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ADB:Ranke, Leopold von

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Artikel „Ranke, Leopold von“ von Alfred Dove in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 242–269, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ranke,_Leopold_von&oldid=- (Version vom 24. Dezember 2024, 18:39 Uhr UTC)
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Band 27 (1888), S. 242–269 (Quelle).
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Ranke: Leopold v. R.[1], der größte Geschichtschreiber deutscher Nation, durch Vorbild und Lehre maßgebend für die Entwicklung unserer historischen Forschung und Kunst im 19. Jahrhundert überhaupt; geboren (nach dem Kirchenbuch am 20., nach stetiger Annahme der Seinen vielmehr) am 21. December 1795 zu Wiehe, einem damals kursächsischen Landstädtchen an der Unstrut, † in Berlin am 23. Mai 1886. – Ranke’s Vorfahren stammen aus der Grafschaft Mansfeld; der erste nachweisbare Ahn ist Israel R., 1671–94 Pfarrer in Bornstedt bei Eisleben. Wie dessen Bruder Andreas, Prediger zu Hettstedt, so haben auch der Sohn Israel - in Wolferode - und der Enkel Johann Heinrich Israel (1719–99), Leopolds Großvater – in Ritteburg – das geistliche Amt bekleidet. Der letztgenannte half sich aus früher Bedrängniß wacker empor und ward ein theologisch gelehrter Mann und Bücherfreund; seine Gattin brachte der Familie bescheidenen Grundbesitz, ein Haus in Wiehe nebst kleinem Landgute, zu. Ihr Sohn, Gottlob Israel R. (1761–1836), ging in Leipzig von der Theologie zum juristischen Studium über und ließ sich als Rechtsanwalt in Wiehe nieder, wo ihn die Freiherren v. Werthern mit der Verwaltung benachbarter Patrimonialgerichte betrauten. Er war eine kernhafte Natur; gläubig und schlicht, jedoch voller Hochachtung für die Bildung der Zeit; beredet und fleißig. Anfang 1795 vermählte er sich mit Friederike Lehmike, Tochter eines Rittergutsbesitzers bei Querfurt, an welcher neben den Eigenschaften einer trefflichen Hausfrau sinnvolles Wesen und ein gewisser poetischer Anflug bemerkt wurden. Ihrer vierzigjährigen Verbindung entsproß eine Reihe wohl begabter und erzogener Kinder, die ein reines und inniges Familienverhältniß als bestes Erbtheil ins Leben hinausnahmen. Dem ältesten Sohne Leopold blieb das Elternhaus, nachdem er es als elfjähriger Knabe verlassen, bis ins Mannesalter das gewöhnliche und liebste Ziel der Ferienreise; vertraute Theilnahme an dem Glücke der Geschwister hat bewirkt, daß er den eigenen Herd geraume Zeit hindurch leichter entbehrte. – Leopold R. war ein zartes Kind; schwere Krankheiten erweckten bis in sein dreizehntes Jahr zuweilen ernste Besorgniß. Allein die heilsame Bewegung in freier Luft – er ist allezeit zwar nicht Kenner, aber Freund der Natur, als Jüngling gewandter Reiter, bis ins höchste Alter ausdauernder [243] Spaziergänger gewesen –, dazu einfache Sitte und regelmäßiger Wandel stählten seinen Körper wunderbar. Bei kleinem Wuchse, munterer, oft geradezu hastiger Geberde, heller Stimme, geschwindem Gespräch erschien er dann auch äußerlich überaus lebendig; während das außer Verhältniß stattliche Haupt – mächtige Strin unter reichem dunklen, noch im greisen Schimmer dichtem Haar, starke Züge von heiterem Schwung, in großen blauen Augen Glanz und Scharfblick zugleich – eine Ahnung von der Fülle, Frische und Tiefe des inneren Lebens gewährte. Dies nun entfaltete sich in Geist und Willen merkwürdig früh und sicher. R. hat eher sprechen, als laufen gelernt; er entzog sich dem Spiele nicht, war jedoch gern allein mit seinen Gedanken. Seine Wißbegierde bedurfte keines Antriebs; er machte die schnellsten Fortschritte, erregte die entschiedensten Hoffnungen. Auch sittlich verrieth er zeitig eine bestimmte Erkenntniß des Rechten und den festen Vorsatz, davon nicht abzuweichen. Edle Geschäfte, gute Studien, freien Muth und einen Freund: mit solchen Wünschen für die Zukunft trug er sich schon als Knabe.

Das stille Thal der Heimath, wie es sich vom Kloster Memleben gegen den Kiffhäuser zu erstreckt, bot der kindlichen Einbildungskraft auch in historischer Hinsicht einige Anregung dar: neben den Erinnerungen an die große Kaiserzeit fehlte es der thüringisch redseligen Bevölkerung nicht an Rittergeschichten und dergleichen. Selbst das kleinbürgerliche Treiben in dem durch eine Garnison von Husaren belebten Städtchen war nicht ganz ohne typisch hervorstechende Züge. Einmal, im Herbst 1806, ging in der Flucht und Verfolgung von Auerstädt sogar die welthistorische Wirklichkeit jener Tage raschen Schrittes an dem aufmerksamen Auge des Knaben vorüber. Eindrücke, die haften geblieben sind: Einflüsse jedoch auf die Entwicklung Ranke’s darf man in alledem nicht suchen: diese vollzog sich vielmehr zunächst durchaus auf dem herkömmlichen Wege der Schulbildung. Nachdem er bei dem Rector in Wiehe außer der Religion die Anfangsgründe des Lateins unter häuslicher Nachhülfe des Vaters erworben, brachte ihn dieser im Frühjahr 1807 in das nahe Kloster Donndorf, von wo er nach zweijährigem Aufenthalt auf eigenes Andringen, weil es dort für ihn nichts mehr zu lernen gebe, in die entferntere, geistig weiterführende Schulpforte versetzt ward. Hier verweilte er fünf Jahre statt der üblichen sechs: es war abermals das ungeduldige Verlangen nach höheren, selbständigeren Studien, womit er den Entschluß rechtfertigte, schon zu Ostern 1814 achtzehnjährig die Universität Leipzig zu beziehen. Bis dahin aber genoß er mit Einsicht und Dank die Vorzüge der damals unter Ilgens Leitung erfreulich gedeihenden Anstalt: ihre eigenthümliche, zur Bethätigung des Wissens anleitende Verfassung, wie die glückliche Verbindung streng christlichen und classisch begeisterten Sinnes. Wie dem Rector, bewahrte er auch den übrigen Lehrern ein treues Andenken; mit einem der jüngeren, dem Collaborator Wiek, später Director in Merseburg, stand er schon in Pforte selbst in dem seltenen Verhältniß vertrauter Freundschaft und gemeinsamer, über die nächstliegenden Ziele der Schule hinausstrebender philologischer Arbeit. – Denn abgesehen von der unablässigen Befestigung in der Religion, war es eben das griechisch-römische Alterthum und zwar vornehmlich in seiner formalen und ästhetischen Erscheinung, dem sich R. als ein Musterschüler der Porta mit hingebendem Eifer widmete. Von der Mathematik fühlte er sich nicht angezogen; auf die deutsche Literatur, in welcher er von dem in Pforte örtlich verehrten Klopstock leicht zu Schiller überging, während ihm Goethe noch ziemlich fremd blieb, fiel unter solchen Umständen doch nur gleichsam ein Abglanz der antiken Poesie. In dieser dagegen fand der jugendliche Geist die vollkommenste Befriedigung. Bezeichnend für Ranke’s Zukunft [244] ist besonders seine helle Freude an Homer, seine nachempfindende Vertiefung in Sophokles. Dort fesselt ihn die reine Anschauung gegenständlich geschilderter Gestalten – wie denn bereits in Donndorf gerade durch die homerischen Geschichten in Beckers populärer Wiedergabe sein eigenes Erzählertalent erweckt worden war; hier versenkt er sich in den inneren, dramatischen Bereich des Menschenlebens, ohne sich doch von dem Ebenmaß eines Ausdrucks zu entfernen, der selbst das Erschütternde stets mit Schönheit zu umkleiden weiß. Die metrische Uebersetzung der Elektra und des Philoktet, die er gegen Ende seiner Schulzeit mit beharrlicher Neigung ausführte, war keine Vorübung zu freier Dichtung, wozu er niemals ernstlich den Beruf in sich erkannte: wohl aber wies sie deutlich hin auf die milde Stimmung des Gemüths und die maßvolle Haltung des Stils, die er als historischer Darsteller bewähren sollte. – Von der Geschichte selber ward er für jetzt noch kaum ergriffen. Allerdings offenbarte sich die Lust am Thatsächlichen in dem Vergnügen, womit er von sämmtlichen Büchern der Bibel am liebsten die historischen des alten Testamentes wieder und wieder las. Unter den classischen Autoren jedoch wurden die Geschichtschreiber, zumal die griechischen, in Pforte am wenigsten getrieben. Dennoch versteht sich auch bei der übrigen antiken Litteratur, die poetische nicht ausgeschlossen, sogut wie bei der ganzen Bibel eine innerlich bildende Wirkung auf den künftigen Historiker von selbst. Nicht sowol auf die mancherlei bei dieser Gelegenheit erworbenen antiquarischen Kenntnisse kam es für einen R. an, als auf den lebendigen Anhauch des Alterthums an sich, auf die unmittelbare Berührung mit den echten Ueberbleibseln einer abgeschlossenen Vergangenheit. Und indem entlud sich auch der gewaltige geschichtliche Inhalt der Gegenwart fort und fort in ungeheuren Ereignissen. Eine allgemeine Kunde davon drang doch auch hinter die Mauern kursächsischer Klosterschulen; nur daß von einer leidenschaftlichen Theilnahme, von patriotischem Sturm und politischem Drang, wie bei der preußischen Jugend, hier keine Rede sein konnte. In den Tagen des erlösenden Umschwunges, als im Frühjahr 1813 die Verbündeten Deutschland zum Kampfe gegen die Fremdherrschaft aufriefen, mußte R., in dessen Umgebung, bei Lehrern und Schülern der Porta, bisher die Bewunderung Napoleons vorgewogen, sich erst auf gelehrtem Umwege zum Verständniß des Augenblicks durcharbeiten. Eben damals mit dem Agricola des Tacitus beschäftigt, entdeckte er mit Ueberraschung die Verwandtschaft der Beweggründe zum Freiheitskriege der Barbaren wider das völkererdrückende römische Imperium. Dann freilich, im Angesicht der furchtbarsten Spannung und Entscheidung, fast am Saume der Schlachtfelder von Großgörschen und Leipzig, von den Zügen der Heere gestreift, that sich auch die klösterliche Schulpforte den Ideen der Nation und des Vaterlandes weiter auf. Immerhin hatte sich R. bereits als Knabe darin geübt, die Weltbegebenheit ruhig als solche aufzufassen. Sein geistiges Schicksal führte ihm das denkbar größte historische Erlebniß – man möchte sagen: mit ausgesuchter Berechnung – zu möglichst objectiver Betrachtung vor die Seele.

So nimmt es denn nicht wunder, daß er dadurch keinen Schritt weit aus der einmal betretenen Bahn gedrängt ward. Religion und Alterthum hatten ihn auf der Schulbank erfüllt, auf der Universität studirt er Theologie und Philologie; so jedoch, daß er sich dabei mehr und mehr von jener zu dieser herüberwendet. Sein Aufenthalt in Leipzig umfaßt die Zeit vom Frühling 1814 bis in den Sommer 1818; denn auch nach der Promotion zum Doctor der Philosophie, die am 20. Februar 1817 stattfand, verweilt er daselbst eine Zeitlang, in emsigen Privatstudien begriffen. Im theologischen Fache sprach ihn vorzüglich die Bibelerklärung an; auch hier versucht er sich an einer rhythmischen Uebersetzung der Psalmen, in denen er zugleich historischen Beziehungen auf die [245] jüdische Königszeit nachspürte. Noch größeren Eindruck hinterließen ihm die kirchengeschichtlichen Vorlesungen Tzschirner’s. Dagegen vermochte er sich zur Dogmatik kein Herz zu fassen. Der noch obwaltende Rationalismus stieß ihn ab, denn er glaubte unbedingt; allein zum System entwickelt widersagte auch die Orthodoxie seinem lebensvollen, auf die unverkümmerte Wahrheit des inneren Sinnes gegründeten Christenthum: im strengen Begriffe kirchlich ist er nie gewesen. Speculative Wissenschaft entsprach wol auch sonst der Natur seines Geistes nicht. Er befaßte sich allerdings mit Kant; weit mehr jedoch ergriffen ihn die Schriften Fichte’s – der wie Klopstock zu den Heroen der Pforte zählte –, auch hier indeß eigentlich nur die populären, die sich mit Religion oder Politik berühren, vor allen die Reden an die deutsche Nation; wie er denn jetzt dem öffentlichen Leben, zumal dem nationalen, mit jedem Tage hellere und wärmere Theilnahme zuwandte. Weit tiefer, als in die Theologie, war der eifrige Student inzwischen in die Philologie eingedrungen. An Christian Daniel Beck wußte er die ausgebreitete historisch-litterarische Gelehrsamkeit zu schätzen; ungleich bedeutsamer und dauerhafter aber sah er sich durch die Kritik und die Grammatik Gottfried Hermanns gefördert. Unter all seinen persönlichen Lehrern hat R. jedenfalls von diesem die beste geistige Zucht erfahren, so wenig auch an einfache Uebertragung der auf das Einzelne zielenden philologischen Methode auf die Probleme historischer Quellenkritik zu denken ist. Gleich damals aber, während er durch Hermann Pindar verstehen lernte, nahm er selbständig den Thucydides zur Hand, den er mit besonderer Rücksicht auf den politischen Gehalt aufs gründlichste durchlas und mit Ehrfurcht begrüßte. Mit ähnlicher Empfindung erfüllte ihn sodann die Lectüre der römischen Geschichte Niebuhrs, das erste deutsche historische Buch, das eine Wirkung auf ihn hervorbrachte; er gewann daraus die Ueberzeugung, daß es auch in neuerer Zeit Historiker geben könne. – Nichtsdestoweniger wäre es ein Irrthum anzunehmen, daß R. dergestalt schon in Leipzig zur Erkenntniß seines eigenen Berufs gekommen sei. Ein Vorbild erblickte er derzeit weder in Niebuhr, noch in Thucydides; der eine wie der andere diente ihm zunächst nur zur Erweiterung und Vertiefung seiner Alterthumswissenschaft. Daneben finden wir ihn, besonders nach der Promotion, von mannigfachen anderen Interessen bewegt, wobei eine Beziehung zur Historie zwar nicht ausgeschlossen ist, aber auch keineswegs im Vordergrunde steht. Jetzt kennt und bewundert er Goethe; nur daß dieser ihm doch zu modern erscheint, um etwa die eigene Sprache nach ihm zu bilden. Zu diesem Behuf ergreift er vielmehr Luther; das Jubelfest der Reformation bestimmt ihn 1817 zu dem sonderbaren Unternehmen, einen Abriß der Geschichte des Reformators möglichst in dessen eigener Zunge zu entwerfen. Von einer Fußreise, die er im nämlichen Herbst an den Rhein gemacht, bringt er dem romantischen Zuge jener Tage gemäß nachhaltige Freude an den Werken des Mittelalters heim; zumal die altdeutschen Gemälde der damals in Heidelberg befindlichen Sammlung Boisserée haben ihn, wie so manchen, wohlthuend berührt. Eine Vielseitigkeit der Anregung und des Suchens, die durchaus zum Vortheil seiner Entwicklung alsbald eine längere Unterbrechung erleiden sollte. Auch seine äußere Lage, welche nicht geradezu dürftig, aber knapp genug bemessen war, da der Nachwuchs der Brüder die durch schwere Jahre beschränkten Mittel des Vaterhauses in Anspruch nahm, mußte zu rascher Versorgung drängen. Eine solche fand sich unverhofft, indem ein Bekannter aus dem Beck’schen Seminar, Ernst Poppo, der inzwischen Director des Gymnasiums zu Frankfurt an der Oder geworden, im Sommer 1818 dem zweiundzwanzigjährigen Studiengenossen eine Oberlehrerstelle eröffnete. R., dessen Heimath durch den Frieden an Preußen gefallen war, kehrte ohne sonderliche Gemüthsbewegung oder irgendwelchen [246] Vorbehalt der sächsischen Erde den Rücken, um fortan für immer mit dem deutschen Großstaate zu verwachsen. Ueber Berlin, wo er die Prüfung für das höhere Schulamt bestand, begab er sich an seinen Bestimmungsort, ohne zu ahnen, wie sich dort die innere Richtung seines Daseins entscheiden werde.

