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ADB:Dorner, Isaak August

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Artikel „Dorner, Isaak August“ von August Johannes Dorner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 48 (1904), S. 37–47, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Dorner,_Isaak_August&oldid=- (Version vom 24. Dezember 2024, 18:14 Uhr UTC)
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Dorner: Isaak August D., geboren in Neuhausen Ob Eck am 20. Juni 1809,[1] war der Sohn eines kinderreichen Pfarrhauses. Er wurde vom 14. Jahre an auf der württembergischen Klosterschule Maulbronn erzogen, um dann fünf Jahre in Tübingen Philosophie und Theologie zu studiren. Die Entwicklung, welche er in dieser Zeit durchlief, beschreibt er in seiner Selbstbiographie. In Maulbronn zog ihn der Verfasser des Commentars zu den Korintherbriefen, Osiander an; unter den Tübinger Lehrern hatte Sigwart d. Ae. auf ihn Einfluß, dessen Logik und Metaphysik er eifrig studirte, sodann der Historiker Haug, dessen Universalgeschichte ihn fesselte. Ueberhaupt suchte er, der Tübinger löblichen Sitte gemäß, seinen Blick durch philosophische, philologische, ästhetische, selbst mathematische Studien zu erweitern, ohne deshalb das eigene Fach zu vernachlässigen. 1829 hat er auch eine philosophische Preisarbeit gemacht, welche gekrönt wurde und auf die hin ihm im J. 1836, als er für den Philologen Tafel in Londoner Manuscripten gearbeitet hatte, der philosophische Doctortitel gewährt wurde. Auf das eifrigste hat er Kant studirt. In Jacobi’s Schrift von den göttlichen Dingen fand er die Ergänzung zu dem Kantischen Moralismus. Des Schellingianers Eschenmayer phantasiereiche Vorlesungen, die ihm religiös bedeutend schienen, zogen ihn ebenfalls an, weit mehr aber Baur’s Vorlesungen über Religionsgeschichte, der damals auf Schleiermacher’schem Boden stand. Auf seine neutestamentlichen Studien hat Schmid den größesten Einfluß ausgeübt. Auch Hegel’s Speculation wurde gründlich studirt. Und schon in seiner Universitätszeit begann seine Richtung auf eine Combination des Schleiermacher’schen Erfahrungsstandpunktes mit der Hegel’schen Speculation. Dagegen vermochte er sich weder mit der in Tübingen vorgetragenen Dogmatik noch mit dem Pietismus zu befreunden. Unter den Genossen, mit denen er verkehrte, sind neben Kapff, mit dem er die Korintherbriefe durcharbeitete, hauptsächlich Reinhold Köstlin, Klüpfel, David Strauß, E. Zeller, Metzger zu nennen. Eine Preisarbeit, die er über das Thema schrieb, welches die Ursachen seien, daß sich die neuere Zeit der Reformation wieder zuwende, wurde die Grundlage für seine Auffassung der Entwicklung des Protestantismus, wie er sie zuerst in seiner ersten Vorlesung, die er als Tübinger Repetent 1836/37 hielt und zuletzt in seiner Geschichte der protestantischen Theologie vertreten hat. Nach dem mit I absolvirten ersten Examen wurde er nach dem württembergischen lang bewährten usus ordinirter Vicar in Neuhausen bei seinem Vater und hier zeigte er schon die ihn später auszeichnende Eigenschaft, daß er die theoretische Ueberzeugung praktisch fruchtbar zu machen suchte und zwar in der Richtung, welche ebenfalls den künftigen Kirchenpolitiker kennzeichnet, auf eine die Laien betheiligende Verfassung der Kirche. „Von unserer Diöcese ging, während ich in Neuhausen war, auch eine Petition an den Landtag, worin wir um eine Kirchenverfassung baten, für welche ich mich lebhaft interessirte, seitdem die Idee der Kirche mich gefesselt hatte.“ Württemberg verleiht seinen bedeutenderen jungen Theologen Reisestipendien; er benutzte das seinige 1836 zu einer Reise nach England in dem klaren Bewußtsein, „daß“, [38] wie er in seiner Eingabe an den König schreibt, „England, der Schauplatz so großer Bewegungen und zum Theil so großer Blüthe in religiöser, kirchlicher, bürgerlicher Beziehung, das Land des praktischen Geistes und der That, während Deutschland bisher zu einseitig das Land des Gedankens war – uns Deutschen noch viel weniger bekannt sei, als ein so großes, durch so mannichfache Bande des Ursprungs und der Religion uns verbundenes Brudervolk dem andern sein sollte.“ Aus den Briefen, welche er aus England geschrieben hat, geht hervor, mit wie vielseitigem Interesse und für sein Alter reifen Geiste er dieses Land betrachtet hat; nicht nur die englische und schottische Kirche, auch die politischen, socialen und nationalökonomischen Verhältnisse, ihr Schul- und Universitätswesen, ihr Familienleben schildert er in den lebhaftesten Farben und mit einer Reihe bedeutender Männer wird er bekannt. An denkwürdigen Stätten vertieft er sich mit congenialem Verständniß in die Geschichte dieses Volkes. „Wäre ich nicht ein Deutscher, ich möchte ein Schotte sein.