit widerstrebte ihm; er meinte, daß die Wahl des Stoffes und die Stellung der Frage von den jungen Gelehrten selbst ausgehen müsse. Der Organisation eines gelehrten Großbetriebes zog er immer die individuelle Selbständigkeit vieler kleiner Meister vor. Er wollte namentlich tüchtige Gymnasiallehrer bilden; aus diesen Kreisen ist auch die Anregung zur Begründung der Berliner „Historischen Gesellschaft“ erfolgt, deren erster Vorsitzender, ein früherer Lieblingsschüler Droysen’s, [105] Willy Böhm, wurde, und die mit ihren Vortrags- und Discussionsabenden, mit ihrem Organ, den „Mittheilungen aus der historischen Litteratur“, gleichsam eine Verlängerung und Fortsetzung der Droysen’schen akademischen Gesellschaft in das gelehrte Berufsleben hinein darstellte.

Droysen’s eigene wissenschaftliche und litterarische Thätigkeit concentrirte sich in der Hauptsache auf die Fortführung seines großen Werkes, für das ihm nun die Archive des Staates, namentlich das Berliner Geh. Staatsarchiv, in ganz anderer Weise als vorher zur Verfügung standen. Die Ernennung zum „Historiographen des brandenburgischen Hauses“ (1877), war ihm hauptsächlich deshalb von Werth, weil sie – grundsätzlich wenigstens – den unbeschränkten Eintritt zu den archivalischen Schätzen in sich schloß. Die „Geschichte der preußischen Politik“ ist doch das eigentliche Hauptwerk seines Lebens geworden. Es ist zugleich eine patriotische That und ein Denkmal immensen Gelehrtenfleißes. In den trüben Tagen nach Olmütz, als so viele Anhänger der preußischen Sache an der Zukunft dieses Staates verzweifelten, hat D. den zuversichtlichen Versuch unternommen, durch die Darstellung der politischen Geschichte Preußens dessen Beruf zur Lösung der deutschen Frage, zur politischen Regeneration Deutschlands historisch zu erweisen. Die Idee dieses Staates, sein ethisch-politisches Lebensprincip, wie es ihm in der Geschichte des Befreiungskrieges mit überzeugender Gewalt entgegengetreten war, glaubte er auch in der entfernteren Vergangenheit zurückverfolgen zu können bis zu den Anfängen der hohenzollern’schen Politik. Friedrich I. und seine nächsten Nachfolger erscheinen ihm als die insonderheit reichstreuen, national gesinnten Fürsten, die für die Reform des Reiches und seiner Verfassung wirken, bis sich die Unmöglichkeit ergibt, eine Besserung des Reiches herbeizuführen ohne eine Reform der Kirche. Die Rivalität, wenn auch nicht der Gegensatz von Hohenzollern und Habsburg, steht ihm beherrschend schon im Anfang der brandenburgischen Geschichte, gleichsam als eine Vordeutung auf den immer feindseliger werdenden Dualismus, wie er in der deutschen Politik der Gegenwart dominirte. Zu dem deutsch-nationalen Moment in der preußischen Staatsidee gesellt sich dann seit der Reformation das protestantische. Seit Karl V. hat sich das österreichische Kaiserthum von dem fortschreitenden Geistesleben der deutschen Nation abgewandt; auch politisch liegt seit 1555 der Schwerpunkt nicht mehr bei Kaiser und Reich, sondern in den Territorien. Die große Aufgabe, die in Frankreich Heinrich IV. gelöst hat, unter dem der Gedanke des nationalen Staates sich über den Hader der Bekenntnisse, über den Ehrgeiz der Großen und die ständische Anarchie erhob, sie ist in Deutschland ungelöst geblieben, weil sie von dem österreichischen Kaiserthum nicht im nationalen Interesse aufgefaßt, sondern im Sinne der österreichischen Staatsraison ausgebeutet wurde. Der 30jährige Krieg bedeutet den moralisch-politischen Zusammenbruch des innerlich ausgehöhlten Reiches, das Ende unserer nationalen Geschichte; was von deren Ueberlieferungen noch lebenskräftig war, hat Brandenburg gerettet und in die Fundamente seines Staates eingesenkt; darauf beruhte seine Zukunft. „Die Bedeutung Preußens war, daß es aus den Ruinen des 30jährigen Krieges sich aufrichtend zu einem in sich geordneten Staat wurde, zu einem deutschen Staat innerhalb des kernlos gewordenen Reiches, nicht dynastisch, sondern monarchisch, nicht ständisch, sondern militärisch, nicht confessionell, sondern in voller Gewissensfreiheit, allen Bekenntnissen zu gleichem Recht und Schutz.“ Zu dieser Haltung hat sich der brandenburgisch-preußische Staat aber erst erheben können, seit er das starre und engherzige orthodoxe Lutherthum abgestreift hatte. Auf das eindringlichste betont D. den inneren Zusammenhang der lutherischen Orthodoxie mit dem ständisch-particularistischen [106] Geiste der territorialen Kleinstaaten. Das protestantische Princip tritt in seiner vollen Lebendigkeit und politischen Fruchtbarkeit erst seit dem Confessionswechsel Johann Sigismund’s hervor. Die starke Hervorhebung der ethisch-politischen Bedeutung dieser Wendung, die mit der großen Reform-Gesetzgebung von 1808 in eine Linie gestellt wird, ist ein erhebliches Verdienst des Droysen’schen Werkes. Seit dem Großen Kurfürsten scheint ihm die preußische Politik in den Momenten ihrer