Ranke’s Frankfurter Periode reicht vom Herbst 1818 bis zum Frühling 1825, über den Anfang seines dreißigsten Jahres hinaus: mit dem ersten Drittel seiner langen Lebensbahn findet so die Zeit der Vorbereitung ihren Abschluß. Zunächst hat er sich in seiner dortigen Lage sehr glücklich gefühlt. Stadt und Umgegend gefielen ihm wohl. Mit tüchtigen, nur wenig älteren, insgesammt noch unvermählten Collegen verband ihn schnell das sichere Verhältniß einer im Wesentlichen einverstandenen Freundschaft. Bald nach ihm traf überdies sein eigener Bruder Heinrich ebenfalls in Frankfurt ein, um später durch den jüngeren, Ferdinand, abgelöst zu werden. Durch jenen, der seinem Herzen besonders nahe stand, einen eifrigen Anhänger Jahns, ward auch Leopold mit den turnerischen Bestrebungen bekannt gemacht, ohne sich ihnen indeß selber anzuschließen. In der unbedingten Verurtheilung Sands hat er keinen Augenblick geschwankt; auch die Demagogenverfolgung aber, die selbst in seinen Kreisen ihre Opfer forderte, war ihm widerwärtig. Die spanische Erhebung von 1820 begrüßte er wenigstens anfangs eher mit freudigem Antheil, noch entschiedener später die der Griechen. Man sieht: völlig theilt er die legitimistische Anschauung der Epoche der Restauration keineswegs; auch den Fragen der inneren Politik gegenüber bewahrt er vielmehr ohne Mühe eine annähernd unparteiische Haltung. Nur daß er schon damals im ganzen als ein Freund des Bestehenden erscheint; im Tischverkehr mit jungen Beamten erfüllt er sich mit Hochachtung für die geistig regsame Bureaukratie jener Tage, wie für die Einrichtungen und Zustände des preußischen Staates überhaupt. Auch an erfrischendem weiblichen Umgang gebrach es nicht, wobei ihm neben persönlicher Liebenswürdigkeit seine stete Theilnahme an dem Fortgang der schönen Litteratur des In- und Auslandes zu statten kam. Natürlich aber trat dies alles weit zurück hinter seinen Lehrberuf, dem er sich mit pflichttreuem Ernste hingab. Voller Befriedigung ermaß er an der dankbaren Liebe seiner Schüler die Frucht seines Thuns. Sein Unterricht war auf die oberen Classen eingeschränkt, wo er besonders Homer und Horaz mit Begeisterung lehrte. Wenn er daneben auch die Aenëide gern erklärte, so geschah es wegen ihrer universalhistorischen Bedeutung: er sah darin Orient und Occident umfaßt, ein unermeßliches Weltgeschick ergriffen. – Jetzt nämlich kam in der That ein tiefes Interesse für die Geschichte von Tag zu Tag gewaltiger bei R. zum Durchbruch. Den äußeren Anlaß boten die Aufgaben der Schule selbst. Um in der Prima die Historie der alten Litteratur durchweg aus eigener Kenntniß vortragen zu können, beeilt er sich, nunmehr auch die gesammten Geschichtschreiber des Alterthums, Griechen und Römer, der Reihe nach zu studiren. Da ihm indeß auch der eigentlich historische Unterricht zugewiesen ward, so dehnte er, an den Genuß des Echten und Ursprünglichen gewöhnt, jeder abgeleiteten Darstellung gram, dies Studium gleich darauf ebenso auf die Quellenschriftsteller der nachclassischen Zeiten der Völkerwanderung und des Mittelalters aus. Die Westermann’sche Bibliothek, von einem Professor der aufgehobenen Universität gesammelt und dem Gymnasium vermacht, diente seinem von keinem Mitbewerb beengten Eifer als reiche Fundgrube. Im Lesen gerade dieser formlosen Autoren gleitet dann sein geistiger Blick immer mehr auf den Inhalt hinüber: die Thatsachen selbst in ihrer Wirklichkeit, ihrer inneren Verkettung bilden bald den vornehmsten Gegenstand seines Nachdenkens; der ihm eingeborene Trieb nach Erkenntniß wirft sich auf die historische Wahrheit. Seine Briefe aus den Jahren 1819 bis 1822 zeigen, wie er sich so allmählich seines Lebenszweckes [247] bewußt wird. Er setzt sich dabei mit seiner früheren Bestimmung zur Theologie gewissermaßen entschuldigend auseinander: „es muß auch Leute geben, deren ganze Lust ein Studium ist, das sie fassen, zu denen rechn’ ich mit … Ist es weltlich, fragst du – giebt es wohl etwas Weltliches auf der Welt, etwas Gottloses? … In aller Geschichte wohnt, lebet, ist Gott zu erkennen. Jede That zeuget von ihm, jeder Augenblick predigt seinen Namen, am meisten aber, dünkt mich, der Zusammenhang der großen Geschichte. Er steht da wie eine heilige Hieroglyphe, an seinem Aeußersten aufgefaßt und bewahrt. Vielleicht, damit er nicht verloren geht künftigen sehenderen Jahrhunderten. Wohlan! Wie es auch gehe und gelinge, nur daran, daß wir an unserem Theil diese heilige Hieroglyphe enthüllen! Auch so dienen wir Gott, auch so sind wir Priester, auch so Lehrer!“ Eine religiöse Ansicht von dem Wesen und Werth seiner Wissenschaft, an der R. sein Lebelang unerschütterlich festgehalten hat. Von selbst versteht sich ihr schlechthin universalistischer Charakter: „Das ist so gar süß, schwelgen in dem Reichthum aller Jahrhunderte, all die Helden zu sehen von Aug zu Aug, mitzuleben noch einmal, und gedrängter fast, lebendiger fast; es ist so gar süß und so gar verführerisch!“ – Diese leidenschaftliche, den Sohn des 18. Jahrhunderts verrathende Sehnsucht nach allumfassender Anschauung darf man nicht mit einem Triebe zu sogenannter Geschichtsphilosophie verwechseln, wenngleich sich R. dabei gelegentlich auf einen Ausspruch Fichte’s beruft. Wie Humboldts Kosmosidee, so kehrt sich vielmehr auch Ranke’s welthistorisches Ideal insofern von Haus aus der positiven Wissenschaft des 19. Jahrhunderts zu, als dabei die Erkenntniß des Ganzen durchaus auf der genauen Erkundung aller Theile beruhen, das Allgemeine im Herzen des Besonderen gesucht werden soll. Daß auch unter jener Hieroglyphe kein aus dünnen Abstractionen gesponnener Begriff der Einheit, kein formelhaftes Gesetz der Entwicklung verstanden sei, sondern die Wahrheit des geschichtlichen Lebens selber, wie es in realer Fortpflanzung, vielgestaltig und doch gleichwerthig, durch alle Zeiten ausgegossen und nur durch Nachempfindung unserem Geiste anzueignen ist: das erhellt aus einer später (1826) auf diese Jahre zurückdeutenden Stelle. „Du kennst meine alte Absicht, die Mär der Weltgeschichte aufzufinden, jenen Gang der Begebenheiten und Entwicklungen unseres Geschlechtes, der als ihr eigentlicher Inhalt, als ihre Mitte und ihr Wesen anzusehen ist; alle die Thaten und Leiden dieses wilden, heftigen, gewaltsamen, guten, edlen, ruhigen, dieses befleckten und reinen Geschöpfes, das wir selber sind, in ihrem Entstehen und in ihrer Gestalt zu begreifen und festzuhalten.“

Gleich hier auf der Schwelle seiner historischen Laufbahn, die R. mit dieser universalen Idee betritt, eröffnet sich uns eben aus ihr das Verständniß höchst wesentlicher Seiten seines Wirkens als Forscher, Lehrer und Darsteller der Geschichte. Von dieser Idee ist sein gesammtes Thun durchleuchtet, selbst da, wo er lediglich mit der Klarlegung des einzelnen Moments beschäftigt scheint. Die auch unausgesprochen stets vorhandene Rücksicht auf das Ganze des Menschengeschicks, die oft mit so wunderbarer Kunst hervorgehobene Wechselbeziehung des Besonderen und des Allgemeinen, vermöge deren uns fast auf keiner Seite seiner Schriften das Gefühl verläßt, uns in einer Welt zu befinden, ist das wichtigste Kennzeichen des Geistes Ranke’scher Geschichte. Auch deren vorwaltende Gemüthseigenschaft indeß, ihre Objectivität, jene Freiheit der Stimmung von jeglicher Vorliebe, jedem Vorurtheil, sei es confessioneller, politischer, nationaler oder welcher Natur auch immer, hängt aufs innigste zusammen mit der universalhistorischen Idee, mit dieser ästhetischen Begeisterung für das geschichtliche Menschendasein schlechthin, das in jedem Jahrhundert, jedem Volk, jedem Lager, jeder Einzelgestalt von historischer Bedeutung für ihn gleich anziehend [248] zutage tritt. Von selbst versteht sich ferner die schrankenlose Ausdehnung seines Interesses, seiner Studien und Vorlesungen, und soweit ihm Zeit und Kraft des Lebens hinreichte, selbst seiner Production auf alle möglichen Perioden des Weltlaufs. Die Wahl der Gegenstände, auf die er früher oder später die eigene Forscherarbeit richtet, ist ebendaher zumeist eine äußere Frage: die Einsicht in ein gerade vorliegendes Bedürfniß, die Aussicht auf möglichst lohnenden Ertrag an neuer Wahrheit, dann also der Befund des Matetials, oft gar der Zufall der Gelegenheit hat dabei den Ausschlag gegeben. – Noch eine andere Reihe ein für allemal orientirender Durchblicke thut sich allbereits hier am Eingang vor uns auf. Im Zusammenhang der großen Geschichte glaubt der junge R. am sichersten das Göttliche anzutreffen, der Gang der Begebenheiten und Entwicklungen erscheint ihm als eigentlicher Inhalt, Mitte und Wesen der Weltgeschichte. Ganz in diesem Sinne hat er zu allen Zeiten den Verlauf der historischen Bewegung von Ereigniß zu Ereigniß, das Geschehen als solches, dessen Nerv in der handelnden Kraft des Menschen liegt, zum Hauptziel seiner Aufmerksamkeit erkoren; dem Gefüge der Einrichtungen schenkt er geringere Theilnahme, die Breite der Zustände tritt beträchtlich dagegen zurück. Es begreift sich ferner, daß ihm die unmittelbaren Träger der entscheidenden Handlung, nicht die Helden allein, sondern die Fürsten und Häupter, die Führer und Leiter jeder Art im hellsten Vordergrunde stehen, indeß die meist nur leidende Menge minder sichtbar die Tiefe seiner Bühne füllt. Sein Lebelang bleibt er so ein reiner Historiker im älteren Stil seiner Thucydides und Tacitus, während ihn von den Tendenzen jener in weiterer Bedeutung geschichtlichen Wissenschaft, die, aus verschiedenen Disciplinen zusammenwachsend, die allseitige Ergründung und Beschreibung des Volkslebens im Wechsel seiner inneren und äußeren Lage anstrebt – von diesem freilich von mancher Selbsttäuschung begleiteten Stolz des Jahrhunderts – unverkennbar ein geistiger Abstand trennt. Er selber hat dies von Anfang an deutlich empfunden. In Boeckh’s „Staatshaushaltung der Athener“, die er damals in Frankfurt las, erkennt er bei allem Respect ein ihm fremdes Element. Aufs lebhafteste bewundert er Otfried Müller’s „Hellenische Stämme und Städte“, allein er fürchtet dabei, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Selbst gegen Niebuhr, von dem er nun bei wiederholtem Studium für immer die tiefste Einwirkung erfuhr, hat er allerlei einzuwenden. Ihm imponirt die Tiefe und Vielseitigkeit der Forschung, sowie die Größe der Darstellung, wo eine solche versucht werde; aber in die Untersuchungen über die streitigen Punkte der Verfassung vermag er dem Meister nicht weit zu folgen. Schmerzlich vermißt er die Fortsetzung der „Römischen Geschichte“, weil erst da das System des Autors sich erproben, sein großes Talent einen entsprechenden Gegenstand finden müsse.

Man sieht: es ist außer seiner welthistorischen Conception noch etwas anderes, wodurch sich R. von eigener Hinneigung zur Verfassungs- und Wirthschaftsgeschichte, von forschendem Eindringen in die Welt der Volksalterthümer überhaupt zurückgehalten fühlt. Er mißtraut der Gewißheit einer Erkenntniß, die vielfach nur durch vermuthende Ausdeutung, ahnende Verknüpfung, nicht ohne Hülfe der Construction oder Analogie den Denkmälern und Urkunden jeder Art zu entnehmen ist. Ihn lockt nicht, wie andere, das Dunkel, sondern die Helle; im Suchen enthaltsam, wünscht er das Haltbare zu finden. Aus der Ueberzeugung, daß „deutlich wiederzuerkennen doch allein derjenige Theil des Lebens sei, der in Schriften aufbewahrt worden“, ergiebt sich ihm der Grundsatz, „bei dem stehen zu bleiben, was wörtlich überliefert ist, oder was sich daraus mit einer gewissen Sicherheit entwickeln läßt“. Man erinnert sich dabei, daß er von der Litteratur, der Lectüre ausgegangen. In anderen Historikern haben [249] mehr die Dinge selbst, Eindrücke, Lagen, Erfahrungen des Lebens das Verlangen entzündet, die Kraft ihres Geistes dieser bestimmten Wissenschaft zu weihen. Ranke’s Genius, der sich einst dem Homer und der Bibel gegenüber träumerisch geregt, erwacht in der näheren Berührung mit den Geschichtschreibern des Alterthums, den Chronisten der Folgezeit. Der Geschichtschreiber R. selbst ist aus dem Geschichtsleser R. entstanden und bis an sein Ende gerade der größte und beste Geschichtsleser geblieben. Die Absicht seiner Werke ist recht eigentlich Wiedergabe der nie verlorenen, nur verborgenen oder getrübten Kunde, die es lediglich hervorzuholen und zu reinigen gilt. Ihr haucht er schonend seinen Geist ein und läßt seine universalhistorische Reflexion sie leicht umschweben. Mit vollkommener Selbstbeherrschung, zartfühlender Treue schmiegt sich seine reiche Phantasie bei aller Schärfe der Kritik, aller Feinheit der Fragestellung, aller Energie der Vergegenwärtigung immerdar aufs engste an die directe historische Aussage der articulirt redenden Quellen, das unwillkürliche Geständniß der Actenstücke oder das bewußte Zeugniß der Berichte. Von dem Befund seines Materials hängt demgemäß auch der innere Ausbau seiner Darstellung ab. Wo dies ihn unmittelbar dazu anleitet, verschmäht er auch die Schilderung der Institutionen und Zustände nicht; er ist mit seinen Quellen sowohl malerisch, als diplomatisch. Kein Wunder, daß er, ungeachtet der gleichen Lust an aller Historie, für das eigene Hervorbringen doch mit solcher Ausdauer der modernen Geschichte den Vorzug gegeben hat: sie mit dem Schatz ihrer Archive, und er, ein historischer Werkmeister eben dieser Art, bedurften einander. – Von welchem Segen war es da gerade für ihn, daß ihm ein Niebuhr vorausgegangen! Ohne dessen Mit- und Nachwelt fortreißende That, die Erklärung des ewigen Krieges der Kritik gegen die Ueberlieferung, wäre aus Ranke’s allempfänglicher Natur im Lesen, Aufnehmen und Wiedererzählen am Ende nur ein anderer, größerer Johannes v. Müller geworden, für dessen geistige Tugenden er ein lebhaftes Mitgefühl besaß. So jedoch verdankte er selbst Gebot und Muster der kritischen Quellenforschung, die er an dem Schweizer Vorläufer vermißt, dem männlichen Wagniß des nordischen Bahnbrechers. In dieser Hinsicht schloß er sich ihm mit freudiger Zustimmung an. Es ist ganz gerecht, zu sagen, daß die Behandlung, welche Niebuhr der Tradition der alten Geschichte angedeihen ließ, im wesentlichen von R. einfach auf das Gebiet der neueren verpflanzt worden ist. Er selbst hat dessen vorbildlichen Einfluß später unumwunden anerkannt. Nur ward er jetzt nicht etwa vom Vorsatz der Nachahmung zum eigenen Versuch in historischer Arbeit angetrieben. Sein erstes, über sein Schicksal entscheidendes Buch entsprang ihm vielmehr durchaus naiv inmitten seiner geschichtlichen Privatlectüre; das Verfahren, das er mit eigenthümlicher Genialität aus der Sache selbst entwickelte, war, obschon nicht original, so doch vollkommen selbständig.

