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ADB:Goethe, Johann Wolfgang von

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Artikel „Goethe, Johann Wolfgang“ von Michael Bernays in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 413–448q, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Goethe,_Johann_Wolfgang_von&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 19:21 Uhr UTC)
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Goethe: Johann Wolfgang G., 1749–1832. – Beim ersten Blick auf Goethe’s Leben gewahrt man, wie ein außerordentliches Dasein durch die Gunst der Verhältnisse mächtig gefördert worden; bei tieferer Betrachtung dagegen wird offenbar, wie eng sich hier Verdienst und Glück verketten. Das Beste, was dem Menschen und Dichter durch das Geschick verliehen zu sein scheint, hat er in Wahrheit sich selbst errungen und durch beharrliche Thatkraft erst zu seinem wirklichen Eigenthum gemacht. In autobiographischen Schriften, deren einige zu den Mustern geschichtlicher Darstellung zählen, hat er mit großartiger Offenheit sein innerstes Sinnen und Wollen zum Ausdruck gebracht; wir wissen, wie er sein Leben und Thun im Zusammenhange mit den Bestrebungen und Ereignissen seiner Zeit aufgefaßt sehen wollte; um zur Erkenntniß dieses Lebens zu gelangen, werden wir zunächst seiner eigenen Auffassung desselben folgen müssen.

Goethe’s Voreltern auf väterlicher Seite waren in den unteren und mittleren Kreisen des Bürgerthums heimisch; die Familie der Mutter behauptete einen hohen Rang im städtischen Leben Frankfurts, ohne dem eigentlichen Patriciat anzugehören. Friedrich Georg G., der aus Artern in der Grafschaft Mansfeld nach Frankfurt a./M. übersiedelte, war hier seit dem J. 1687 als Bürger und Schneidermeister ansässig; er hatte sich 1705 in zweiter Ehe mit der gleichfalls verwittweten Besitzerin des Gasthauses zum Weidenhofe, Cornelia Schelthorn, geb. Walther (1668–1754), vermählt, die ihm ein stattliches Vermögen zubrachte. Von den drei Kindern, die sie ihm gebar, sollte nur das jüngste zu hohen Jahren kommen; es war Johann Caspar (1710–82). Dieser strebte mit Erfolg nach einer ansehnlicheren Lebensstellung. Das Coburger Gymnasium hatte ihn (seit 1725) für die Universität gründlich vorbereitet. Mit dem seiner Natur eigenen Ernst gab er sich in Leipzig dem juristischen Studium hin; ein Aufenthalt in Wetzlar machte ihn mit der Praxis des Reichskammergerichts bekannt; als er 1738 in Gießen die Würde des juristischen Doctors erwarb, konnte er mit einer, dem Frankfurter Senat gewidmeten, umfassenden Abhandlung hervortreten, die sein reiches Wissen im Gebiete des römischen und deutschen Rechtes auf das rühmlichste bezeugt. („Electa de aditione Hereditatis ex jure Romano et Patrio illustrata“. Giessae, Octobr. 1738. 178 S. 4°.) Auf einer Reise nach Italien (1740), deren sorgfältige, in der Sprache jenes Landes verfaßte Beschreibung sich handschriftlich erhalten hat, sammelte er Anschauungen und Eindrücke, die er sein Leben hindurch liebevoll festhielt. Sein Vermögen gewährte ihm Unabhängigkeit. Nur unter ungewöhnlichen Bedingungen wollte er in den amtlichen Dienst seiner Vaterstadt treten. Da diese nicht zugestanden wurden, verschloß er sich selbst die amtliche Laufbahn. Von Karl VII. ließ er sich (16. Mai 1742) den Titel eines „würklichen Raths Ihrer Röm. Kayserl. Majestät“ verleihen. Sechs Jahre hernach ward er Schwiegersohn des Mannes, der an der Spitze des städtischen Gemeindewesens stand.

[414] Johann Wolfgang Textor (1693–1771), der am 16. December 1727 in den Frankfurter Rath gewählt worden, hatte sich als Schöff und Bürgermeister schon vielfach hervorgethan, ehe er am 10. August 1747 mit dem Amte des Stadtschultheißen betraut ward. Als solcher gewann er einen immer steigenden Einfluß auf die Führung der städtischen Angelegenheiten. Er hatte gerade ein Jahr diese höchste Würde bekleidet, als er (20. August 1748) seine älteste Tochter Katharina Elisabeth (getauft 19. Februar 1731 – † 13. September 1808) dem kaiserlichen Rath G. zur Frau gab. Dieser führte die um mehr als zwanzig Jahre jüngere Gattin in das Haus am großen Hirschgraben (jetzt Nr. 23), das seit 1733 Eigenthum der Mutter war.

In diesem Hause ward dem ungleichen Paare am Donnerstag den 28. Aug. 1749 „mit dem Schlag 12 Mittag“, bei glückverheißendem Stande der Gestirne, der erste Sohn geboren, dem in der Taufe am folgenden Tage die Namen des Großvaters Johann Wolfgang beigelegt wurden. Nicht ohne Schwierigkeit war er zum Leben gekommen; es verging einige Zeit, ehe man seines Daseins völlig sicher war. Bis zum Juni 1760 folgten dann noch fünf Geschwister, von denen vier jedoch früh hinweggenommen wurden; seit dem Februar 1761 hatte der älteste Sohn nur noch die Schwester zur Seite, die im Alter ihm am nächsten stand, Cornelia Friederica Christiana (7. December 1750 – 8. Juni 1777). In glücklicher Gemeinschaft wuchsen die beiden nebeneinander auf; die kindlichen Gemüther stimmten zusammen, wenn auch das Wesen der Schwester wohl schon frühe eine trübere Färbung zeigte. Auf dies Geschwisterpaar richtete sich der ganze pädagogische Eifer des ernst gesinnten Vaters; zugleich aber erfuhr es auch die volle, thätige Liebe der Mutter.

Nur für kurze Zeit (im Sommer 1755) ward der Knabe einer öffentlichen Schule übergeben. Der Vater lenkte die Erziehung. Unter dessen Oberleitung erhielt er, zum Theil in Gesellschaft einiger Altersgenossen, eine Ausbildung, die vielseitig genug war und mehr ins Breite zu gehen als in die Tiefe zu streben schien. Doch war es gerade diejenige, deren er bedurfte. Was sie vermissen ließ, konnte gerade er aus der Fülle des angeborenen Naturells ersetzen. Seinem lebhaften Geiste ward die mannigfaltigste Nahrung geboten; die bewegliche Anschauungskraft ward geübt, die verschiedensten Bilder zu erfassen und auszugestalten. Was uns von Studienheften aus den Knabenjahren erhalten ist, läßt neben strenger Sauberkeit der Arbeit zugleich die frische Zuversicht erkennen, mit welcher der kindliche Sinn die ihm dargereichten Stoffe zu ergreifen und gewandt zu formen weiß. Mit dem Lateinischen ward er behaglich vertraut; vom Griechischen eignete er sich so viel an, daß es ihm nie ganz fremd werden konnte und er in späteren Jahren wenigstens den Klang der hellenischen Dichtersprache unmittelbar zu vernehmen und in die Kunstformen jener Poesie, die ihn zu selbständiger Nachbildung lockte, einzudringen vermochte. Früh versenkte er sich mit Phantasie und Gemüth in die Bibel; die erregte wissenschaftliche Neugier trieb sogar zu einem Versuche, sich des Hebräischen zu bemeistern. Die neueren Sprachen, besonders die französische, wurden sorgfältig gepflegt. Das Gedächtniß nahm große Massen geschichtlichen Stoffes auf; eine nach allen Richtungen schweifende Lectüre gewährte bald flüchtigere, bald tiefere Einblicke in die verschiedenen Litteraturen und in die verschiedensten Wissensgebiete. Neben der Poesie, der sich die früh erwachte Neigung leidenschaftlich zuwandte, blieb der Musik, die doch nicht ganz versäumt werden durfte, nur ein bescheidenes Plätzchen; dagegen befestigte sich früh, durch die Liebhaberei des Vaters unterstützt, eine Neigung zur bildenden Kunst: er zeichnete eifrig; im Verkehr mit den Malern, denen der Vater Beschäftigung gab, schärfte er seinen Blick für Form und Farbe und für das Bezeichnende der Erscheinungen; wenn er den Arbeiten dieser [415] mäßigen Künstler zusah, konnte er ihnen wenigstens die Handwerksgriffe ablernen. Während so vielfache Anregungen dem Geiste zu gute kamen, wurden die körperlichen Uebungen nicht hintangesetzt. Mit heiterem Stolze konnte die Mutter auf die zu harmonischer Schönheit heranreifende Gestalt des Sohnes blicken, der in Gang und Haltung das Bewußtsein persönlicher Würde nicht verleugnete.