Kraft mit Bewußtsein nicht bloß das allgemein protestantische, sondern auch das deutsch-nationale Interesse zu vertreten, gegenüber der universalistischen, undeutschen und katholischen Politik Oesterreichs; die Regierung Friedrich’s I. erscheint ihm als eine unrühmliche Ausnahme. So hat er durch die Jahrhunderte hindurch die Idee des preußischen Staates verfolgt, die zugleich mit dem Fortschreiten des Werkes in den großen Ereignissen von 1866 und 1870/71 sich vor allen Augen realisirte. Es war seine Absicht gewesen, die Kleinmüthigen zu stärken und weiteren Kreisen der Gebildeten etwas von jenem zuversichtlichen Glauben an die Zukunft Preußens und Deutschlands einzuflößen, der ihn selbst beseelte. Er konnte darum schwanken, ob er die Arbeit, noch weit von ihrem Ziele wie sie war, weiterführen solle, nachdem die Gedanken und Hoffnungen sich verwirklicht hatten, in denen sie begonnen war. „Mit der Schaffung des Reiches hat die preußische Geschichte ihre Wirkungen vollbracht.“ So schrieb er 1873, in der Vorrede zum ersten Bande der fünften Abtheilung. Aber der damals entbrannte Culturkampf schien ihm zu zeigen, daß die Realisirung der deutsch-protestantischen auf geistige Freiheit und Toleranz gerichteten Idee im neuen Reiche noch nicht vollendet sei. Den Ultramontanismus, den jesuitischen Geist betrachtete er als den „alten bösen Feind“, der noch niedergekämpft werden müsse. Und er führte die Arbeit fort, bis ihm der Tod die Feder aus der Hand nahm.

Diese Grundanschauung des Werkes von dem unveränderlichen Charakter des preußischen Staates, von der immanenten Idee seiner Politik, die in dem Bestreben gipfelt, sich zur deutschen Macht zu entwickeln, hat vor der nüchternen Kritik einer Zeit, die es nicht mehr nöthig hat, den deutschen Beruf Preußens aus der Geschichte zu beweisen, nicht Stand gehalten. Nicht nur die schiefe nationale Beleuchtung der sonst sehr verdienstvollen älteren Parteien, die schon von G. Waitz und J. Voigt beanstandet wurde, sondern auch die Ansicht von einer bewußt-nationalen Politik Preußens seit dem Großen Kurfürsten, die noch Dove 1878 ganz natürlich und berechtigt fand, ist heute nicht mehr aufrecht zu erhalten. Dabei ist es bemerkenswerth und gewiß ein gutes Zeichen für die geistige Freiheit, zu der D. seine Schüler bildete, daß die Correctur des Meisters hauptsächlich aus eben diesen Kreisen heraus erfolgt ist. Namentlich Erdmannsdörffer und Koser haben die Auffassung von einer nationalen Politik des Großen Kurfürsten und Friedrich’s des Großen beseitigt und ein Schüler Koser’s hat die schärfste Kritik an der Darstellung des Kurfürsten Friedrich’s I. als eines reichspatriotischen Fürsten geübt. Den subjectiven Idealismus, der in der Droysen’schen Interpretation der Motive brandenburgisch-preußischer Politik hervortritt, muß man aufgeben; aber die objectiven Grundverhältnisse, auf die er den Zusammenhang der preußisch-deutschen Geschichte gebaut hat: die Unfähigkeit des österreichischen Kaiserthums zur Regeneration des Reiches, die fortschrittlichen Momente in der preußischen Politik, in ihrem militärischen Absolutismus, ihrer fürsorgenden Verwaltung, ihrem freien und toleranten Kirchenregiment – und vor allem der Gegensatz, der in dem deutschen Charakter des preußischen Staats, in dem undeutschen, national-gemischten des österreichischen begründet ist – diese Verhältnisse, die [107] zuerst in aller Schärfe und in ihrer ganzen Bedeutung von D. historisch gewürdigt worden sind, können auch heute nicht als erschüttert angesehen werden; wo einerseits eine intelligente katholische Geschichtschreibung die großdeutsch-clericalen Anschauungen wieder zur Geltung zu bringen sucht und andererseits die Gefahr vorliegt, daß man an die Stelle des ausgetriebenen Droysen’schen Geistes in der preußischen Geschichte die Geistlosigkeit zu setzen sucht. D. hat doch vornehmlich die Momente betont, in denen seit Pufendorf alle unsere großen Politiker und Staatsmänner einig gewesen sind, auf denen die Politik Bismarck’s ebenso beruht wie die Friedrich’s des Großen. Und wenn man heute mit Recht den Particularismus der brandenburgischen und der altpreußischen Politik hervorhebt, und der Droysen’schen Auffassung entgegenhält, so thut man doch gut, die Worte zu beachten, die D. einst in dem „Gutachten eines Schleswig-Holsteiners“ über den preußischen Particularismus gesagt hat. Indem er da (S. 147) dem Einwande begegnet, daß Preußen ebenso wie Oesterreich nur sein eigenes Interesse verfolge, unter dem Vorwande, für Deutschland zu sorgen, ruft er aus: „Gebe Gott, daß es völlig rücksichtslos, völlig kühn sein Interesse verfolge: denn es umfaßt nicht bloß 2/3 der Nation, sondern seine disjecta membra verbreiten sich vom äußersten Nordosten bis zum Südwesten des Vaterlandes.“ Es lag eben in den Verhältnissen begründet, daß jeder Zuwachs der preußischen Macht auch Deutschland zu Gute kommen mußte.