Bei dem Studium der beiden Hauptberichterstatter über die Anfänge der neueren Geschichte, zu denen er 1822 vordrang, Guicciardini’s und Giovio’s, stieß er zu seinem Erstaunen auf so erhebliche Abweichungen, daß weder eine Vereinigung, noch eine Wahl zwischen beiden möglich schien. Um sich der Wahrheit zu bemächtigen, ruhte er nicht eher, als bis er, wie sie selbst, so auch die übrigen zeitgenössischen Autoren, an der Hand der bisher gedruckten Urkunden einer eindringenden, oft geradezu zersetzenden Prüfung unterworfen. Ja er faßte den Muth, auf jene Documente und die nun erst sicher erkannte echte Kunde der Erzähler gestützt, diesen selbst eine neue, eigene Darstellung abzuringen, und zwar zunächst der ersten Hälfte jener Periode, d. h. der südwesteuropäischen, um das Geschick Italiens concentrirten Begebenheiten von 1494–1514. So entstanden die „Geschichten der romanischen und germanischen Völker“ – denn [250] von dem neugeschaffenen welthistorischen Begriff der Einheit dieser Nationen geht das Buch aus – mit dem Beiheft: „Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber“. Nach ungefähr zweijähriger angestrengter Arbeit, deren Zweck er vor Jedermann geheim hielt, durch unablässige Zusendungen der Berliner Bibliothek, zuletzt verdrießlich, unterstützt, überschickte R. im Februar 1824 den fertigen Theil der Darstellung zur Censurprobe an Reimer und war betreten, als dieser das Buch ohne weiteres in Druck gab. Er hätte gewünscht, zuvor die zweite, schon vorbereitete Hälfte bis zum Jahre 1535 hinzuzufügen; denn aus der ersten, der überdies die letzte Hand fehle, lasse sich die Idee noch nicht ganz ersehen. Zum Ersatz bestimmte er jene kritische Abhandlung, deren Ausarbeitung ihn bisweilen sehr ergötzte; gerade sie hielt er dann für wichtig und besonders geeignet, ihm Freunde unter den Gelehrten zu verschaffen. Es versteht sich, daß ihm die positive Thätigkeit nicht geringeren Genuß gewährt hatte. Schon während der Zurüstung bereiten ihm die kleinen Entdeckungen menschlicher Tugenden, menschlichen Lebens und einer menschlichen Geschichte, die er täglich in diesen Berliner Folianten macht, eine Hauptfreude. Er fand die historische Wahrheit an sich nicht bloß interessanter, sondern selbst schöner, als ihre poetische Verklärung im besten Roman. An dem eben (1823) erschienenen Quentin Durward von Sir Walter Scott nahm er deshalb starken Anstoß und gelobte sich desto fester, sich immerdar jedes Erdichteten in der Historie zu entschlagen. Zu zeigen, wie es eigentlich gewesen, ist laut der Vorrede seines Buchs dessen einziger Zweck; ein Richteramt über die Vergangenheit, den Anspruch, die Gegenwart zum Nutzen der Zukunft zu belehren, weist er von sich. Ein Programm, das er in seiner gesammten Geschichtschreibung treulich eingehalten. – Nur einen Schmerz empfand er bei und nach dem Schreiben: die Formgebung fiel ihm schwer und mißlang ihm wenigstens in der Sprache. Für die Kunst der Composition gereichten ihm seine classischen Studien zum höchsten Vortheil; im Stil hingegen sah er sich durch sie behindert. Wie gern wollte er reden, wie ihm der Schnabel gewachsen sei: „so werden wir durch die Bildung unsere eigenen Gefangenen!“ Außer dem antiken Satzbau behelligt den Leser häufig eine fremdartige, den Quellen abgelauschte Ausdrucksweise, die, wie der Autor selbst zu spät bemerkte, den Eindruck ungeschmückter, wahrer Natur verhindert. Scheinbare Anklänge an die Manier Johannes v. Müllers erklären sich aus den nämlichen Gewohnheiten des letzteren. Im Inneren ist das Buch desto frischer und freier, dem Thema gemäß das bunteste, das R. geschrieben, überaus reich an Einzelleben, das doch in großem Sinne geordnet und beherrscht erscheint; es wetteifert an Reiz der Erzählung und Betrachtung mit den alten Italienern der Renaissance, die es aus jahrhundertelang behauptetem Ansehen sieghaft verdrängte. – Zwischen Befriedigung und Sorge verhoffte R. von diesem Werke das Heil seines Lebens; werde man doch beim ersten Anfang keinen Tacitus und Herodot in ihm erwarten. Nach der Heirath der Freunde, dem Wegzug der Brüder war ihm Frankfurt ohnehin minder behaglich. Zum Schullehrer, der in erster Linie durch Beispiel wirke, schien er sich auf die Dauer doch nicht geeignet. „Gewiß ist, daß ich zum Studiren geboren bin und auf der Welt zu weiter gar nichts tauge; nicht so gewiß ist’s freilich, daß ich zum Studium der Geschichte geboren bin; aber ich habe es einmal ergriffen und lebe darin und fühle meine Seele dabei selig zufrieden und vergnügt; also will ich es nur festhalten.“ Hierzu aber meint er abermals, wie einst in Donndorf oder in Pforte, eines anderen Ortes, einer anderen Lage zu bedürfen. „Das Bekannte ist bald erschöpft, schal und fördert niemand; das Wichtige ist entweder selten und kaum, oder ungedruckt und für mich gar nicht zu haben … Da ich nun diese Studien nicht lassen kann, ohne mich selbst zu morden, und doch nicht forttreiben ohne fremde [251] Unterstützung, so habe ich beschlossen, mich mit diesem Buch auf Lob und Tadel hinauszuwagen.“ Sein einziges Verlangen ist, auch forthin von wahren Menschen, dem wahren Gott und wirklich geschehener Geschichte wahrhaften Bericht zu erstatten. – Die Hoffnung des so plötzlich aus dem Dunkel hervortretenden Genius, der an der Schwelle des Mannesalters handelnd seiner Bestimmung inne geworden, ward nicht getäuscht. Der Beifall von Männern wie Niebuhr, Schleiermacher, Friedrich v. Raumer, Varnhagen, Karl Benedict Hase, bewies, daß die Kundigen in Ranke’s Erstlingswerk eine Schöpfung anerkannten, die der Sache der modernen Geschichte, wie dem Autor selbst eine glänzende Zukunft verhieß. Wichtiger noch war vor der Hand die Gunst der maßgebenden Räthe im preußischen Unterrichtsministerium, der Herren v. Kamptz und Johannes Schulze. Am 17. December 1824 hatte R. beiden die ersten Exemplare seines Buches übersandt, schon am 24. empfing er einen Brief von Kamptz, worin ihn dieser als einen Wiederhersteller der Historie begrüßte, wie ihn diese Wissenschaft bedürfe, und ihm bei erster Gelegenheit eine Professur versprach. Johannes Schulze ebnete dann mit geschicktem Eifer den Weg; zu Ostern 1825 sah sich R. als außerordentlicher Professor der Geschichte, wenn auch vorerst mit kleinem Gehalt, an die Berliner Hochschule berufen. Er gerieth in eine Stimmung, daß er sich tausendmal schwur, sein ganzes Leben in Gottesfurcht und Historie zu vollbringen. „Es ist mir, als wollten die Thore zu meinem wahren äußeren Leben sich endlich eröffnen, als sollte ich auch einmal Flügel regen dürfen!“

Ranke’s erste Berliner Zeit bis zum Antritt seiner großen Studienreise im Herbst 1827 bildet einen kurzen, aber bedeutsamen Abschnitt seines Lebens. Er schlug sein Junggesellenzelt dicht bei der Bibliothek und Universität auf, hinter der katholischen Kirche, im Herzen der Stadt und doch in stiller Lage; erst zwanzig Jahr später, nach seiner Vermählung, hat er die mehr abseits, für den Frieden der Arbeit ebenfalls wohlgelegene Wohnung in der Luisenstraße bezogen, die er bis an sein Ende behielt. Daß er in jenen dritthalb Jahren schon recht warm geworden wäre in der Berliner Welt, läßt sich nicht behaupten; nicht selten hat er seines Frankfurter Idylls mit Wehmuth gedacht. Die Collegen an der Universität fand er ohne Zusammenhang, und so blieb er selbst unter ihnen ziemlich einsam. Raumer bewies ihm Wohlwollen; Heinrich Leo dagegen eröffnete bald einen heftigen litterarischen Streit mit ihm über die Auffassung Macchiavelli’s, was R. zwar nicht beirrte, aber doch erregte. In näheren freundlichen Verkehr trat er allein mit Savigny und besonders mit dem jungen Philosophen Heinrich Ritter. Von draußen drängte sich Varnhagen, der sogar seine Vorlesungen hörte, mit dankgewinnender Liebenswürdigkeit an den neuen Stern heran, um ihn sodann auch unter Rahels Planeten zu versetzen. Weit mehr, als von dieser, fühlte sich R. jedoch von Bettina’s Wesen in ihren höchsten und wahrsten Augenblicken bezaubert. Nicht am letzten dem Umgang mit diesen Frauen von universaler Bildung hat er selbst es zugeschrieben, daß in der geistig bewegten Luft der Hauptstadt Schulstaub und Provinzialgeruch bald genug von ihm wichen. Den Männern gegenüber, die ihn zu grundsätzlicher Anerkennung der liberalen Theorien zu drängen suchten, befestigte er sich durch eigenes Quellenstudium über die große französische Revolution in der Ansicht, daß dies Ereigniß, wie gewaltig auch immer, doch nur aus einer besonderen Verschlingung historischer Umstände hervorgegangen sei und deshalb keine unbedingte Theilnahme verdiene. Zu einer wesentlichen Umwandlung seines Inneren war auch sonst kein Anlaß; seine Weltanschauung war vordem in der Stille ausgereift. Die herrschende Lehre Hegel’s vermochte ihm nichts zu bieten; er bestärkte sich ihr gegenüber nur in seinem Empirismus. „Was hat mehr Wahrheit, was [252] führt uns näher zur Erkenntniß des wesentlichen Seins, das Verfolgen speculativer Gedanken, oder das Ergreifen der Zustände der Menschheit, aus denen doch immer die uns eingeborene Sinnesweise lebendig heraustritt? Ich bin nun für das letzte, weil es dem Irrthum minder unterworfen ist. Freilich ist zu beklagen, daß unsere Historie so lauter Bruchstück, oft dunkel, oft ganz unbekannt. Indessen vieles wissen wir doch, anderes läßt sich herstellen; das Ganze läßt sich vielleicht in voller Wahrheit fassen.“ – Gedämpfter durch die Besonnenheit der Abwehr erscheint hier die feurige Liebe zu seinem Ideal, die er doch unvermindert im Herzen trug. Er bezeichnet es einmal als höchst nothwendig und gewiß, daß er noch Arabisch lerne, denn für die Weltgeschichte sei dies nach der lateinischen Sprache die wichtigste; jetzt freilich sei er noch im Occident. Auch seine Collegien, welche sich daneben auf Geschichte Westeuropas, neueste Geschichte seit 1789 und – einmal öffentlich – auf moderne Litteratur erstrecken, behandelten doch hauptsächlich Universalhistorie, die er auf zwei Semester vertheilt oder gar in einem einzigen überfliegt. Die Ausarbeitung macht ihm viel Vergnügen: oft schlägt ihm das Herz in Betrachtung der menschlichen Dinge. Allein der Vortrag wollte noch wenig gelingen; zu manchen, auch nachmals die Wirkung erschwerenden Eigenheiten kam für jetzt überdies die Unkenntniß des fremden Bodens. Der Zulauf war nicht gerade gering, die Ausdauer ließ zu wünschen. Ueber den Erfolg der schon damals angestellten historischen Uebungen verlautet nichts. Zur Betrübniß aber ließ sich ein R. nicht die Muße.

Mittlerweile war er vielmehr in den wichtigsten weiteren Studien begriffen. Zur Vollendung seines Erstlingswerkes legte er Hand an die umfassende, auf der Berliner Bibliothek bewahrte Sammlung italienischer diplomatischer Handschriften, deren Hauptbestand die seitdem so berühmten Relationen heimkehrender venetianischer Gesandter, zumeist aus dem 16. und 17. Jahrhundert, bilden. Johannes v. Müller hatte sie angerührt und empfohlen; R. nahm sie in sich auf und begründete zwischen sich und dieser Gattung von Archivalien überhaupt ein Lebensverhältniß. Er war erstaunt und entzückt: eine solche Fülle unentdeckten edlen Stoffes zur Herstellung der wahren Geschichte dieser großen Periode hatte er sich nicht träumen lassen. An eine Fortsetzung seines Buchs in der früheren Anlage war von Stund an nicht zu denken; statt dessen faßte er den Plan einer historischen Schilderung der „Fürsten und Völker von Südeuropa“ in den weiteren Grenzen jener Zeit und ließ 1827 einen ersten Band, „die Osmanen und die spanische Monarchie im 16. und 17. Jahrhundert“ behandelnd, erscheinen. Zu einer förmlichen Geschichte boten die durchforschten Papiere R. nicht die Hand; es blieb ihm nichts übrig, als eine Generalrelation über die beiden Reiche zu verfassen, eine doppelte Entwicklungsreihe essayistischer Capitel, die ihm unübertrefflich gelang. Vieles von der speciellen Kunst der Beobachtung und Zeichnung, die er hier den klugen Diplomaten des heiligen Marcus absah, hat er bis in seine spätesten Tage beibehalten; zumal seine lebensvollen Charakterbildnisse verrathen stets mehr oder weniger die venetianische Schule. Auch die Sprache, die er in diesem Buche redet, ist ihm im ganzen nie wieder verloren gegangen; sie aber hält sich diesmal frei von dem Einfluß der Quellen. Es ist seine eigene Prosa, die er jetzt in der Berliner Gesellschaft ausgebildet, modern und individuell zugleich: Klarheit und Anmuth, vor allem eine im Deutschen seltene Lebhaftigkeit sind ihre Haupteigenschaften, die erst im Alter durch Entfärbung des Ausdrucks und zunehmenden Hang zu Fremdwörtern einige Einbuße erlitten. Die schöne Form verschaffte den „Fürsten und Völkern“ in hohen, wenn auch nicht weiten Kreisen Deutschlands die beste Aufnahme, ja selbst den Beifall namhafter französischer Schriftsteller. R. selbst hatte sich bescheiden [253] damit noch lange nicht genug gethan; einem Augustin Thierry dünkte er sich nicht von ferne gleich. Seine Sachen scheinen ihm durch Gelehrsamkeit einer allgemeinen Verbreitung unfähig; nur schwache Hoffnung hegt er auf ein dereinstiges Werk von wahrhafter Gemeinverständlichkeit. In der That hat nach jener Läuterung seines Stils einer ausgedehnten Popularität seiner Schriften nicht sowohl ein gelehrtes Uebermaß im Wege gestanden, als umgekehrt der eine oder der andere Mangel, den man an ihnen bemerkte. Geistige Vornehmheit ließ ihn vor jeder Wiederholung des oft Gesagten, längst Bekannten zurückschrecken, wodurch seine Darstellung an einleuchtender Vollständigkeit verlor; andererseits verbot ihm sein ästhetisches Gesetz reiner Gegenständlichkeit, die sittliche Wärme, die er im eigenen Herzen allezeit hegte – er war damals beim Studium der spanischen Staatsverwaltung geradezu empört – nach der wirksameren Art einer predigenden Historie dem Leser von außen her mitzutheilen.