Schon früh, während der Vater den Umbau des Wohnhauses leitete (1755), hatte der Knabe häufig Anlaß und Muße gefunden, die häusliche Beschränkung mit dem Aufenthalt im Freien zu vertauschen. Und trat er nun aus dem Haus- und Familienbezirk in die Straßen der Vaterstadt, die sich allmählich aus der mittelalterlichen Enge herausgearbeitet hatte, beschaute er das festliche und werktägliche Treiben, das sich dort entfaltete, so mußte er neben den eigenartigen Zuständen der Gegenwart überall die Spuren einer noch nicht gänzlich abgeschlossenen Vergangenheit gewahr werden. Das reichsstädtische Frankfurt durfte sich als Wahl- und Krönungsstadt eines besonders ehrenvollen Verhältnisses zum Reiche und dessen Oberhaupte rühmen. Für G., den Enkel des ersten städtischen Beamten, ward dies Verhältniß in unmittelbarer Nähe lebendig. Auf die natürlichste Weise ward der Sinn in frühere Jahrhunderte zurückgeführt, deren greifbare Zeugen den künftigen Dichter des Götz umgaben. Gebäude, Denkmäler und Gebräuche mahnten an entscheidende Momente der deutschen Geschichte, an des Reiches Herrlichkeit und Verfall; so ward ihm der Begriff von der Würde des Gewesenen und zugleich von dem unaufhaltsamen Hinschwinden aller irdischen Zustände eingeprägt. Was er sah, wuchs zusammen mit dem, was er lernte. Verlangte er nach genauester Belehrung über einzelne Punkte, so konnten die historisch und juristisch gebildeten Männer Frankfurts – unter ihnen sei hier nur Obenschlagen genannt –, deren Schriften er studirte oder deren Umgang er genoß, seine Wißbegier vollauf befriedigen.

Wenn der Anblick der Vaterstadt den geschichtlichen Sinn nähren mußte, so ward Blick und Gemüth doch auch früh zur Natur hingezogen. Anhaltend konnte er sich in die Betrachtung ihrer Erscheinungen versenken, sie gab ihm heitere und wehmüthige Stimmungen; er lernte sie früh liebgewinnen, welches Antlitz sie ihm auch zeigen mochte; noch gegen den Schluß seines Lebens gedachte er des sehnsüchtigen Gefühls, mit dem er oft bei niedersinkender Dämmerung dem langsam abglimmenden Sonnenlichte nachgeblickt.

Große Weltereignisse berührten ihn früh und tief. Die ersten Knabenjahre fielen in eine beglückende Friedenszeit, aus deren Genuß man durch die Kunde vom Erdbeben zu Lissabon (1. November 1755) aufgeschreckt ward. Ein Schauer des Entsetzens breitete sich über das gebildete Europa. Philosophie und Religion suchten sich, jede auf ihre Weise, der verheerenden Naturbegebenheit zu bemächtigen, die bald zur Befestigung, bald zur Bekämpfung des Glaubens an einen allweisen und allgütigen Gott dienen sollte. Was der Knabe, zum Theil in übertreibenden Schilderungen, von den Einzelheiten der Verwüstung erfuhr, drang mit erschütternder Kraft in seine Phantasie und stürzte ihn in quälende Zweifel. Diesen Ausbruch der zerstörenden Naturkräfte wollten manche hernach als ein Vorzeichen des siebenjährigen Krieges deuten, der auch alsbald die Goethe’sche Familie in zwei Parteien spaltete. Der Stadtschultheiß bewahrte dem Kaiserhause seine Anhänglichkeit und begünstigte die Franzosen; die Wünsche seines Schwiegersohnes wandten sich nach der entgegengesetzten Seite, und der Enkel Wolfgang widmete seinen ganzen kindlichen Enthusiasmus dem Helden des Jahrhunderts, dessen Einwirkung auf das deutsche Geistesleben und die vaterländische Litteratur er in späteren Jahren richtiger als die meisten Zeitgenossen begreifen und darstellen sollte. Diese preußische oder vielmehr fritzische Gesinnung hinderte ihn jedoch nicht, sich mit den Feinden des Königs, den Franzosen, [416] freundlich einzulassen, nachdem diese (Januar 1759) Frankfurt besetzt hatten. Zum lebhaften Mißvergnügen des Vaters erhielt der Königslieutenant, Graf Thorane, sein Quartier im Goethe’schen Hause, das eben durch einen solchen Insassen zugleich geehrt und beschützt ward. Der südfranzösische ernst gestimmte Herr, der hier und da einen Zug von Schwermuth durchblicken ließ, benahm sich im Hause meist wohlwollend und wich in seinem Amte nur selten vom Pfade der strengsten Gerechtigkeit. Gleich dem Rath G. war er Liebhaber der Malerei und gab den Künstlern in und um Frankfurt umfassende und lohnende Aufträge. Das Wesen Wolfgangs scheint sein Wohlgefallen erregt zu haben. Der Vater jedoch wollte nun einmal sich zu keiner freundlichen Annäherung an den, wenn auch persönlich achtungswerthen, Vertreter der gehaßten Feinde bequemen; und manchmal ward ein heftiger Zusammenstoß unvermeidlich, dessen Folgen für den Hausherrn bedrohlich werden konnten, aber glücklich, wenn auch nicht ohne Mühe, abgewandt wurden. Den Tag, an dem der widerwillig gehegte Gast endlich nach mehr als zweijährigem Aufenthalte das Haus am Hirschgraben verließ, begrüßte der Vater als einen Tag der Befreiung. Der Sohn würde die feindliche Nähe wohl gern noch länger geduldet haben.

Denn ihm hatte sich in dieser Zeit ein neues, heiter bewegtes Leben aufgethan. Er war nicht unzufrieden darüber, daß der regelrechte Gang der häuslichen Ordnung vielfach unterbrochen ward; er genoß der ihm gegönnten freieren Bewegung; er hielt sich gern in der Nähe des Grafen, wo ihm manche neue Dinge zu Gesichte kamen; ihn ergötzte das Treiben, das durch die Gegenwart der lebendigen und belebenden fremdländischen Gäste hervorgerufen ward. Ihr liebenswürdiger Leichtsinn, die gefällige Sicherheit ihres gesellschaftlichen Betragens mußten ihn anziehen; aber er durfte auch ihre gefährlichen Schwächen nicht übersehen, die sie gerade im Kampfe gegen den großen König so deutlich zu ihrer eigenen Schmach offenbarten. Unerschüttert blieb seine Bewunderung für Friedrich, dessen Thaten als Sinnbild und Anzeichen der wieder erwachenden deutschen Kraft gelten konnten. So darf man wol sagen, daß auch G. sich unter den mittelbaren Einwirkungen des siebenjährigen Krieges heranbildete.

In mannigfachem Sinne folgenreich für seine geistige Entwicklung und sein künstlerisches Thun ward die jetzt gestiftete Bekanntschaft mit dem französischen Theater. Durch die Anwesenheit der Fremden war es ihm gleichsam vor’s Auge gerückt. Schauend und lesend studirte er sich in die Meisterwerke der Bühne hinein, die damals noch als gesetzgebendes Vorbild für die Bühnen Europa’s, und insbesondere für die deutsche, fast unbestritten anerkannt war. Durch die Theorien der Kunstlehrer, durch die Ansichten der theoretisirenden Künstler arbeitete er sich mit löblichem Eifer hindurch, die Formen, die im Drama der Franzosen zu despotischer Geltung gelangt waren, erschienen ihm bald so geläufig, daß er sich zu ihrer Nachahmung geschickt und aufgelegt fühlte. Trat er so in geistigen Verkehr mit den Dramatikern, so blieb der persönliche mit den Schauspielern und ihrem Anhange nicht aus. Was er hinter den Coulissen sah, war für ein so jugendliches Auge kaum geeignet. Aber er, dem das vielgestaltige Leben nach allen Seiten hin sich erschließen sollte, mochte auch in diesen bedenklichen Versionen seine früh gesammelten Erfahrungen bereichern. War er ja doch berufen, alles, was er jetzt und später mit flüchtigem Blick streifte oder im innersten Wesen erfaßte, in irgend einer Form einmal künstlerisch zu verwerthen!

