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ADB:Schopenhauer, Arthur

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Artikel „Schopenhauer, Arthur“ von Hugo Liepmann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 32 (1891), S. 333–346, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schopenhauer,_Arthur&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 18:46 Uhr UTC)
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Band 32 (1891), S. 333–346 (Quelle).
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Schopenhauer: Arthur S. (1788–1860) ist zu Danzig am 22. Februar 1788 geboren als Sohn eines wohlhabenden Großkaufmanns, Floris S. und der bekannten Romanschriftstellerin Johanna S.

Durch seine Familie väterlicher- wie mütterlicherseits geht ein und derselbe Charakterzug: unbeugsame Willensstärke, bis zu krankhafter Heftigkeit, in mehreren Mitgliedern bis zum Wahnsinn gesteigert. Dieser Zug war auch auf den Philosophen übergegangen: ein ungemein bestimmter Wille und eine zur Ausschweifung geneigte Heftigkeit waren ein Erbtheil, das ihm von beiden Linien zufiel.

Die Eltern führten seit ihrer Uebersiedlung nach Hamburg ein ungebundenes Reiseleben, welches der Sohn mit ihnen teilte. Während eines längeren Aufenthaltes in Havre genoß er den Unterricht eines französischen Lehrers, später hielt er sich einige Zeit in der Pension eines englischen Geistlichen in der Nähe von London auf. In der Zwischenzeit hatte er ein Privatinstitut in Hamburg besucht.

Dieser unregelmäßige, von Reisezerstreuungen unterbrochene Erziehungsgang, mit dreisprachigem Unterricht – so verschieden von dem seiner berühmten mitlebenden Fachgenossen, welche die strenge Zucht der damaligen Schulen deutscher Klein- und Mittelstädte, mit ihrer halb klösterlichen, halb antik-heidnischen Luft durchgekostet hatten – konnte nicht ohne merklichsten Einfluß auf Schopenhauer’s geistige und sittliche Ausbildung bleiben – in günstiger wie in ungünstiger Richtung. Wohl war es von großem Werth für den zukünftigen Philosophen, daß er frühe, ehe der Geist durch eingelernte Begriffe occupirt war, durch eigene Anschauung das große Weltgetriebe kennen lernen und die Wirklichkeit selbst vor ihrer Spiegelung in fremden Köpfen mit unbefangenem Blick betrachten konnte. Jedem religiösen und nationalen Vorurtheil war von vornherein der Boden entzogen, beengende, schablonisirende, Individualität bedrohende Einflüsse blieben fern. Aber auch der wohlthätigen disciplinirenden Einwirkung der Schule, vor allem der erzieherischen der dauernden Kameradschaft mit Gleichstrebenden ging er verlustig. Hätte S. früh sich mit anderen Menschen einrichten, sich in andere Naturen finden und fügen gelernt, so wäre ihm später manche böse Erfahrung erspart geblieben. Die erfahrene Erziehungsweise milderte aber den unfügsamen Eigenwillen des Knaben in keiner Weise und während sie der geistigen [334] Bedeutung des Philosophen förderlich war, wurde sie für den Menschen und sein Lebensgeschick verhängnißvoll.

Briefe aus dieser Periode lassen ihn als einen Knaben erkennen, der tief und ernst über die Dinge reflectirte und den Blick vorwiegend auf das Elend und die Unvollkommenheit des Daseins wehmuthvoll gerichtet hielt.

Diese Grundstimmung befähigte ihn wenig zu dem auf des Vaters Wunsch, gegen die eigene Neigung ergriffenen kaufmännischen Beruf (1805). Nach des Vaters – wie verlautet: freiwilligem – Tod stieg seine Liebe zur Wissenschaft wieder unbesieglich. Seine Zwangslage versetzte ihn in tiefste Verstimmung. Ermuthigt durch einen Freund seiner Mutter entschloß er sich 1807, die verhaßte Laufbahn aufzugeben und zu studiren. Auf dessen Vorschlag begab er sich nach Gotha, dann nach Weimar, um sich zum Studium vorzubereiten. Im Fluge hatte er sich die erforderlichen Kenntnisse erworben und konnte 1809 die Universität Göttingen beziehen. Hier, wo er erst in der medicinischen, dann in der philosophischen Facultät inscribirt war, studirte er aufs eifrigste alle Zweige der Naturwissenschaft, später auch der Philosophie. In letzterer war der unter dem Namen Aenesidemus bekannte Professor G. F. Schulze sein Lehrer, der ihn hauptsächlich auf Plato und Kant verwies. Beide Denker haben den nachhaltigsten Einfluß auf ihn geübt und seinem ganzen Philosophiren die Richtung gewiesen. Begeistert hat er später die Veränderung, welche die erste Bekanntschaft mit Kant (der ihn völlig beherrschte), in jedem Kopfe hervorrufe, eine „geistige Wiedergeburt“ genannt. Damals docirte auch Fr. Bouterwek in Göttingen. Dieser Umstand, sowie eine gewisse Verwandtschaft der Schopenhauer’schen Willenslehre mit Bouterwek’schen Aufstellungen haben zu der Vermuthung einer Beeinflussung Schopenhauer’s durch Bouterwek geführt. Indeß fehlen bisher thatsächliche Nachweise dafür.

1811 zog ihn Fichte’s Ruf nach Berlin. Indeß fühlte er sich bald von ihm enttäuscht. Da ihm auch Schleiermacher nicht zusagte, hörte er wieder, neben historisch-litterarischen, vorwiegend naturwissenschaftliche Vorlesungen.

Während des Befreiungskrieges 1813 zog er sich „überzeugt, daß er nicht dazu geboren sei, der Menschheit mit der Faust zu dienen, sondern mit dem Kopfe und daß sein Vaterland größer sei als Deutschland“ nach Rudolstadt zurück, um hier seine Dissertation zu verfassen. Auf diese, betitelt „Die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“ wurde er durch die Jenenser Facultät in absentia zum Doctor promovirt. Diese Studentenarbeit, obgleich im allgemeinen noch ganz auf dem Boden des Kantischen Idealismus stehend, mit Anlehnung an dessen nachkantische Formulirungen, enthält doch schon Anfänge der späteren, auch in die folgenden Auflagen der „Vierfachen Wurzel“ eingedrungenen Emancipation von Kant – einer weitergehenderen, als sich S. selbst bewußt war.

Die Abhandlung zeigt sehr treffend, wie sich durch die ganze Geschichte der Philosophie eine fortwährende Verwechselung von Real- und Erkenntnißgrund als Quelle folgenschwerer Erschleichungen hindurchziehe, bemüht sich darzuthun, daß zu diesen beiden erst von Wolf schärfer gesonderten Arten des Grundes noch zwei andere, davon streng zu unterscheidende, hinzukommen: Der Seynsgrund, als Princip der Raum- und Zeitbeziehungen und der Wollensgrund als Princip der Motivation. Demgemäß läßt S. den allgemeinen Satz vom Grunde, – der ihm allgemeinste Form des (erkennenden, Zusatz der II. Aufl.) in Object und Subject zerfallenden Bewußtseins ist und aussagt, daß alle Objecte d. i. alle unsere Vorstellungen in einer gesetzmäßigen a priori bestimmbaren Verbindung stehen – in vier verschiedene Verhältnisse zerfallen, seine „Wurzeln“ nämlich entsprechend den vier Arten von Vorstellungen oder „Objecten für uns“: 1) den Satz vom [335] Grunde des Werdens, 2) den Satz vom Grunde des Erkennens, 3) den Satz vom Grunde des Seyns, 4) den Satz vom Grunde des Wollens.