Auch diese erste Berliner Periode Ranke’s drängte über sich hinaus: die italienischen Archivalien erweckten heiße Sehnsucht nach den Archiven Italiens selbst; aus der Gesammtheit der venetianischen Relationen und Depeschen winkte ihm „eine noch unbekannte Geschichte von Europa“. Mit Urlaub, Stipendium und Empfehlungen – namentlich von Kamptz an Metternich – versehen, trat R. im Herbst 1827 eine Reise über Wien, wo ein Theil der venetianischen Papiere lagerte, nach Italien an, die sich nach und nach bis zum Frühling 1831 verlängerte, sodaß man wohl von seinen historischen Wanderjahren sprechen kann. Jahre von centraler Bedeutung, nicht im Sinn einer künstlerischen Abklärung, wie bei Goethe’s italienischer Pilgerschaft, sondern in dem einer wissenschaftlichen Bereicherung fürs Leben, wie sie Humboldt aus Amerika heimbrachte. In Wien verweilte R. ein Jahr, ging dann im October 1828 zu viermonatlicher Arbeit nach Venedig, darauf über Florenz nach Rom, das ihn – einen Ausflug nach Neapel abgerechnet – vom März 1829 bis April 1830 fesselte; ein Sommer in Florenz und ein volles Halbjahr abermals in Venedig, wo sich ihm jetzt erst das eigentliche Archiv eröffnete, machten den Beschluß. In den Vatican erlangte er sogut wie keinen Zutritt; doch entschädigten ihn vollkommen die Privatsammlungen der Nepotenfamilien. – Gerade der Wiener Aufenthalt war auch abgesehen von seinem eigentlichen Vorhaben vom höchsten Werthe für den Reisenden. Kein Geringerer als Gentz zog ihn in allwöchentLichem vertrauten Gespräch in das Verständniß der hohen europäischen Politik der Gegenwart. Außerdem aber brachte ihn das durch den griechischen Freiheitskampf erregte Interesse an der religiös-nationalen Seite der orientalischen Frage, die er schon bei seiner Schilderung der Osmanen im Auge gehabt, in den fruchtbarsten Verkehr mit den in Wien weilenden Serben. Mit genialer Keckheit ergriff er die Gelegenheit, eine historische Quelle auch einmal dicht bei ihrem Ursprung in der Wildniß aufzufangen, indem er nach den Papieren und Aussagen des Liedersammlers Wuk Stepanowitsch Karadschitsch, eines Zeitgenossen und Theilnehmers an der serbischen Revolution, unter dem dolmetschenden Beistande Kopitars die Geschichte dieser denkwürdigen und ergreifenden Volksbewegung entwarf und schrieb. „Die serbische Revolution“ erschien alsbald 1829; sie machte Goethe neugierig auf den Verfasser und ward von Niebuhr als Historie das vortrefflichste genannt, was wir in unserer Litteratur besitzen – eine Stimme, durch die sich R. wider alle Afterreden gewaffnet fühlte. Das kleine Buch behauptet in seiner unmittelbaren Verbindung von Geist und Natur – ein edles Bildwerk in der Felswand, wie der Löwe von Luzern – eine einzige Stelle unter allen seinen Werken. Gleichzeitig brachten die Wiener Jahrbücher eine „kritische Abhandlung“ Ranke’s über Don Carlos, methodisch wie sachlich von bestem Gehalt. – [254] Zu solchem Hervorbringen fand sich in Italien selber keine Zeit. Land und Leute forderten dort ihr Recht. Die Kunst gewöhnte sich R. nun, wie von je die Litteratur, in ihrer historischen Entfaltung mit geistvollem Auge zu betrachten; die Politik war in dieser Epoche der Julirevolution nie und nirgend zu umgehen. Zumal in Bunsen’s glänzendem römischen Salon umwogte die öffentliche Meinung in internationaler Unterhaltung den empfänglich theilnehmenden Gast. Und doch verschwindet das alles gegen die erstaunliche Thätigkeit, die R. damals beim Studiren und Abschreiben in Bibliotheken und Archiven entfaltete; eigentlich nur auf Augenblicke hält er mit dem Sammeln inne, um sich selber zu sammeln. Insbesondere von dem zweiten Besuch Venedigs 1830 zu 31 versichert er gegen Ende seines Lebens ausdrücklich: er habe niemals mehr gelernt und gedacht, niemals mehr eingeheimst. Eine vielsagende Schätzung, da er doch stets der unermüdlichste, behendeste, im Treffen und Ausheben des Prägnanten geübteste Actenbenutzer war, von welchem die Archivare zu melden wissen; wobei ihm freilich die zuvor erworbene Bekanntschaft mit der gesammten über seinen Gegenstand gedruckten Litteratur und ein überaus umfassendes, scharfes, immer treues Gedächtniß ungemein zu statten kamen. In Rom und Venedig bediente er sich übrigens der Beihülfe mehrerer Copisten. Seine äußere Emsigkeit begreift sich aus der inneren Wichtigkeit seines Treibens. Er plante zunächst nur einen zweiten italienischen Band seiner „Fürsten und Völker“; allein die Politik der Päpste, die darin die Hauptrolle spielen sollten, umspannte ja die Welt. Und ein kaum minder weiter Horizont war andererseits mit dem diplomatischen Beobachtungssystem der Venetianer an und für sich gegeben. Mit Entzücken excerpirt daher R., immer die Entdeckung der unbekannten Weltgeschichte als Ziel im Herzen tragend, diese Actenstücke: „es sind höchst merkwürdige Sachen, für die Geschichte der Menschheit von unschätzbarem Werth, welche Europa, wenn es nicht über sich selbst im Dunkel liegen will, schlechterdings wissen muß … Es setzt sich mir allmählich eine Geschichte der wichtigsten Momente der neueren Zeit fast ohne mein Zuthun zusammen; sie bis zur Evidenz zu bringen und zu schreiben, wird das Geschäft meines Lebens sein. Ich bin zufrieden, daß ich weiß, wozu ich lebe … ich schwöre täglich, es auszuführen, ohne einen Fingerbreit von der Wahrheit abzuweichen, die ich erkenne. Man macht mir oft den Einwurf, daß mein Weg doch allzu weitläufig, daß das Ziel am Ende auch kürzer zu erreichen wäre, daß ich mir schade, so lange entfernt in fremden Ländern zu leben; allein ich höre das nur und thue doch nach wie vor. Man kann sich seine Bahn nicht selber machen.“ Sieht er sich jetzt um, so hofft er in dem Umfange, wie heut italienische, noch einmal französische, englische, vornehmlich deutsche Studien: „doch zuerst müssen wir diesen großen Hauptweg durch die moderne Historie durchgewandelt haben.“ In Wahrheit haben auch die wichtigsten unter seinen späteren Schriften zur außeritalienischen Geschichte, große wie kleine, von diesem Hauptwege her starken Zuzug empfangen: überall erscheinen in ihnen neben den einheimischen die venetianischen und römischen Informationen. Nicht der Sonnenglanz Italiens, wohl aber das geheimnißvolle Licht seiner in kühlen Sälen und Gewölben bewahrten historischen Schätze wirft so Jahrzehnte lang einen freundlichen Schein auf die Pfade des Heimgekehrten.

Den Wanderjahren folgte die Meisterzeit, nur daß sie sonderbarerweise gerade im Anfang durch eine vorübergehende Abirrung in ihrer vollen Entfaltung gestört ward. Kaum hatte R. zu Ostern 1831 sein Berliner Lehramt wieder angetreten und als gelehrte Probe seines Reisefleißes eine Monographie über die „Verschwörung gegen Venedig im Jahre 1618“ veröffentlicht – die Sitte gemeinnütziger Mittheilung von urkundlichen Analekten und sonstigen Forschungserträgen [255] behielt er seitdem zeitlebens löblich bei –: so ließ er sich bereden, das Amt eines Herausgebers und Hauptarbeiters an einer mit dem auswärtigen Ministerium in Verbindung stehenden „historisch-politischen Zeitschrift“ auf sich zu nehmen. Der ursprünglich von Friedrich Perthes in großem praktischen Stil entworfene Plan war von der zaghaften Behörde auf den Maßstab einer wissenschaftlichen Vierteljahrsschrift herabgesetzt worden, von der sich die Erreichung des vorschwebenden Ziels – die seit 1830 so hoch erregten Gemüther in Deutschland durch bloße Darlegung der Thatsachen und damit zugleich der wirklichen Verdienste der preußischen Regierung für die letztere zu gewinnen – ohnehin nicht erwarten ließ. Ranke’s Zusage war nicht frei von Egoismus: „Just bis dahin bin ich in meinen bisherigen Studien gekommen, wo die neuen anfangen werden. Eine bessere Gelegenheit, die Geschäfte, die Lage, die Interessen der gegenwärtigen Welt kennen zu lernen, werde ich so leicht nicht finden. Die Mittheilung der Ergebnisse der älteren Studien wird dadurch nicht ausgeschlossen.“ Dabei aber hegte er doch sehr entschieden die Illusion, die gestellte Aufgabe zu lösen; er gedachte, die Doctrinäre beider Parteien, nicht etwa durch eine dritte, mittlere Theorie, sondern durch das Beispiel realer Anschauung der Dinge zu bekehren. Er wollte mithin auch jetzt wieder bloß zeigen, wie es eigentlich sei, oder allenfalls, wie es eigentlich geworden, und bemerkte nicht, daß sich aus dieser objectiven Darstellung der Gegenwart ebensowenig, wie aus der der Vergangenheit, eine mehr als ästhetische Wirkung ergeben könne. – Die „historisch-politische Zeitschrift“, um derentwillen R. mit Ancillon in angenehme Beziehung trat, während er an Johann Albrecht Eichhorn, dem Entwickler des Zollvereins, sogar einen vertrauten Freund gewann, brachte es von 1832–36 nur auf zwei starke Bände; denn schon von 1833 an verwandelten sich die Quartals- in Jahreshefte. Sie stand auf vornehmster geistiger Höhe, erhielt den Beifall Schleiermachers, Beirath und Beiträge von Savigny, mit dem R. derzeit neben Eichhorn am engsten verkehrte. Zwei Drittel des Ganzen, über tausend Seiten, sind von Ranke’s Hand. Unter seinen die ältere Historie betreffenden Aufsätzen, die allmählich das Uebergewicht erlangen, ragt der über „die Venetianer in Morea“ durch anschaulichen Glanz, der über „die großen Mächte“ durch welthistorischen Wurf, der reichste und herrlichste von allen, „über die Zeiten Ferdinands I. und Maximilians II.“, durch beides hervor. Die quasipolitischen Artikel Ranke’s beschäftigen sich vorwiegend mit der Restauration und Julirevolution in Frankreich, sowie mit den gleichzeitigen, aber innerlich so verschiedenen deutschen Verhältnissen; wobei die Geschichte des Zollvereins die schönste Würdigung findet. Sie tragen mit tiefsinniger Beredsamkeit die conservative Lehre von der Individualität der Staaten vor und enthüllen mit nationaler Wärme die ausländische, französische Natur des gewöhnlichen Constitutionalismus jener Tage. Wahrheiten, für deren Verständniß bei uns die Stunde kommen sollte: damals riefen sie lebhafte Entrüstung hervor. Nicht als wären die Herren vom anderen Extrem mit Ranke’s ruhiger Haltung einverstanden gewesen: die Rechtgläubigen der Haller’schen Schule, die Radowitz, Gerlach und Genossen, wollten an seiner Halbheit einen jacobinischen Anflug entdecken und gründeten eigends gegen seine Zeitschrift ihr „Politisches Wochenblatt“. Doch ward dadurch leider nicht verhindert, daß die Liberalen, somit die Mehrzahl der bürgerlich Gebildeten, sich daran gewöhnten, ihn einfach als reactionär zu betrachten, wodurch seiner Wirkung auf die Nation für Lange Zeit – nicht zu seinem, aber zu ihrem Schaden – Eintrag geschah. Leo’s bissige Privatfeindseligkeit hatte seinen Namen nicht verletzt; die zürnenden Geistesblitze etlicher Hegelianer, denen seine von aller Dialektik entblößte Geschichtschreibung ein Greuel war, erwiesen sich bald als ein unschädliches Wetterleuchten abziehenden Gewölkes. Infolge jener [256] politischen Differenz aber stand es Jahrzehnte hindurch für den Philister und selbst für bessere Männer fest, daß R. auch als Historiker an Charakterlosigkeit leide. Man gerieth auf den thörichten Einfall, den altmodisch wackeren Schlosser als Haupt einer Heidelberger gegenüber der Berliner Schule gleichsam zum Gegenkönig der deutschen Historie zu küren – eine geistige Reaction aus Abscheu vor der politischen. R. selbst war frühzeitig inne geworden, daß auf dem Wege seiner Zeitschrift politisch nichts zur Entscheidung gebracht werden könne. In dem Augenblick, wo sie einging, nahm er in einer lateinischen Rede zum Antritt seiner Professur „über Verwandtschaft und Unterschied der Geschichte und Politik“, worin er das praktische Wesen der letzteren besser würdigte, von der politischen Schriftstellerei gewissermaßen persönlich Abschied, um sich hinfort allein der historischen zu widmen. Als zu Anfang 1838 König Friedrich Wilhelm III. eine Verbesserung der Staatszeitung wünschte, lehnte R., dem die höhere Leitung der neuen Redaction angetragen ward, nach kurzem Schwanken ab, weil eine ganz unbedingt gebietende Stimme in seinem Inneren Nein sagte.