“ „In diesem Volk scheint sich jeder als König zu fühlen“, sagte er einem englischen Edelmanne: „das ist’s auch in der That: ein Selbst- und Kraftgefühl lebt in dieser Nation, wie es wohl nirgends anzutreffen sein möchte“. Auf dem Rückwege kommt er über das damalige Berlin und seine Eindrücke faßt er dahin zusammen: „Es ist bezeichnend, daß man in Berlin eine Menge herrlicher Bildsäulen findet, aber keine andern als von Kriegshelden, und nun daneben die Künste des Friedens gehegt und gepflegt wie nirgendwo sonst, das preußische Schulsystem so berühmt, daß die stolzen Engländer und die fernen Amerikaner kommen, es kennen zu lernen – das muß uns wohl mit Achtung erfüllen vor diesem Staate“. Nach seiner Rückkehr trat er wieder in das Repetentencollegium ein, dem er schon vorher angehört hatte. Er war hier College von Strauß, und obwol er dessen mythischer Behandlung der evangelischen Geschichte bewußt opponirte, wünschte weder er noch andere Collegen die Entfernung von Strauß wegen seines Lebens Jesu; „Vielmehr erweckte der Schlag, der ihn traf, unser aufrichtiges Bedauern, das ich ihm auch aussprach“. Er persönlich glaubte die mythische Ansicht durch die Existenz der Kirche widerlegen zu können, die ohne Christus nicht zu verstehen sei, deren mythisches Product Christus nicht sein könne. So kam er darauf, das Bild von Christus zu verfolgen, das die Kirche in den verschiedenen Jahrhunderten gehabt habe, und er versuchte zuerst in einigen Abhandlungen der Tübinger Jahrbücher, sodann in seiner Entwicklungsgeschichte der Person Christi den Nachweis, daß das Bild, welches die Kirche von Christus habe, nicht das Product der erlösten Gemeinde sein könne. Offenbar an Schleiermacher anknüpfend hielt er den Bestand der Kirche als erlöster Gemeinde als das Problem der mythischen Ansicht entgegen, das sie nicht erklären könne, das die Anerkennung des geschichtlichen Werthes des Bildes Christi fordere. Zugleich suchte er diesen Gedanken speculativ durch den Nachweis zu begründen, daß auch, von der Sünde abgesehen, Christi Erscheinung eine nothwendige, der Idee der Menschheit entsprechende Forderung sei, ohne welche deren Vollendung unmöglich wäre. Seine Grundansicht, daß im Christenthum die Idee zu historischer Erscheinung gekommen sei, hat er schon damals gedacht. Im J. 1838 wurde D. außerordentlicher Professor in Tübingen, folgte aber schon im folgenden Jahre einem Rufe nach Kiel, wo er vier Jahre blieb. Diese Kieler Zeit beschreibt sein Freund Herrmann, mit dem er sie gemeinsam verlebte: „Dorner fand für seine Wirksamkeit ein sehr breites und empfängliches Feld in Kiel vor. Die theologische Jugend zeichnete sich durch ein lebhaftes Erkenntnißbedürfniß aus und rasch gewann D. durch Vorlesungen und Verkehr die Stellung des einflußreichsten und geliebtesten Lehrers. Seine [39] Vorlesungen umfaßten außer der Dogmatik und Ethik einen großen Theil der Exegese, der Synoptiker, des Evangeliums Johannis, des Römerbriefs, ferner der Theologie alten und neuen Testaments und vor allem die damals schon mit Vorliebe gepflegte Geschichte des protestantischen Lehrbegriffs, in welchem er den Grund zu seiner Geschichte der protestantischen Theologie legte. Alle mit ihm in der theologischen Facultät zusammenwirkenden Genossen fanden sich durch ihn in ihrem Streben gesteigert und unterstützten ihn gern und neidlos, so daß eine auch von der jungen Welt tief empfundene Harmonie des wissenschaftlichen Zuges die Facultät zusammenschloß. Charakteristisch aus dem Einfluß der theologischen Bildung seiner schwäbischen Heimath war das Schleswigholsteinern durchaus congeniale Streben nach philosophischer Vertiefung und Ergänzung der theologischen Erkenntnißtheorie. Als im J. 1841 die 25jährige Wirksamkeit von Harms in der Kieler Gemeinde festlich begangen wurde, betheiligte sich D. an derselben durch Ueberreichung der Schrift: „Das Princip unserer Kirche nach dem inneren Verhältniß seiner zwei Seiten“. (Wieder abgedruckt in den Gesammelten Abhandlungen.) Bald nach seiner Ankunft schloß sich eine während des ganzen Lebens ausharrende und fruchtbare Freundschaft mit E. Herrmann, in welcher gerade die Richtung auf die Erkenntniß des protestantischen Princips und dessen Verwirklichung, von dessen Feststellung aus D. die gesunde Entwicklung der Reformation zur evangelischen Theologie und Kirche erwartete, vorzugsweise das treibende Motiv war und blieb. (In diesem Sinne sind auch die zwei Kirchentagsvorträge von D. und Herrmann über Rechtfertigung und Confession und Landeskirche in Kiel 1867 gehalten. Später waren die Freunde neun Jahre in Göttingen vereinigt und dann in Berlin, als die unermüdlichen Bemühungen Dorner’s, den Freund nach Berlin zu ziehen, endlich durch Herrmann’s Berufung zum Präsidium des Oberkirchenrathes mit Erfolg gekrönt waren.) Ein Dritter in dieser Gemeinschaft war der Philosoph Chalybäus. Auch mit Kopenhagen knüpfte D. Beziehungen an, hauptsächlich seine lebenslängliche Freundschaft mit Martensen. (Vgl. den Briefwechsel.) „In praktischer Hinsicht regten sich damals die dänischen Einheitsbestrebungen, an denen weniger die Kopenhagener Gelehrten als der Hof sich betheiligte. D. richtete sich gegen die königliche Idee durch Einführung einer einheitlichen Liturgie eine lutherische dänische Gesammtkirche herzustellen.“