Eine erhebliche Abweichung von Kant ist die Ersetzung von dessen verworfenem „Beweis“ für die Apriorität des Causalgesetzes (genauer wäre: „Deduction“ desselben) durch einen eigenen. Dieser genau mit dem später von Helmholtz gegebenen übereinstimmende Beweis basirt auf der Voraussetzung, daß unsere Empfindungen zunächst nur rein subjective Veränderungen in den Sinnesorganen seien; „unter der Haut befindliche“ Vorgänge, aus denen die Anschauung von Gegenständen der Außenwelt erst dadurch zu Stande kommen könne, daß ein unbewußter Schluß von der Empfindung, als Wirkung, auf ihre Ursache im Raum geschehe, die eben dadurch als Object vor uns stehe. Das Causalgesetz könne also so wenig aus der Erfahrung stammen, daß vielmehr erst durch seine Anwendung Erfahrung zu Stande komme. Da so bei der Anschauung der Verstand mitwirkt, ist sie nicht sensual, sondern intellectual.

Damit war ein folgenreicher Abfall von Kant gethan, die transcendentale Deduction erschüttert, die Apriorität des Causalgesetzes zwar dem Namen nach gerettet, aber in einem wenig Kantischen Sinne. Zugleich war damit das fortgesetzt von S. unter dem Einfluß des Franzosen Cabanis betriebene Ueberspielen der transcendentalen in die physiologische Betrachtungsweise eröffnet. Wird auch mit Recht der Kantianismus ihm wenig Dank wissen für diese physiologisch-psychogenetische Wendung, so hat doch S. durch ihren weiteren Verfolg, namentlich in den späteren Auflagen der „Vierfachen Wurzel“, sich die erheblichsten Verdienste um Physiologie und empirische Psychologie erworben. Indem er, Berkeley’s Spuren folgend, dem Beitrag, den die Verstandesthätigkeit zum Zustandekommen der Anschauung liefert, nachgeht, specieller die psychischen, nichtsensuellen, schlußähnlichen Processe verfolgt, welche bei der Wahrnehmung mitspielen, anticipirt er mit genialem Blick großentheils die sogenannte „empiristische“ Wahrnehmungstheorie der heutigen Physiologen, insbesondere in der Form, die Helmholtz ihr gegeben. Die Anfänge dazu fanden sich, wie gesagt, schon in der Promotionsschrift. Nach deren Druck ging S. nach Weimar, wo er Goethe’s näheren Verkehr genoß, von ihm an der Hand von Experimenten in seine Farbenlehre eingeweiht und zum eifrigen Verfechter derselben gewonnen wurde. Der Eindruck, den er auf Goethe machte, geht aus dessen eigenen Worten an Knebel hervor: „S. ist ein merkwürdiger, interessanter Mann, mit scharfsinnigem Eigensinn, ich finde ihn geistreich . . . das Uebrige lasse ich dahingestellt.“ Sie blieben später mehrere Jahre in brieflichem Verkehr. 1819 nennt Goethe ihn in den „Annalen“: einen „meist verkannten, aber auch schwer zu erkennenden, verdienstvollen jungen Mann“.

Der Orientalist Mayer führte ihn in das indische Alterthum ein und legte damit den Grund zu Schopenhauer’s bleibender Verehrung des Brahmaismus und Buddhaismus, die er später als allegorische Darstellungen des Kerns der eigenen Philosophie feierte.

Zwischen ihm und seiner Mutter, einer reichbegabten, aber kalten, gegen den Sohn lieblosen Frau, die ihm einmal geschrieben hatte, „es sei zu ihrem Glücke nothwendig zu wissen, daß er glücklich sei, aber nicht ein Zeuge davon zu sein“, trat bald gänzliche Entfremdung ein. Dies veranlaßte seine Uebersiedelung nach Dresden, wo er vier Jahre neben seinen philosophischen Studien hauptsächlich dem Kunstgenuß lebend, privatisirte. Hier verfaßte er als Frucht des Verkehrs mit Goethe, seine Abhandlung „Ueber das Sehen und die Farben“, in der er für Goethe gegen Newton eine Lanze brach. Trotz ihrer blind-wüthigen Opposition gegen jeden Newtonismus und in den späteren Auflagen gegen die von dem unmathematischen Kopfe nicht gewürdigte Vibrationstheorie, bedeutet [336] die Arbeit eine thatsächliche Förderung des Gegenstandes. Der Physiologe Czermak urtheilt über sie: „sie enthielte die wesentliche Grundlage jeder wahren Farbenlehre“ und „stimme hinsichtlich gewisser Hauptzüge und deren allgemeinster Formulirung in wahrhaft wunderbarer Weise mit unserer modernen Young-Helmholtz’schen Farbentheorie überein“. Eine lateinische Bearbeitung der Abhandlung erschien 1830 in Radii scriptores ophthalmologici minores III.

Zugleich erwuchs in Dresden sein Hauptwerk: „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Er vollendete es im J. 1818. In diesem Buch ist Schopenhauer’s Weltanschauung endgültig festgelegt, so daß er bis zu seinem Ende so gut wie nichts davon zurück zu nehmen hatte, recht im Gegensatz zu jenen Philosophen, die beinahe in jedem Jahrzehnt eine neue „Entwicklungsperiode“ durchmachen. Die einzige Entwicklung, von der man bei S. reden kann, liegt zwischen der besprochenen Studentenarbeit und diesem fünf Jahre später vollendeten Hauptwerk. In dieser Zeit war die Loslösung von Kant fortgeschritten. Mit der transcendentalen Deduction sind alle Kategorien gefallen, bis auf die Causalität, welche im Sinne der Vierfachen Wurzel als einzige Verstandesfunction gehalten wird. Alle übrigen Begriffe werden sensualistisch aus der Anschauung abgeleitet: sie sind Abstractionen. Das Ding an sich, welches mit Jacobi-Schulze’schem Argument als afficirende Ursache unserer Empfindungen abgewiesen wird, wird auf einem anderen Wege gefunden, und zwar nicht als jenes unbekannte x, sondern (und dies ist der entscheidendste Schritt über Kant hinaus) als der Allen wohlbekannte – Wille: Die Welt ist Erscheinung des Willens, der nur in der Erkenntniß des Subjects sich als in Raum und Zeit ausgebreitete Materie darstelle. Hier setzt die eigentlich Schopenhauer’sche Metaphysik, wie sie fertig im ersten Bande der Welt als Wille und Vorstellung vorliegt, ein. Um den Bericht des Lebenslaufes nicht zu sehr zu unterbrechen, versparen wir eine zusammenhängende Betrachtung der Lehre, auf ihren philosophischen Gehalt hin, bis zum Schluß des Artikels und heben hier nur einige hervorstechende Züge des Buches hervor, welche seine Stellung in der geistigen Bewegung der Zeit charakterisiren.