Hatte er doch inzwischen sicheren Schritts die höchste Stufe seiner historischen Leistung als Autor wie als Lehrer erstiegen. Bereits 1834–36 waren „Die römischen Päpste, ihre Kirche und ihr Staat im 16. und 17. Jahrhundert“ erschienen, äußerlich noch den „Fürsten und Völkern“ eingefügt, deren Rahmen indeß durch dies neue, dreibändige Buch in jeder Beziehung gesprengt ward. Seine Studien über die innere venetianische Geschichte, wie über die von Florenz – Savonarola, Strozzi und Medici – legte er bis ins höhere Alter zurück: dem wahrhaft welthistorischen Fluge der Schilderung päpstlicher Politik durften keinerlei fremde Gewichte angehängt werden. Ranke’s „Päpste“ sind insofern unstreitig sein größtes Werk, als sie in der Verschmelzung der höchsten und weitesten Gesammtansicht mit der mannigfachsten und schönsten Entfaltung des Einzelnen – eine auch von Macaulay daran bewunderte Erscheinung – seine eigenthümliche Genialität am vollkommensten ausdrücken: kein anderer Historiker irgendwelcher Zeit hätte das Buch in solcher Weise ausdenken und vollenden können. In der allgemeinen Litteratur der dreißiger Jahre steht es in vorderster Reihe, wie es seinem Verfasser denn auch sofort eine Weltberühmtheit einbrachte. In Deutschland selber ward es von dem gleichzeitig erschienenen Leben Jesu von Strauß an epochemachender Wirkung weit überragt; an unvergänglicher Wahrheit ist es ihm dagegen unendlich überlegen. Es befreit den Leser, nicht wie jenes durch Krieg, sondern im tiefsten Frieden: mit einem so reinen und glücklichen Gefühl überwundener Gefahr blickt es auf die gewaltigsten Kämpfe der Vergangenheit zurück, wie das selbst ein R. in späteren Welttagen wohl nicht völlig wieder vermocht hätte. Zu allen Zeiten mußte freilich gerade ihm die unparteiische Würdigung selbst der streitenden römischen Kirche leichter fallen, als anderen Protestanten. Sein vor jeder theologischen Schulform zurückscheuendes Christenthum gestattete ihm die größtmögliche Annäherung. Das Gerücht von seinem Uebertritt in Wien war natürlich nichts, als ein boshaftes Berliner Gerede. Aber soviel schreibt er einmal selbst, daß er beim ersten Eintritt in St. Stephan mit einem Schlage fromm geworden; eine Frömmigkeit allerdings, welche nur gerade so lange vorhalte, als man drin weile. In Italien durchdrang er sich mit der Meinung, daß Aberglaube die Religion nicht ausschließe: „dies tröstet mich, indem ich sehe, höre und lese, wie die Menschen sich gegen Gott geberden“. Sein erster Einblick in das Wesen des verfolgenden restaurirten Papstthums entlockt ihm in einem Briefe den Ausruf: „so sehr dem Irrthum unterworfen ist der Mensch: gebrechlich, ein Thor – und in seinem Gebrechen groß; zuweilen edel noch dann, wenn er Verabscheuungswürdiges thut. Doch vor allen Dingen geziemt uns mild und gut zu sein: der Irrthum [257] ist allenthalben um uns“. – Trotzalledem beschlich ihn schon bei der Arbeit an der Geschichte der Päpste das Gefühl, als sei dem protestantischen Element darin nicht volle Gerechtigkeit widerfahren. Und da er überdies von Anfang seiner historischen Arbeiten an mit wachsendem Bedauern empfunden hatte, daß sie mit den deutschen Dingen sich verhältnißmäßig so wenig berührten, so faßte er jetzt unverzüglich den patriotischen Gedanken, die „deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“ zu erforschen und darzustellen. Dies zweite, dem ersten ebenbürtige Hauptwerk des Meisters erschien – abgesehen von dem später nachfolgenden Urkundentheil – in fünf Bänden 1839–43. Der bestimmte Entschluß dazu ward erst beim überraschenden Anblick der Fülle von deutschen Reichstagsacten gefaßt, in die sich R. im Herbst 1836 in Frankfurt am Main alsbald so vertiefte, daß er darüber den Plan einer Reise nach Paris, der ihn hergeführt, aufgab. Es reihten sich hieran in den Jahren 1837–39 ebenso eindringende Studien in den Archiven zu Berlin, Dresden, Weimar, Düsseldorf und Brüssel nebst einem ersten, lohnenden Abstecher nach Paris. Von der Ueberzeugung, die sich in ihm bei seinen „Päpsten“ erst recht befestigt, daß zuletzt doch nichts weiter geschrieben werden könne, als Universalgeschichte, weil das Einzelne niemals in seinem vollen Licht erscheine, es sei denn, es werde in seinem allgemeinen Verhältniß aufgefaßt – von dieser Ueberzeugung brauchte er nicht abzugehen, als er nun eine große Periode deutscher Nationalgeschichte mit einer an Vollständigkeit grenzenden Ausführlichkeit behandelte. Denn selbst ungerechnet die universale Verflechtung der Politik Karl’s V., die er mit unnachahmlicher Virtuosität diplomatisch darzulegen verstand: wo erschien jemals ein in höherem Grade welthistorischer Held, als Luther? Mit Genugthuung erfüllte R. die Wahrnehmung, daß in jener Epoche der Europa beherrschende Impuls mehr als jemals von Deutschland ausgegangen. Er durfte mit wärmster Freudigkeit die Macht und Tiefe des nationalen Geistes in ihrer Wirksamkeit beschreiben, ohne seiner allumfassenden Anschauung untreu zu werden. Auch die protestantisch-religiöse Bewegung als solche aber durfte er hier aus dem nämlichen Grunde unbesorgt um den Schein der Subjectivität mit dem Antheil des Herzens begleiten; wobei er selbst das Dogmatische, dessen Fesseln er als Jüngling entronnen, in der Freiheit bloßer Betrachtung nun doch mit dem ungewöhnlichen Verständniß eines theologisch dahergekommenen Historikers zu erfassen vermochte. Daß seine „Deutsche Geschichte“ in formaler Hinsicht den „Päpsten“ weit nachstehe, stellte er nie in Abrede; denn es sei unmöglich, aus Reichstagsacten und theologischen Ausführungen ein lesbares Buch zusammenzustellen: bei der Arbeit war ihm zumuthe, wie der Mutter Natur, als sie den Elephanten machte. Dessenungeachtet erreichte er nicht allein seine Absicht, über die grundlegende Begebenheit der neueren Geschichte ein grundlegendes Werk abzufassen: er gab doch dem höheren deutschen Publicum den größten nationalen Stoff eben in der besten Form, die derselbe vertrug. Gerade dies Buch, von Macaulay’s berühmtem Werk so verschieden, wie Deutschland von England, nimmt dennoch in unserer Nationallitteratur ungefähr die gleiche Stelle ein. Wie die „Päpste“ Ranke’s europäischen Ruf begründet, so erwarb die „Deutsche Geschichte“ seinem Namen dauernde Verehrung im Vaterlande.

An die Rückkehr aufs Katheder hatte R., in Erinnerung an den früheren Mißerfolg, unterwegs so ziemlich mit gleichem Grauen gedacht, wie an den Wiedereintritt in die kaltfremde Berliner Gesellschaft. Nicht sofort, aber doch recht bald sah er sich in beiden Beziehungen angenehm enttäuscht. In der Gesellschaft verschafften ihm Bedeutung, Leistung und Ruf den Platz, der ihm gebührte, wenn er ihn auch in seiner leidenschaftlichen Arbeitsamkeit nur selten einzunehmen [258] beflissen war. Immerhin galt er in seinen letzten Junggesellenjahren um 1840 für ein schwer entbehrliches Zubehör wirklich geistreicher Zusammenkünfte. Echte Freundschaft hat er in dieser Zeit außer bei Savigny und Eichhorn nicht gefunden; Heinrich Ritter’s Weggang beraubte ihn schon 1833 des eigentlichen guten Kameraden. Aber seine Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften – Anfang 1832 – setzte ihn doch zu den Männern seines inneren Ranges in ein jederzeit neu zu belebendes Verhältniß. Seine erste akademische Abhandlung „Zur Geschichte der italienischen Poesie“ von 1835 athmet den frischesten Duft seiner litterarischen Südfrüchte; unter den späteren hat die „Zur Kritik fränkisch-deutscher Reichsannalisten“ von 1854 den mächtigen Anstoß zu einer am Ende übertriebenen wissenschaftlichen Bewegung gegeben. An der Universität erhielt R. Ende 1833 eine ordentliche Professur, die ihn dauernd mit ihr verknüpfte. Vorher und nachher hat er einige Rufe nach auswärts abgelehnt; der einzige allenfalls ernstlich zu erwägende nach München trug ihm 1853 eine längstverdiente namhafte Verbesserung seiner Besoldung ein. An dem corporativen Leben der Hochschule nahm er keinen hervorragenden Antheil; das Decanat hat er einmal, das Rectorat niemals bekleidet: ein Mann der öffentlichen Praxis war er nicht. – Die im Sommer 1831 wieder begonnenen Vorlesungen setzte er, nur dreimal durch einen Semesterurlaub zu Forschungsreisen unterbrochen, bis in den Sommer 1871 fort. Sie behandelten auch jetzt noch ganz überwiegend allgemeine Historie: zuerst noch ein paarmal im Gesammtumriß, dann in Mittelalter, neuere und neueste Geschichte, oder einzelne, aber immer umfassende Abschnitte der beiden ersteren Perioden zerlegt. In die abgeschiedene Welt des Alterthums flüchtete er seinen Geist nur kurze Zeit über nach dem Schrecken von 1848. Neben der allgemeinen erscheint nicht selten deutsche Geschichte, meist als Ganzes; außerdem allein die englische, jedoch erst in den Jahren um 1860, als R. mit ihrer litterarischen Behandlung beschäftigt war. Dem Vortrage wurden kritische Notizen über Quellen und Litteratur eingefügt, doch bestand er im wesentlichen stets aus der anschaulichen, bald feinen, bald großartigen Darstellung der Begebenheiten. Wohl ausgearbeitete, häufig aufs gründlichste erneuerte Hefte bildeten die Unterlage der nichtsdestoweniger freien Rede. R. sprach seltsam, in die Sache versunken; höchst ungleich im Zeitmaß: jetzt zaudernd, dann überstürzt; in den Stuhl zurückgelehnt und wieder aufzuckend; feurig ins Leere blickend, während die Rechte von der Brust her plötzlich in die Lüfte fuhr – nimmt man eine Thüringer Mundart in hoher Tonlage, mit Gurgellauten versetzt, hinzu, so begreift sich, daß der Zuhörer oft nicht leichter mit dem Verständniß zu ringen hatte, als der Meister droben mit seinen Gestalten rang. Dies erklärt, daß die Ziffern seiner Listen mit der Zahl der Anwesenden sich noch weniger als gewöhnlich deckten. Auch nach der Rückkehr war er anfangs recht entmuthigt; aber 1835 war im Privatcolleg die 50 überschritten, zwei Jahr später die 100 erreicht; das Maximum 153 fällt in die neueste Geschichte 1841/42; von da an langsames, in den funfziger Jahren rasches Sinken; in den sechziger war es betrübend, zu sehen, wie soviel immer ursprünglicher, immer lebendiger Geist um äußerer Mühe willen nur von so wenigen Getreuen dankbar genossen ward. – Der Schwerpunkt seiner Wirksamkeit als Lehrer lag indeß unzweifelhaft in den historischen Uebungen, wie er sie 1833 zuerst in neuer Gestalt begründete und fast ebenso regelmäßig Semester für Semester, erst im letzten Jahrzehnt mit stark abnehmender Bedeutung fortführte. Hier hat er von den Waitz, Giesebrecht und Sybel an bis in das zweite Geschlecht hinein zahlreiche Schüler zur Befolgung seiner drei historischen Gebote – Kritik, Präcision und Penetration – vermahnt und erzogen: in heiterem Ernst, mit freundlicher Strenge, unerschöpflich mittheilend, [259] den Geist anregend und festhaltend, jede Eigenart in ihrer Richtung schonend. Gleich der ersten Reihe seiner Jünger stellte er die wichtige Aufgabe der „Jahrbücher des deutschen Reichs unter dem sächsischen Hause“, die 1837–40 unter seiner Obhut erschienen, worin zum erstenmal das echte Metall der neuen Monumenta Germaniae historisch ausgemünzt und auf den Markt geworfen ward. Ueberhaupt wurden vornehmlich unserem Mitttelalter durch seine Uebungen die so nöthigen Arbeitskräfte zugeführt; direct und später indirect durch die Seminarien seiner Schüler, die an dem seinen ihr Vorbild hatten. Er erlebte noch, daß aus der Ranke’schen Schule schlechthin die deutsche Schule der Geschichte ward. Hier war es ihm nun doch gelungen, woran er als Gymnasiallehrer verzagte, in erster Linie durch Beispiel zu wirken. Mit unverminderter Wärme hielten dann er und diese seine geistige Familie trotz aller Scheidewege des Lebens aneinander fest. In der Theilnahme an ihrem Wesen und Thun blieb er jung und glaubte an die schöne Zukunft seiner Wissenschaft; wenn er auch sonst in späteren Jahren etwa traurig unterschied zwischen den Menschen von ehedem, die in allgemeinen Tendenzen, und den heutigen, die in Fractionsbestrebungen leben.

Eine Scheidung solcher Generationen, soweit sie überhaupt zu vollziehen ist, möchte man vielleicht wenigstens angekündigt sehen durch ein Ereigniß, welches Ranke’s Leben genau in der Mitte theilt: die Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. Der geistvolle Prinz war dem gelehrten Altersgenossen zuerst 1828 auf der Marcusbibliothek zu Venedig mit einer überaus schmeichelhaften Aeußerung über seine „Fürsten und Völker“ persönlich entgegengetreten. Fernere Theilnahme an einander verstand sich seitdem von selbst. Der Kronprinz sah R. von Zeit zu Zeit und bewies sich als ein gnädiger Herr und Gönner; doch hat er ihn in den vertrauten Cirkel seiner Radowitz, Voß und Gerlach, mit denen R. seinerseits ohne Groll verkehrte, nicht gezogen. Als König ernannte Friedrich Wilhelm 1841 R. zum Historiographen des preußischen Staates; ja er ließ ihm durch den Generaladjutanten v. Thiele die Frage vorlegen, ob er geneigt sei, ihm in Sachen der geplanten ständischen Verfassung mit Rath an die Hand zu gehen. Bescheiden lehnte R. ab, da er die nöthige Kenntniß der provinzialen Zustände nicht zu besitzen meinte und überdies von der Vollendung seiner „deutschen Geschichte“ geistig in Anspruch genommen war. Als er diese abgeschlossen, begab er sich im Frühling 1843 auf Urlaub nach Paris, um die Studien über die große Revolution, die er vor sechzehn Jahren in Berlin an den Memoiren und dem Moniteur begonnen, aus den Acten selber zu ergänzen. Aeußere Förderung durfte er sich von der Freundschaft Thiers’ versprechen, der ihm, durch „die Päpste“ gewonnen, bereits vordem in Berlin einen Besuch abgestattet hatte. In der That aufs beste bewillkommnet, auch von Mignet, dem Vorsteher des auswärtigen Archivs, zuvorkommend behandelt, gelangte R. dennoch nicht zur Ausführung der ihm vorschwebenden Idee: den specifisch französischen, keineswegs gemeingültigen Charakter des Weltereignisses von 1789 historisch darzulegen – eine Leistung, die dann vielmehr von dem begabtesten seiner Schüler in glänzender Weise vollbracht werden sollte. Was ihn selber von seinem Ziele ablenkte, war die Auffindung der diplomatischen Berichte des Marquis de Valori über die ersten Jahre Friedrichs des Großen. Von ihrem lebendigen Inhalt ergriffen, verbrachte er seine Zeit größtentheils mit der eigenhändigen Abschrift dieser Papiere, da die Hausordnung des Archivs die Anstellung eines Copisten verbot. Gegen Ende seines Urlaubs aber bereitete ihm das Glück eine noch größere Ueberraschung: an der Schwelle seines funfzigsten Jahres fand er in Miß Clarissa Graves, der Tochter eines Rechtsgelehrten in Dublin, von [260] Mutterseite altadeliger Herkunft, die ihn bereits aus seinen Schriften verehren gelernt – „viel jünger als ich, aber nicht zu jung“ – die ihm bestimmte Lebensgefährtin. So entsagend er von Jugend auf die Einsamkeit als sein Loos zu betrachten pflegte, diesmal fühlte er trotz aller Verspätung frischen Muth, denn er glaubte einer höheren Macht zu gehorchen: „wie konntet ihr nur früher wünschen, daß es geschehen möchte, da das Schicksal es so und nicht anders verhängt hatte!“ Er eilte nach London zur Verlobung, der alsbald die Hochzeit folgte. An der Seite der Gemahlin, welche mit vornehmer Sitte und sanfter Anmuth kirchlichen Sinn und reifes Verständniß für das Wesen des Gatten vereinte, lernte der bewegliche Mann in Freud und Leid einen ungewohnten Lebensfrieden kennen. Schweres Siechthum, das zu völliger, mit der heitersten Geduld ertragener Lähmung führte, entriß sie ihm 1871 vor der Zeit; aber wohlgerathene Kinder und aussprossende Enkel ließen neben dem alten Trost der Arbeit das Gefühl der Verödung in dem greisen Wittwer nicht aufkommen. – Die ersten Jahre nun des befestigten Hausstandes trugen dazu bei, Ranke’s Geist in jedem Sinne mehr in der Nähe zu halten: er wandte sich der preußischen Geschichte zu. Wohl möglich, daß der ihm übertragene Ehrentitel ihn mit dazu angespornt hat; allein der Hauptantrieb ging von jenem Pariser Funde aus. Er erbat und erhielt als der erste die Erlaubniß, das Berliner Staatsarchiv für die neueren Jahrhunderte zu benutzen – auch hier leider hinderlich auf die eigene Hand angewiesen – und verknüpfte mit der genaueren Erkundung der Anfänge Friedrichs II. bis 1755 die Erforschung der vorbereitenden Zeit seines Vaters. So entstanden die „Neun Bücher preußischer Geschichte“, die in drei kleinen Bänden 1847–48 das Licht erblickten. Selten hat ein in jeder Hinsicht ausgezeichnetes Werk ein ungünstigeres Geschick erfahren. Mit den beiden großen Schöpfungen des Meisters konnte und wollte es sich nicht messen; aber es war in seiner bescheideneren Art nicht minder vollendet. Es bot nur einen Ausschnitt aus der Entwicklung der preußischen Monarchie, allein an der universalhistorisch entscheidenden Stelle: die innere und äußere Erhebung des Staates zur europäischen Großmacht bildet sein Thema. Es enthielt die erste geschichtliche Würdigung Friedrich Wilhelms I., welche seitdem das allgemeine Urtheil – am Ende bis zur Uebertreibung – bestimmt hat; es wird nicht minder dem jungen – natürlich nicht dem ganzen – Friedrich dem Großen gerecht. Es entfaltet einen, dem Stoffe einzig angemessenen schlichten, aber echten Glanz; bei durchsichtigster Anlage besitzt es sogar von allen Ranke’schen Schriften die graziöseste Leichtigkeit des Stils. Allein die Mehrzahl der Zeitgenossen verlangte etwas ganz anderes; der Autor hatte ja seine Leser an die größten Gegenstände gewöhnt. Selbst Einverstandene, wie Herr v. Thiele, hatten auf eine Art zweiten politischen Theil der Reformationsgeschichte gerechnet. Es waren die Tage unmittelbar vor der Märzrevolution, Preußens moderne Aufgabe in aller Munde. Das absolute Königthum auf seiner Höhe, seiner nationalen Zukunft noch unbewußt entgegengehend, war ein Bild, das die wenigsten im Publicum anzuschauen begehrten. War doch Friedrich Wilhelm IV. selber erst mit dem dritten Bande, der Friedrich II. in näherer Beziehung zum Reiche zeigt, recht zufrieden: nun eben werde das Buch ganz deutsch. Indem brach der Sturm des Aufruhrs gegen den schwärmerischen Erben der Krone Friedrichs los und verwehte mit den altpreußischen Erinnerungen für geraume Zeit jede Spur des Ranke’schen Werkes.