In das „Allerlei des Lebens und Lernens“ brachte der strenge Ordnungssinn des Vaters, wenn auch nicht inneren Zusammenhang – denn dieser ergab sich von selbst im Geiste des werdenden Dichters – so doch wenigstens den Schein einer methodischen Verknüpfung. Wenn die Neigungen des Sohnes frei umherzuschweifen schienen und er demgemäß auch einen allzu raschen Wechsel in [417] seinen Studien und Beschäftigungen liebte, so drang der Vater auf Stetigkeit und folgerechte Behandlung eines jeden Gegenstandes. Alles zwecklose und willkürliche Ergreifen und Fahrenlassen war ihm verhaßt: nichts sollte aus dem Stegreif unternommen, alles vielmehr mit Bedacht bis zu einem gewissen Ziele fortgeführt werden. Er sorgte dafür, daß die genialischen Fassungskräfte des Sohnes zusammengehalten wurden und dann leichter in eine bestimmte Richtung einlenken konnten; er übte ihn früh in der Tugend der Beharrlichkeit, die G. dereinst im Leben, Schaffen und Forschen so großartig bewähren sollte. Das leicht verdüsterte, der unbefangenen Lebensfreude fast verschlossene Gemüth der Tochter Cornelia scheint unter dem pädagogischen Verfahren des Vaters, das sich ihr gegenüber manchmal bis zu anscheinender Härte steigern konnte, allerdings peinlich gelitten zu haben. Auf den Sohn jedoch hat er nur regelnd und bestimmend, niemals eigentlich hemmend gewirkt.

Und mochte der Vater auch einmal das Erziehungswerk, das er so ernst nahm, gar zu hart angreifen, der Sohn aber die auferlegte Beschränkung als allzu lästig empfinden, so war die Mutter mit ihrer stets kräftigen Liebe zum Mildern und Ausgleichen, wol auch zum Vertuschen, bereit. Sie, die Jugendliche, stand zwischen Vater und Sohn als naturgemäße Vermittlerin. Dem ersteren war sie in Treue zugethan; sie fügte sich in seine Sinnesart, ohne sich die ihrige verkümmern zu lassen. Mit dem letzteren aber, den sie lebenslang in ihres Herzens Herzen trug, war und blieb sie unverbrüchlich eins. Hatte G. dem Vater die Ausbildung werthvoller Eigenschaften zu verdanken, so war er der Mutter verpflichtet für die köstliche Frische und Gesundheit, die von ihrem Wesen auf das seinige übergegangen waren. Als später „ein großer Theil seines Ruhmes und Rufes auf sie zurückfiel“, ließ sie sich von „Professoren“ und anderen Menschenkindern wol gern als Goethe’s Mutter anstaunen; es schmeichelte ihr, wenn ihr fürstliche und bürgerliche Freunde zu verstehen gaben, man sähe ihr an, daß G. ihr Sohn sei; und gewiß lächelte sie befriedigt, als der Bruder der Königin Luise sie als die Frau bezeichnete, von der es ihn nie gewundert habe, daß sie uns G. gebar. Aber zu keiner Zeit ließ sie sich zu dem Wahn verleiten, sie habe „auch nur das Allermindeste beigetragen zu dem, was ihn zum großen Manne und Tichter gemacht“. Ward eine solche Andeutung ihr gegenüber gewagt, so versicherte sie in unverfälschter Demuth und mit dem ganzen Nachdruck ihrer kernhaften, aus dem Bibelworte genährten Beredtsamkeit, sie wisse wol, wem das Lob und der Dank gebühre; denn schon bei der Bildung des Sohnes im Mutterleibe sei alles im Keim in ihn gelegt worden; dazu habe sie wahrlich nichts gethan; sie gebe Gott die Ehre, wie das recht und billig sei. Ihr glücklich auffassender Humor blieb sich immer gleich, und unter allen Umständen bewahrte sie ihre gesunde Einfachheit, ihre kraftvolle Naivetät; in derselben schicklichen und herzlichen Weise verkehrte sie mit fremden Fürstlichkeiten und mit den längst bekannten Stadtgenossen. Nur dann etwa konnte sie die sonst unveräußerliche heitere Fassung einbüßen, wenn hochberühmte litterarische Damen ihr nachstellten. Wie befreit athmete sie auf, als Frau v. Stael, die bei ihrer Durchmusterung Deutschlands auch in Frankfurt verweilte (1803), wieder aus ihrem Gesichtskreis gewichen war; sie fühlte sich von ihr gedrückt, klagte sie dem Sohne, als wenn sie einen Mühlstein am Hals hangen hätte. „Was will die Frau mit mir??“ fügte sie hinzu, „ich habe in meinem Leben kein ABC-Buch geschrieben und auch in Zukunft wird mich mein Genius davor bewahren.“ –

Auf ihrer vielseitigen Empfänglichkeit beruhte ihre Bildung, die es ihr möglich machte, mit ihrem Sohne in lebendigem Einverständniß zu bleiben. Sie erfaßte ihn, auch wenn sie nicht eigentlich ihn verstehen konnte. Wie hätte sie, [418] gleich anderen, an seinem Thun je irre werden oder seine Absichten anzweifeln sollen? Sie richtete den liebevollen Blick stets auf das Ganze seiner Persönlichkeit; dort fand sie die Berechtigung für das Einzelne seines Thuns und Verfahrens. Es ward ihr leicht, jeder ursprünglichen Kraft ihr Recht zu geben; denn in ihrem eigenen Wesen war Einfachheit mit Originalität innig gepaart. Diese leuchtet aus allem hervor, was wir unmittelbar oder mittelbar von ihr vernehmen. In jedem ihrer Worte stellt sie sich leibhaftig vor uns hin. Ob sie an Mitglieder des weimarischen Hofes schreibt oder an ihre lieben Enkelein, an Goethe’s Zögling, Fritz v. Stein, oder an den Schauspieler Unzelmann, – ob sie dem Sohne für den Genuß einer neuen Dichtung dankt, oder ihn warnt, in seinen Schriften sich der „menschenfeindlichen“ lateinischen Lettern zu bedienen, weil durch diese die Niedern und Geringen, die an dem Gute der Bildung doch auch ihren Antheil haben sollen, nothwendig abgeschreckt werden – in jedem Briefe muß sich ihre Eigenart, die mit keiner anderen zu verwechseln ist, unwillkürlich und unverkennbar abdrücken. Von ihrer Correspondenz mit G. kennen wir bis jetzt nur spärliche, aber kostbare Bruchstücke. Vollständig mitgetheilt, würde sie die vieljährigen mannigfaltigen Beziehungen zwischen Mutter und Sohn bis ins Einzelste beleuchten, aber wol schwerlich das Charakterbild der ersteren um wesentliche Züge bereichern.

Während eines langen Lebens – das Glück einer ungewöhnlichen Lebensdauer erbte G. von seinen Voreltern – bewahrte die Mutter mit zäher Kraft unverändert jene Grundzüge ihres Wesens. Noch die Sechsundsiebenzigjährige rühmt von sich: „ich suche keine Dornen, hasche die kleinen Freuden, sind die Thüren niedrig, so bücke ich mich, kann ich den Stein aus dem Wege thun, so thue ich’s – ist er zu schwer, so gehe ich um ihn herum, und so finde ich alle Tage etwas, das mich freuet“. Für jeden Abschnitt ihres Lebens gilt diese Selbstschilderung. Aber die Frische der jugendlichen Lebensfreude, die Energie dieser Heiterkeit entsprang aus der Energie ihres religiösen Gefühls; „der Schlußstein“, – ruft sie aus, „der Glaube an Gott, der macht mein Herz froh und mein Angesicht fröhlich“. Die Fröhlichkeit, die sie in sich hegte und um sich verbreitete, vertrug sich daher gar wohl mit den zarteren und zartesten Regungen eines religiös gestimmten Seelenlebens; sie fühlte sich nicht fremd im Kreise der Stillen und Frommen, und eine Klettenberg war ihre Freundin. Ihre Briefe an Lavater beweisen, daß sie auch dem schwärmerischen Gefühlsleben einer Zeit, welcher Werther entstammte, nicht ganz unzugänglich blieb. Aber jeder krankhaften Ueberspannung war sie feind; ihr heller Verstandesblick ließ sich nicht trüben; der Einklang zwischen Kopf und Herz blieb ungestört. So steht sie vor uns, das Musterbild einer deutschen Frau, zugleich das Musterbild einer Dichtermutter.