Der Autor gibt die – sehr wirksam gewordene – Parole aus: Zurück auf Kant! Unmittelbar an ihn anbauen! Damit verwirft er unbedingt alle nachkantische Speculation (mit der er übrigens trotzdem einige allgemeine, von seinen Gegnern aber weit in ihrer Wichtigkeit übertriebene Berührungspunkte hat. Als mitten in der Zeitströmung stehend, konnte er sich derselben nicht so bewußt werden, wie wir hinter und außerhalb derselben Befindlichen). Für Kant hegt er unbegrenzte Verehrung, die ihn aber, wie wir sahen, nicht hinderte, demselben selbst in der theoretischen Philosophie entgegenzutreten. In Ethik und Kunstlehre läßt er ihn gar bis auf Einzelheiten gänzlich fallen, mit vielfach treffender Begründung. Die drei unsterblichen positiven Leistungen Kant’s sind ihm: Die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich, die Lehre von der Idealität von Raum und Zeit und die Vereinigung von empirischer Nothwendigkeit mit intelligibler Freiheit. Dazu kommt die negative, der Vernichtung des älteren Dogmatismus. Der Fichte’schen, Schelling’schen und vor allem Hegel’schen Speculation stellt sich das Buch diametral entgegen. Findet Fichte das Wesen des Menschen im sittlichen, vernunftgebotenen Sollen, so S. im blinden vernunftlosen Wollen. Entgegen Schelling, der das Absolute in einem zeitlichen Proceß befindlich darstelle, betont er die Zeitlosigkeit des wahrhaft Realen (nicht ganz ohne Selbsttäuschung, wie Herbart richtig nachwies) und fühlt sich daher hingezogen zu Plato’s ewigen, ungewordenen und unvergänglichen Ideen. Und gar Hegel gegenüber ist das Buch in jeder Zeile ein einziger großartiger Protest. Die Vernunft, bei Hegel Princip des Weltprocesses, bei S. bloßes Vermögen der [337] Begriffe, der Abstraction aus der Anschauung, den Menschen vom Thier unterscheidend, aber wie alle Erkenntniß, nur Werkzeug, Dienerin des Willens! Demgemäß ist der Begriff, das Fundament der Hegel’schen Philosophie, ihm ein bloßer Reflex aus der Anschauung, ohne diese eine leere Hülse, und die Logik, dort Organon alles Wissens, hier nur Selbsterkenntniß der urtheilenden und schließenden Vernunft. Kurz der ganze Intellect ein anthropologisches Vermögen und sonst Nichts. Die Geschichte, dort ein vernünftiger Fortschritt, hier ziellose Wiederholung desselben unvernünftigen Schauspiels.

Gehen jene drei von den allgemeinsten Abstractis aus, so er überall von der anschaulichen Wirklichkeit. Ihrem mit allen früheren Philosophen getheilten Optimismus stellt er den durch ihn in die Philosophie eingeführten Pessimismus entgegen, in Verbindung damit: ihrer Fühlung mit dem seiner Ansicht nach, durch jüdischen Optimismus vergifteten Christenthum seine Vorliebe für die indische pessimistische Religionslehre. Ihrer Vernunftmoral, seine Gefühlsmoral. Ihrer Ermahnung zu sittlicher Werkthätigkeit, seine ascetischen Sonderbarkeiten.

Der jenen dreien gemeinsamen souveränen Verachtung und Unkenntniß der empirischen Naturwissenschaften, eine gründliche Kenntniß und weitgehende Verwerthung physicalischen, chemischen und biologischen Wissens.

Der dunklen, geschraubten, mystischen Redeweise, wenigstens Schelling’s und Hegel’s, seine klare, durchsichtige, unübertroffene Verständlichkeit. Kurz – der später in offene Polemik ausgebrochene Gegensatz klingt unausgesprochen aus jedem Teile des Buches.

Kein Wunder, daß S. das Bewußtsein hatte, ein originales, außerordentliches Werk geschaffen zu haben.

Dieses stolze Bewußtsein kommt in dem Briefe an seinen Verleger Brockhaus zum Ausdruck: „Mein Werk“, schreibt er, „ist also ein neues philosophisches System; aber neu im ganzen Sinne des Wortes, nicht neue Darstellung des schon Vorhandenen, sondern eine im höchsten Grade zusammenhängende Gedankenreihe, die bisher noch nie in irgend eines Menschen Kopf gekommen. Das Buch wird eines von denen sein, welche nachher Quelle und Anlaß von hundert anderen Büchern werden.“ Diesen hochklingenden Versicherungen gegenüber mußte es dem Verleger angesichts des gänzlichen buchhändlerischen Mißerfolges – die meisten Exemplare mußten zu Maculatur eingestampft werden – schwer werden, seinen Spott zurückzuhalten. Die Zeit war noch nicht gekommen, in der Schopenhauer’s Verheißungen buchstäblich eintreffen sollten, in der sein Buch Anlaß von mehr als „hundert anderen“ wurde.

Zwar wurde die „Welt als Wille und Vorstellung“ kurz nach ihrem Erscheinen mehrfach recensirt. Herbart, obgleich principiell auf entgegengesetztem Standpunkt stehend und daher sachlich das Buch fast durchweg verwerfend, auch einige Grundfehler desselben richtig treffend, erkannte doch sofort die eminente geistige Begabung des Unbekannten. Er stellt ihn im „Hermes“ neben die damaligen ersten philosophischen Größen: Reinhold, Fichte, Schelling und nennt ihn von dieser ganzen Gruppe den „Klarsten, Gewandtesten und Geselligsten“. Aehnlich stellte sich der damals ganz junge Beneke, der durch seine anonym erschienene Kritik einen jener ungerechten und maaßlosen Wuthausbrüche hervorrief, in welche S. bei geringster Reizung verfiel. Ein Versuch Beneke’s, S. zu besänftigen, wurde schroff zurückgewiesen. – Endlich nannte Jean Paul das Buch: „ein genial-philosophisches, kühnes, vielseitiges Werk voll Scharfsinn und Tiefsinn . . .“ Aber trotz dieser gewichtigen Stimmen konnte es unter dem Druck der herrschenden Hegel’schen Denkweise nicht aufkommen und wurde bald vergessen – gewiß kein ruhmvolles Zeugniß für den damals in Deutschland herrschenden [338] Geist, der während er seinen Beifall vielfach der Mittelmäßigkeit oder gar Verkehrtheit schenkte, einen S. nicht erkannte.

S. hatte, wie erwähnt, dies Mißgeschick durchaus nicht vorausgesehen. Im Hochgefühl einer vollbrachten großen Leistung begab er sich im Herbst 1818 nach Italien, genoß die Kunstschätze von Rom und Neapel, kehrte aber im Sommer 1819 auf die Nachricht von drohenden Vermögensverlusten nach Deutschland zurück. Ueberaus entschiedenes, unnachgiebig seinen Vortheil wahrendes Eingreifen bewahrte ihn vor dem gefürchteten Verlust. Die ihm hierbei nahegerückte Möglichkeit, in eine erwerbsbedürftige Lage zu kommen, war mitbestimmend für den Entschluß, sich zu habilitiren, was er auch nach einigem Schwanken zwischen verschiedenen Universitäten in Berlin ausführte (1820). Docirt hat er nur ein Semester. Als der Erfolg naturgemäß nicht sofort seinen hochgespannten Erwartungen entsprach, zumal er es unter seiner Würde hielt, die geringste Concession an die Erfolgsbedingungen zu machen weder in der Wahl des Themas noch in äußeren Punkten – er setzte das Colleg beharrlich zu gleicher Zeit mit Hegel’s Hauptvorlesung an – verließ er 1822 Berlin wieder auf drei Jahre, die er im Auslande, meist in Italien, zubrachte, wurde aber durch eine ärgerliche Proceßsache, die ihm seine leichte Erregbarkeit eingebracht hatte, nach Berlin zurückgerufen. Dann fungirte er noch einige Jahre im Vorlesungsverzeichniß, ohne daß bei seiner unbeirrt festgehaltenen Tactik und Hegel’s Uebergewicht, ein Colleg zu Stande gekommen wäre. Endlich verließ er 1831 wegen der Choleragefahr Berlin und gab zugleich, als sich die Aussichten auf anderen Universitäten ebenso ungünstig erwiesen, die Universitätsstellung gänzlich auf, um Frankfurt a. M. als Aufenthalt zu nehmen. Hier ist er fast ununterbrochen – ein Jahr brachte er in Mannheim zu – bis zu seinem Ende verblieben.