Es ist nicht zu leugnen, daß diese Grundidee des Werkes den Verfasser mehrfach zu falschen Annahmen, Deutungen und Schlüssen verführt hat; die maßlos übertriebenen Angriffe Onno Klopp’s[WS 2] gegen die „kleindeutschen Geschichtsbaumeister“ sind doch nicht in allen Punkten ganz unbegründet. Aber es wäre sehr verkehrt, darüber den unschätzbaren positiven Werth dieser gewaltigen Arbeit zu verkennen. Man muß nur klar darüber sein, was D. eigentlich wollte. Ihm schwebte, wie aus einer brieflichen Aeußerung von 1851 hervorzugehen scheint, Flassan’s Histoire de la diplomatie française vor; etwas ähnliches, nur in strengerer, mehr vergeistigter Form, wollte er für die preußische Politik liefern. Wenn er in den Einleitungsbänden auch die inneren Verhältnisse und das staatliche Gesammtleben im Auge gehabt hatte, so verbot sich das später schon durch die Massenhaftigkeit des Materials, von dem der Autor beim Beginn der Arbeit wol kaum eine zutreffende Vorstellung gehabt hat noch haben konnte. Vom Großen Kurfürsten ab handelt es sich fast ausschließlich nur um auswärtige Politik, und auch diese wird nur nach den preußischen Acten dargestellt. Diese letztere Beschränkung, die geflissentliche Vermeidung der Benutzung fremder Archive, ist dem Geschichtschreiber der preußischen Politik oft zum Vorwurf gemacht worden. Er pflegte demgegenüber wol darauf hinzuweisen, daß er eine Geschichte der preußischen, nicht eine solche der europäischen Politik schreibe, und bei seiner Aufnahme in die Akademie hat er in prägnanter Kürze darauf hingewiesen, von welchem Interesse es sei, die Geschichte des preußischen Staates vor allem aus seinen eigenen Acten und von seinem eigenen Standpunkt aus aufzufassen. Man glaubt eine Selbstvertheidigung vor sich zu haben, wenn man in der Abhandlung „Zur Kritik Pufendorf’s“ (1864) die Worte liest, mit denen D. das Verfahren dieses Geschichtschreibers rechtfertigt, der auch nur aus Berliner Acten schöpfte und die ihm wohlbekannten schwedischen Archivalien unberücksichtigt ließ. „Er verfuhr absichtlich so“, sagt D. „Er will nicht ,objectiv‘, wie man jetzt sagt, in dem Sinne sein, daß er dieselbe Thatsache aus den Archiven jeder der dabei betheiligten Parteien kennen zu lernen, gleichsam jedem in die Karten zu sehen sucht, um dann über dem [108] Streit und den Streitenden stehend vom weltgeschichtlichen Standpunkt aus die angeblich objective Thatsache vorzuführen. Soll das nicht eben glücklich gewählte Wort Objectivität für ihn in Anwendung kommen, so sucht er sie darin, daß er ‚dessen Herren, dem er seine Feder leiht, Sentiments exprimirt‘. Er will die Pläne, Erwägungen, Thaten, Erfolge dessen, von dem er schreibt, so darlegen, wie sie ihm selbst, als er so plante und handelte, nach Ausweis seiner Archivalien erschienen; er will die Umstände, unter denen so gehandelt, die Bedingungen, von denen das Handeln gehemmt oder gefördert wurde, so darlegen, wie sie dem Handelnden sich zeigten, nicht wie sie an sich waren. Aus dem Standpunkt, aus dem Horizont, gleichsam aus der Seele dessen, von dem er schreibt, stellt er das Gethane und dessen Zusammenhänge dar. Und damit hat er, ich will nicht wieder sagen einen objectiven, wol aber einen festen und maßgebenden Standpunkt, einen solchen, der immerhin nicht ‚weltgeschichtlich‘ heißen mag, wol aber dem Wesen und dem Zweck einer gesunden pragmatischen Geschichtsbetrachtung entspricht“. – Die relative Berechtigung dieses Standpunktes, der auch der Standpunkt Droysen’s war, wird niemand bestreiten können, wenn natürlich auch die Einseitigkeit, die diesem realistischen Pragmatismus anhaftet, gewissermaßen zur Ergänzung die synoptische weltgeschichtliche Betrachtung wünschenswerth erscheinen läßt. Einer der wesentlichsten Unterschiede Droysen’scher und Ranke’scher Geschichtschreibung tritt scharf charakterisirt darin hervor. Und ein zweiter Punkt von großer methodischer Tragweite hängt damit zusammen. Ranke hatte aus dem ausgeschütteten Material der Archive gleichsam nur mit spitzen Fingern vornehmlich jene Blätter zu eingehenderem Studium herausgegriffen, auf denen Relationen der Gesandten von ihren Missionen, Denkschriften, die sich über die politische Lage verbreiten, Denkwürdigkeiten hervorragender Staatsmänner, politische Testamente oder sonst zusammenfassende Uebersichten aus der Feder der Handelnden oder ihrer Zeitgenossen aufgezeichnet waren. D. macht sich an die Geschäfte selbst; er will alle die großen Verhandlungen und Entscheidungen aus den Originalacten kennen lernen; das große methodische Problem, das sich vor seinem Geiste erhebt, ist: „wie