R. war tief verstimmt: wie er die Welt verwöhnt hatte, so war er selbst bisher durch immer steigenden Beifall von ihr verwöhnt worden. Dazu gesellte sich im ersten Augenblick Bestürzung und hernach Bekümmerniß über die unerwartet schwere Katastrophe des Vaterlandes. Niemand war weniger angelegt auf [261] offenen Kampf in wilder Zeit, als er: standhaft wies er jede Zumuthung von der Hand, sich abermals an der publicistischen Erörterung zu betheiligen; doch hat er im stillen redlich das Seine zur Wiederaufrichtung, vorzüglich des Königs selber beizutragen gesucht. Für den damaligen Flügeladjutanten Edwin Freiherrn v. Manteuffel, mit dem er seit kurzem eine immer wachsende Freundschaft, die engste seines Greisenalters, geschlossen, setzte er vom Mai 1848 bis in den Januar 1851 eine Reihe politischer Denkschriften auf, die den Zweck verfolgten, Friedrich Wilhelm IV. mit gutem Rathe zu unterstützen. R. wollte vor allem eine kräftige Politik: Restauration, nicht durchaus Reaction; eine Verfassung, gereinigt von demokratischen Gedanken; Annahme des Kaiserthums; hernach wenigstens Aufrechterhaltung der Union. Er betont aufs entschiedenste Preußens natürliches Recht gegenüber Oesterreich und den Mittelstaaten; noch von Olmütz, ja noch hinterher verhofft er die Erreichung wesentlicher Zugeständnisse. Als dann alles dennoch so ganz andere Wege ging, wußte er sich freilich ruhig darein zu schicken. Er schloß sich der herrschenden Reaction der funfziger Jahre insofern an, als auch ihm die vollständige Bewältigung der revolutionären Tendenzen die Hauptsache war. Er sah den König jetzt öfter und entzog sich nicht der bei näherem Umgang so oft berauschenden Wirkung seiner leider unzweckmäßigen Genialität. 1854 ward er zum Mitglied des erneuerten Staatsrathes ernannt und hat damals über die orientalische Frage, inbetreff deren er historisch so gut zuhause war, wie auch sonst bisweilen in Gutachten und Denkschriften das theoretische Gewicht seiner Ansicht niedergelegt. Praktisch politischen Einfluß vermochte er der Lage der Sache, seiner Stellung und Thätigkeit, vor allem seiner ganzen Natur nach auch zu jener Zeit nicht auszuüben. Das Gespräch mit dem Könige bezog sich nach wie vor mehr auf den Bereich der allgemeinen Cultur. Unter anderem las R. diesem in Abendstunden das nächste seiner großen Werke, die „Französische Geschichte“ vor. – Es entspricht durchaus den jüngsten verstörenden Erlebnissen sowohl, wie den zunehmenden Jahren Ranke’s, daß sich in seiner Geschichtschreibung von 1848 an der Schwerpunkt leise von der Einheit des künstlerischen und des wissenschaftlichen Bestrebens hinweg nach der letzteren Seite herüberschiebt. Indem er dem alten, zuerst während der italienischen Sammelarbeit in ihm entsprungenen Gedanken, auch der neueren Geschichte der beiden großen westeuropäischen Nationen seine Kraft zu weihen, näher trat und in den Jahren 1850–67 den ausdauerndsten Fleiß, daheim wie auf häufigen Reisen zu den Archiven und Bibliotheken in Paris, London und dem übrigen England bis nach Dublin, in Brüssel und dem Haag, dieser Aufgabe widmete: lag ihm von vornherein die Absicht fern, die „französische“ oder die „englische Geschichte vornehmlich im 16. u. 17. Jahrhundert“ in ganzem nationalen Umfang, im Wetteifer etwa mit den einheimischen Autoren darzustellen; zumal da er diesen, ganz besonders den Franzosen, unter allen Umständen ein größeres Talent als uns Deutschen beimaß, den einzelnen Moment in seiner Fülle zu erfassen, in ihm zu leben, in ihn aufzugehen. Ihm kam es auf der einen Seite wiederum zumeist auf Hervorhebung der universalhistorischen Verhältnisse beider Völker oder Mächte an, auf der anderen – und hierin eben liegt die vorwiegend wissenschaftliche Tendenz – auf Berichtigung angenommener Vorstellungen kraft der überlegenen Weite und Schärfe seines eigenen Forscherblicks. „Ich denke“, sagt er eingedenk der undankbaren Aufnahme seiner preußischen Geschichte in der Vorrede zur französischen, „auch ein historisches Werk darf seine innere Regel aus der Absicht des Verfassers und der Natur der Aufgabe entnehmen“. Uebrigens besitzt eben diese „Französische Geschichte“, die in vier Bänden 1852–56 herauskam, gefolgt von einem überaus reichhaltigen Analektenband, noch alle Vorzüge einer männlich beherrschten Kunst der Darstellung. [262] Das feine Gewebe politischer Betrachtung, welches über die gesammte Schilderung gezogen ist, läßt doch die lange Reihe wohlgeformter Gestalten in klarem Ebenmaß der Körperlichkeit, wenn auch in minder gesättigter Färbung erscheinen; ein gewisser Abstand vom Object macht sich in der diesmal mehr von außen einfallenden weltgeschichtlichen Beleuchtung dem deutschen Leser gewiß nicht unangenehm fühlbar. – Mit der englischen Geschichte, die – als das umfangreichste der fertigen Ranke’schen Werke – in sieben Bänden von 1859–68 erschien, hat es dagegen eine etwas andere, eigenthümliche Bewandtniß. Mit Macaulay, den er als Darsteller höchlichst bewunderte, auf dessen eigenstem Gebiete formell in die Schranken zu treten, fiel R. natürlich nicht im entferntesten ein. Und doch bezogen sich die Correcturen, die er durch Mittheilung unbekannter Thatsachen, wie durch neue Auffassung der bekannten vorzunehmen gedachte, nothwendigerweise gerade auf dessen nach der auswärtigen Seite unzulängliche, inbezug auf die inneren Vorgänge einseitig whiggistische Darlegung. Auch R. zielte deshalb von Anfang an, wie er Friedrich Wilhelm IV. gestand, hauptsächlich auf die Revolution von 1688: ihre äußere europäische Bedingtheit und zugleich ihren nach innen wesentlich conservativen Charakter unternahm er seiner historischen Ueberzeugung nach ans Licht zu bringen. Hierdurch bekam seine „Englische Geschichte“, wie sehr er auch gerade in ihr „sein Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen wünschte“, zum erstenmal einen verdeckten Beiklang von politischer Beweisführung, der man freilich mit Unrecht den Vorwurf der umgekehrten Einseitigkeit des Toryismus gemacht hat. Die Begebenheiten des 17. Jahrhunderts zergingen R. infolge dessen, ebenfalls zum erstenmal, wider seine ursprüngliche Absicht etwas in die Breite, weshalb er in späterer Auflage den Titel zu verändern für räthlich hielt. Das ganze Werk, unendlich reich an ebenso gediegener wie neuer historischer Belehrung, nicht selten von großartiger Haltung, ist doch an frischer Vergegenwärtigung des Lebens ärmer als sonst; wie denn den Verfasser selber hie und da die Besorgniß angewandelt hat, den Leser durch Eintönigkeit zu ermüden. Man darf nicht vergessen, daß R. beim Beginn dieser großen Arbeit das sechzigste Jahr, bei ihrem Abschluß das siebzigste hinter sich hatte: gerade zwischen der „Französischen“ und der „Englischen Geschichte“ liegt die Schwelle seines Greisenalters.

Indem er diese überschritt, nahm er darauf Bedacht, der deutschen Geschichtswissenschaft durch eine wichtige Gründung ein ferneres Gedeihen zu verbürgen. Schon 1846 hatte er auf der berühmten Germanistenversammlung zu Frankfurt die Bildung eines großen deutschen Geschichtsvereins anzuregen gesucht, zu dessen ersten Aufgaben die Edition der deutschen Reichstagsacten gehören sollte. Die Ausführung des von allen Seiten gebilligten Planes ward damals durch die Revolution verhindert: jetzt bot sich dazu auf anderem Wege eine bessere Gelegenheit dar. Unter seinen verschiedenen fürstlichen Zuhörern hatte niemand R. ein treueres Andenken bewahrt, als – von 1831 her – König Max II. von Baiern, der für Geschichte überhaupt, vor allem aber für die deutsche ein tiefes und warmes Interesse hegte. Nachdem er 1853 vergeblich versucht, R. persönlich in ehrenvollster Stellung auf die Dauer nach München zu ziehen, lud er ihn wenigstens im Herbst 1854 nach Berchtesgaden zu Gaste und empfing als Gegengabe einen kleinen Cursus weltgeschichtlicher Privatvorträge, die er zu späterem Studium stenographiren ließ. Noch öfters haben sich diese Besuche in den Bergen wiederholt, und R. gewann an dem Könige einen echten Freund, dessen ruhige und ernste Theilnahme an historischen Dingen sich nützlicher erwies, als das phantasievolle Verständniß Friedrich Wilhelms IV. Schon auf den Spaziergängen bei Berchtesgaden war von praktischen Entwürfen die Rede gewesen: [263] bei einem Besuche des Baiernkönigs in Berlin ward dann im Frühjahr 1858 zwischen ihm und R. die von diesem vorgeschlagene Stiftung einer Anstalt zur Pflege deutscher Geschichtsforschung in München verabredet, die im Herbst jenes Jahres nach weiteren Berathungen ebendort als „Historische Commission bei der Akademie der Wissenschaften“ ins Leben trat. R. erhielt in dieser aus hervorragenden Historikern ganz Deutschlands zusammengesetzten Gesellschaft den Vorsitz, den er mit besonderer Freude bei den herbstlichen Versammlungen, so lange ihm seine Gesundheit die Reise verstattete – das letzte mal 1873, einzunehmen pflegte. Stets war er bemüht, die Arbeiten der Commission auf ihrer vornehmen Höhe zu erhalten. Von ihren Unternehmungen sind außer der Herausgabe der Reichstagsacten speciell von ihm in Vorschlag gebracht worden: die „Jahrbücher der deutschen Geschichte“, der umfassende Ausbau jener von ihm hervorgerufenen Jugendarbeit seiner ältesten Schüler, die „Geschichte der Wissenschaften in Deutschland“ und die „Allgemeine Deutsche Biographie“, die er 1877 mit Beiträgen von seiner Hand über Friedrich den Großen und Friedrich Wilhelm IV. beehrte. – Ueberhaupt, während er dergestalt fremde Thätigkeit anregen, in die richtigen Wege leiten, oder überwachen half, blieb er selbst so weit wie jemals davon entfernt, der eigenen zu entsagen. Noch bevor die „Englische Geschichte“ ganz erschienen war, zu seinem funfzigjährigen Doctorjubiläum Anfang 1867, legte er Hand an eine Ausgabe seiner „Sämmtlichen Werke“, die er bis 1881 in 48 Bänden ihrem Ende nahe geführt hat. Treulichst unterstützt von dem Verleger seiner letzten Arbeiten, Carl Geibel, dem Inhaber der Firma Duncker & Humblot, dessen Hingebung er mit väterlicher Freundschaft vergalt, bewies er auch hierbei die eingreifende Fürsorge eines selbst die Außenseite litterarischer Geschäfte klar überschauenden Geistes; alle seine Anordnungen verriethen das nämliche Trachten nach vollendeter Gestaltung, das aus den unzähligen, wieder und wieder umwälzenden stilistischen Correcturen bei der ersten Drucklegung seiner Schriften deutlich erhellt. Das einmal Veröffentlichte wesentlich umzuwandeln, lag dagegen nicht in Ranke’s Gewohnheit: die Gründlichkeit seiner Forschung machte ein derartiges Unternehmen in der Regel ebenso unnöthig, wie es wegen der abgerundeten Kunstform seiner Darstellung schwierig gewesen wäre. Desto häufiger gewährte die Sammlung der Werke Gelegenheit und Antrieb zu mehr oder weniger selbständigen Ergänzungen, Anschlüssen und Nachträgen. Neben längst entworfenen, im Pult zurückbehaltenen, nur noch der letzten Hand bedürftigen Schriften der jüngeren Jahre – wie z. B. den Studien über die Verfassung der venetianischen, biographischen Schilderungen vom Ausgang der Florentiner Republik, einigen weiteren Capiteln über die spanische Monarchie, einer förmlichen Geschichte des Don Carlos – begegnen ganz oder überwiegend neue Arbeiten. So wurden die serbische Geschichte, wie die der Päpste bis in die Gegenwart fortgesetzt; vorzugsweise jedoch wandte sich der Fleiß Ranke’s in dieser Periode seines Schaffens den deutschen und preußischen Dingen zu. Es hängt das wieder mit dem äußeren Umstande zusammen, daß ihm seine hohen Jahre Reisen ins entlegene Ausland nicht mehr rathsam erscheinen ließen: außer dem heimischen Archiv hat er jetzt wohl noch einmal das im Haag, im übrigen nur einige andere deutsche, mit besonderer Freude das nun erst für modernhistorische Forschung zugängliche Wiener wiederholt besucht.