Mit dieser Zeit steigert sich seine schon in frühen Jahren aufgetretene düstere Lebensauffassung und Menschenverachtung zu offenem Bruch mit der Gesellschaft. Verbittert über die Mißerfolge als Schriftsteller und Docent, verschmähend, den Erfolg sich durch die geringsten Concessionen zu erschleichen, voll Geringschätzung gegen eine Generation, deren Geist von einer nach seiner Ueberzeugung unsinnigen Lehre beherrscht wurde, neben intellectueller, überall moralische Verkommenheit witternd, zieht er sich in bester Manneskraft gänzlich auf sich selbst zurück, lebt er drei Jahrzehnte ohne Familie, ohne festen Beruf, so gut wie ohne Verkehr, keiner gelehrten, keiner geselligen Körperschaft angehörig, enthält sich sogar jeder Theilnahme an der Tageslitteratur, dem einzigen Mittel, wodurch andere sonst ähnlich Isolirte sich dem Stoffwechsel des socialen Organismus einzuordnen suchen. Seine nach siebzehnjährigem gänzlichen Schweigen veröffentlichten Schriften erscheinen dann wie explosive Ausbrüche einer lang aufgespeicherten, nicht in regelmäßiger Arbeitsleistung ausgegebenen Kraft. Erst im Alter trat er wieder in regeren Verkehr mit der Mitwelt.

In der ganzen Zeit hat S. nicht einmal den Glauben an sich verloren. Nie wich er einen Schritt zurück. Nie gab er die Hoffnung auf, daß noch seine Zeit anbrechen werde. Dabei verfolgte er mit fieberhaftem Eifer jede kleinste Kundgebung, die irgendwo über seine Philosophie laut wurde. Brennender Durst nach Anerkennung, zusammengehend mit dem reinen Eifer für den Sieg der Wahrheit und glühender Haß gegen Diejenigen, die beiden im Wege standen, gegen die begünstigteren Stimmführer der dominirenden Philosophie, – waren die Triebfedern, die während des langen Zeitraums sein ganzes Wollen beherrschten.

Seit 1819 hatte er sich, wie gesagt, in ein siebzehn Jahre dauerndes Schweigen gehüllt. Während dieser Zeit beschäftigte er sich mit dem weiteren Ausbau seines Systems, mit Uebersetzungen, und einem ausgebreiteten Studium [339] der verschiedensten Litteraturen, darunter der altindischen und spanischen. Den Fortschritten der Naturforschung folgte er mit unausgesetztem Interesse. Hieraus ging die erste im J. 1836 das Schweigen brechende Veröffentlichung: seine Schrift „Ueber den Willen in der Natur“ hervor, worin er seine Kernlehre, daß die Natur bis in ihre unorganischen Erscheinungen hinein, Erscheinung des Willens sei, durch empirische Bestätigungen zu stützen suchte. Das Jahr 1839 brachte ihm einmal einen Erfolg: die norwegische Societät der Wissenschaften zu Drontheim krönte seine Preisarbeit „Ueber die Freiheit des Willens“, worin er in glänzender Weise die Determinirtheit des erscheinenden Willens darthat, daneben aber der Freiheit im Kantschen Sinne einen Platz in dem An sich dieses Willens, dem intelligiblen Charakter, zu retten suchte. Dieser Erfolg wurde sogleich durch einen Mißerfolg wettgemacht. Seine auf einen von der königl. Societät zu Kopenhagen aufgestellten Preis eingegangene Arbeit „Ueber das Fundament der Moral“ blieb ungekrönt. Darin wird Kant’s Moral als gänzlich verfehlt bezeichnet, an Fichte’s und Hegel’s eine vernichtende Kritik geübt und schließlich, wie schon im Hauptwerk, das Mitleid als Quelle aller Moral verfochten. Die Akademie stieß sich hauptsächlich an der Mißachtung, mit der von „summis philosophis“ gesprochen würde, schob vor, die eigentliche Frage wäre nicht behandelt und verweigerte den Preis. S. hat beide Abhandlungen unter dem Titel: „Die beiden Grundprobleme der Moral“ veröffentlicht – die zweite mit der ausdrücklichen Bezeichnung als nichtgekrönt und mit heftigen Ausfällen sowohl gegen das Societätsurtheil, wie gegen dessen „summus philosophus“ Hegel, dessen Philosophie „eine colossale Mystification“, „der Nachwelt ein unerschöpfliches Thema des Spottes über unsere Zeit“, eine „alles wirkliche Denken erstickende . . ., an dessen Stelle . . . verdummenden Wortkram setzende Pseudophilosophie“ genannt wird.

1844 gab S. eine zweite Auflage der „Welt als Wille und Vorstellung“ heraus, welche einen dem einen Band der ersten Auflage hinzugefügten zweiten Band von „Ergänzungen“ enthält, eine Reihe höchst geistreicher Aufsätze, welche aber die bedenklichen und angreifbaren Punkte, die im ersten Bande besser versteckt waren, wie im Vergrößerungsspiegel hervortreten lassen. 1847 erschien die zweite, umgearbeitete und erweiterte Auflage der „Vierfachen Wurzel“.

Die Ausgaben von Ergänzungen und neuen Auflagen lassen schon darauf schließen, daß um diese Zeit die Verhältnisse sich etwas ermuthigender für S. gestaltet haben müssen. In der That begann mit den vierziger Jahren die völlige „Secretirung“ seiner Person zu weichen, wenn auch sehr allmählich. Zufall ließ seine Schriften in die Hände einiger von der herrschenden Philosophie unbefriedigt abgewendeter Männer fallen: S. wird entdeckt! Den Unbekannten, von Niemandem Empfohlenen, ohne staatliche Autorität, ohne Partei-Fürsprache Auftretenden heben sie auf ihr Schild, allein durch die Gewalt seines Geistes ergriffen. Aus begeisterten Bewunderern werden sie rührige Apostel. Der erste Platz unter ihnen gebührt Julius Frauenstädt, dem „Erzevangelisten“, der schon im Jahre 1840 in Zeitschriften und Büchern die Aufmerksamkeit auf S. lenkte, später in brieflichem und persönlichem Verkehr mit ihm stand und seine ganze Kraft der Verbreitung und Erläuterung der Schopenhauer’schen Lehre widmete. Zu den ersten Bewunderern gehören ferner: die Juristen Becker, Dorguth, v. Doß, der Mathematiker Kossak u. A. Trotz der Rührigkeit des kleinen Kreises war Schopenhauer’s Ruf um 1850 noch so gering, daß er die größte Mühe hatte, einen Verleger für sein letztes Werk: Die „Parerga und Paralipomena“ zu finden. Diese populärste seiner Schriften enthält eine Reihe mit künstlerischer Vollendung ausgeführter Aufsätze über philosophische, litterarische, sociale Fragen, in denen Schopenhauer’s schriftstellerisches Talent die höchsten [340] Triumphe feiert. Allerdings spiegeln sich darin auch die schrullenhaften Seiten seines Wesens, die sich während der langen Einsamkeit ungestört entwickeln konnten, absurde Anti- und Sympathieen und alle Excentricitäten seiner leidenschaftlichen Natur.