aus den Geschäften Geschichte wird“. Es ist eine ganz andere Art des archivalischen Studiums, wie die, die Ranke getrieben hat, unendlich viel zeitraubender, mühevoller, unendlich viel mehr der Gefahr des Mißverständnisses, der Unübersichtlichkeit in der Darstellung der Resultate, des Ertrinkens im Material ausgesetzt, aber, wenn die Zeit und die geistige Kraft des Bearbeiters ausreichen, auch wieder sehr viel instructiver. Auch hier knüpft D. an Pufendorf an. Er bezeichnet es als einen großen Fortschritt, daß dieser Historiker im Studium der Acten seinen Stoff zu ergründen gesucht habe, nicht nur, weil sie die beste originale Belehrung geben, sondern auch „weil das Studium der großen geschäftlichen Vorgänge, wie sie in den Acten, das will sagen, in den geschichtlichen Ueberresten der Vorgänge selbst vorliegen, eine ganz andere Empfindung der Wirklichkeiten, ihrer Bedingungen und Frictionen, ihres pragmatischen Verlaufes gibt, als aus noch so wohlgeschriebenen oder gar populären Geschichtswerken gewonnen werden kann“. – Man begreift leicht, daß bei dieser Art des Actenstudiums die Heranziehung der fremden Archive für den Geschichtschreiber der preußischen Politik eine Unmöglichkeit war; hat doch sein langes und arbeitsreiches Leben nicht ausgereicht auch nur den größeren Theil des Stoffes bei der selbst aufgelegten Beschränkung zu bewältigen!

Der dritte Theil des Werkes, „Der Staat des Großen Kurfürsten“, der in drei Bänden 1861, 1863, 1865 erschien, hält sich noch, wol nicht ohne den Einfluß, den die Führung Pufendorf’s gewährte, in mäßigen Grenzen. In [109] dem vierten Theil, der dem Zeitraum von 1688–1740 gewidmet ist, schwillt der Stoff schon bedenklich an, weniger bei Friedrich I., den der erste Band dieses Theiles (1867) noch ziemlich kurz behandelt, dessen Regierung nach Droysen’s Auffassung ja im wesentlichen nur ein retardirendes Moment in dem Gange der preußischen Politik darstellt, aber auffällig schon bei Friedrich Wilhelm I., dem die beiden nächsten Bände (1869 und 1871) und zum größten Theil auch der vierte kritisch-analytische Band gewidmet sind. D. hat sich als der erste in das schwer zu durchdringende Gestrüpp der verworrenen Politik dieses Zeitraumes gewagt; es kam ihm darauf an, die landläufige Meinung zu widerlegen, die damals noch immer in diesem König „eine halb lächerliche, halb widerwärtige Figur, immerhin mit einigen subalternen Talenten daneben“ sehen wollte. In der auswärtigen Politik freilich beruhte die eigentliche Bedeutung der Regierung Friedrich Wilhelm’s I. nicht; und die innere Verwaltung, die hier nicht ganz außer Acht bleiben konnte, wird doch nur gestreift. Mit der fünften Abtheilung, die in 4 Bänden (1874, 1876, 1881, 1886) von 1740–1748 reicht, hat die Masse des Materials vollends den Rahmen der ursprünglichen Anlage gesprengt. Die Absicht des Verfassers verschob sich während der Arbeit immer mehr nach der Richtung hin, daß es darauf ankomme, den wesentlichen Inhalt der preußischen Staatsacten, nicht als Rohmaterial oder Halbfabrikat, aber doch ohne Rücksicht auf die ursprüngliche Oekonomie seines Geschichtswerks, in möglichster Vollständigkeit, geprüft, gesichtet, durchdacht, in einen Thesaurus zu sammeln, aus dem die Nachwelt schöpfen mochte. Wir sehen heute, daß es die Pionierarbeit gewesen ist für eine Epoche des Sammelns und Forschens, in der wir bis zur Gegenwart noch stehen. Der Grundsatz einer „pragmatischen“ Geschichtschreibung, wie ihn D. aufgestellt hat, ist für den weiteren Betrieb der preußischen Geschichtsstudien maßgebend geworden. An D., nicht an Ranke, knüpfen vornehmlich die großen Actenpublicationen an, die unsern wissenschaftlichen Betrieb charakterisiren und die für die Zukunft in gewissen Grenzen die Benutzung der Archive ersetzen wollen. Die erste dieser Publicationen waren die „Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte des Großen Kurfürsten“, die mit staatlicher Unterstützung seit 1865 zu erscheinen begannen und bei Droysen’s Tode schon 10 Bände zählten. In Verhandlungen mit seinem Freunde Duncker, der damals vortragender Rath des Kronprinzen und später (seit 1867) Director der preußischen Staatsarchive war, hatte D. den Plan dazu festgestellt; Duncker hatte es übernommen, den Kronprinzen dafür zu interessiren und dessen Einfluß hatte zur finanziellen Fundirung des Unternehmens geführt. D. selbst übernahm zusammen mit Duncker und dem Archivrath v. Mörner, dem später Hassel und Holtze gefolgt sind, die Leitung. Für diese Publication wurden auch die fremden Archive herangezogen, die D. selbst bei seiner Arbeit über den „Staat