Denn zu ihren übrigen Geistes- und Gemüthsanlagen war ihr eine Darstellungsgabe verliehen, deren Ausbildung durch eine rege, lebendig vergegenwärtigende Phantasie gefördert ward. Bis ins hohe Alter blieb ihr auch diese Fähigkeit ungeschmälert; sie erfreute sich derselben, im Bewußtsein, andere damit zu erfreuen. Noch ein Jahr vor ihrem Tode bekennt sie mit fröhlichem Selbstbehagen: „diese Gabe, die ihr Gott gegeben, sei eine lebendige Darstellung aller Dinge, die in ihr Wissen einschlagen, Großes und Kleines, Wahrheit und Mährchen“; und man glaubt ihr gern, wenn sie hinzusetzt: „Sowie ich in einen Cirkel komme, wird alles heiter und froh, weil ich erzähle“. Niemals aber mögen ihre Erzählungen so belebend und eindrucksvoll geklungen haben, wie in jenen Zeiten, da der Sohn, als heranwachsender Knabe, ihnen lauschte. Indem sie ihn in das Märchenreich einführte, ward sie selbst mit ihm wieder jung; er aber konnte ihr nicht lange müßig zuhören. Aus seiner erregten Einbildungskraft stieg [419] eine selbstgeschaffene Märchenwelt hervor. Wie er seine Person und seine eigenen Zustände mit derselben verknüpfte, das lehrt uns das Musterstück dieser jugendlichen Märchenpoesie, welches, freilich von späterer Künstlerhand geformt, im zweiten Buche von Dichtung und Wahrheit uns aufbehalten ist.

Was er von einheimischer und fremdländischer Poesie kennen lernte, reizte seinen Nachahmungstrieb. Er eignete sich die Formen an, wie sie ihm vorlagen; im Ergreifen des Stoffes aber bewährte er schon ein gewisses Maß von Selbständigkeit. Er suchte ihn nicht in der Weite; er fand ihn in seinem eigenen Leben, in den Verhältnissen, die ihn berührten. Mit wachsender Leichtigkeit übte er die Gelegenheitsdichtung; mußte diese auch, nach der Weise der Zeit, manchmal ins Platte sinken, so richtete sie doch seine Beobachtung auf das Wirkliche und lehrte ihn die Nothwendigkeit, diesem eine poetische Gestalt zu geben. Durch die Hand eines gewandten Schreibers, dem er dictirte, konnte er alles, was sich im Geiste regte, auf dem Papiere festhalten, und so ging die frühe Autorschaft sehr ins Breite. Alles, was er trieb, diente dazu, ihren Umfang zu erweitern. Er konnte fremde Sprachen nicht erlernen, ohne sich auch schriftstellerisch in ihnen zu versuchen; und aus solchen Uebungen erwuchs sogar ein siebensprachiger Roman in Briefen.

Der Vater gönnte diesen dichterischen Bestrebungen seinen gemessen aufmunternden Beifall. Doch sah er es nicht gern, wenn der jugendliche Poet den Kreis der längst anerkannten Formen verließ; und eine Poesie, die sich des Reims entschlug hatte er mit seinem Banne belegt. Seine Bibliothek zeigte in erlesenen Exemplaren die Werke von Canitz, Besser, Neukirch und allen Denen, welche durch schwächliche oder widerliche Nachahmung der großen französischen Vorbilder aus dem Zeitalter Ludwigs XIV. die deutsche Dichtung hatten reinigen wollen; ihnen mochten sich Männer wie Brockes, Hagedorn, Drollinger und Haller zugesellen. An diesen Mustern sollte der Sohn sich schulen; und einige derselben konnten ihn zu äußerer Formenstrenge und Säuberlichkeit, andere zu gedrängter Energie des Ausdrucks anleiten. In den meisten dieser Dichtungen jedoch lernte er mehr lesen als daß er sie las; ahmte er sie nach, so mußte er sich an der Oberfläche halten. Besonders die gewandten und gehaltleeren Hofdichter konnten ihm nichts außer ihrer glatten Technik bieten. Bis in die späteste Zeit blieb ihm die peinliche Erinnerung an den Druck, mit welchem einst jene Autoritäten einer schon im Abscheiden begriffenen Periode auf ihm gelastet. Auch hier erschien Klopstock als Förderer eines neuen Lebens, als Offenbarer einer neuen Welt. Sein Gedicht, dessen ungewohnte Versart dem Vater Anstoß geben mußte, fand nur verstohlen Eingang in den Goethe’schen Familienkreis und brachte auf die Geschwister bald um so unwiderstehlichere Wirkungen hervor, die auch nicht lange im Verborgenen blieben. In der wundersam gehobenen Darstellung war der längst bekannte biblische Stoff wie frisch verklärt, und wenn die heiligen Personen wie mit einer neuen Glorie bekleidet wurden, so schienen sie sich doch der menschlichen Empfindung vertraulicher anzunähern. Eine Art von Nachbildung ward versucht; die Geschichte Josephs ward zu einer umständlichen biblischen Epopöe verarbeitet, welcher der Dichter allerdings das bequeme prosaische Gewand umwarf. Mit gleicher Bequemlichkeit wurde das reimlose anakreontische Getändel nachgeahmt, das Gleim seit der Mitte der vierziger Jahre angestimmt hatte. Aber auch der Ton der kirchlichen Ode blieb ihm geläufig und er wußte die starre protestantische Dogmatik poetisch zu verwerthen; in dem frühesten der uns erhaltenen Gedichte schildert er (1765) die Höllenfahrt Christi in volltönig gereimten Strophen, die, mit dem herkömmlichen Bildervorrath ausgestattet, unter den ähnlichen Leistungen Cramer’s und J. A. Schlegel’s einen Ehrenplatz verdient hätten.

[420] Die Lust am Theater war schon früh durch ein von der Großmutter geschenktes Puppenspiel geweckt worden; später hatte er die französischen Muster und die ihnen folgenden deutschen Stücke nicht nur durch anhaltendes Studium, sondern auch durch seine Mitwirkung bei gelegentlichen Privataufführungen von allen Seiten kennen gelernt. Er fühlte sich selbst zu mannichfachen dramatischen Versuchen gedrängt, denen die französische Form als die gesetzmäßige zum Grunde lag. Doch ward die Alleinherrschaft des gereimten Alexandriners allmählich gebrochen, indem der reimlose Fünffüßler, der von den Engländern herüberkam und den auch Klopstock begünstigte, sich nach und nach Geltung verschaffte.

Während er so, von Kritik unberührt, sich in der Handhabung der verschiedensten künstlerischen Formen übte und seinen Bildungsgang fortsetzte, drängten sich ihm peinliche Lebenserfahrungen auf, die den jugendlichen Sinn trüben oder zu bedenklicher Frühreife führen mußten. Er gewahrte manches im Inneren der Familien, sowie im amtlichen und bürgerlichen Treiben, was ihm besser damals noch verhüllt geblieben wäre. Da ihm mit den Jahren eine größere Freiheit der Bewegung verstattet ward, so gerieth er, und zwar aus Anlaß seines poetischen Talents, in allzu nahe Berührung mit einigen leichtlebigen Gesellen, die vor allerlei ungesetzlichem Beginnen nicht zurückscheuten, an dem er selbst freilich keinen Theil hatte. Festgehalten ward er eine Zeit lang in diesem Kreise durch die reine, unverdorbene Neigung zu einem Mädchen, das in solcher Umgebung wie ein Wunder an Schönheit und Sitte dastand und, wenn wir der späteren Erzählung trauen dürfen, ihn sogar mit schwesterlicher Freundlichkeit vor dem lockeren Umgang warnte. Ihr widmete der Jüngling mit voller Hingebung Alles, was sich von aufkeimender Empfindung in ihm regte, und er wußte sich vor leidenschaftlicher Pein nicht zu fassen, als er sich von Gretchen für immer geschieden sah.

Die schmerzliche Katastrophe, welche diese erste Liebesneigung abschloß, traf mit einer wichtigen Staatsbegebenheit zusammen, die das Interesse jedes Deutschen mächtig an sich zog und auch G. nicht gleichgültig ließ: Joseph II. ward gewählt und gekrönt. Auch bei dieser Gelegenheit blickte der Jüngling in das verworrene Getriebe des deutschen Reichswesens. Die Verhandlungen, welche der Wahl vorausgingen, wurden, nicht ohne patriotisches Mißbehagen, genau studirt, die halb symbolischen Feierlichkeiten, die sich an jeden Abschnitt der prunkvollen Staatshandlung knüpften, mit gründlicher Aufmerksamkeit verfolgt. Der dritte April 1764 war der Krönungstag, und „das durch so viele Pergamente, Papiere und Bücher beinah verschüttete deutsche Reich“ trat ihm auf dem Boden seiner Vaterstadt noch einmal in leibhaftiger Majestät entgegen.