Mag man seine Verurtheilung der „Weiber“, seine Vorliebe für die Inder, seine Gläubigkeit in Sachen des animalischen Magnetismus und der Hellseherei und Aehnliches für ebensoviel Verschrobenheiten halten, es sind überall die geistvoll motivirten Ergüsse einer durchweg originellen Persönlichkeit. Und wird man auch in den bekannten Angriffen „gegen die Philosophieprofessoren“ viele ungerechtfertigte Generalisationen, in ihrer Allgemeinheit grundlose Verdächtigungen finden, in wenig würdevollem Tone gehalten, so ist doch nicht in Abrede zu stellen, wie ungemein viel Beherzigenswerthes und Treffendes daneben gesagt wird, wie nach Abzug aller persönlicher Verunglimpfungen immer noch ein werthvoller Kern zurückbleibt: die Kennzeichnung und Verherrlichung des echten Wahrheitseifers in Gegenüberstellung mit der nach allen möglichen realen Potenzen schielenden Scheinwissenschaft.

Und neben den Verkehrtheiten des verbitterten Sonderlings findet sich Vieles, namentlich in den Aphorismen zur Lebensweisheit, das zum Besten und Tiefsten gehört, was jemals über Leben und Menschen geschrieben worden ist. Dieses Buch brach ihm in wenigen Jahren Bahn. 1853 erschien in der Westminster-Review ein Artikel, in dem der Verfasser (Oxenford) S. über alle mitlebenden Philosophen Deutschlands stellt und ihn „einen der genialsten und lesenswerthesten Schriftsteller der Welt“ nennt. Eine, auf Betreiben von Dr. Lindner, einem jüngeren, sehr regsamen Verehrer von S., in die Vossische Zeitung gebrachte Uebersetzung des Artikels war von durchschlagender Wirkung. Was der Jüngling glühend ersehnt, geht dem Greise in Erfüllung: Der in der Zeit gänzlicher Obscurität unerschüttert prophezeite Beifall der neuen Generation fällt ihm reichlich zu, er erlebt den Triumph, den Niedergang der Lehre des einst so gefeierten Gegners mit anzusehen, er selbst wird eine Berühmtheit. Unter der großen Zahl derer, die ihm nun huldigten, befand sich auch der Componist Richard Wagner.

So entschädigte ihn ein heiteres Alter für die Mißerfolge der früheren Jahre. Producirt hat er nichts mehr, nur die nöthig werdenden neuen Auflagen älterer Schriften besorgt. Seine Einsamkeit wurde in den letzten Jahren häufig durch Besuche von Freunden und lebhafte Correspondenz mit auswärtigen Verehrern unterbrochen. Er starb nach kurzem Leiden am 20. September 1860 an einem Lungenschlag. Zum Universalerben setzte er den Fonds für die in den Kämpfen des Jahres 1848 invalide gewordenen Soldaten und die Hinterbliebenen der Gefallenen ein.

Dieser ungewöhnliche Lebensgang – ungewöhnlich nicht durch gewaltige Eingriffe in das Geschehen der Zeit, sondern gerade im Gegentheil durch die gänzliche Abgestorbenheit für dasselbe – hätte selbst eine weniger eigenartige Natur, als die Schopenhauer’s weit vom durchschnittlichen Typus der Menschen abführen müssen. Ein eigenwilliger, unfügsamer Charakter, den beständiges Mißtrauen immer mehr in sich selbst zurücktrieb, war ein Erbtheil, das ihm von den Vätern überkommen war. Daß die Jugenderziehung nicht geeignet war, den schädlichen Folgen dieser Anlagen entgegenzuwirken, ist schon betont. Aber Erziehung fehlte S. nicht nur in dem engeren Sinne einer planmäßigen Einwirkung durch Haus und Schule auf das Kind, sondern in jenem weiteren der Disciplinirung, welche die Einordnung in menschliche Arbeits- und Verkehrsgemeinschaft mit regelmäßigen Pflichten auch dem Erwachsenen verleiht: die Erziehung durch die Gesellschaft mit ihren vortheilhaften – aber auch ihren nachtheiligen – [341] Einflüssen. Ehelos, ohne Amt und so gut wie ohne Verkehr entging der Einsiedler allen jenen Einwirkungen, welche der stete Druck des gesellschaftlichen Mediums, in welchem Noth und Neigung die Meisten sich bewegen lassen, ausübt. Damit gelangten wol gewisse sociale Tugenden, welche ein gedeihliches Zusammenwirken ermöglichen, bei ihm nicht zur Ausbildung, aber ihm blieben auch die nivellirenden, selbständige Eigenart und unbehindertes Wachsthum der innersten Anlagen bedrohenden Einflüsse fern. Daher die vielen Schroffheiten in seinem Wesen, die Ungezähmtheit der Leidenschaften, die Unfähigkeit, nothwendige Concessionen zu machen, die Wildheit der ganzen Persönlichkeit. Daher, bei fehlender Gelegenheit, seine Ansichten an den gegnerischen zu reiben und zu schleifen ein immer einseitiger werdendes Verrennen in einzelne Absonderlichkeiten. Aber ebendaher auch der unersetzliche Hauch lebendiger Ursprünglichkeit und Natürlichkeit, der uns aus seinen Schriften bezaubernd entgegenweht. Er war aller der Rücksichten ledig, die den Meisten Verwandtschaft, Clique, Stand, Rang, Vorgesetzte, Collegen, staatliche und kirchliche Potenzen, Lieblingsmeinungen der Menge auferlegen. „Wo ist eine Eitelkeit, die ich nicht gekränkt hätte“ schreibt er mit Recht an Frauenstädt. So sind seine Schriften die aufrichtigen, rückhaltlosen Bekenntnisse eines leidenschaftlich nach Erkenntniß ringenden, oft barocken, aber niemals gewöhnlichen, weil ungemein tief angelegten Geistes, der sich ohne Hehl und Hülle, ohne glatt-höflichen Ueberzug der Welt bloslegt. Unbarmherzig zerreißt er den Schein und sagt frei heraus, der Welt ins Gesicht, was man sich sonst kaum selbst zu gestehen wagt. In dieser, von Convenienz und Opportunitätsrücksichten unbeirrten Ehrlichkeit liegt ein Hauptreiz seiner Schriften. Gewiß sind auch seine positiven Verdienste um die Wissenschaft außerordentliche. Er hat, um nur Einiges hervorzuheben, das Studium Kant’s wiedererweckt, den Philosophen vielfach treffend erläutert und kritisirt, unermüdlich, seiner ganzen Zeit sich entgegenstemmend, an dem Sturz der Schelling-Hegel’schen Speculation gearbeitet, ihr gegenüber der Erfahrung und der gesunden Vernunft zu ihrem Rechte verholfen, das Verhältniß von Wille und Intellect richtig gestellt, in seiner Willensmetaphysik einen, wenn auch nicht buchstäblich annehmbaren, so doch auf den richtigen Weg führenden Wink gegeben, mit seinem Pessimismus ein Problem zur Discussion gestellt, das nicht wieder von der philosophischen Tagesordnung verschwinden wird, und eine Fülle lichtvoller Erkenntnisse über psychologische, ethische und erkenntnißtheoretische Fragen zu Tage gefördert. Aber so glänzend und genial sich auch der Zusammenschluß dieser Anregungen und Gedanken, unter sich und mit anderen, zum Ganzen eines Systems macht, es läßt sich nicht verkennen, daß letzteres weder in sich widerspruchslos noch auf unanfechtbaren thatsächlichen Grundlagen aufgebaut ist. Daher die Wissenschaft das System als Ganzes ablehnen muß und ihm keine Zukunft prognosticiren kann, wenn auch das von Gegnern beliebte, allein S. treffende Absprechen der Wissenschaftlichkeit, die dennoch Hegel und Schelling zukommen soll, gänzlich ungerechtfertigt ist. Aber die oben berührten Vorzüge der durch die verbreitete conventionelle Verkünstelung wie eine Naturstimme durchbrechenden genial-naiven Auffassung von Welt und Leben, die mit seltenem Geist, Witz und hoher schriftstellerischer Begabung verbunden sind, verleihen den Schriften Schopenhauer’s einen unvergänglichen Werth.