des Großen Kurfürsten“ nicht hatte benutzen können; die Bearbeitung der ständischen Verhandlungen führte tief in die Verfassungs- und Finanzgeschichte hinein, die D. selbst gemieden hatte. Wenn neuerdings der ursprüngliche Plan durch die Zufügung einer besonderen Abtheilung für Finanz- und Wirthschaftspolitik erweitert worden ist, so hätte D. das sicherlich ebenso freudig begrüßt, wie die Ergänzung der politischen Publicationen für das 18. Jahrhundert durch die verwaltungsgeschichtlichen der „Acta Borussica“. Er selbst fühlte sich nicht ganz sicher auf diesem Gebiete der Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirthschaftsgeschichte; aber er billigte es, daß die Studien anderer, und namentlich auch jüngerer Historiker diese Richtung nahmen. Isaacsohn ist aus seiner Schule hervorgegangen und auf Schmoller’s Vorlesungen hat er später seine Schüler öfters nachdrücklich hingewiesen. – Seit 1867 Mitglied der Akademie [110] der Wissenschaften, hat er auch diese für preußische Publicationen zu interessiren gewußt. Seit 1879 erschien unter seiner Leitung die „Politische Correspondenz Friedrichs des Großen“, der eine Sammlung von „Staatsschriften“, die aus dem Cabinet des großen Königs hervorgegangen sind, zur Seite trat. – So mündet das gigantische Unternehmen seiner „Geschichte der preußischen Politik“ in die große Arbeit des Sammelns und Sichtens aus, die heute einen so wesentlichen Theil der preußischen Geschichtsstudien ausmacht.

Ueberhaupt macht sich in seinen Arbeiten mit dem fortschreitenden Alter eine Bevorzugung der gelehrten Forschung vor der künstlerischen Darstellung geltend. Scharfsinn und Kritik hatten ihm nie gemangelt, und immer hatte er eine Freude an der feinen, spürenden, die verschlungenen Fäden der Ueberlieferung entwirrenden Einzeluntersuchung gehabt. Neben seinem großen Werke über den Hellenismus hatte er schon eine quellenkritische Abhandlung geschrieben, in der er die Unechtheit der Urkunden in Demosthenes’ Rede vom Kranz nachwies; neben den ersten Bänden der „Geschichte der preußischen Politik“ hatte er den von ihm vielleicht zu hoch bewertheten „Eberhard Windeck“ zum Gegenstand einer kritischen Monographie gemacht. Aber der Hauptzug seines litterarischen Charakters in den früheren Jahren war doch eine große Kraft der Synthese, ein Drang zum Gestalten und Aufbauen, zur Ordnung und künstlerischen Gliederung großer Massen in einer lebendig-anschaulichen, wenn auch zuweilen etwas zur Abstraction neigenden Darstellung. Es mag sein, daß die Pflichten der gelehrten Körperschaften, denen er später angehörte – außer der sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften namentlich der Berliner Akademie – dazu beigetragen haben, seine Thätigkeit mehr in die Bahn der gelehrten Einzeluntersuchung zu lenken. Die Resultate dieser Seite seiner Thätigkeit liegen in der Hauptsache vor in zwei Sammlungen, von denen die eine den classischen, die andere den modernen und insbesondere den preußischen Studien gewidmet ist. – Die „Kleinen Schriften zur alten Geschichte“ sind erst nach dem Tode Droysen’s von seinem Schwiegersohn, dem Philologen E. Hübner, herausgegeben worden in 2 Bänden, 1893 und 1894. Die erste Gruppe schließt sich an die hellenistischen Arbeiten und die Uebersetzungen an: ich nenne außer den schon erwähnten die Aufsätze über die Kelten und über die Päonen und Dardaner, die Abhandlung über die attische Communalverfassung, die Untersuchungen zur griechischen Tragödie, über des Aristophanes „Vögel“ und über den Hermakopidenproceß. Von 1847 bis in den Beginn der 70er Jahre, wo die Neubearbeitung des „Hellenismus“ in Angriff genommen wurde, wurden die antiken Studien von den modernen verdrängt. Dann folgt wieder eine Reihe von Abhandlungen aus der alten Geschichte: die scharfsinnige Untersuchung über die Wahl der attischen Strategen, die beiden Arbeiten über die Zusammensetzung der Armee Alexander’s des Großen und die Beiträge zu der Frage der inneren Gestaltung des Alexanderreiches. Von fachmännischer Seite (R. Weil)[WS 3] ist anerkannt worden, in wie meisterhafter Weise hier die Vielgestaltigkeit des Münzwesens innerhalb des makedonischen Königthums dazu verwerthet wird, die Mannigfaltigkeit von Abhängigkeitsverhältnissen zu erschließen, die dieser Machtbildung ihren eigenthümlichen Charakter gegeben haben. In drei weiteren akademischen Abhandlungen sind Probleme der antiken Numismatik behandelt worden: das Finanzwesen der Ptolemäer und die ägyptischen Währungsverhältnisse; das Litrasystem in Sicilien zur Zeit des älteren Dionysios; endlich das attische Münzwesen.