Im J. 1843 folgte D. einem Rufe des Ministers Eichhorn nach Königsberg, wo er zugleich in dem Consistorium thätig war. Unter den Männern, die ihm in Königsberg nahe standen, ist vorzüglich Sieffert zu nennen. Auch mit dem Juristen Jacobson und dem Zögling von Schleiermacher, dem General Grafen Dohna war er befreundet. Den Contrast gegen die Kieler Verhältnisse empfand er stark, theils weil er für die von ihm vertretene speculative Theologie nicht dasselbe Entgegenkommen fand wie in Kiel, theils weil die kirchlich theologischen Rupp’schen Streitigkeiten, mit denen er im Consistorium zu thun hatte, und die durch die Absetzung von Rupp zur Gründung der freien Gemeinde führten, ihm unangenehme Stunden bereiteten. Erfreulicher war für ihn seine Thätigkeit in der Generalsynode von 1846, wo er die Kirchenverfassung mit gleichgesinnten Männern wie I. Nitzsch und Julius Müller nach Kräften zu fördern suchte (der Kirchenverfassungsentwurf bildete die Grundlage für die später durchgeführte preußische Kirchenverfassung) und auf eine Lehrordnung drang, welche der freieren geistigen Entwicklung der protestantischen Kirche Spielraum gewähren sollte. Unter seinen Papieren findet sich ein Schriftstück, welches mit folgenden Worten eingeleitet ist: „Nachstehendes ist das Ordinationsformular, das von der verstärkten Commission [40] der Generalsynode 1846 gebilligt und von der Synode selbst angenommen ist, entworfen von dem Unterzeichneten“. Daß das Apostolicum in demselben nicht in allen Theilen acceptirt ist, ist eine bekannte Thatsache. Auch für die Gustav Adolfssache war er auf der Generalsynode thätig, aber in dem Sinne, „daß mit den Gesinnungen und Wünschen für die Zusammenschließung der evangelischen Gesammtkirche keineswegs der confessionelle Zwiespalt Deutschlands gemehrt werden solle, vielmehr für die Einheit und Stärke der deutschen Nation nichts unerläßlicher sei und dem deutschen Vaterlandsfreunde nichts mehr am Herzen liegen müsse als der Friede der Confessionen untereinander, der mit ehrlichem geistigem Kampfe wohl verträglich sei“.

Von Königsberg kam D. 1847 nach Bonn, als Nachfolger von I. Nitzsch. Er begann seine dortige Wirksamkeit mit der Antrittsrede über das Verhältniß von Kirche und Staat aus dem Gesichtspunkt evangelischer Wissenschaft. In der rheinischen Facultät fand er den Schleiermacherianer Bleek, dem er nahe trat. Er hoffte die Bonner Facultät zu einem Hauptsitze der speculativen Theologie zu erheben, eine Hoffnung, die in Erfüllung ging, als Rothe noch für die Facultät gewonnen war. Die Frequenz der Facultät hob sich bedeutend, insbesondere auch durch Zuzug von Theologen aus der Schweiz und Schleswig-Holstein. Auch in kirchlicher Hinsicht konnte sich D. in den Rheinlanden weit vielseitiger bethätigen als in Ostpreußen. Nicht nur als Mitglied des Consistorii der Rheinprovinz hat er sich um die Erhaltung des selbständigen Charakters der rheinischen Kirche verdient gemacht, auch als Mitglied von Synoden war er für die Union thätig, hat sich auf das eifrigste an der Föderung der inneren Mission betheiligt, für die von dem ersten Wittenberger Kirchentage eine neue Bewegung ausging; er bethätigte sich in der Bonner Zeit auch litterarisch für diese Arbeit durch eine Schrift über die sociale Frage 1849, die in verschiedenen Zeitschriften zugleich erschien. Sein Blick richtete sich aber auf die gesammte deutsche Kirche und in diesem Sinne war er einer der Mitbegründer des Evangelischen Kirchentags und schrieb ein Sendschreiben an Jul. Müller und Nitzsch über die Reform der evangelischen Landeskirchen im Zusammenhang mit der Herstellung einer evangelisch-deutschen Nationalkirche, deren Verwirklichung sein Leben lang das Ziel seiner Wünsche war. Auch um die vaterländischen Angelegenheiten hat er sich bemüht; es war damals die schleswig-holsteinsche Frage auf der Tagesordnung und er ist in freimüthiger Weise für den Bruderstamm auf dem Stuttgarter Kirchentage eingetreten, hat sich auch mit Rath und That der vertriebenen schleswig-holsteiner Geistlichen und Professoren angenommen; wie denn einmal Kiel seine erste Liebe war und blieb, so hat er noch in Berlin 1866 mit einigen schleswig-holsteiner Freunden sich zu Gunsten der Augustenburger Dynastie in einer Immediateingabe verwendet, ebenso auch als die Annexion Schleswig-Holsteins vollzogen war, in einem Gutachten sich für die Beibehaltung der schleswig-holsteinischen Examensordnung ausgesprochen. Auch an der Bonner Universität hielt er vielfache Beziehungen zu den Collegen anderer Facultäten aufrecht, wie Sell, Brandis, E. M. Arndt, Perthes u. A., sowie mit dem damaligen Curator der Universität v. Bethmann-Hollweg. Auch suchte er nach der Analogie von württembergischen Einrichtungen theils durch ein theologisches Stift, theils durch Reisestipendien für begabtere junge Leute das Studium fruchtbar zu machen, wie in Bonn noch jetzt die Dorner-Bach-Stiftung besteht.