Dem Privatleben Schopenhauer’s hat man die mangelnde Uebereinstimmung mit seiner Lehre vorgeworfen. In der That zeigt dasselbe wenig von der in der Welt als Wille und Vorstellung gefeierten Askese und Begierdelosigkeit des Weisen. S. hat eben selbst den Kampf eines ungestümen, ruhelosen Willens gegen die bessere Einsicht durchgekostet, bei dem letztere nicht immer Siegerin blieb. Hat er auch so das aufgestellte Ideal nicht streng befolgt, so war doch andrerseits [342] die sinnliche Begierde weit entfernt, herrschendes Motiv seines Lebens zu sein, im Gegentheil hat selten die Liebe zur Wissenschaft in gleichem Grade das Dasein eines Menschen beherrscht. Der mikroskopischen Betrachtung zeigt S. gewiß viele Schwächen: wählt man aber den der Größe des Objects angemessenen Standpunkt, in einiger Entfernung, wo sich die Einzelheiten verwischen, so bietet sein Leben den Anblick des titanischen Ringens einer, ihr ganzes Dasein in den Dienst des Gedankens stellenden Persönlichkeit gegen den Widerstand einer geistigen Welt. Durch keinen Mißerfolg gebrochen, ohne jede Ermuthigung, behauptet sie unerschüttert in einsamer Oede ihren Posten, bis endlich der Widerstand nachläßt und schließlicher Sieg das Ausharren lohnt. So im Ganzen betrachtet, gewährt Schopenhauer’s Leben einen durchaus erhabenen Anblick.

Die Grundlehren der Schopenhauer’schen Philosophie sind folgende: Die Welt ist meine Vorstellung, Object für ein Subject. Vorstellung sein und Object sein ist dasselbe. Kein Object ohne Subject, kein Subject ohne Object. Raum, Zeit und Causalität sind Erkenntnißformen des Subjects, also a priori erkennbar. Alles anschauliche Object muß in sie eingehen und ihren Gesetzen gehorchen. Die nichtanschaulichen Objecte, d. h. die aus der Anschauung abstrahirten Begriffe, unterliegen dem Satz vom Erkenntnißgrunde, das eine Object des inneren Sinnes, nämlich das Subject des Wollens, dem Gesetz der Motivation. Der oberste Ausdruck aller dieser Relationen: der räumlich-zeitlichen Beziehungen, der causalen Verknüpfung, des logischen Zusammenhangs und der Motivirtheit der Willensacte, ist der Satz vom zureichenden Grunde, der die Form allen Objects ist. Die Causalität ist die einzige Verstandesfunction, die Vernunft das Vermögen der Begriffe. Die Materie ist durch und durch Causalität, ihr Sein ist ihr Wirken, als solche ist sie Correlat des Verstandes.

Aber die Verhältnisse des Satzes vom Grunde gelten nur für das Object, nicht zwischen Subject und Object. Das Subject ist weder Ursache des Objects, wie der Idealismus Fichte’s es will, noch Wirkung des Objects, wie der Materialismus annimmt, sondern zwischen beiden besteht gar kein Causalverhältniß. Ausgangspunkt der Philosophie muß die Vorstellung sein, die schon Subject und Object enthält.

An der Hand des Satzes vom Grunde weist die Wissenschaft die Verhältnisse der erscheinenden Objecte nach. Dieser Nachweis heißt Erklärung. Jede Erklärung führt schließlich auf ein Geheimnißvolles: eine Naturkraft. Diese liegt außerhalb der Causalerklärung, da letztere nur die Regel des Eintritts der Erscheinungen in Raum und Zeit betrifft, aber nicht ausmachen kann, was da eintritt. Was ist nun dies? Ist es nur unsere Vorstellung, also ein Phantom? Oder sonst noch etwas? Wären wir nur vorstellende Wesen, wir würden es nie ermitteln. Nun gibt es aber eine Vorstellung, die wir von zwei Seiten kennen: unsern Leib. Unser Leib ist uns von außen als Vorstellung gegeben, von innen – als Willen. Jeder Willensact ist nämlich unmittelbar zugleich Leibesact, nicht Ursache des letzteren, sondern mit ihm identisch. Der Leib ist die Erscheinung des Willens, der das wahrhaft Reale, das „An sich“ im Menschen ist. Zwar die einzelnen Willensacte, die wir allein wahrnehmen, sind noch nicht das Ding an sich, denn sie sind zwar raum- und grundlos, aber noch zeitlich. Aber in ihnen wird das Ding an sich am unmittelbarsten erkannt. Diese Lehre tritt allen älteren Systemen entgegen, welche nicht im Willen, sondern im Intellect den Kern des Menschen sahen. Der Intellect ist aber nur Werkzeug des Willens.

Der einzige Punkt, an welchem uns die Welt von einer andern Seite, als von der der Vorstellung, gegeben ist, der eigene Leib, liefert uns den Schlüssel zum Verständniß des inneren Wesens auch der übrigen Welt. Wollen wir [343] nämlich nicht annehmen, daß unser Leib das einzige Object ist, welchem ein „An sich“ entspricht, daß alle andern Objecte bloße Phantome seien – dies der Standpunkt des „theoretischen Egoismus“, der zwar unwiderlegbar ist, sich aber nur im Tollhause findet –, so müssen wir den übrigen Vorstellungen ein ähnliches Sein zuschreiben, wie wir es an unserem Leibe kennen, d. h. auch ihnen Willen zuschreiben. Denn welche andere Realität sollten wir ihnen beilegen? Woher die Elemente nehmen, da uns nichts weiter als Vorstellung und Wille gegeben ist? Damit hat S. die Brücke vom subjectiven Idealismus zum Realismus geschlagen: Das Wesen der übrigen Objecte ist auch Wille.