Von den Schriften, welche durch diese Studien ins Dasein gerufen oder wenigstens zur Reife gezeitigt wurden, sind die größeren damals zugleich als eigene Bücher herausgegeben worden. Hohen Werth legte R. selbst auf eine kleinere Arbeit „Zur Reichsgeschichte“ in der Zeit von 1575–1619, wegen der Fülle der darin gegebenen Aufklärung über eine noch verhältnißmäßig wenig [264] bekannte Periode. Den Wünschen des Publicums kam natürlich in reicherem Maß entgegen die gleich danach – 1869 – erscheinende „Geschichte Wallensteins“: das neue Problem, auch einmal eine Biographie in universalhistorischem Geiste zu schreiben, belebte sichtlich den künstlerischen Sinn des alten Meisters, sodaß er hier beinah im Vollbesitz seines früheren plastischen Vermögens erscheint. Fast das Gleiche gilt von der 1873 vollendeten „Genesis des preußischen Staates“, einer wiederum mit welthistorischem Griff emporgehobenen Landesgeschichte. R. ersetzte durch diese vier Bücher brandenburg-preußischer Geschichte, diesmal aus der Tiefe des Mittelalters ansteigend, das einleitende erste Buch seiner älteren Darstellung, um dem vielfältig ausgesprochenen Wunsch einer Ergänzung derselben wenigstens nach rückwärts zu genügen. Er verfuhr dabei nicht ohne Seitenblick auf das inzwischen entstandene, einförmig großartige, abstract politische, schwer genießbare Colossalwerk Droysens; wie denn überhaupt zwischen beiden, seit 1859 neben einander wirkenden Männern ein kühles Verhältniß bestand, das in den Arbeiten des jüngeren bisweilen mit strenger Miene zum Vorschein kommt: bei R. äußerte sich der verhüllte Wetteifer diesmal in dem glücklich verdoppelten Streben nach wohlthuender Lebendigkeit. Schon vorher, 1871, waren zwei andere Schriften ans Licht getreten: das lange vorbereitete Büchlein „Der Ursprung des siebenjährigen Krieges“ ist ausgezeichnet durch die unnachahmliche Meisterschaft, mit der das verwickeltste, Europa, ja den Erdball überziehende Geflecht gleichzeitiger Wechselverhältnisse der Staaten anschaulich auseinandergelegt wird; hingegen läßt das neue zweibändige Werk „Die deutschen Mächte und der Fürstenbund, deutsche Geschichte von 1780 bis 1790“ bei aller altherkömmlichen Gewandtheit eine leise Abnahme jenes historischen Grundvermögens erkennen, zwischen Groß und Klein an Personen und Ereignissen durchgreifend zu unterscheiden. Weit unvollkommener erscheint vom Standpunkt der Geschichtschreibung aus, wie R. selber fühlte, das 1875 ausgegebene Bändchen „Ursprung und Beginn der Revolutionskriege 1791 und 1792“. Der Werth desselben besteht in dem echt wissenschaftlichen Verlangen, das Urtheil über diese Begebenheit aus dem Streit der – zwischen Preußen und Oesterreich getheilten – Parteien herauszuheben; die einst unfertig abgebrochenen Studien über die Vorgänge in Frankreich selbst haben hierbei in einer, jedoch nur matten „Ansicht der französischen Revolution“ ihren Platz gefunden. Es versteht sich, daß solche Ausstellungen ihren Maßstab immer von den früheren, höchsten Leistungen des großen Autors hernehmen: an sich betrachtet würden die Schriften dieser späten Periode allein hinreichen, dem tüchtigsten Historiker einen ungewöhnlichen Namen zu erwerben. Auch ist ihre staunenswürdige Summe nicht einmal mit dieser Aufzählung erschöpft: unerwartete äußere Anlässe führten R. zu zwei weiteren Productionen, in denen er sich von der neuen Seite eines erläuternden Herausgebers darstellt. Im Jahre 1877 entledigte er sich nach längerem Bemühen des hohen Auftrags, die „Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg“ zu veröffentlichen. Er begleitete dieselben in zwei stattlichen Bänden mit einer anziehenden biographischen Einleitung, sowie mit einer an Thatsachen und Gedanken reichen, allerdings auch ziemlich blutleeren hochpolitischen Darlegung der Geschichte des preußischen Staates von 1793–1813, durch die eine reine Anerkennung der unsterblichen Verdienste des großen Ministers erst möglich ward. Geringer sowohl an Umfang, als an wissenschaftlicher Bedeutung, aber weit charakteristischer für den Verfasser ist die ältere Publication – von 1873 – „Aus dem Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen“: hier werden die Briefe des Königs von einem verbindenden Commentar des überlebenden historischen Freundes umgeben und getragen. Durchaus überzeugend wird die Handlungsweise des Monarchen aus der inneren [265] Consequenz seines treffend geschilderten Wesens heraus begreiflich gemacht; daß indessen damit, wie R. sich schmeichelte, bereits eine unparteiische geschichtliche Würdigung seines Helden gegeben sei, werden die wenigsten annehmen. Der Widerspruch, auf den er gefaßt war, ist nicht verstummt: er betrifft die historische Hauptfrage, ob das Regiment Friedrich Wilhelms mehr als die negative, oder, wie R. unerschütterlich des Glaubens blieb, als die positive Grundlage der nach ihm eintretenden wunderbaren Erfolge der preußischen Staatskunst anzusehen sei.

Diese Abweichung im Urtheil über die jüngste Vergangenheit verhinderte übrigens den greisen R. nicht an dem frohesten Mitgenusse der herrlichen Gegenwart. Er legte einen besonderen Ton darauf, daß mit den preußischen Siegen von 1870 der achtzigjährige Kampf zwischen dem revolutionären und dem conservativen Europa zugunsten des letzteren entschieden sei. Hierüber vergaß er jedoch die nationale Seite der gewaltigen Schicksalswendung keineswegs. Im October jenes Jahres wies er bei der Begegnung mit dem alten Freunde Thiers in Wien dessen vorwurfsvolle Frage, mit wem denn Deutschland nach dem Sturze Napoleons III. noch Krieg führe, durch die schlagende Antwort ab: „mit Ludwig XIV.“. Ja, nicht Straßburg allein, auch Metz, den Anfang unserer Verluste, verlangte er im Namen der historischen Gerechtigkeit aufs entschiedenste zurück. Er hätte weinen mögen, wenn er den ungeheuren Umschwung der Dinge bedachte: „das kleine Brandenburg und das große Frankreich!“ Es ward ihm zum Bedürfniß, seine eigenen Werke, deren innerer Ursprung doch so fern von jeder Rücksicht auf die Fragen des Tages zu suchen ist, wenigstens in Bezug auf ihr äußeres Erscheinen in eine gewisse Verbindung mit so ergreifenden Erlebnissen zu setzen. Mit der Vollendung seiner Schrift „über den Ursprung des siebenjährigen Krieges“ brachte er 1871 ausdrücklich den großen Ereignissen und Handlungen des letzten Jahres seinen Tribut. Seine ganze Entwicklung von Jugend auf, sein gesammtes Schaffen stellte sich ihm jetzt bei gelegentlicher Rückschau in engerer Beziehung zum öffentlichen Leben dar, als sie in der That bestanden hatte; selbst den Entschluß zu seiner letzten Riesenarbeit, zu dem Unternehmen einer wirklichen „Weltgeschichte“, rechtfertigte er vor sich und anderen vorzüglich durch die Bemerkung, daß sich in Folge der jüngsten Entscheidungen eine universale Aussicht für Deutschland und die Welt überhaupt eröffnet habe, daß nun erst, nach der Niederlage der revolutionären Kräfte, eine regelmäßige Fortentwicklung gesichert, mithin ein unparteiischer Rückblick auf die früheren Jahrhunderte gestattet, eine Weltgeschichte im objectiven Sinne möglich sei. Trotzdem waren es wohl auch hier im wesentlichen individuelle Beweggründe, welche ihn zum Handeln bestimmten: ein Zusammentreffen seiner inneren Neigung mit seiner äußeren Lage. – „Alter ist an und für sich Einsamkeit“, schrieb der Achtziger in sein Tagebuch; aber mancherlei wirkte dahin, die Abgeschiedenheit seiner letzten Jahre noch schärfer auszugestalten. Im Herbst 1869 hatte ihn in München ein Blasenleiden befallen, das ihn seitdem mit häufigen, nach und nach fast beständigen Schmerzen heimsuchte; wiederholt befürchtete man eine ernstliche Gefährdung seines Lebens, gewiß ward die zähe Kraft seines Körpers immer merklicher dadurch angegriffen. Seit 1874 wagte er nur noch kleinere Ausflüge, am liebsten nach Lodersleben bei Querfurt, auf das Gut seines Schwiegersohns, des Rittmeisters v. Kotze, wo er – wenige Stunden von Wiehe entfernt – das Andenken seiner Kindheit mit sinnvollem Behagen erneuerte; die letzte Sommerfrische fand er 1877 in Topper bei Frankfurt an der Oder, als Gast seines nun so hoch gestiegenen Freundes Manteuffel, des Statthalters von Elsaß-Lothringen. Um die leidende Gemahlin zu erfreuen, hatte R. noch in den sechziger Jahren sein Haus im [266] Winter allwöchentlich einer glänzenden, durch Musik belebten Geselligkeit erschlossen. Nach ihrem Hinscheiden im Frühling 1871 ward es gar still um ihn; wie zuvor die Tochter, so beschritten bald auch die Söhne, der ältere als Geistlicher, der jüngere als Officier ihren eigenen Lebenspfad. Doch hat es ihm, anders als Humboldt, an wahrhaft uneigennütziger Pflege bis zum letzten Athemzuge nie gefehlt; freilich blieben, von den Forderungen seiner Gebrechlichkeit abgesehen, seine persönlichen Ansprüche, wiewohl ihm seine Schriften ein Vermögen erwarben, höchst bescheiden. Gerade, als er Wittwer ward, gab er überdies seine Vorlesungen auf, und von nun an gehörte sein Tag fast ausschließlich der gelehrten und schriftstellerischen Arbeit, die auch außer jenem quälenden Leiden mit eigenthümlichen Schwierigkeiten verbunden war. Die Abnahme seiner Sehkraft erheischte sorgfältige Schonung, sodaß er – ebenfalls seit 1871 – auf eigenes Lesen und Schreiben sogut wie gänzlich verzichten mußte. Er bediente sich deshalb von da an regelmäßig zweier wissenschaftlicher Gehülfen, junger Historiker, von denen der eine vier bis fünf Vormittagsstunden, der andere ebensolange vom Abend bis in die Nacht ihm beim Forschen und Bilden an die Hand zu gehen hatte. Die Zwischenzeit füllte der auch jetzt noch, wenn es irgend anging, täglich in Begleitung eines Dieners schweigsam unternommene Spaziergang in den geliebten Thiergarten – von jeher die Ringstätte seines Nachdenkens und seiner Einbildungskraft –, sodann nach der Mahlzeit ein Mittagsschlaf und der seltene Empfang befreundeter oder vornehmer Besuche. Ranke’s Assistenten hatten beim Nachschreiben – er dictirte unaufhaltsam, stehend an den Stuhl gelehnt – sowie bei der Benutzung seiner colossalen, jedoch grundsätzlich ungeordneten Bibliothek kein bequemes Dasein; selber nicht frei von Eigenheiten, war er zudem gegen fremde nicht gerade duldsam: die geringste Witterung von Tabak war ihm jederzeit unerträglich. Wie reich aber entschädigte für alles die hervorschimmernde Güte seines Herzens, und zumal der erhebende Anblick einer Geistesmacht, welche aller leiblichen Pein und Sorge, jeder Störung und Reibung, wie sie von einem derartigen Arbeitsverhältniß unzertrennlich waren, aufs gewaltigste Herr zu werden wußte!

Unter solchen Umständen erregt die Fülle und Trefflichkeit jener aus den Jahren seit 1871 stammenden Leistungen vornehmlich zur preußisch-deutschen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts zwiefache Bewunderung. Allein auf die Dauer ließ sich ein auf wesentlich neue, freie Forschung gegründetes Hervorbringen in dieser Weise nicht fortführen. Und genügte nicht am Ende, um dem dennoch unbezwinglichen Schaffensdrange zu willfahren, eine fleißige Einkehr bei sich selbst, ein Zurückgreifen auf die Summe der im Laufe von nahezu sechzig Jahren bereits erworbenen historischen Kunde? In diesem Sinne trug sich R. öfters mit dem Plane, Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens aufzuzeichnen, welche zugleich die allgemeine Bewegung des 19. Jahrhunderts, dies äußerlich selbstgeschaute Stück der Weltgeschichte, wiederspiegeln sollten. Zuguterletzt aber entschied er sich doch für eine andere, mehr nach innen gerichtete Art nachprüfender und abrechnender Wiederholung seines thätigen Daseins. Universalhistorie schlechthin, in ihrem ganzen Umfang, hatte vom ersten Erwachen seines geschichtlichen Sinnes an den eigentlichen geistigen Gehalt seines Lebens ausgemacht. Jede seiner bisherigen Schriften durfte so oder so für einen wichtigen Beitrag zur Erkenntniß der Weltgeschichte gelten; diese selbst, den erhabensten aller Gegenstände, hatte er dagegen nur in seinen Vorträgen unmittelbar darstellend behandelt. Es war eine letzte litterarische Großthat, der würdigste und natürlichste Abschluß gerade seiner Historiographie, wenn er es jetzt unternahm, auf Grund seiner Hefte, seiner Studien überhaupt, zugleich jedoch mit Rücksicht auf die gesammte neueste Forschung anderer und vor allem in steter frischester Berührung [267] mit den Quellen selbst, jene Mär der Weltgeschichte, die er schon als Jüngling aufzufinden getrachtet, mit dem beschaulichen Antheil reifster Lebensweisheit zu erzählen. – Im Sommer 1879, inmitten seines vierundachtzigsten Jahres, nahm R. das Werk mit vollem Ernst in Angriff. Weihnachten 1880 erschien der erste Doppelband der „Weltgeschichte“, dem in jährigem Abstand, als regelmäßiges Festgeschenk für das deutsche Publicum, bis 1885 noch fünf andere, ungefähr ebenso starke Theile folgten. Sie führten die Darstellung von den Urzeiten bis auf den Tod Kaiser Otto’s des Großen herab; während zahlreiche litterarhistorische Anhänge von dem immer gleich regen kritischen Bestreben des Autors Rechenschaft ablegten. Die allgemeine Geschichte der modernen Jahrhunderte dachte dieser, da sie bereits in der Masse seiner Hauptschriften enthalten war, nur etwa in dem raschen Ueberblick einer groß angelegten Schlußbetrachtung neu zu vergegenwärtigen; desto mehr jedoch kam es ihm darauf an, noch den Ausgang des Mittelalters in ausführlicher Schilderung zu erreichen. Einzig um deßwillen hegte er den innigen Wunsch, ja das ungestüme Verlangen nach ein paar ferneren Lebensjahren: er sagte wiederholt, er habe darüber einen Pact mit Gott gemacht. Mit ahnungsvoller Ungeduld, im heldenmüthigsten Kampfe mit der Natur, dictirte der Neunziger während der ersten Monate des Jahres 1886 eine Reihe weiterer Capitel bis ans Ende des elften Jahrhunderts, die nach seinem Tode als siebenter Band herausgegeben wurden. Noch auf dem Sterbelager selbst gehörten seine letzten lichten Gedanken dem geliebten Buche, von dem zu scheiden seinem sonst so frommen Gemüthe schwer gefallen ist. Der pietätsvolle Versuch, der Weisung des Entschlafenen gemäß die noch fehlenden Partien aus seinen nachgelassenen Heften zu ersetzen, konnte selbstverständlich den erlittenen Verlust nicht völlig ausgleichen. – Es bedarf nicht erst der Erklärung, daß auch abgesehen von ihrem unvollendeten Zustande Ranke’s „Weltgeschichte“ an die Meisterstücke seines Mannesalters nicht hinanreicht: nichtsdestoweniger bleibt sie ein großartiges, durchaus eigenthümliches Werk. Es ist ganz, was er immer wollte: Darstellung der wirklichen Begebenheiten, auf welchen der historische Zusammenhang des allgemeinen Völkerlebens beruht, geschöpft aus den Berichten der erzählenden Quellen, mit begleitender Rücksicht auf die übrigen Denkmäler von litterarischem Charakter. Jedes Zeitalter tritt in seiner selbständigen Bedeutung hervor; die Entwicklung, die von dem einen zum anderen überführt, ist eine Erbfolge des Daseins, keinem vermeintlich höheren Denkgesetz unterworfen. R. will auch hier noch immer nur zeigen, wie es eigentlich gekommen und gegangen; auf metaphysische Fragen nach dem Verhältniß von Freiheit und Nothwendigkeit, von wirkender Kraft und leitendem Zweck in dem historischen Geschehen giebt sein Weltbild ebensowenig bestimmte Antwort, wie die Welt selber. Die Betrachtungen, die er allerdings, wie überhaupt in seinen späteren Schriften in zunehmendem Maße, so hier am häufigsten der Erzählung einflicht, wiederholen eigentlich bloß, bisweilen ermüdend, in abstracter Form das concret Dargestellte; sie machen auf den typischen Werth der einzelnen Erscheinung, auf die Menge und Größe der Folgen eines besonderen Ereignisses, auf Höhe- und Wendepunkte der Begebenheit aufmerksam, ohne doch dabei den Kreis echt realhistorischer Ideen irgend zu überschreiten. Die Kraft der Gestaltung, der Glanz der Färbung erscheint natürlich sehr ungleich, da jugendlich Lebendiges – bis zu den antik classischen Eindrücken der Studentenjahre, ja der Schulzeit hinauf – dicht neben greisenhaft Bedächtigem auftritt. Die Energie der Forschung ist dagegen im Anlauf noch immer geradezu wunderbar; dann und wann verräth sich sogar ein ausschreitendes Streben nach neuen, von dem Hergebrachten abweichenden Ergebnissen. Daß dies Bemühen mitunter mißlingt, daß – zumal in den Analekten – selbst erhebliche Irrthümer zu [268] Tage kommen, ist nur zu begreiflich, wenn man sich die unaussprechliche Schwierigkeit einer allein auf das Ohr angewiesenen vergleichenden Quellenkritik vor Augen stellt.