Die Stahl-Hengstenbergische Reaction, die unter dem Ministerium Raumer zur Blüthe kam, verleidete ihm seine Thätigkeit in Preußen und er folgte 1853 gerne einem Rufe an die hannöversche Georgia Augusta, der [41] er bis 1862 angehörte, nachdem er mehrere an ihn ergangene Rufe nach Jena und Halle abgelehnt hatte. Hier hat seine Thätigkeit einen noch ausgebreiteteren Erfolg gehabt, als in der Bonner Zeit; aus England, Amerika, Griechenland, Frankreich kamen Studenten zu dem Göttinger Professor. Sein Bedürfniß, durch anregende Geselligkeit auch mit den Mitgliedern anderer Facultäten in Verbindung zu stehen, wurde hier reichlich erfüllt. Abgesehen von der Freundschaft mit den Theologen Lücke, Bertheau, Gieseler, Ehrenfeuchter, Schöberlein, Köstlin verkehrte er mit den Philosophen Ritter und Lotze, dem Philologen E. Curtius, dem Mediciner Baum, den Juristen Herrmann und Thoel, dem Botaniker Grisebach, dem Historiker Waitz, dem Nationalökonomen Hanssen, dem Physiker Weber u. A. Mit dem Curator der Universität v. Warnstedt stand er in freundschaftlichem Briefwechsel. Auch in Göttingen war er bemüht, ein Repetentenstift nach dem Muster des Tübinger Stiftes einzurichten, wofür er bei der hannöverschen Regierung das größeste Entgegenkommen fand. Während seiner Göttinger Zeit hatte er mehrfach Gelegenheit seinen Standpunkt sowol gegen Hengstenberg zur Geltung zu bringen, indem er 1854 seine „Abwehr ungerechter Angriffe des H. D. Hengstenberg gegen zwei Mitglieder der theologischen Facultät der Georgia Augusta“ (Gieseler und Lücke) schrieb, als auch gegen die einseitige lutherische Richtung eines Theils der hannöverschen Geistlichkeit, in der von ihm verfaßten Denkschrift der theologischen Facultät über die gegenwärtige Krisis des kirchlichen Lebens, insbesondere das Verhältniß der evangelisch-theologischen Facultäten zur Wissenschaft und Kirche, 1854, und die Erklärung der theologischen Facultät in Veranlassung ihrer Denkschrift 1854, endlich in dem Facultätsgutachten über die Baumgarten’sche[WS 1] Angelegenheit 1859. Ebenso trat er in dem hannöverschen Consistorium für die freiere Theologie z. B. in dem Falle Sulze ein, wobei er freilich in der Minorität blieb und ein Separatvotum abgab. Aber auch über die deutschen Grenzen hinaus erstreckte sich seine Wirksamkeit, indem er an der evangelischen Allianz in Paris und Genf sich betheiligte, wo er einen Vortrag über das Recht der Individualität und seine Grenzen hielt. Sein wissenschaftliches Kraftgefühl zeigt sich auch in der Begründung einer wissenschaftlichen Zeitschrift, der „Jahrbücher für deutsche Theologie“ 1856, im Verein mit Weizsäcker, Landerer, Palmer, Ehrenfeuchter und Liebner. Er inaugurirte die Zeitschrift durch einen Artikel, über die deutsche Theologie und ihre Aufgaben in der Gegenwart; in der Göttinger Zeit schrieb er in dieser Zeitschrift noch seine Aufsätze über die Unveränderlichkeit Gottes 1857. 58 und über die Mansel-Maurice’sche Controverse 1861, seine Gedächtnißrede auf Melanchthon 1860, sowie seine Abhandlung über Schelling’s Potenzenlehre 1860 und über Jesu sündlose Vollkommenheit 1862.