Uns gibt sich der Wille zunächst nur bei der willkürlichen Bewegung kund, die als seine „Sichtbarkeit“, d. h. Erscheinung, dem Satze vom Grunde unterworfen ist. Aber das Motiv bestimmt nur, was ich zu dieser Zeit und an diesem Orte, nicht daß ich und was ich überhaupt will. Der Wille an sich ist grundlos, d. h. frei, nur seine Erscheinung dem Satz vom Grunde unterworfen, d. h. der Nothwendigkeit. Dies der Sinn der Kant’schen Unterscheidung von intelligiblem und empirischem Charakter. Ersterer ist ein außerzeitlicher, grundloser unveränderlicher Willensact. Er wird in Raum und Zeit zum „empirischen“ auseinandergezogen, wo dann jedes Thun mit Nothwendigkeit aus dem intelligiblen Sein und dem Motiv erfolgt. Die Lehre vom arbitrium liberum indifferentiae entspringt aus dem Irrthum, die Seele sei wesentlich erkennend. Die scheinbare Veränderlichkeit des Charakters stammt nur aus der Veränderlichkeit der Erkenntniß.

Aber auch die physiologischen Processe in uns sind „objectivirter“ Wille. Daher die Zweckmäßigkeit der Organismen, als Angemessenheit des thierischen Leibes zum thierischen Willen. Die Hauptbegehrungen sind in den Theilen des Leibes objectivirt.

Der Uebertragung der Einsicht, daß unser Leib an sich Wille ist, auf die übrige Natur, indem der Wille nicht nur in anderen Menschen und Thieren, sondern auch in der Kraft, die in der Pflanze treibt, ja in der unorganischen Natur, im fallenden Stein, im Magneten u. s. w. erkannt wird, stellt sich nur der Irrthum entgegen, daß dem Willen seine Verbindung mit Erkenntniß, also Bestimmtheit durch Motive, in welcher Verbindung er als Willkür bei Mensch und Thier auftritt, für wesentlich gehalten wird. Der Begriff des Willens muß erweitert werden, er darf nicht der Kraft, sondern sie muß ihm, das Unbekannte dem Bekannteren subsumirt werden. In der Pflanzen- und Mineralwelt treten an Stelle des Motivs: Reiz und Ursache (im engeren Sinne), welche alle drei gleich nothwendig wirken. Genau wie das Motiv, bestimmen auch Reiz und Ursache nur das Wann und Wie der Wirkung, nicht daß überhaupt und was für eine Wirkung eintritt. Dies ist der Aetiologie unzugänglich, die es nur mit Relationen zu thun hat, aber vor den wahrhaft Realen als vor qualitates occultae stehen bleibt.

Der Wille, als außerhalb Raum und Zeit liegend, der „Principien der Individuation“, ist ohne Vielheit; diese kommt nur seinen Objectivationen zu. Er hat mehrere „Stufen“ der Objectivation und diese sind nichts anderes, als die platonischen Ideen. Sie stehen zwischen Ding an sich und den Einzelerscheinungen. In Raum und Zeit stellen sie sich als Vielheit entstehender und vergehender Individuen dar. Ihr Kampf (die „Selbstentzweiung“ des Willens) wird durch die ganze Natur verfolgt. Es kommt ein Punkt, auf dem der Wille zur Erhaltung des Individuums Erkenntniß nöthig hat: sie tritt hervor beim Thier, repräsentirt durch das Gehirn. Jetzt steht mit einem Schlage die Welt als Vorstellung da. Der Wille, bisher blinder Trieb, hat sich auf dieser Stufe „ein Licht angezündet“. Die Erkenntniß geht also unmittelbar aus dem [344] Willen selbst hervor, als Mittel zur Erhaltung des Individuums. Der Wille ist daher metaphysisch, seine Erscheinung ist der Leib, Function eines Theils desselben ist der Intellect, der also physisch ist.

Des Willen Wesen ist endloses Streben. Er will nur sich selbst und seine Erscheinung: das Leben. Wille = Wille zum Leben. Dies ist als sein „Spiegel“ ihm gewiß. Als Ding an sich ist er von Geburt und Tod nicht berührt, nur seine individuellen Erscheinungen wechseln. Der Wille ist aber seiner Natur nach zu ewiger Unbefriedigung verdammt. Beim Nachweis davon entwickelt S. seinen berühmten Pessimismus. Dieser wird auf zwei Weisen begründet: 1) Gleichsam apriorisch: Alles Wollen entspringt aus Bedürfnis, also Mangel, also Schmerz. Wunsch ist Schmerz, der Besitz nimmt den Reiz weg. Es tritt neuer Wunsch auf und so fort. Lust ist nur Befreiung von Unlust. Diese also das Positive, jene das Negative. Fehlt es an Objecten des Wollens, so tritt Langeweile ein. Zwischen Schmerz und Langeweile pendelt das Leben hin und her: daher es wesentlich Leiden ist. Mit steigender Intelligenz steigt die Empfänglichkeit für Schmerz. Kurz: in unserm Wesen ist eine Summe unabwälzbaren Schmerzes begründet, an dem die Umstände wenig ändern. 2) Diese apriorischen Betrachtungen werden durch die Erfahrung aufs genaueste bestätigt. Thier- und Menschenleben zeigen überall Kampf, Noth, Elend. Die Geschichte berichtet immer von der Herrschaft des Irrthums, der Thorheit und Bosheit. Die Welt ist die schlechteste der möglichen. Der Optimismus ist eine wahrhaft ruchlose Denkungsart, ein Hohn auf die namenlosen Leiden der Menschheit!

Wenn alles individuelle Wollen unausbleiblich mit Schmerz behaftet ist, so kann reine Lust nur durch Befreiung von jenem möglich sein. Eine solche liegt in dem Genuß des Schönen vor. S. findet mit Kant den Zustand des Schönheitgenießenden in interesselosem, d. h. willenslosem Wohlgefallen. Diese Fassung des subjectiven Schönen verbindet S. folgendermaßen mit der objectiven Kennzeichnung des schönen Gegenstandes als einer Kundgebung der Idee.

Der individuelle Intellect ist an den Satz vom Grunde gebunden, indem er, im Dienst des Willens stehend, am Leitfaden des Satzes die Verhältnisse der Objecte zum Willen ermittelt. Erkenntniß der außerhalb des Satzes vom Grunde stehenden Ideen ist also nur dadurch möglich, daß im Subject eine Veränderung vorgeht, vermöge der es nicht mehr Individuum bleibt, den Satz vom Grunde bei Seite läßt, damit die Dienstbarkeit der Erkenntniß gegen den Willen zeitweise aufhebt und so reines, willen- d. h. interesseloses Subject der Erkenntniß wird. Dies ist der dauernde Zustand des Genies, bei dem ein Ueberschuß des Intellects über das zum Dienst des Willens nöthige Maß vorhanden ist; vorübergehend ist die Mehrzahl der Menschen desselben fähig. Es ist der ästhetische Zustand, die darin stattfindende Erkenntniß der Ideen ist die Kunst.

Dieser Zustand tritt am leichtesten ein, wenn der Gegenstand ihm entgegenkommt, d. h. durch seine Gestalt leicht Repräsentant der Idee wird. Dann ist der Gegenstand schön.

Während die übrigen Künste die Ideen zur Darstellung bringen, wird die Musik als unmittelbare Darstellung des Willens selbst gefeiert, als eine Art Seitenstück zur gesammten materiellen Welt.

