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ADB:Winterfeld, Karl von

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Artikel „Winterfeld, Karl von“ von Robert Eitner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 43 (1898), S. 490–492, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Winterfeld,_Karl_von&oldid=- (Version vom 24. Dezember 2024, 17:40 Uhr UTC)
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Band 43 (1898), S. 490–492 (Quelle).
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Winterfeld: Karl Georg August Vivigens v. W., ein um die Erforschung der Musikgeschichte verdienter Historiker, geboren am 28. Januar 1784 zu Berlin, † ebendort am 19. Februar 1852. Seine Schulstudien machte er in der Hartung’schen Privatschule, dann auf dem grauen Kloster in Berlin, studirte darauf in Halle Jura, wurde 1811 Kammergerichtsassessor in Berlin und 1816 Oberlandesgerichtsrath in Breslau. Seine Neigung zur Musik, die er stets neben seinem Fachstudium, anfänglich unter Professor Schaaf’s Leitung, dann als Mitglied der Singakademie gepflegt hatte und die sich vorzugsweise der alten Gesangsmusik des 16. und 17. Jahrhunderts zuneigte, erhielt eine reiche Nahrung auf einer Reise durch Italien, die er im J. 1812 unternahm. Auf den dortigen Bibliotheken mit ihren reichen Schätzen an Werken der beiden genannten Jahrhunderte sammelte und copirte er zahlreiche alte Tonsätze, schon damals mit diesem Plane umgehend, über die beiden Gabrieli eine Monographie abzufassen. Als er dann nach Breslau versetzt wurde, fand er dort eine überraschend reiche Ausbeute alter Tonsätze aus beiden Jahrhunderten, die sich auf Kirchenböden, in dem Gymnasium und der Universität vorfanden. Hier wurden die in Italien begonnenen Studien und die Spartirung der Tonsätze aus den Stimmbüchern der alten Drucke fortgesetzt, so daß ihm schließlich ein Vorrath von 103 dicken Foliobänden in quer Folio zur Verfügung stand. Mit einer zierlichen und sehr sauberen Handschrift ausgestattet, die sich dann sein Diener in einer Weise aneignete, daß dessen Handschrift von der seines Herrn kaum zu unterscheiden ist, bilden diese 103 Bände, die sich jetzt auf der kgl. Bibliothek zu Berlin befinden, ein unschätzbares Material. Auf dieses Material sich stützend, begann er seine musikhistorischen Themen auszuarbeiten. Um Winterfeld’s Leistungen im Fache der Musikgeschichte richtig zu beurtheilen, muß man in Betracht ziehen, auf welchem Standpunkte die Musikforschung im Anfange unseres Jahrhunderts sich befand und was er an Vorarbeiten vorfand. Forkel’s Geschichte der Musik schließt mit dem Anfange des 16. Jahrhunderts ab, Peter Martini’s Arbeit endet in noch früherer Zeit, die beiden englischen Geschichtswerke von Hawkins und Burney sind für die englische Kunstentwicklung von großem Werth, doch über diejenige auf dem Continent ganz unzulänglich. An bibliographischen Vorarbeiten existirte nur Forkel’s Allgemeine Litteratur der Musik und die alten wenig brauchbaren Kataloge von Gesner, Draudius, Swertius u. A. Biographische Vorarbeiten waren noch am besten durch Jöcher, Walther, Gerber, Mosel u. s. w., und einige über einzelne Städte und Länder vertreten. Es gehörte eine ungeheure Arbeitskraft dazu, das zerstreute Material zu sammeln und zu sichten, ganz abgesehen davon, daß es an archivalischen Arbeiten gänzlich fehlte. Man mußte eben Alles auf Treu