Die „Abhandlungen zur neueren Geschichte“ waren schon 1876 erschienen; sie begleiten in der Hauptsache die Arbeiten an der Geschichte der preußischen [111] Politik. Ich nenne namentlich die Aufsätze über das Stralendorff’sche Gutachten, zur Kritik Pufendorf’s, über die Schlacht bei Warschau, die eindringende und vernichtende Kritik der Memoiren der Markgräfin von Baireuth und des Barons von Pöllnitz, die zu einer noch schärferen Ablehnung dieser trüben Quellen führt als die Kritik Ranke’s, ferner die Untersuchungen über die Wiener Allianz von 1719, über den Nymphenburger Vertrag von 1741, über die Schlacht bei Chotusitz; dazu kommt noch – außerhalb der erwähnten Sammlung – die letzte akademische Abhandlung Droysen’s, die er noch kurz vor seinem Tode gelesen hat: über die „trois lettres au public“, eine Schrift Friedrich’s d. Gr., die als publicistischer Carnevalsscherz des großen Königs erklärt und in ihren versteckten Beziehungen erläutert wird. – Ein erheblicher Theil dieser Arbeiten ist, wie schon angedeutet, in den Schriften der gelehrten Gesellschaften veröffentlicht worden, denen D. angehörte. Seit 1857 war er Mitglied der sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, seit 1860 Mitglied der Münchener, seit 1867 auch der Berliner Akademie. Als König Max II. von Baiern 1858 die historische Commission bei der Münchener Akademie schuf, war D. unter denen, die zuerst dazu berufen wurden; auf seinen Antrag beschloß die Commission in ihrer ersten Sitzung, in einer großen Sammlung die historischen Volkslieder der Deutschen im 15. und 16. Jahrhundert herauszugeben und historisch-kritisch zu commentiren. Es war ein Plan, der D. aus den Jenenser Studien erwachsen war; einer seiner damaligen Jenenser Collegen, R. v. Liliencron, der ihn dort schon bei derartigen Arbeiten unterstützt hatte, wurde mit der Aufgabe betraut und hat sie, wie bekannt, in musterhafter Weise gelöst. Im Lauf der Jahre hat sich übrigens das Verhältniß Droysen’s zu dieser wissenschaftlichen Körperschaft mehr und mehr gelockert; seine eigenen Arbeiten, die Thätigkeit in Berlin nahmen ihn ganz in Anspruch; dazu kamen wohl Reibungen unerfreulicher Art: 1871 hat er seinen Austritt aus der Commission erklärt. – Neben dieser kritischen Einzelarbeit nahm in der zweiten Hälfte seiner gelehrten Laufbahn das Studium der philosophischen Grundlagen des Geschichtsstudiums einen hervorragenden Platz unter den wissenschaftlichen Interessen Droysen’s ein. Die Vorlesungen über „Methodologie und Encyclopädie der Geschichte“ gehörten zu den anziehendsten, die er gehalten hat; und der Grundriß der Historik, den er seinen Zuhörern dabei in die Hand gab, hat nicht weniger als 9 Auflagen erlebt. Er knüpfte dabei an die methodologischen Arbeiten der alten Göttinger Historikerschule an, die zuerst den Versuch gemacht hatte, eine systematische Uebersicht der Aufgaben und Arbeitsmittel der Historie zu gewinnen. Aber er vermißte an ihr den tieferen philosophischen Blick; „die Methode, die sie lehrte, war nur die Methode des historischen Arbeitens“; eine historische Erkenntnißtheorie auf tiefgründigem philosophischem Fundament, wie sie ihm als ein dringendes wissenschaftliches Bedürfniß erschien, hatte sie nicht geliefert. Ebensowenig hatte das die speculative Philosophie gethan, der es mehr um „Geschichtsphilosophie“ im Sinne metaphysischer Construction eines großen Zusammenhanges der historischen Ergebnisse zu thun war. Aber diese Geschichtsphilosophie hatte sich als ein bloßes geistreiches Spiel mit Ideen erwiesen. Hatte Hegel die geschichtliche Gesammtarbeit des Menschengeschlechts als die sich selbst setzende Idee construirt, so lehrte Schopenhauer, daß die Weltgeschichte eine bloß zufällige Configuration und ohne metaphysische Bedeutung sei; und Buckle[WS 4] machte im Anschluß an die positivistische Philosophie den Versuch, die Geschichte „zum Range einer Wissenschaft zu erheben“, indem er ihr die Aufgabe stellte, nach dem Vorgang der Naturwissenschaften Gesetze zu finden, nach denen sich das geschichtliche Leben bewege, und indem er sie zu diesem Behuf auf die Beobachtungen der Statistik, auf [112] Anthropologie und Ethnologie, auf die geographischen und sonstigen natürlichen Bedingungen des geschichtlichen Lebens hinwies. Dem gegenüber hat D. es für eine unumgängliche Aufgabe gehalten, vom Standpunkt der Historie selbst aus die erkenntnißtheoretischen Grundlagen dieser Disciplin zu legen, deren eigenthümliche Aufgabe es nach seinem prägnanten Ausdruck sein soll: „forschend zu verstehen“. Das ist der wesentliche Inhalt seiner Historik; er hat damit die „Geschichtsphilosophie“ von den speculativen Extravaganzen, den idealistischen wie den positivistischen, auf den Boden des erkenntnißtheoretischen Kriticismus zurückgeführt. Das metaphysische Bedürfniß, das ihm dabei doch immer blieb, befriedigte er mehr in Anknüpfung an die Ideen von Aristoteles, der in den 30er Jahren durch die kritische Ausgabe seiner Werke dem modernen Denken wieder näher gerückt worden war, als im Anschluß an Hegel, namentlich aber in der Aneignung und Fortbildung der Gedanken Wilhelm’s von Humboldt, dessen Schrift „über die Aufgaben des Geschichtsschreibers“ bei ihm einem congenialem Verständniß begegnet war. Humboldt faßte – kurz gesagt – die Aufgabe des Geschichtschreibers als die Darstellung des Strebens einer Idee, Dasein zu gewinnen; aber das sollte „keine eigenmächtig der Wirklichkeit angebildete Idee, sondern eine solche sein, welche zwar nicht unmittelbar wahrgenommen, aber doch nur an den Begebenheiten selbst erkannt werden muß“. Auf diesem idealistisch-teleologischen Grunde hat auch D. zeitlebens gestanden. Eigenthümlich ist ihm dabei der starke ethische Accent, die Betonung des Individuellen, des freien Willens, der Verantwortlichkeit; die menschliche Freiheit und Eigenart, deren höchster Ausdruck der Genius ist, erschien ihm als das eigentlich Bedeutende in der Geschichte gegenüber dem Regelmäßigen, Typischen, sich Wiederholenden; die Anomalie fand er hier der Betrachtung würdiger als die Analogie. Immer wieder erklärt er, daß die Geschichte nicht ein natürlicher, sondern ein ethischer Proceß ist, und immer wieder taucht als das Ziel der geschichtlichen Entwicklung das Fichte’sche Ideal in ihm auf: „die königliche Vollfreiheit des sittlichen Menschen“.