Nicht lange mehr sollte die Vaterstadt ihn fesseln. Der Rath G. hatte den Studiengang, den er selbst durchlaufen, für den Sohn festgesetzt; er hatte ihm schon mancherlei juristisches Wissen beigebracht und hoffte ihn einst, mit schönen Kenntnissen und Fertigkeiten aller Art ausgerüstet, in ansehnlichen Aemtern zum Wohl der Mitbürger und zu eigener Ehre thätig zu sehen. Anderen Gedanken und Wünschen war der Sohn hingegeben. Blickte er in die Zukunft, so sah er sich wol am liebsten im Schmucke des Lorbeerkranzes, „der den Dichter zu zieren geflochten ist“. Aber keineswegs wollte er darum auf die Mittel zu strenger wissenschaftlicher Bildung Verzicht thun. Er meinte, Göttingen würde ihm dieselben am reichlichsten bieten. Vornehmlich trieb es ihn zu jenen Studien, die ihn bei der dichterischen Praxis wesentlich zu fördern versprachen. Ernstlich wollte er in die alten Sprachen eindringen, sich mit der Geschichte und den daran grenzenden Disciplinen vertraut machen und sich die schönen Wissenschaften, wie man sie nannte, in ihrem ganzen Umfange aneignen. Lockend erschien ihm die Wirksamkeit eines akademischen Lehrers.

[421] Von solchen Absichten, die nur der Schwester anvertraut wurden, durfte der Vater nichts ahnen. Dieser hatte ein für allemal sich für Leipzig entschieden; da galt kein Widerspruch. Dorthin also begab sich der Sechzehnjährige im Spätherbst 1765. Am 19. October ward er von dem Rector Ludovici unter die akademischen Bürger aufgenommen und der bairischen Nation zugetheilt. Zwei Tage hernach betrat er die Hörsäle. Ernesti und J. G. Böhme (1717–80), ein Schüler Mascou’s, waren die ersten, deren lehrendes Wort er vernahm. Dann folgten die juristischen Fachcollegien.

Durch Böhme’s verständige Einrede ließ er sich abbringen von dem im Stillen gehegten Plane, der Jurisprudenz zu entsagen und sich offen zu seinen Lieblingsstudien zu bekennen. Er blieb äußerlich Jurist; er versuchte sogar ein fleißiger zu sein. Aber weder Rechtsgelehrsamkeit, noch die Wolffische Philosophie, die ihm hier entgegengebracht ward, konnte ihm behagen. Auch im Uebrigen bot ihm die Universität wenig zur Befriedigung seines Bildungstriebes. Gottsched, von dessen Verdiensten das jüngere Geschlecht nichts wußte, war nur noch da, um verhöhnt zu werden. Aus Gellert’s sanftmüthiger Moral ließ sich keine sittliche Stärkung, aus seinen Lehren über Poesie und Stil keine künstlerische Erleuchtung gewinnen. Was G. bedurfte und ersehnte, konnte ihm damals von keinem Katheder herab gereicht werden. Er blieb den Hörsälen fern.

Um so näher trat er den mannichfaltigen Erscheinungen des Leipziger Lebens. Unter den Elementen, die sich hier lockend und abstoßend durcheinander bewegten, waren es nicht blos die edleren, die ihn anzogen. Im Kreise älterer und gleichaltriger Genossen überließ er sich einer Lebenslust, die nicht immer der heilsamen Schranken achtete. Er fühlte sich zum ersten Male frei. Wie übermüthig äußert sich das Gefühl in den Versen und der Prosa der ersten Leipziger Episteln! Man vergleiche die beiden ältesten Briefe aus dem Jahre 1764, in welchen er um Aufnahme in einen Tugendbund nachsucht, und man wird in Ton und Haltung einen entschiedenen Gegensatz gewahren.

Begierig griff er aber auch nach allen Bildungselementen, welche das Leipziger Leben in sich schloß. Hier, wo man sich wie im Mittelpunkte der deutschen Litteratur fühlte, mußte sein eigenes dichterisches Streben, indem es bestimmtere Bahnen einschlagen wollte, bald Störung erleiden, bald fördernden Anstoß erhalten. Gestört ward es durch die Kritik, die ihm hier zuerst verneinend entgegentrat. Sie erschütterte ihm das Ansehen gerühmter Vorbilder und lehrte ihn an seinem eigenen dichterischen Vermögen zweifeln; er verlor die harmlose Lust am Hervorbringen und an dem Hervorgebrachten; die Nachahmung des Vorhandenen konnte ihm nicht mehr genügen. Er versuchte sich wol noch manchmal in den herkömmlichen Weisen; er lieferte, nach Ramler’schem Recept, schwerlastende Oden, reich an großen Worten; er häufte auf ein inhaltsleeres Gelegenheitsgedicht die ganze abgebrauchte Herrlichkeit des antiken Olymp. Ein Freund, wie Behrisch, der ihm seine Gedichte auf das Säuberlichste abschrieb und sie vor der Druckerpresse schützte. konnte ihm dann leicht in Scherz und Ernst darthun, wie übel sich diese hohle Pracht zu dem gegebenen Anlasse schicke; und er selbst verspottete mit glücklichem Humor den großsprecherischen Prunk einer Clodius’schen Phraseologie. Aber damit war seiner eigenen Unsicherheit nicht abgeholfen. Er suchte nach einem Muster, dem er sich vertrauensvoll anschließen, nach einer Lehre, die ihn über sich selbst und sein Wollen, sowie über das Wesen der Kunst aufklären konnte. Die deutsche Litteratur, deren Charakter damals durch die entscheidenden Thaten Klopstock’s, Lessing’s und Winckelmann’s herausgebildet ward, hatte keine durchaus zuverlässige Leitung dem Werdenden anzubieten; sie fühlte sich selbst in einem raschen Werden begriffen. Fruchtbar in mancher Beziehung ward für ihn der Verkehr mit reiferen Männern, wie Pfeil, Hermann, [422] Krebel, mit denen er sich seit dem Sommer 1766 an der Tafel des Schönkopf’schen Hauses zusammenfand, nachdem er den Mittagstisch bei dem Mediciner Hofrath Ludwig aufgegeben. Ein eigentlicher Führer und Leiter fand sich jedoch unter diesen so wenig wie unter den anderen, die, wie Langer, erst später herantraten, oder, wie Eschenburg und Zachariae, nur vorübergehend seinen Kreis berührten.

In diesem rathlosen Zustande mochte er sich damals oft genug beängstigt fühlen. Aber es war ein Glück, daß er sich so gründlich durch ihn hindurchkämpfen mußte. Denn gerade dadurch ward die später erfolgende, eben so gründliche Befreiung von irreführender Theorie und äußerem Regelzwange vorbereitet.

Die Ahnung großer Kunstgesetze dämmerte ihm schon damals auf. Ein zweijähriger Unterricht bei Oeser, der seit 1763 an der Spitze der Zeichenakademie wirkte, konnte zwar seine künstlerische Fertigkeit nicht bedeutend steigern; er leitete ihn aber zu empfindungsvoller Betrachtung des Kunstschönen. Oeser hatte Winckelmann’s Kunstevangelium mit gläubiger Ueberzeugung angenommen; von ihm empfingen es seine Schüler. G. ergriff mit Begier die Haupt- und Kernpunkte dieser Lehre; er gewann schon jetzt die Grundlagen der Kunstanschauungen, in deren allseitiger Ausbildung er später einen der reinsten Genüsse finden und deren Verkündigung ihm ein ernstes Geschäft seines Lebens werden sollte. Er übte sich praktisch in verschiedenen Fächern der bildenden Kunst. In den Leipziger Sammlungen, vor manchen köstlichen Werken der Dresdener Gemäldegalerie, im Verkehr mit eifrigen Liebhabern und einsichtigen Kennern lernte er sehen, vergleichen und urtheilen. Wahrhaft aufgehellt ward sein Geist durch Lessing’s Laokoon. Er sah hier die sicher erkennbare Grenzlinie gezogen zwischen der redenden und bildenden Kunst, die zu wechselseitigem Unheil sich so oft in einander verloren hatten. Er sah eine jede in ihrem eigenen Bereiche zu ihrer wahren Würde zurückgeführt und auf die ihr eigenthümlichen Wirkungen angewiesen. Die Grundbegriffe, die ihm der vortrefflichste Denker überlieferte, ermuthigten ihn schon in jener Zeit des Suchens und Strebens, da er ihren ganzen Werth und Gehalt wol noch kaum ermaß; sie blieben seine sicheren Leitsterne in der Zeit künstlerischer Reife.