Im J. 1862 folgte er einem Rufe seines Freundes, des damaligen preußischen Cultusministers v. Bethmann-Hollweg an die Universität Berlin, zugleich als Mitglied des Evangelischen Oberkirchenraths, besonders in der Hoffnung, mit Hülfe des befreundeten Ministers die Kirchenverfassung in Preußen verwirklichen zu können, die indeß durch den Abgang Bethmann-Hollweg’s und das nachfolgende Ministerium Mühler trotz aller redlichen Arbeit lange auf die härteste Probe gestellt wurde. Noch zweiundzwanzig Jahre hat er der Berliner Universität angehört. Auch hier hat er neben seiner akademischen Arbeit nicht nur eine reiche schriftstellerische Thätigkeit entfaltet, sondern ebenso auch nach der praktischen Seite sich rastlos gemüht. Nachdem er in Bonn und Göttingen seine „Christologie“ in 2. Auflage vollendet hatte, schrieb er in Berlin seine „Geschichte der protestantischen Theologie“, gab seine „Glaubenslehre“ heraus; er veröffentlichte die Selbstbiographie [42] des Grafen Sedlnitzky, Fürstbischofs von Breslau. Ebenso schrieb er eine große Fülle von Abhandlungen u. a., besonders in die Jahrbücher f. d. Theol., über den liturgischen Kampf in der deutschreformirten Kirche Nordamerikas mit besonderer Beziehung auf die evangelische Principienlehre, über den Gallicanismus und das neue Infallibilitätsdogma, zur christologischen Frage der Gegenwart, über die psychologische Methode in der Dogmatik, Nachrufe für Liebner, Ehrenfeuchter, Bethmann-Hollweg (Fliegende Blätter 1877, Nr. 8) u. A. Er hat an der Universität mit einer Reihe geistig hochstehender Männer freundschaftlichen Verkehr gepflegt, Trendelenburg, Lepsius, E. Curtius, Waitz, Droysen, Nitzsch, Twesten, Kleinert, Dillmann u. A. Seiner universellen ethischen Auffassung der Aufgabe der Universitäten hat er in seiner Rectoratsrede vom Jahre 1864 Ausdruck gegeben. Ebenso aber verstand er es auch, auf die weitherzigste Weise in dem dialogischen Verkehr in seiner Societät den verschiedensten Richtungen unter den Studenten gerecht zu werden und aus den kleinsten Ansätzen des Denkens mit feinem Verständniß den guten Kern herauszuschälen und zu entfalten. Uebrigens war er auch in Berlin bemüht, dem Tübinger Stift ähnliche Einrichtungen zu Stande zu bringen. An der Stiftung des Grafen Sedlnitzky, dem Johanneum, dessen langjähriger Ephorus er war, hatte er großen Antheil, ebenso an der Stiftung des Melanchthonhauses und er hat mit Eifer darüber gewacht, daß diese Anstalten innerhalb der für die Studirenden selbstverständlichen Grenzen vor geistiger Enge und Beschränkung der studentischen Freiheit bewahrt blieben. Ferner war er der Meinung, daß solche Anstalten – abgesehen von pecuniärer Erleichterung – durch gemeinsamen Verkehr der Studirenden, sowie durch eine freie Berathung derselben inbezug auf den Gang ihres Studiums förderlich wirken, auch dazu dienen könnten, begabtere jungere Männer als Senioren oder Repetenten zur Vertiefung ihrer theologischen Ausbildung zu veranlassen. In praktischer Hinsicht hat er im Oberkirchenrath auf das mannichfaltigste sich bethätigt. Die Denkschriften dieser Behörde über die Stellung der Geistlichen zur Politik 1863, über Lage und innere Gefahren der preußischen Landeskirche 1867, über die Sonntagsfrage 1876 entstammen seiner Feder. Seiner Unermüdlichkeit ist der Abschluß der Bibelrevision beinahe vollständig zu verdanken, über die er beständig im Oberkirchenrath und bei der Eisenacher Conferenz zu referiren hatte. Seiner Zähigkeit ist es ferner großentheils zu verdanken, daß die Kirchenverfassung der älteren Provinzen doch noch schließlich, nach langem vergeblichen Mühen unter dem Minister Mühler, ins Werk gesetzt wurde, seitdem ihm die Berufung von Herrmann zum Präsidenten des Oberkirchenraths gelungen war und Falk das Cultusministerium übernommen hatte. Er war über dieses Gelingen hocherfreut, obgleich er es erleben mußte, daß zunächst die Synodalverfassung der freien Entwicklung der Kirche nicht günstig war, wie er übrigens auch selbst vorausgesagt hatte, daß die nächste Zeit nach Einführung der Kirchenverfassung für die freie Entwicklung insbesondere der Theologie Hemmungen bringen werde. Auch seinen Gedanken einer deutschen evangelischen Nationalkirche suchte er auf mannichfache Weise zu fördern, zunächst, indem er auch in seiner Berliner Thätigkeit für die Union unentwegt eintrat, sodann durch den Versuch, die Landeskirchen der 1866 neuerworbenen Provinzen mit dem Evangelischen Oberkirchenrath zu verbinden, was an dem Widerstande des leitenden Staatsmannes scheiterte, sodann aber durch die Pflege der Eisenacher Conferenz, welche er durch Abgeordnete der Landessynoden zu verstärken wünschte. Auch an der evangelischen Allianz bewies er sein Interesse, indem er im J. 1873 sogar zu der Versammlung derselben in New-York fuhr, wo [43] er einen Vortrag über Infallibilismus des Vaticanischen Concils und Scheinprotestantismus hielt, zugleich auch die amerikanischen Universitäten kennen lernte und zu den alten viele neue Beziehungen in diesem Lande, auf das er für den Protestantismus große Hoffnungen setzte, anknüpfte. Nicht minder war er um die Erhaltung der evangelischen Lehrfreiheit besorgt, wie er dies in mehrfachen Processen (Sydow, Werner u. A.) bewies. Auch den Versuchen eine strenge Kirchenzucht auf gesetzlichem Wege einzuführen stimmte er nicht zu. Er hat ferner für die innere Mission in Berlin als langjähriges Mitglied des Centralausschusses gewirkt und hat auf diesem Wege das Seine zur Lösung der socialen Frage gethan schon seit seiner Bonner Zeit. Im J. 1879 hielt er auf der Conferenz für innere Mission in Magdeburg seinen letzten öffentlichen Vortrag, in dem er einen Ueberblick über das ganze Gebiet in seiner weiten Verzweigung gab. Ebenso war er auch für die äußere Mission interessirt und schrieb u. a. 1864 einen Aufsatz über das indische Kastenwesen und die christliche Mission. Ebenso bewährte sich D. auch in Berlin als mannhafter Patriot, besonders auch in dem Culturkampf, den er nur als einen Kampf zwischen Kirche und Staat auffaßte, in dem er auf Seite des Staates stand, wie er in einer auf dem Berliner Rathhause gehaltenen Rede seinen Standpunkt in die Worte zusammenfaßte: der Staat muß Herr in seinem Hause sein. Demgemäß war er auch kein Gegner des Culturexamens, vielmehr war er selbst Vorsitzender der Berliner Examenscommission. Die Falk’sche Gesetzgebung begrüßte er als einen Fortschritt. (Vgl. die von ihm verfaßten Artikel in der Nationalzeitung 1874 Nr. 467, 469, 477 über Golther, Der Staat und die katholische Kirche in Württemberg.) Er war auch mit der Civilehe einverstanden und forderte die Anerkennung derselben seitens der Kirche, konnte sich auch nicht mit der kirchlichen Ehegesetzgebung in Preußen einverstanden erklären. Auch hat er u. a. im Verein mit mehreren hervorragenden Persönlichkeiten mit aller Macht der Idee des leitenden Staatsmannes einen Nuntius nach Berlin zu bringen, sich auf das kräftigste und mit Erfolg widersetzt.