und Glauben hinnehmen. Wenn man dies alles in Berücksichtigung zieht, so sind die Arbeiten Winterfeld’s nicht hoch genug anzuschlagen. Leider litt W. an dem Fehler der Geheimnißkrämerei, doch theilte er den Fehler mit seinen älteren Vorbildern und seinen unmittelbaren Vorgängern und Zeitgenossen. Bei W. geschah es aber nicht unbewußt, sondern absichtlich und selbst seine nächsten Freunde erfuhren nie, aus welchen Quellen er schöpfte. Nicht die Absicht zu täuschen, sondern die Furcht, daß seine Quellen von Anderen ausgenützt werden könnten, bewog ihn zu dem wenig wissenschaftlichen Verfahren. Erst nach seinem Tode, als Professor Frz. Commer in den Besitz eines Theiles seiner Bibliothek gelangte, besonders seiner handschriftlichen Vorarbeiten (mit Ausschluß jener 103 Bände Partituren) lernte der Schreiber dieser Zeilen dieselben kennen und überzeugte sich, mit welcher Sorgfalt und Unermüdlichkeit W. aus den Bibliotheken gearbeitet hatte, und wie er stets bemüht [491] war, die Quelle anzugeben. „Johannes Gabrieli und sein Zeitalter. Zur Geschichte der Blüthe heiligen Gesanges im 16., und der ersten Entwicklung der Hauptformen unserer heutigen Tonkunst in diesem und dem folgenden Jahrhunderte, zumal in der Venedischen Tonschule“ (Berlin 1834), war sein erstes, durch den Druck vewielfältigtes Werk. Es besteht aus zwei Bänden Text in 4° und einem Foliobande Partituren, im Ganzen 587 Seiten. Die Breite und Umständlichkeit, nebst der an den früheren Gerichtsstil erinnernden Ausdrucksweise, verkümmern in hohem Maße den Genuß an seinen sämmtlichen Arbeiten. Sein Stil ist so geschraubt und verklausulirt, daß man oft Mühe hat, den eigentlichen Sinn zu erkennen. Dennoch muß man ihm zugestehen, daß er seine Quellen, die uns heute alle zur Verfügung stehen, vortrefflich ausgenützt hat. Mit seinem Urtheile kann man heute nicht mehr überall übereinstimmen, nachdem unsere Kenntnisse jener Zeit und ihrer Leistungen sich so bedeutend erweitert haben, doch wird er stets als Führer anerkannt werden müssen, der die Musikgeschichte aus dem Nebellande der Vermuthungen auf ihren thatsächlichen Zustand und ihrer Fortbildung entgegen geführt hat, und dieses Verdienst wird ihm stets unter den Musikgelehrten einen ehrenden Platz sichern, soviel auch neuerdings seine Urtheile mit Recht angegriffen werden.

W., der inzwischen 1832 als Geheimer Obertribunalsrath nach Berlin versetzt war, gründete sich in Berlin in der damals noch unbebauten Köthener Straße vor dem Potsdamerthore ein eigenes Heim. Hier versammelte sich allwöchentlich ein kleiner auserwählter Gesangschor, mit dem W. die alten Tonwerke einübte, mehr zum eigenen Studium, als damit Propaganda für die alten Meisterwerke zu machen. Nach Vollendung obiger Arbeit ging er an sein nächstes Werk: „Der evangelische Kirchengesang und sein Verhältniß zur Kunst des Tonsatzes“ heran. Das dreibändige umfangreiche Werk gibt ein beredtes Zeugniß von seinen gründlichen Quellenstudien. Es war für damalige Zeit (Leipzig 1843–1847) ein wahrhaft monumentales Werk und kann mit Recht als Grundstein der modernen Musikgeschichtsforschung genannt werden, denn es schreibt den Historikern genau den Weg vor, den sie zu gehen haben: Bei jedem neuen Abschnitte gibt er zuerst die ausführlichste Beschreibung der einschlägigen alten Werke, zieht aus ihnen die biographischen Daten und amtlichen Stellungen der Meister, theils aus