Diese Hingebung an die bildende Kunst durfte ihn der Poesie nicht entfremden. Er erfuhr an sich selbst, „daß die Werkstatt des großen Künstlers mehr den keimenden Dichter entwickelt als der Hörsaal des Weltweisen und des Kritikers“. Noch zu Anfang des Jahres 1770 mochte er Oeser neben Shakespeare und Wieland als seinen echten Lehrer bezeichnen. Indem er sich der herkömmlichen Theorien zu entledigen strebte, ward er um so entschiedener gedrängt, Anlaß und Stoff seiner Dichtung aus den Tiefen des eigenen Inneren zu schöpfen; er mußte seine Erlebnisse und Erfahrungen, nachdem er sie geistig verarbeitet, in dichterischer Form aus sich herausstellen. So bildete sich aus der unbehaglichen Wahrnehmung der sittlichen Schäden, an denen Familie und Gesellschaft krankten, die nach Moliere’schem Muster mit großer technischer Gewandtheit ausgeführte Komödie „Die Mitschuldigen“, die damals noch in einem Akt zusammengefaßt war. Seine Lyrik aber näherte sich an den schmerzlich-freudigen Jugendempfindungen, die ihn wechselnd bewegten. Zwar in dem Verkehr mit Oeser’s Tochter, Friederike (geb. 1748, † unvermählt 1829), ward keine tiefere Empfindung rege. G. scheint sich erst gegen Ende seines Leipziger Aufenthalts dem Mädchen mehr genähert zu haben, das ihn nicht durch Schönheit, wol aber durch die lebendige Frische ihres Wesens anziehen konnte; doch der Ton einer geistreich neckischen Munterkeit blieb auch da vorherrschend. Leidenschaftlicher gefärbt erscheint das Verhältniß zu Anna Katharina Schönkopf. Nicht lange hatte er den Mittagstisch in ihrem elterlichen Hause besucht, als er sie zum Gegenstande seiner zärtlichen [423] Aufmerksamkeit erkor. Bald gehörte er zur Familie; er nahm Theil an den einfachen häuslichen Spielen, an den musikalischen Unterhaltungen; eifrig war seine Mitwirkung bei den theatralischen Lustbarkeiten, die bis zur Aufführung der Lessing’schen Minna gesteigert wurden. Man sah sich täglich, man lebte in den vielfachsten gesellschaftlichen Berührungen, und so fand seine Neigung freien Spielraum. Käthchen nahm die Huldigungen des um drei Jahre jüngeren Verehrers dankbar hin; er glaubte während der ganzen Zeit, da er sie kannte, nur als ein Theil von ihr gelebt zu haben; sie jedoch bezeigte sich mehr freundschaftlich als zärtlich; auf den leidenschaftlichen Ton, den er anschlug, mochte sie wol nur selten eingehen: Witz, harmloser Spott und Schalkheit standen ihr natürlicher an. So quälte sie ihn mit ihren „liebenswürdigen Grausamkeiten“ und hatte dafür von seinen Grillen und Launen manches zu erdulden. Den Nachklang solcher, zwischen Freud und Leid schwankenden Stimmungen vernehmen wir noch jetzt in dem Schäferspiel „Die Laune des Verliebten“, das fast vierzig Jahre nach seiner Entstehung (1806) erst im Druck erschien. Die konventionell abgezirkelte Form birgt ächten Empfindungsgehalt; ein warmer lyrischer Hauch schwebt über den Figuren der altmodischen Schäferwelt. Was uns von der eigentlichen Lyrik dieser Periode übrig geblieben, müssen wir größtentheils der ersten Hälfte des Jahres 1768 zuweisen. Den Grundton jener Stimmungen hören wir auch hier; aber er wird nicht immer ganz rein angegeben. Noch kann oder will der Dichter sein Empfindungsleben nicht voll und unmittelbar in das Lied überströmen lassen; er spricht oft als Betrachter und Zergliederer seiner Gefühle; ja, er kann sie altklug belächeln; bald lehrend, bald heiter oder wehmüthlich spottend mag er uns seine allzu frühen Erfahrungen über Wechsel und Unbestand der Neigung mittheilen; er meidet nicht den Ausdruck einer leichtfertigen Sinnlichkeit; indem eine altkluge Betrachtung dem Gefühl zur Seite geht und es oft verdrängt, muß das Lied eine Wendung ins Epigrammatische nehmen. Sprache und Form halten sich noch meist in den Geleisen, in denen die Gattung des leichteren Liedes sich damals bewegte. Aber in manchen dieser zierlich ausgebildeten Verse verbirgt und verräth sich die Innigkeit eines tieferen Naturgefühls; aus manchen andern scheint die Ahnung eines reich bewegten Gemüthslebens verheißungsvoll hervorzuklingen. Diese Lyrik zeichnet die äußeren und inneren Lebenszustände des Dichters; gleich allem, was er künftig hervorbringen wird, erscheint auch sie uns schon als eine vollgiltige Lebensurkunde. In diesen Liedern, wie in den beiden genannten Dramen hat er mit voller Sicherheit die Formen angewandt, die ihm von der damaligen Poesie fertig überliefert wurden. Stellt man diese dichterischen Anfänge vergleichend neben die Schöpfungen des reifenden und gereiften Künstlers, so möchte man glauben, er habe der Zeit, die ihn heranwachsen sah, den schuldigen Tribut abtragen müssen, ehe er mit kraftvoll errungener Selbständigkeit seine, ihm ganz eigene Dichtung begann und damit zugleich ein neues Zeitalter der Poesie einleitete.

Bevor er jedoch zu dieser freien Geistesentfaltung gelangen sollte, hatte er eine ernste Prüfung zu überstehen. Das Leipziger Leben fand einen jähen Abschluß. Indem sich der Jüngling dem Genuß wie der Arbeit gleichmäßig hingab, hatte er seinen körperlichen Kräften mehr als billig zugemuthet. Die Natur, allzu rücksichtslos behandelt, übte eine heftige Gegenwirkung. Er ward im Sommer 1768 von einem starken Blutsturz überfallen; sein Leben schien ihm gefährdet; er glaubte der Lungensucht nicht entfliehen zu können. In dieser trüben Zeit erquickten ihn die freundlichen Gesinnungen, die ihm auch von Solchen bethätigt wurden, deren Nachsicht er durch launenhaftes Betragen wol zuweilen auf die Probe gestellt hatte; von allen Seiten kamen ihm Beweise [424] des Wohlwollens und überzeugten ihn, daß er die Werthschätzung achtungswürdiger Personen in reichem Maße gewonnen. Tröstlich vor allem war die Treue der näheren Freunde. Hermann, der spätere Bürgermeister von Leipzig (1743–1813), Gröning, der in Bremen hernach zu demselben Amte aufstieg (1745–1825) hielten wacker bei ihm aus; Horn, der Freund von Frankfurt her, wußte ihn mit allezeit bereiten Scherzen aufzumuntern; Johann Christian Limprecht (1741–1812), ein fast erblindeter, fremder Unterstützung bedürftiger Candidat der Theologie, war als Stubennachbar mit seinen Liebesdiensten immer zur Hand. Auch Langer, der später nach Wolfenbüttel auf Lessing’s Stelle berufen ward, gesellte sich häufig zu dem Leidenden und hob ihn in ernstem Gespräche über manchen bänglich düsteren Augenblick hinaus; gern lenkte er die Rede auf Fragen des religiösen und sittlichen Lebens, und G. war in hinreichend empfänglicher Stimmung, um auf dieselben einzugehen. So sammelten sich schon um den Neunzehnjährigen treffliche Menschen des verschiedensten Charakters.