In solchem Denken, Forschen und Lehren unablässig thätig ist J. G. Droysen bis in ein hohes Alter gelangt. An der Politik hat er seit 1851 keinen unmittelbar thätigen Antheil mehr genommen, wenn sie auch sein Interesse fortwährend auf das lebhafteste beschäftigte. Daß er in Berlin anfänglich einen Ministerposten erstrebt habe, dieses Gerücht hat Duncker ausdrücklich als eine Legende bezeichnet, die auf freier Erfindung und vollster Unkenntniß von Droysen’s Charakter beruht. Das überlegene politische Verständniß, das er schon 1848 bewährt hatte und das auf seiner aus geschichtlicher Erfahrung geschöpften Ueberzeugung beruhte, daß der Staat vor allem Macht sei, daß das Machtinteresse den Interessen der freien Verfassung vorgehe – dieses Verständniß zeichnet ihn auch in der Conflictszeit aus. Die Nothwendigkeit der Militärreorganisation erkannte er von vornherein unumwunden an; er hat die Opposition dagegen aufs schärfste gemißbilligt, wenn ihm auch andererseits das Vorgehen der Regierung nicht in allen Stücken gefallen konnte. In diesen Tagen hat er oft gewaltig gegen die Liberalen geeifert, wie Theodor v. Bernhardi erzählt; er wollte gar nichts mehr von ihnen wissen und brauchte wohl die drastische Wendung: „wir müssen alle reactionär werden!“ Vergebens hat er versucht, Sybel mit seiner Fraction von dem Zusammengehen mit der Fortschrittspartei abzubringen. Die auswärtigen Verhältnisse verfolgte er mit consequenter Aufmerksamkeit. Er hatte vortreffliche Correspondenzen und war immer gut orientirt. Er suchte durch seine Bekannten wohl eine Einwirkung auf die maßgebenden Männer hervorzubringen, so durch den Unterstaatssecretär Gruner oder durch Bernhardi auf Roon in der hessischen Frage zum Zweck [113] energischen Vorgehens Preußens (Mai 1862). Er legte großen Werth auf die Convention mit Rußland (1863), die dem polnischen Aufstand ein Ende machte – sehr im Gegensatz zu den Liberalen. Als 1864 die schleswig-holsteinische Frage zur Entscheidung kam, erwarteten wohl manche von seinen alten Freunden, daß er im Interesse der Augustenburger gegen die Annexion publicistisch auftreten würde; er war weit davon entfernt; die Interessen Preußens und Deutschlands standen ihm doch höher. Mit seinem alten Freunde Samwer, der sich ganz zum kleinstaatlichen Politiker entwickelt hatte, war er völlig auseinandergekommen; von dem Augustenburger sagte er in seiner drastischen Weise: „Er hat wollen ohne Preußen seine Sache durchführen und dann gegen Preußen die Zunge herausstrecken.“ In Bismarck hat er früh den Mann erkannt, der die deutsche Frage in dem Sinne, wie er es längst gefordert hatte, lösen werde; wie richtig traf er doch den Kern der Bismarck’schen Politik, wenn er damals einem der Studenten, die für ein Schleswig-Holsteinsches Freicorps sammelten, sagte: Wir müssen wieder an Friedrich den Großen anknüpfen! 1866 hat er, im Verein mit Trendelenburg, in einer Berliner Wahlversammlung Bismarck zum Abgeordneten des constituirenden Reichstages empfohlen, allerdings vergeblich. Er selbst hat in diesen Zeiten, wo seine patriotischen Hoffnungen der Erfüllung entgegengingen, noch einmal in einem pommerschen Wahlkreis candidirt; aber sein Programm: erst die Machtstellung des Vaterlandes zu sichern, dann nach Kräften für die liberalen Forderungen einzutreten, fand auf keiner Seite Beifall, weder bei den Liberalen noch bei den Conservativen; er ist nicht gewählt worden und er ist seitdem im öffentlichen Leben nicht mehr hervorgetreten. Das Leben ging ihm auf in seiner Lehrthätigkeit, in seinen Archivstudien, in dem Denken und Forschen über alte und neue Probleme, in der Fortführung seines großen Werkes. Der Verkehr mit wenigen Freunden, unter denen Max Duncker die erste Stelle einnahm, ein glückliches häusliches Leben, das erst 1881 durch den Tod der unvergeßlichen Gattin einen unverwindlichen Stoß erhielt, die Freude an dem aufblühenden Leben in den Familien seiner Kinder – das gab dem arbeitsfreudigen Manne immer wieder Erholung und Frische, bis den 76jährigen, nach kurzer Krankheit, mitten in seinen litterarischen Arbeiten, in der Pfingstpause des Sommersemesters 1884, das er noch lehrend begonnen hatte, der Tod ereilt hat, der für ihn die Pforte zu höherem Leben war.