Ein Erkennen, das sich vom Satze vom Grunde und damit dem individuellen Wollen frei gemacht hatte, ergab den ästhetischen Zustand.

Ein Handeln, welches einer Erkenntniß gemäß ist, die ebenfalls den Satz vom Grunde durchschaut hat und ebenfalls dem individuellen Wollen sich entzieht, ergibt das moralische Thun. Es ist Gegenstand der Ethik, die nicht als Pflichtenlehre ein Wollen vorschreiben, sondern das wirkliche Wollen erklären soll.

[345] Die Quellen des unmoralischen Handelns: Egoismus und Bosheit, entspringen den täuschenden Principien der Individuation (Raum und Zeit), welche unter der Vielheit der Individuen die Einheit des in ihnen erscheinenden Willens verhüllen. In der Verkennung derselben bejaht der Egoist nur seinen Willen, verneint den fremden, d. h. er begeht Unrecht. Dies ist der positive Begriff, Recht der negative. Die echte Güte besteht nun in der Durchschauung jenes Princips der Individuation, in der Erkenntniß der Identität des fremden Willens mit dem eigenen, sie vermeidet als Gerechtigkeit das Unrecht und steigert sich in der Menschenliebe zu positivem Wohlwollen, zur gänzlichen Aufhebung des Unterschiedes zwischen dem Handelnden und Anderen. Fremdes Leid ist sein Leid: Liebe ist Mitleid, Mitleid die Quelle aller Moralität. Die im Mitleid sich schon kundgebende Durchschauung des principii individuat. geht noch einen Schritt weiter: in der Heiligkeit, d. i. der Verneinung des Willens zum Leben.

Wenn der Wille, nachdem ihm Erkenntniß sein Wesen enthüllt hat, wie vorher blind, jetzt bewußt das Leben will, so bejaht er sich. Dem sich bejahenden Willen ist, wie wir sahen, das Leben sicher. Aber auf die Erkenntniß von dem inneren Widerstreit der Welt, ihrem, also seinem beständigen unentfliehbarem Leiden kann eine Umwandlung mit dem Willen eintreten: die Dinge hören auf, ihm Motive zu sein, sie werden ihm zum Quietiv, der Wille verneint sich. Der Mensch gelangt zu völliger Entsagung und Willenslosigkeit. Das Phänomen, wodurch sich dies kundgibt, ist die Ascese, die Heiligkeit. Allgemein betrieben würde sie die Welt aufheben.

Die Verneinung des Willens zum Leben ist das ethische Ideal nicht nur des Buddhismus, sondern auch des echten Christenthums. Sie ist die Praxis der Büßer und Mystiker.

Diese Verneinung ist der einzige Fall, in dem die Freiheit des Willens in die Erscheinung tritt. Die Nothwendigkeit beherrscht nur den Charakter, soweit, daß er so erscheinen muß, wie er ist. Er selbst aber kann völlig aufgehoben werden. Diese Aufhebung des Willens steht zu dem Fortdauern seiner Erscheinung, dem Leibe, im Widerspruch. Sie ist eben ein Mysterium, eine Wiedergeburt, das, was die Kirche Erlösung nennt.

Sie ist nicht durch Selbstmord zu erreichen, da dieser nur das Individuum aufhebt.

Nur die Ertödtung allen Wollens, als höchste ethische Stufe, kann die Welt erlösen, dieselbe in das „Nichts“ überführen, das Nirwana der Buddhisten. Mit ihr wird das beständige Drängen und Treiben ohne Ziel aufgehoben, mit dem Willen seine ganze Erscheinung, Zeit, Raum, Subject und Object. „Kein Wille: keine Vorstellung, keine Welt!“

Dieser glänzenden, an tiefen Gedanken reichen Lehre hat man doch mit Recht eine Reihe von Widersprüchen vorwerfen können. Die meisten sind im Keim schon in der in sich widerspruchsvollen Aufgabe angelegt, die sich der Philosoph stellt: das Reale der Welt soll erkannt werden, nachdem mit Kant alle unsere Erkenntnißmittel als von bloß subjectiver Geltung, an das Reale nicht heranreichend hingestellt sind. Während Kant darum in der theoretischen Philosophie auf Erkenntniß des Ansich der Welt verzichtet, will S. in versuchter Ueberholung dieser Selbstbescheidung dennoch über das Reale etwas aussagen. Dieser Umschlag vom Idealismus zum Realismus wird ihm naturgemäß nur dadurch möglich, daß er die anfänglich dem Realen abgesprochenen Erkenntnißformen, nachher wieder, wenn auch unzugestandenermaßen, auf dasselbe anwendet. So kommt der Widerspruch zu Stande, daß die für subjectiv und phänomenal erklärten Formen der Vielheit, Zeitlichkeit und Causalität schließlich dennoch dem Ding an sich beigelegt werden. Es gibt bei ihm eine Vielheit von „Ideen“ [346] und „intelligiblen Charakteren“, der Wille kann aus seiner Selbstbejahung in Selbstverneinung umschlagen, also einen zeitlichen Proceß durchmachen, er tritt trotz aller Verwahrungen des Philosophen causal auf. So sprengt die realistische Willensmetaphysik mit darauf basirter Ethik und Aesthetik die vorausgeschickte idealistische Erkenntnißtheorie. Neben dem kantianisirenden Erkenntnißtheoretiker und platonisirenden Metaphysiker hört man dann oft wieder den physiologisch geschulten vulgären Realisten sprechen. So beruht die Wahrnehmungstheorie durchaus auf realistischen Voraussetzungen: Es wird ausgegangen von einer Mehrheit flächenhaft ausgedehnter Empfindungen. Es wird von der „richtigen“ Erfassung der Causalverhältnisse gesprochen, womit doch der subjectiven Aufstellung von Causalverhältnissen ihr objectives Vorhandensein gegenübergestellt wird u. s. w. So drängt die innere Unmöglichkeit der Aufgabe zu einer Reihe von Inconsequenzen in dem Lösungsversuch.

Aber auch abgesehen von den allgemein aus der Unvereinbarkeit der Kantischen Lehre mit dem Willensrealismus entspringenden Widersprüchen, ist auch der besondere Ausbau der Willenslehre in sich nicht frei von Inconsequenzen. Um den aus der Selbstbeschauung bekannten Willen auf die übrige Natur übertragen zu können, muß S. einige wesentliche Merkmale vom Begriff des Willens (namentlich das begleitender Vorstellung) abziehen, so daß der Rest nur noch in sehr uneigentlichem Sinn den Namen „Wille“ verdient. Trotzdem vermeidet es der Philosoph nicht, nachdem einmal die Uebertragung durchgesetzt ist, im Verfolg der Rolle, die dieser Wille in der Natur spielt, ihn vielfach wieder im eigentlichen Sinne zu nehmen und dadurch eine Reihe von Scheinbestätigungen seiner Lehre herauszupressen.

Ausführliche Kritiken der Lehre, allerdings parteiisch gefärbt, findet man bei: Herbart (s. o.), Beneke, Seydel, Haym.

Eine vollständige Zusammenstellung der Schopenhauer-Litteratur bei: Ferd. Laban, Die Schopenhauer-Litteratur, 1880. – Ueber sein Leben siehe: W. Gwinner, Schopenhauers Leben 1878 und: Frauenstädt u. Lindner, Arth. S., von ihm, über ihn. – W. L. Hertslet, Schopenhauer-Register. Leipzig 1890.