Aber so ausgedehnt auch seine praktische Wirksamkeit war, er war doch vor allem akademischer Lehrer und gelehrter Theologe. Als solcher hat er sein reiches und exactes Wissen, sowie das Resultat seines tiefsinnigen Nachdenkens in Vorlesungen und Schriften niedergelegt. Seine Theologie hat man mit dem nichtssagenden Namen der Vermittlungstheologie bezeichnet. Ihr formales Charakteristikum ist vielmehr dies, daß auf Grund der Glaubenserfahrung eine speculative Erkenntniß der Wahrheit des Christenthums möglich sei. Eben daher schickt er in seiner Glaubenslehre eine Pisteologie voraus, die die verschiedenen Stufen darstellt, welche der menschliche Geist durchläuft, bis er zu dem Glauben im protestantischen Sinne kommt, „der das Evangelium innerlich aneignet und dem sich dies in eigenster Erfahrung als die Kraft des Heils und als die Wahrheit erweist, die eine neue Weise des Seins und des Bewußtseins der Gottähnlichkeit begründet“. Da ihm der Glaube an Christus, der zugleich an die Geschichte geknüpft ist, der Mittelpunkt der christlichen Frömmigkeit war, so war in demselben unmittelbar das Materialprincip der Rechtfertigungserfahrung und das Formalprincip der Schrift verknüpft. Die Schrift als Urkunde der historischen Offenbarung soll den in Christo realgewordenen, ewigen religiös-sittlichen Gehalt, die Einheit Gottes und des Menschen offenbaren und zur eigenen Erfahrung führen. In der Schrift und Rechtfertigungserfahrung ist der Eine Geist Christi wirksam. Wenn der rechtfertigende Glaube das principium cognoscendi ist, sofern in ihm die Einheit des Subjects mit dem Object des religiösen Erkennens gegeben ist, so will er [44] nun eben ein objectives Erkennen von diesem Object gewinnen, den in dem Glauben enthaltenen Keim der Erkenntniß speculativ entfalten. Er hat daher die ganze Kraft seines speculativen Geistes daran gesetzt, eine befriedigende Gotteserkenntniß trotz aller skeptischen Zeitströmungen zu gewinnen. Der Gottesbegriff enthält ihm die Principien für die Religion wie für die Ethik. Von dem christlich bestimmten Gott aus ist die Welt der Religion und Sittlichkeit zu verstehen, welche in der Realisirung der Gottmenschheit gipfelt. In dem Versuch einer speculativen Theologie, welche den Zusammenhang des gesammten religiössittlichen Lebens aus der Gottesidee zu verstehen sucht und ebenso in dieser auch die Principien für das Verständniß der Geschichte findet, hat D. seine Eigenthümlichkeit. Sein theologisches System hat D. ausführlich in seiner „Glaubenslehre“ und in der nach seinem Tode herausgegebenen „Sittenlehre“ dargelegt. Daß er in demselben von der Gotteslehre ausging und daß seine Gotteslehre für ihn zugleich die theologische Principienlehre ist, ist bekannt. Er will die metaphysische und ethische Bestimmtheit in Gott verbinden, Gott ist nicht bloß Ideal, sondern der persönlich Gute, der ewig Thätige, der sich selbst zu dem ewig macht, der er ist, der das in sich Vernünftige mit Freiheit will. Die Trinitätslehre stellt ihm das ewige immanente Leben Gottes als ewigen Proceß dar, durch den er ewig sein Leben, seine Intelligenz, sein ethisches Wesen durch Thätigkeit realisirt. Im Ethischen kommt es ihm besonders an auf die Verbindung von Selbstbehauptung und Liebe; Gott will sich als den Guten, also auch als die Quelle von allem möglichen Guten, aber auch als den Hüter und Hort des Guten. So will er Pantheismus und Deismus vermeiden. Gottes Sichwollen ist nicht egoistisch, deistisch, weil er sich als Grund der Welt will und seine Selbstmittheilung geht darauf zurück, daß er sich als den Guten will. Will er andres Gute, so muß er auch dieses gegen jede Anfeindung schützen. Die Verletzung des Guten – das ist die Frucht seiner Kantischen Studien – ist die Verletzung von einem unbedingt Werthvollen; da muß das Recht des Guten behauptet, zur Anerkennung gebracht werden. Im Menschen entspricht sich göttliche Selbstmittheilung und sittliche Bethätigung. Auf Grund dessen, was ihnen Gott gegeben, müssen die ethischen Wesen selbst das Sittliche hervorbringen. In Christus gipfelt beides; weil sich der ethische Gott ihm voll mittheilt, darum ist er auch im höchsten Sinne ethisch thätig. Christus bildete ihm deshalb für die Ethik wie für die Dogmatik den Mittelpunkt. Die Dogmatik hat die göttlichen Thaten so zu beschreiben, daß sie zugleich auf das sittliche Handeln hinweisen, und die Ethik hat an die göttliche Selbstmittheilung anzuknüpfen, wodurch allein der absolute innere Werth des Sittlichen bewahrt werden kann. Das Ethische ist „die Brücke zur Geschichte, denn es ist dasjenige Ideal, das nach innerem Gesetz und Trieb That, Geschichte muß werden wollen“. Hat aber die Welt als ethische Stufen der Entwicklung, so kann auch der göttliche Liebeswille nicht starr an seine Unveränderlichkeit gebunden