Langsam stellte sich eine halbe Genesung ein. Noch waren die Spuren des Leidens in seinem Aeußeren sichtbar, als er an seinem Geburtstage, dem 28. August 1768, Leipzig verließ. Die Heimkehr ins elterliche Haus war keine fröhliche. Der Vater vermochte beim Anblick des kümmerlich Wiederhergestellten sein Mißbehagen kaum zu verbergen; er fürchtete, den Lebensplan, den er so vorsorglich für den Sohn festgesetzt, durchkreuzt zu sehen. Nur allzuhäufig fühlte die Mutter sich gedrungen, ihre ausharrende und ausgleichende Liebe zu Gunsten ihres Wolfgang wirken zu lassen, der sich nun ihr und der Schwester Cornelie mit ganzem Gemüthe immer inniger anschloß. Es ward ihm nicht leicht, sich in die vaterstädtischen und häuslichen Verhältnisse wieder einzufügen. Sehnsüchtig pries er Leipzig; er vermißte den Umgang der witzreichen Landsmänninnen der Lessing’schen Minna, nach deren geistigen Ebenbildern er in Frankfurt vergeblich suchte. Er stieß auf Widerstand, wenn er die Grundsätze eines geläuterten Kunstgeschmacks, die er als Schüler Oeser’s sich angeeignet, in seiner Umgebung verbreiten wollte. Unterließ er es dennoch nicht, den guten Geschmack zu predigen, so mußte er „der Kunst wegen viel leiden“. Was ihm Leipzig gegeben, schien er jetzt erst nach seinem vollen Werthe zu schätzen; was ihm Frankfurt etwa geben konnte, vermochte der Leidende nicht zu genießen. Denn die Gefahr erneuerte sich. Der siebente December, Corneliens Geburtstag, ward zum Schreckenstage. Eine heftig hervorbrechende Kolik, von peinigenden Schmerzen begleitet, schien die bereits geschwächten Kräfte vollends erschöpfen zu wollen. Zwei Tage lang dauerte der hoffnungslose Zustand; dann erfolgte, unter dem entschlossenen Eingreifen des Arztes Joh. Fr. Metz, eine Wendung zum Besseren. Die Mutter aber richtete sich an einem Worte der Bibel auf. In ihrer schweren Herzensbedrängniß hatte sie zum Buch der Bücher ihre Zuflucht genommen, das nun in doppeltem Sinne zum Buche des Lebens ward: als sie an der Rettung des Sohnes fast verzweifelte, leuchteten ihr die Worte Jerem. 31, 5[WS 1] tröstlich entgegen; sie behielt den Spruch wie eine göttliche Verheißung dauernden Heils bis auf ihre letzten Tage in treuem Gedächtniß. Vier Wochen hindurch blieb der Kranke aufs Lager gebannt. Als im Beginne des J. 1769 ihm eine freiere Bewegung gestattet ward, meldete sich das Uebel nochmals, aber mit verminderter Heftigkeit; er mußte sich das Zimmergefängniß noch vier Wochen lang gefallen lassen. Noch im April hatten die treu sorgenden Freunde über sein kränkliches Aussehen zu klagen. Nur allmählich wichen die Nachwehen des Leidens. Der Sommer führte ihn ins Freie; kleine Reisen wurden unternommen. Er sah in Worms Charitas Meixner wieder, die seine Empfindungen ehemals lebhaft beschäftigt hatte; er wanderte nach Marienborn im Darmstädtischen, um dort einer Versammlung der frommen Brüdergemeinde [425] beizuwohnen. Erst im Winter von 1769 auf 1770 kam ihm das volle Gefühl der Gesundheit wieder. Die nun überstandene Krankheit erwies sich als eine für den ganzen Organismus heilsame Krisis. Mit erneutem Jugendmuthe blickte er vorwärts ins Leben. Fürs erste mußte den juristischen Studien ein äußerlicher Abschluß gegeben und dadurch die oft verletzend hervorbrechende Ungeduld des Vaters beschwichtigt werden. Aber kein Gedanke an eine Rückkehr nach Leipzig! Im Januar 1770 hatte sich G. im Einverständniß mit dem Vater für Straßburg entschieden.

Mit den Freunden und Freundinnen in Leipzig war inzwischen der briefliche Verkehr unterhalten worden. Aber nicht alles, was er von dort vernahm, konnte ihn heiter stimmen. Gegen Ende des Mai 1769 empfing er eine Nachricht, die ihn nicht unbewegt ließ: Käthchen hatte sich verlobt. G. mußte zugestehen, daß sie einen Würdigen gewählt. Der siebente März 1770 war der Tag ihrer Vermählung mit Dr. Christ. Karl Kanne; er leitete eine lange und beglückte Verbindung ein: erst 1806 ward sie gelöst durch den Tod des Mannes, der sich als Leipziger Vicebürgermeister Ansehen und Verdienst erworben hatte; die Frau überlebte ihn um vier Jahre. – G. schloß die Correspondenz mit Käthchen noch vor ihrer Verheirathung; das letzte Schreiben trägt das Datum des 23. Januar 1770. Aus seinen Briefen an die Braut spricht eine schmerzliche Empfindung, der es aber nicht allzu schwer wird, sich in der milderen Temperatur der Freundschaft zu beruhigen.

Während dieser Periode der Krankheit und langsamen Wiederherstellung konnte die dichterische Thätigkeit nicht ergiebig sein. An den „Mitschuldigen“ ward gründlich gearbeitet. Die ursprüngliche Anlage in einem Act genügte nicht mehr; das Stück ward in drei Acten breiter und reicher ausgeführt. Hirzel’s Sammlung „Der junge Goethe“ gibt es uns jetzt in der Gestalt, die es damals erhielt; und zwar erscheint es hier genau so, wie es in dem glücklich geretteten Manuscripte vorliegt, welches der Dichter im J. 1769 zierlich und sauber anfertigte. Gleichzeitig, im Sommer dieses Jahres, ward die Herausgabe von zwanzig Liedern vorbereitet, die in Leipzig entstanden waren und die ein Leipziger Freund mit Melodien begleitete. Am dritten October zeigten sich in den Buchläden zuerst die „Neuen Lieder“, in Melodien gesetzt von Bernhard Theodor Breitkopf. G. blieb ungenannt. In den Almanachen der folgenden Jahre finden sich manche dieser Gedichte wieder. Niemand ahnte, daß der namenlose Autor derselben einst als der größte aller Lyriker dastehen sollte.

Der Zeitraum von anderthalb Jahren, den der Jüngling gezwungen im elterlichen Hause verbrachte, erscheint arm an äußeren Zeugnissen seines geistigen Thuns und Schaffens. Um so mehr bereicherte und vertiefte sich sein inneres Leben. Nachdem ihn die Leipziger Verhältnisse nach vielfachen Richtungen hin und wieder gezogen, ihn zu mancherlei Zerstreuung und Leichtfertigkeit verlockt und eine innere Sammlung auf die Dauer fast unmöglich gemacht hatten, fühlte er sich jetzt zur Einkehr in sich selbst getrieben. Blickte er auf seinen sittlichen Zustand, so brauchte er keineswegs zu erschrecken; er gewahrte kaum etwas, das ihn zu einem ärgerlichen Mißmuth über sich selbst hätte stimmen müssen. War er sich doch eines unendlich guten Willens bewußt! Auch fand er in sich das redliche Bestreben, diesem Willen zur Herrschaft über widerstreitende Neigungen zu verhelfen. Dennoch machte sich ihm die Nothwendigkeit fühlbar, jenem Bestreben Halt und Stütze zu verleihen. Wohin aber sich wenden, um diese Stütze zu gewinnen? Männer der verschiedensten Sinnesart, seit seinen Knabenjahren theilnehmend bemüht, ihn zu bilden und zu leiten, hatten ihn hinlänglich mit den verschiedenen, oft schnurstracks einander widersprechenden Grundsätzen bekannt gemacht, denen man, wie jeder zuversichtlich von den seinigen behauptete, nur [426] zu folgen brauchte, um auf dem Lebenspfade ohne Anstoß sicher, ja siegreich fortzuschreiten; so hatte er, wie er es selbst ausspricht, vor seinem zwanzigsten Jahre die Schulen fast sämmtlicher Moralphilosophen durchlaufen. Was er in einer jeden gelernt, wußte er zu bewahren und zu nutzen; aber keine hatte ihn mit demjenigen versehen, was ihm vor allem Noth that, wenn er die drangvolle Unruhe in seinem Inneren besänftigen, wenn er der Qual des Schwankens entrinnen und seinem ungeduldigen Suchen, Sinnen und Forschen Befriedigung bieten wollte. Wie natürlich, daß sich jetzt, da ihn noch der Druck körperlicher Mißstände befing, sein Gemüth den Einwirkungen einer zarten und innigen Religiosität eröffnete, die eben aus ihrer Innigkeit die Kühnheit schöpft, über die starren Schranken des Dogmas hinweg nach einem Liebesbündniß mit Gott und dem Heiland zu streben. Seine nie erloschene Neigung zur Bibel erleichterte ihm jederzeit die Annäherung an das Gebiet religiöser Empfindung, wenn er es auch noch so lange gemieden hatte. Und jetzt bot sich ihm eine Hand, von der er sich gern an jene Regionen heranführen ließ. Die frommen Gesinnungen, wie sie von den in herrnhutischem Geiste gestifteten Brüdergemeinden ausgingen, hatten seit der Mitte des Jahrhunderts auch in Frankfurt, besonders unter den höheren Ständen, Verbreitung gefunden. Die Gemüther, durch den Ernst der Kriegszeit verdüstert und in sich zurückgescheucht, mochten um so williger auf jene Lehren horchen, die ihnen den Weg zur unmittelbaren Gemeinschaft mit dem geopferten und ewig lebendigen Gottmenschen zu eröffnen und zu ebnen schienen. Die empfindungsseligen Bekenner dieses Evangeliums bildeten, wenn auch nicht eine Gemeinde, so doch einen enger geschlossenen Kreis, mit dessen weiblichen Mitgliedern die Mutter Goethe’s vielfach verkehrte. Keine von diesen Gottesfreundinnen war ihr näher vertraut, als Susanna Katharina v. Klettenberg, eine Verwandte der Textor’schen Familie. Sie war die edelste Zierde der frommen Genossenschaft. An ihr ward der Segen offenbar, der von einem das ganze Gemüthsleben erneuernden Glauben ausfließen kann. Im J. 1723 geboren (19. December), war sie schon längst der Fülle dieses Segens theilhaftig geworden. Sich selbst und den Schatz ihrer Seelenerfahrungen hatte sie aus dem Strudel der Lebenswogen an das Ufer geflüchtet, wo sie, leidend und doch beglückt, „unter ihres Gottes Flügel ruhte“. Die gewissenhafte, ja peinliche Strenge, mit der sie über sich selbst wachte, mit der sie jedem Anzeichen einer ungöttlichen Regung in ihrem Innern nachspürte, verleitete sie nie zu schroffem Verhalten gegen Andere. Dem Sectenstreite blieb sie fern. Ihr war die Liebe wirklich das eine, das allumfassende Gebot. Von den sinnlich gröberen Elementen, die sich dem Pietismus und den ihm verwandten Erscheinungen angehängt hatten, ließ sie sich kaum berühren; sie blieb der Empfindung hingegeben, „die alle Empfindungen übertrifft“. Stellt das Christenthum die Menschwerdung des Heiligen und die Heiligung des Menschen dar, so hatte es in dieser himmlischen Seele – als eine solche bezeichnete sie G. selbst in einem Briefe an Lavater – gewiß die liebenswürdigste Gestalt angenommen. Den Frieden, der vom Himmel ist und dessen sie selbst genossen, wollte sie auch über das Dasein ihres jungen Freundes verbreitet wissen; und dieser verschloß sein Ohr nicht, wenn sie von der Seligkeit sprach, die nur in der Vereinigung mit dem zu finden ist, „dessen Blut der Golgatha getrunken“. Sein Inneres schien sich der Heilsbotschaft zu öffnen. Er wandte sich wieder zu Kirche und Altar, die er in seinen reiferen Knabenjahren gleichgültig beiseit gelassen; er verschmähte sogar die fromme Terminologie nicht ganz; er mochte sich und andern bekennen, daß er mit unserm Herre Gott etwas besser stehe, und mit seinem lieben Sohn Jesu Christo. Doch war die Begier nach Erweckung und Erleuchtung nicht so stark in ihm, daß er auf seine sonstigen Ueberzeugungen und Wünsche, Hoffnungen [427] und Ansprüche hätte verzichten mögen. Das Weltkind machte der Frommen gegenüber in Scherz und Ernst seine Rechte geltend; diese aber war viel zu einsichtig, um, selbst wenn sie es vermocht hätte, sein Wesen gewaltsam in fremde Bahnen zu zwingen. So blieb er, wie Gott und Natur ihn gewollt und geschaffen. Unzweifelhaft jedoch gewann er in dieser Zeit das Verständniß für alles, was dem religiösen Empfindungsleben eigenthümlich angehört. Dies Verständniß konnte ihm nicht wieder verloren gehen; es leitete ihn sicher überall, wo er, sei es als Historiker, sei es als Dichter, die Beziehungen des Irdischen zum Göttlichen und vor allem das Verhältniß des Christenthums zur Menschheit und zum menschlichen Herzen auffassen oder darstellen wollte. Aber auch das Bild der Freundin ging ihm nicht verloren. Aufgefrischt stand es vor ihm, als er in „Wilhelm Meister’s Lehrjahren“ zu schildern hatte, wie eine vornehm zarte Frauennatur, vom Strahl der Gnade getroffen, sich den Einwirkungen des unsichtbaren Wesens bedingungslos überläßt, und so stufenweise sich läutert, bis sie würdig wird, den Gott, den sie in der Außenwelt erkennt, auch im Herzen zu tragen. Er rief sich alles zurück, was er mit und an Fräulein v. Klettenberg erfahren, und auf Grund ihrer eigenen Aufzeichnungen entwarf er die Selbstdarstellung der „schönen Seele“.