dem Wortlaute des Titelblattes, theils aus den Dedicationen, Vorreden, Gedichten und was der Druck sonst noch bietet und darauf geht er auf den Inhalt desselben ein, bespricht die einzelnen Autoren, weist von ihnen nach, was sie sonst noch geschrieben haben, beurtheilt ihre Kunstleistungen und fügt dieselben in den Rahmen der Zeit- und Kunstperiode ein. Dies echt historische Verfahren hat W., trotz des großen Umfanges des Werkes, ohne Ermüdung durch das ganze Werk fortgesetzt und dadurch nebst den mehreren hundert Tonsätzen, welche den Text stets begleiten, ein Material nutzbar gemacht, welches allen Späteren von unnennbarem Werthe gewesen wäre, wenn er nur auch die Fundquellen angegeben hätte. Durch diese Versäumniß aber zwang er die Historiker denselben Weg, den er selbst gegangen war, nochmals zu machen, nämlich die damals noch meist ungeordneten Musikbibliotheken durchzustöbern und das Material zu sammeln, theils um Winterfeld’s Angaben zu prüfen, theils noch dunkele Stellen aufzuklären, und so trägt er selbst die Schuld daran, daß sein Werk nach und nach durch andere in den Hintergrund gedrängt wurde, namentlich durch Ed. Em. Koch’s achtbändige Geschichte des Kirchenliedes und Kirchengesanges (3. Aufl. Stuttg. 1866–1877) und durch J. Zahn’s „Die Melodien des deutschen evangelischen Kirchenliedes“ in 6 Bänden, nebst Biographien und Bibliographie mit Quellennachweisen (Gütetsloh 1889–1893), welche den modernen wissenschaftlichen Ansprüchen in jeder Hinsicht Genüge leisten. Auch in den mitgetheilten [492] Tonsätzen ist er nicht mit der Treue und Genauigkeit verfahren, die man heute bei einer Wiedergabe alter Tonwerke beansprucht. Nicht nur, daß er die Schlüssel des Originals willkürlich änderte, ohne die Originalbezeichnung anzugeben, sondern er änderte auch Noten ohne weitere Bemerkung, sodaß er seine Nachfolger zwang, die Tonsätze von neuem aus den Originalen zu ziehen, was durch Dr. Ludwig Schöberlein im Verein mit Friedrich Riegel in ihrem „Schatz des liturgischen Chor- und Gemeindegesanges etc. (Göttingen 1865–1872) in 3 umfangreichen Bänden geschehen ist. Außerdem gab W. noch Dr. Martin Luther’s deutsche geistliche Lieder nebst den während seines Lebens dazu gebräuchlichen Singweisen und einigen mehrstimmigen Tonsätzen zur vierhundertjährigen Jubelfeier der Buchdruckerkunst 1840 in Leipzig heraus, 36 Melodien und 14 Tonsätze enthaltend. Zu geringerem Ansehen gelangten die drei Schriften „Ueber K. Ch. Fr. Fasch’s geistliche Gesangswerke“ (1839), „Ueber Herstellung des Gemeinde- und Chorgesanges in der evangelischen Kirche“ (1848) (letztere Schrift ist besonders durch die Arbeit R. v. Liliencron’s überholt, die das Thema gründlich und in gewandter Darstellung behandelt) und drittens „Zur Geschichte heiliger Tonkunst“ (2 Theile, 1850–1852). Gerade bei diesen letzteren Schriften entbehrt man eine fließende Sprache, die W. nicht zu Gebote stand. Mühsam arbeitet man sich durch die langen geschraubten Sätze hindurch und kommt darüber nicht zum Genusse seiner dem Kerne nach trefflichen Ansichten und Grundsätze, die ein edles, frommes und zartfühlendes Gemüth bekunden. Im Vollbesitze der geistigen Frische und ganz der alten Kunst lebend, beendete er sein Leben ganz plötzlich am Klaviere sitzend und phantasirend, wie er es in der Dämmerstunde stets zu thun pflegte.

Größentheils nach Mittheilungen aus seinem Freundeskreise.