sein, er vollzieht seine Mittheilung an die Welt dem Processe der Welt entsprechend; nur in der Bewahrung der absoluten Würde des Ethischen ist er stets sich selbst gleich. Die Offenbarung kommt also einem Bedürfniß entgegen, fügt sich an einer bestimmten Stelle dem Weltproceß ein, indem sie ein vorhandenes Bedürfniß befriedigend, die religiössittliche Vernunft auf eine höhere Stufe erhebt. Demgemäß hat D. den ethischen Proceß in der Geschichte der Menschheit durch ihre verschiedenen Stadien verfolgt, bis sie in Christus ihren Gipfel erreicht, in dem Freiheit und Nothwendigkeit sich vollkommen durchdringen, der uns zu neuen Persönlichkeiten macht, die das Sittliche frei wollen, wie in Gott Freiheit und Nothwendigkeit geeint ist. Die Versöhnung und Erlösung durch [45] Christus für sich genügt nicht; er hat zugleich die Bedeutung, daß durch ihn die Menschheit auf die höchste Entwicklungsstufe gehoben ist. Wenn D. zeitlebens die Rechtfertigung als das Kleinod der protestantischen Kirche vertheidigte, so geschah es, weil er in ihr neben der Befreiung von Schuld den Eintritt der höchsten Stufe der religiössittlichen Entwicklung, die Begründung der mit Gott geeinten sittlichfreien Persönlichkeit sah. Die von diesem neuen Princip ausgehende Entwicklung der Erkenntniß und der sittlichen Heiligung hat ihre Stufen, während die Rechtfertigung fertig ist. D. hat von seinem speculativen Princip aus die Geschichte der Menschheit zu verstehen gesucht; die vorchristlichen Religionen haben das christliche Princip vorbereitet, theils indem sie nach der ethischen Seite in mannichfachen Formen die gesetzliche Stufe repräsentiren, theils indem nach der religiösen Seite jede ein Moment des göttlichen Wesens besonders zum Bewußtsein gebracht hat. Wie das Christenthum das Gesetz in der evangelischen Freiheit bewahrt, so hat das Christenthum das Wahre aller vorchristlichen Religionen in sich aufgenommen, wie der christliche Gottesbegriff alle Momente des Gottesbegriffs in sich aufnimmt und in das rechte Licht stellt. Das Christenthum erweist sich so als die absolute Religion. Es durchläuft aber selbst schon im Urchristenthum verschiedene Stufen im Anschluß an, im Gegensatz gegen das alte Testament und in absoluter Form in der johanneischen Litteratur. Die Entfaltung des christlichen Princips in der weiteren Geschichte hat D. in seiner „Symbolik“ dargestellt, wonach ihm die griechische Kirche die Aneignung des Heils durch die Intelligenz, die römische durch den Willen, die protestantische durch das Gemüth repräsentirt. Während der ursprüngliche Protestantismus die unmittelbare Einheit der subjectiven Heilserfahrung mit dem in der Schrift bezeugten historischen Heil darstellt, trat dann eine einseitig objective historische Schrifttheologie und darauf eine ebenso einseitig subjectivistische unhistorische Theologie hervor, bis in bewußt wissenschaftlicher Weise in dem 19. Jahrhundert beide Factoren wieder vereinigt werden. Von dieser Einheit aus ist es möglich die Erkenntniß zu einer höheren Stufe zu erheben in der Gotteslehre und Christologie insbesondere und das christliche Princip nach der Willensseite durch kirchliche Organisation und Liebesthätigkeit zu entfalten, so daß der Protestantismus nun in höherer Form auch das Eigenthümliche der griechischen und römischen Kirche aufbewahren kann. Auch in der Geschichte der einzelnen Dogmen sucht er zu zeigen, wie jedes Mal der Gang derselben eine innere Nothwendigkeit hat. In der Christologie z. B. wird durch Ausschluß immer feinerer Formen des Ebionitismus und Doketismus die Thatsache der Einigung des Göttlichen und Menschlichen fixirt, dann aber nach Feststellung der Zweinaturenlehre das Wie der Einigung beider Naturen zuerst unter dem Ueberwiegen des göttlichen Factors bis zur Reformation, dann unter dem Ueberwiegen des menschlichen Factors zu verstehen gesucht, bis man im 19. Jahrhundert den Versuch macht, auf ethischem Wege beiden Seiten gleichmäßig gerecht zu werden. Wenn man hier von Geschichtsconstruction sprechen will, so hat D. jedenfalls keine Schablone, da er in seiner Auffassung des geschichtlichen Processes bald die Momente des Gottesbegriffes, bald das Verhältniß des Christlichen zum Vorchristlichen, bald das Sicheinsenken des christlichen Princips in die verschiedenen Geistesfunctionen, bald das Verhältniß des objectiven historischen und des subjectiven Factors, Schrift und Erfahrung, bald die Art der Vereinigung des menschlichen und göttlichen Factors als die Gesichtspunkte für das Verständniß der verschiedenen historischen Erscheinungen ansieht. Ein aufrichtiges Bemühen, die verschiedenen historischen Gebilde nicht [46] bloß subjectiv zu beurtheilen, sondern an ihrer Stelle im Zusammenhang zu verstehen, kann seinen geschichtlichen Werken nicht abgesprochen werden.