Nach alledem wird man sagen dürfen, daß Ranke’s „Weltgeschichte“ sich der Summe seiner übrigen Leistungen würdig zugesellt, daß indessen sein unvergleichliches Verdienst um die Universalhistorie überhaupt doch besser aus der Gesammtheit seiner Werke zu erkennen ist, als aus diesem einzelnen ihr speciell gewidmeten Buche. Auch hierin erinnert dasselbe, wie in so manchem Betracht, merkwürdig an Humboldt’s „Kosmos“, dessen erste, einem etwas frischeren Alter entsprossene Bände an litterarischem Kunstwerth unzweifelhaft höher stehen, während die letzten, ebenfalls das Product eines länger als achtzig Jahre thätigen Denkvermögens, der Ranke’schen „Weltgeschichte“ den Vorrang lassen müssen. Das Publicum nahm die eine wie die andere dieser Schöpfungen mit einer – R. gegenüber fast überraschenden – Massenbegeisterung auf, deren Wurzel jedenfalls zumeist in der Ehrfurcht vor der sittlichen Größe einer solchen That zu suchen ist. Längst freilich war auch sonst jede Einrede wider den Genius unseres Meisters verhallt, das Mißverständniß seines Wollens und Vollbringens hatte sich allerorten in freudige Zustimmung verwandelt. Die Mitwelt mochte sich nun von der Nachwelt in der Aeußerung dankbarer Anerkennung nicht beschämen lassen; wie sich gebührte, ging die Huld des neuen Herrschers einsichtig darin voran. An König Wilhelm glaubte R. eine mehr, wenn man so sagen dürfe, nach der Linken hingewandte Richtung wahrzunehmen: er gestatte der öffentlichen Meinung einen größeren Einfluß; auf dieser leichten Wendung beruhe dann die weitere Entwicklung der Welt seit dem Ausgang Friedrich Wilhelms IV. Der König seinerseits verlieh schon 1865 seinem Staatshistoriographen den erblichen Adel, den der Beschenkte durch den selbsterkorenen Wappenspruch Labor ipse voluptas sinnig zu verklären wußte. Zwei Jahre darauf ward R. an Stelle des verstorbenen Cornelius zum Kanzler der Friedensclasse des Ordens pour le mérite erhoben; 1882 erhielt er als Wirklicher Geheimrath das Prädicat Excellenz; die Stadt Berlin ertheilte ihm 1885 ihr Ehrenbürgerrecht. Zahllos waren die Huldigungen gelehrter Körperschaften und Vereine, die Ehrenbezeigungen deutscher und fremder Staatsoberhäupter. R. betrachtete diesen Schattenriß seines Verdienstes mit Wohlgefallen; für den Reiz des Ruhmes war er nicht unempfänglich; auf der Höhe fürstlichen Umgangs fühlte er sich durch den Standpunkt seiner Geschichtschreibung gewissermaßen heimisch. Allein wie so ganz anders ging ihm doch das Herz auf, wenn er an einem seiner vielen amtlichen Gedenktage oder persönlichen Jubelfeste im Kreise der Berufsgenossen, von der frohen Rührung so vieler Schüler und Verehrer umringt, zu einer gedankenvollen Ansprache über Wesen und Ziel, Vergangenheit und Zukunft der historischen Wissenschaft und Kunst das Wort ergriff! Dann blickte er selbst wie ein greiser Herrscher über sein Reich, befriedigt und gütig, auffordernd voller Zuversicht. Insbesondere bewegte die Feier seines neunzigsten Geburtstages die Zeitgenossen zu wärmster Theilnahme. Nicht minder lebhaft war die Sorge, welche nun doch so unerwartet bald darauf die Nachricht erregte, daß seine Lebenskräfte zu schwinden begönnen. Allgemein endlich war die Betrübniß über seinen schweren Todeskampf, die Trauer über seinen Hingang, das Gefühl der Einzigkeit seiner scheidenden geistigen Erscheinung. – R. steht neben Niebuhr da als der Goethe neben dem Lessing unserer historischen Muse; für einen Schiller der deutschen Geschichtschreibung, den er noch erleben und mit wachsendem Beifall begrüßen sollte: für die Machtentfaltung einer vom edelsten vaterländisch-politischen Schwung ergriffenen Seele, einer hochherzig hinreißenden Beredsamkeit, hat er selber Raum gelassen. Wer freilich wollte Stellung und Wirkung des [269] Historikers mit der des Dichters an und für sich vergleichen? Trotzdem wird niemand leugnen, daß Ranke’s Genius in der That mehr als einen Zug mit der Eigenart des Goethe’schen Geistes gemein habe. Da ist Größe, die mit Anmuth einhertritt; Tiefe, hinter Leichtigkeit verborgen; reinste Gegenständlichkeit, überall ohne Trübung umflossen von derselben durchsichtigen Individualität der Auffassung und Darstellung; Fülle und Vielseitigkeit des Hervorbringens in frühen und späten Lebenstagen; ein nach allen Seiten ins Unendliche der Menschennatur verlaufender Gesichtskreis; lauter Liebe zur Wirklichkeit, eine fast bis zur Religion erhöhte Stimmung der Weltfreude. Gerade in dieser letzten Hinsicht hat der große Geschichtschreiber ohne Zweifel den mächtigen Einfluß des gewaltigen Poeten auf die heutige Gesinnung unserer Nation an seinem Theil verstärkt: Ranke’s Werke bieten nach der Seite des öffentlichen Lebens hin eine genau anschließende Ergänzung der Goethe’schen Weltanschauung dar. Für solche Wirkung kommt es auf die Ausdehnung des Kreises unmittelbarer Leser nicht allzusehr an; zumal da das Beispiel des Meisters auch in dieser Beziehung seiner Schule, d. h. der deutschen Geschichtswissenschaft überhaupt die Wege wies. Noch wesentlicher ist, daß auch für die Zukunft Ranke’s Werke, dank der methodischen Sicherheit und scharfsinnigen Klarheit seiner Forschung, eine auch der höchsten historischen Kunst nur unter solcher Bedingung verbürgte classische Unsterblichkeit zu gewärtigen haben. –

Vorstehender Versuch gründet sich in erster Linie auf ungedruckte Briefe Ranke’s, sowie auf einige autobiographische Dictate seiner letzten Jahre, von denen eines, die Jugendzeit bis zur Universität betreffend, in der Deutschen Rundschau, Jahrgang 1887, Heft 7, mitgetheilt worden ist: die Veröffentlichung der übrigen, wie der wichtigsten Briefe in der von dem Unterzeichneten besorgten abschließenden Fortsetzung der „Sämmtlichen Werke“ Ranke’s steht bevor. – Material geben außerdem die Jugenderinnerungen des Bruders Friedr. Heinrich R. (vgl. d. Art.); ferner die als Manuscript gedruckten Schriften: Aus den Briefen Leopold v. Ranke’s an seinen Verleger, Leipzig 1886; Th. Toeche, Leop. v. R. an seinem neunzigsten Geburtstage, Berlin 1886; O. v. Ranke, Zu Leop. v. Ranke’s Heimgang, Berlin 1886; endlich ein Artikel von G. Winter, Erinnerungen an L. v. R., in Nord und Süd, Bd. XXXVIII, S. 204 ff. – Treues Lebensbild in der unterrichtenden akademischen Gedächtnißrede auf L. v. R., gehalten von W. v. Giesebrecht, München 1887, woselbst am Schlusse noch andere gelegentliche Aufsätze namhaft gemacht werden. Die Berliner Gedächtnißrede von H. v. Sybel, Histor. Ztschr. LVI, 463 ff., bietet mehr eine geistvolle Schätzung der inneren Bedeutung Ranke’s dar. Noch mehr beschränkt sich natürlich auf diese Aufgabe: F. X. v. Wegele’s Geschichte der deutschen Historiographie, München 1885. S. 1041 ff.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 242. Z. 22 v. o.: Das biographische Material, auf welchem der Artikel Leopold v. Ranke beruht, ist zwei Jahr später (1890) größtentheils in Band LIII/IV seiner Sämmtlichen Werke unter dem Titel „Zur eigenen Lebensgeschichte“ veröffentlicht worden. Mannichfache Ergänzungen sind seitdem hinzugekommen, deren Aufzählung indessen zu weit führen würde, zumal sie eine wesentliche Aenderung an dem Gesammtbild nicht zur Folge haben. Nur zwei Mittheilungen von Dr. Hans Helmolt verdienen eine eingehende Erwähnung. In der Beilage der Münchener Neuesten Nachrichten v. J. 1908, Nr. 47, S. 442 werden „Name und Geburtstag des größten deutschen Geschichtschreibers“ von ihm besprochen. Zunächst bemerkt er, daß die bei den Vorfahren überwiegende unorganische Schreibung des Familiennamens mit ck auch von Leopold selbst in seiner Jugend gebraucht worden ist. So hat dieser noch die Abhandlung „de tragoediae indole et natura“, womit er sich in der üblichen Form von der Landesschule Pforta unterm 2. April 1814 verabschiedete, eigenhändig als „Franciscus Leopoldus Rancke“ abgefaßt und eingereicht. Sodann publicirt Helmolt die schon vordem besprochene Eintragung der Geburt und Taufe ins Kirchenbuch zu Wiehe. Sie lautet:

    „Anno 1795. … 41) H[errn] Gottlob Israel Ranke, Churfürstl. Advocat und Kaiserl. Notario Ein Sohn nat[us] 20. December, ren[atus, d. h. getauft] 26. ej[usdem] Franz Leopold. [Pathen :] 1. H[err] M[agister] Johann Heinrich Israel Ranke Past[or] senior aus Ritteburg. 2. H[err] Johann Friedrich Wilhelm Lemicke, Erblehn- und Gerichtsherr aus Weidenthal bei Querfurt. 3. Fr[au] Maria Magdalena Elisabeth Sophie Rothnasin, des H[errn] Bürgermeister Rothnas aus Nebra Fr[au] Eheliebste.“

    Nichtsdestoweniger bleibt die Thatsache bestehen, daß nach stetiger Annahme der Seinen Ranke’s Geburtstag der 21. December gewesen ist. Der Widerspruch läßt sich nicht heben; nur so viel läßt sich sagen, daß man dem kaiserlichen Notarius einen Irrthum im Datum der Geburt seines Erstgeborenen gewiß nicht eher zutrauen darf, als dem buchführenden Geistlichen in der Ermüdung nach dem Weihnachtsfest. Allein der mitgetheilte Text ist in anderer Hinsicht lehrreich. Ranke’s Vornamen Franz Leopold – bis 1822 unterschreibt er sich Unvertrauten gegenüber mit dem Doppelnamen – müssen entschieden befremden, da sie uns weder bei den früheren Vorfahren begegnen, noch von einem der Pathen, der beiden Großväter, entlehnt sind. Der bisher unbekannte Umstand, daß der Vater den Titel eines kaiserlichen Notarius führte, legt nun die Vermuthung nahe, daß er in dankbarer Erinnerung an den Verleiher, Kaiser Leopold II., seinem ersten Sohne den Namen Leopold gegeben; den in so lutherischer Umgebung noch auffallenderen Namen Franz mochte er aus Artigkeit gegen den regierenden Kaiser hinzufügen. Ranke’s Vornamen bewahrten somit historisch ein ehrerbietiges Andenken an die letzten Zeiten des untergehenden alten Reichs.

    Und nicht so rasch und unbedingt, wie man bisher annehmen mußte, ist er mit dem Kern des werdenden neuen Reichs, dem preußischen Staate, herzlich verwachsen. Hier setzt eine frühere Mittheilung Dr. Hans Helmolt’s ein, die er unter der Ueberschrift „Ein merkwürdiger Brief Leopold Ranke’s“ in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung v. J. 1907, Nr. 106 S. 253/54 gemacht hat. Der dort gedruckte Brief war längst im Cimeliensaal der Münchener Hof- und Staatsbibliothek öffentlich ausgestellt, aber nie beachtet worden. Ranke schrieb ihn am 28. April 1822 als Oberlehrer in Frankfurt a. O. an Friedrich Thiersch in München. Aufs lebhafteste führt er darin Beschwerde gegen eine Maßregel der damaligen Reaction: „Die Unterdrückung der Lehre und der Lehrer ist in preußischen Landen mit dem Edict vom 12. April auf so hohen Punkt gestiegen, daß ein gewissenhafter Mann ihr entfliehen muß.“ Der preußische Staat habe ihn einst von Leipzig nach Frankfurt berufen. „Er bricht aber den Vertrag, den ich mit ihm auf ein früheres Gesetz geschlossen … es ist unerträglich, in einem Staat zu wohnen, der den moralischen Grund, auf dem er ruht, unter seinen Füßen weghebt, und nun erst bestehen zu können meint. Er ist nicht wesentlich mein Vaterland: ich habe keine Verpflichtung gegen ihn.“ Sachsen sei mit seinesgleichen erfüllt, darum bittet er um eine Anstellung in Baiern – „um Deutschlands willen, das in seiner Zerstückelung den einigen Trost gehabt hat, daß wer hier flieht, dort aufgenommen wird.“ Es bleibt danach wahr, daß Ranke – wie Bd. XXVII, S. 245/46 gesagt worden ist – ohne sonderliche Gemüthsbewegung oder irgendwelchen Vorbehalt der sächsischen Erde den Rücken kehrte. Den Proceß seiner Einbürgerung in den deutschen Großstaat aber haben wir uns doch langsamer vorzustellen; vor der Hand hatte sein lebendiges Nationalgefühl einen politisch neutralen Charakter. Erst in Berlin ist er dann zum Preußen geworden. [Bd. 55, S. 891–893]