D. ist bis zuletzt eine seltene Kraft und Frische des Leibes und der Seele erhalten geblieben. Etwas Rüstiges, Straffes, Energisches, ich möchte sagen etwas von der sittlichen Energie des Preußenthums drückte sich bis in das höchste Alter in der Haltung dieser kleinen, fast zierlichen Gestalt, in den streng zusammengefaßten Zügen dieses geistreichen charaktervollen Gesichtes aus mit den feinen bartlosen, ausdrucksvollen Lippen, mit dem lebhaften Mienenspiel, mit dem festen imponirenden und doch gütigen Blick, dem die Brille Glanz und Feuer nicht geraubt hatte, mit dem vollen nur leicht ergrauten Haupthaar und dem schmalen Rahmen des Bartes, der auch das feine kräftige Kinn freiließ.

Eine geistreiche und warmherzige Lebendigkeit paarte sich mit dieser rüstigen Energie und milderte das Ernsthafte seiner tiefen Natur, die immer nur den idealen Gütern des Lebens zugewandt war. Nach äußeren Auszeichnungen hat er nie getrachtet, man wird sagen dürfen, daß sie ihm nicht in dem Maße zu Theil geworden sind, wie es seiner Bedeutung entsprochen hätte; den Titel eines Geh. Regierungsraths hat er abgelehnt: er wollte der schlichte Professor bleiben. Der Ehrgeiz eines akademischen Schulhauptes ist ihm ebenso fremd geblieben wie die Intriguen und Machtbestrebungen, die sich so häufig [114] damit verbinden. Ihm war es immer nur um die Sache zu thun und um die Pflichterfüllung im höchsten und idealsten Sinne. Schön und treffend hat sein ältester Sohn, indem er nach dem Tode des Vaters den letzten Band der „Preußischen Politik“ dem Publicum übergab, diese Seite in dem Wesen des Verfassers gekennzeichnet, indem er von ihm sagt, daß er stets „unbekümmert um den Beifall des Augenblicks, seine Aufgabe, wie er sie sich gestellt hatte, schlicht erfüllte und anspruchslos seine Pflicht that, bis er stille aus dem Leben ging“. Und doch gehörte er zu den Naturen, die nicht bloß durch das gelten, was sie leisten, sondern fast mehr noch durch das, was sie sind.

Außer den Schriften Droysen’s sind folgende Aufsätze und Bücher benutzt worden: M. Duncker, J. G. Droysen, in den Abhandlungen z. neueren Geschichte (1887); – Derselbe, im Biogr. Jahrbuch für Alterthumskunde (1885). – W. Böhm im „Daheim“ XI (1875). – A. Dove in „Im neuen Reich“ (1878); – Derselbe, Breslauer Adresse (in den Kleinen Schriftchen). – Giesebrecht in den Sitzungsberichten d. Münchener Akademie (1885). – H. T. in der Vossischen Ztg. 1884, 22. u. 23. Juni (Nr. 287, 288); ebenda einige biographische Bemerkungen des Predigers Droysen, Bruders von J. G. Droysen. – Rühl, Briefwechsel Th. v. Schön’s mit G. H. Pertz und J. G. Droysen (1896). – S. Hensel, Die Familie Mendelssohn (1884). – G. Droysen, J. G. Droysen und Felix Mendelssohn-Bartholdy, Deutsche Rundschau 1902, Heft 7, 8, 9. – Jul. Heidemann, Geschichte d. Gymnasiums zum Grauen Kloster. Gymnasialprogramm 1829 bis 32. – H. Laube, Das erste deutsche Parlament. – R. v. Mohl, Lebenserinnerungen (1902). – Rudolf Haym, Aus meinem Leben (1902). – Denkwürdigkeiten aus dem Leben Th. v. Bernhardi’s, Bd. 4 ff. – Einige Mittheilungen verdanke ich Herrn Prof. G. Droysen in Halle und Herrn Geh. Archivrath Dr. E. Friedlaender in Berlin.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Julius Wilhelm v. Planck (1817-1900), Jurist und Politiker.
  2. Onno Klopp (1822-1903), Publizist und Historiker (Pseudonym: J. Vota).
  3. Rudolf Weil (1848-1914), Bibliothekar und Numismatiker.
  4. Henry Thomas Buckle (1821-1862), englischer Historiker und herausragender Schachspieler.