Dorner’s Speculation, die zugleich für das Verständniß der Geschichte die leitenden Ideen enthalten sollte, war aber durchaus nicht der Wirklichkeit abgekehrte unfruchtbare Dialektik, sondern weil sie von ethischem Geiste getragen war, führte sie auch zu dem ethischen Leben zurück und so ist seine theoretische und seine praktische Thätigkeit schließlich in ihm selbst in seiner Persönlichkeit geeint, welche den ethisch bestimmten protestantischen Heilsglauben besaß und denselben sowol in der speculativen Erkenntniß als in dem praktischen Leben zur Entfaltung zu bringen suchte.

Die Hauptschriften von D. sind schon genannt: „Entwickelungsgeschichte der Lehre von der Person Christi“, 1839, 2. Aufl. 1845–56 (ins Englische übers.); „Der Pietismus, insbesondere in Württemberg“, 1840; „Das Princip unserer Kirche“, 1841 (für Claus Harms); „De oratione Christi eschatologica“, 1844 und das Programm „Theodori Mopsvesteni doctrina de imagine Dei“, 1844; „Die ethische Auffassung der Zukunft“, Inauguralrede, Königsberg 1845; „Das Verhältniß zwischen Staat und Kirche“, 1847; „De auctoritatis indole ethica“, 1847; Sendschreiben über Reform der ev. Landeskirchen“, 1848; „Ueber den theologischen Begriff der Union und sein Verhältniß zur Confession“, 1856; „Geschichte der protestantischen Theologie“, 1867 (ins Französische und Englische übers.); „Moderne Kirchenbaupläne“, 1872; „System der christlichen Glaubenslehre“, 1879, 1880, 2. Aufl. 1886 (ins Englische übers.); „Gesammelte Schriften auf dem Gebiete der systematischen Theologie, Exegese und Geschichte“, 1883; „System der christlichen Sittenlehre“, hrsg. von A. Dorner, 1885; Selbstbiographie des Grafen Leopold Sedlnitzky v. Choltitz, Fürstbischofs von Breslau, aus seinen Papieren herausgegeben mit Actenstücken; Briefwechsel zwischen H. L. Martensen und J. A. Dorner, 2 Bde., 1888. Außerdem zahlreiche Abhandlungen und Recensionen in Pelt’s Mitarbeiten, Tübinger Zeitschrift, Reuter’s Repertorium, Studien und Kritiken, Tholuck’s litterarischem Anzeiger, Monatsschrift für die ev. Kirche der Rheinprovinz und Westphalens, Jahrbüchern für deutsche Theologie, Fliegenden Blättern, Piper’s ev. Kalender, protestantischen Monatsblättern von Gelzer, Contemporary Review, Revue chrétienne, Supplement theol., Herzog’s Realencyklopädie, 2. Aufl., Art. „Ethik“. Vorträge auf ev. Kirchentagen und Versammlungen der Ev. Allianz. Vortrag über die einheitliche Textgestaltung bezw. Verbesserung der luth. Bibelübersetzung auf der deutschen ev. Kirchenconferenz 1868. Die Rectoratsreden in Berlin 22. März 1864 über den Großen Kurfürsten und 15. October 1864 über die Aufgabe der Universität.

Ueber Dorner: Kleinert, Zum Gedächtniß D.’s. Erinnerungen an D. von Heinrici, deutsch-evangelische Blätter 1884, H. 9. – v. d. Goltz, J. A. D. und E. Herrmann. Dem Andenken von J. A. Dorner von A. Dorner. – Ein Nachruf von Pünjer, Allgem. Zeitung 1884, Nr. 283. B. Weiß in den Fliegenden Blättern 1884. Jeep in der Monatsschr. für positive Union 1884. Semaine religieuse, 9. Aug. 1884, Nr. 32, 33. Andover Review, Aug. 1884. Evangelische Kirchenzeitung, 4. Oct. 1884. Artikel „Dorner“ in d. Herzog’schen Realencyklopädie, 2. Aufl. u. 3. Aufl. Independent, 24. Juli 1884. Encyclopaedia of living Divines by Schaff 1887, Art. „J. A. D.“. – Scheele, Der kirchliche Beruf Preußens nach D. Dorner, 1868. – Nevin, Liturgical discussion, Answer to Prof. D., 1868. – J. A. Dorner’s Geschichte der protestant. Theologie im Lichte der Kritik von Hagemann, 1867. – Recension der „Glaubenslehre“ in den [47] Studien und Kritiken von D. H. Weiß, 1882. D. W. Simon, J. A. D., Presb. Review, Oct. 1887. Newman Smyth, Dorner on the future State, 1884.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. Dorner, Isaak Aug. XLVIII 37 Z. 10 v. o. l.: † am 9. Juli 1884 in Wiesbaden. [Bd. 56, S. 396]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Michael Baumgarten (1812–1889) protestantischer Theologe.