Im Gefolge der religiösen Stimmung, die ihn so wohlthuend ergriff, trat auch die Neigung zu theologischen und theosophischen Studien hervor; er ließ sich durch die fromme Freundin sogar bereden, zu kabbalistischen und alchymistischen Schriften zu greifen; er vertiefte sich in die Abstrusitäten dieser Litteratur, in welcher ein verdüsternder, oft gefährlicher Aberglaube sich mit den halbdichterischen Ahnungen einer kindisch umhertastenden Naturwissenschaft wunderlich genug berührt. Auch konnte er der Lust nicht widerstehen, nach den Winken der Alchymisten selbst praktische Versuche zu wagen; aus der Mischung seltsamer Substanzen sollten die heilsamsten Kräfte ans Licht gezogen werden. Zwar den geheimnißvollen Salzen und Säften, die er zu erzeugen strebte, kam er nicht auf die Spur. Aber alles, was sein Geist einmal ernstlich erfaßt hatte, mußte ihm früher oder später, mittelbar oder unmittelbar, förderlich werden. Im Verlaufe dieser, mit einer gewissen Hartnäckigkeit fortgesetzten Operationen that er manche Blicke ins chemische und medicinische Gebiet; und indem er über jenen Wunderbüchern brütete, machte er, ohne es zu ahnen, Vorstudien zum „Faust“: er verschaffte sich gleichsam den Apparat, mit dem er die Zauberwelt dieser Dichtung ausrüsten sollte. So eröffnet sich aus der etwas drückenden Atmosphäre, die den Kranken und Genesenden im elterlichen Hause umgab, der Ausblick auf zwei seiner mächtigsten Schöpfungen.

Indessen war es für Geist und Körper wünschenswerth, ja nothwendig geworden, in freierer Umgebung sich zu erholen. Der Plan, auf den er schon im Sommer 1769 gedeutet, ward ausgeführt. Der zweite Abschnitt seines akademischen Lebens begann. Ihn hob das Gefühl wiedererlangter Gesundheit, und er hatte „Munterkeit im Ueberfluß“, als er in den ersten Tagen des April 1770 in Straßburg anlangte. Gleich ward das Münster, als das vollkommenste Werk deutscher Baukunst, mit Staunen begrüßt. Noch vermochte er Sinn und Absicht des Künstlers nicht zu fassen, der hier das unendlich Mannigfaltige zur Einheit geordnet. Von der Höhe des Wunderbaues blickte er auf das Land hernieder, das damals vom großen Vaterlande losgerissen war, in dem jedoch unter fremder Hülle deutsches Wesen und deutsche Sitte noch kräftig fortbestanden. Er ließ es an dem neuen Orte eine seiner ersten Handlungen sein, den armen Leipziger Stubennachbar Limprecht mit einer Geldsendung zu bedenken. Lange schon, bevor er selbst es ausgesprochen, handelte er nach dem echt christlichen Worte: „Edel sei der Mensch, hülfreich und gut!“ – Wohlthätigkeit [428] in großem Sinne zu üben, blieb ihm durchs Leben Bedürfniß und Genuß.

Wohnung nahm er am alten Fischmarkt bei Herrn Schlag; am 19. April trug er seinen Namen in die Liste der akademischen Bürger ein. Im ersten Halbjahr gab ihm die Jurisprudenz genug zu thun; er widmete sich ihr nicht ohne Neigung; und im September konnte er mit Ehren eine Prüfung bestehen, die als nothwendige Vorstufe zur Promotion galt. Mit den „frommen Leuten“ suchte er sich eng zu verbinden. Sie waren dem Hallischen Pietismus zugethan; mit großem Mißvergnügen hörte er sie auf „seinen Grafen“ (Zinzendorf) bitter schelten. Die Langeweile verscheuchte ihn bald aus einer Gesellschaft, in welcher einengende Religionsempfindungen, die oft zu Härte und Unduldsamkeit verleiteten, für jede höhere Bildung des Geistes und Herzens Ersatz bieten sollten. Doch deshalb entfremdete er sich noch nicht dem kirchlichen Leben. Briefliche Aeußerungen gegen jüngere Freunde lassen die Fortdauer einer religiösen Grundstimmung erkennen; und kurz vor seinem Geburtstage (am 26. August 1770) berichtete er der Klettenberg, er sei „mit der christlichen Gemeine hingegangen, sich an des Herrn Leiden und Tod zu erinnern“. Mochte er, da neue Anschauungen in ihm zur Herrschaft gelangten, der Kirche auch wieder fern und ferner treten, so blieb der Kern des Christenthums ihm doch werther und heiliger als manchem Buchstabengläubigen. Er zweifelte, daß mit dem neuen Lebensjahre eine „neue Epoche“ für ihn anheben würde. Der Zweifel war unbegründet: gerade dies Jahr, sein zweiundzwanzigstes, sollte eine Epoche einleiten, in der sein Leben und Schaffen die entscheidende Richtung nahm.

Wie kühn seine Gedanken und Studien damals nach allen Seiten ausgriffen, das beweisen die Aufzeichnungen, die er in einer Art von wissenschaftlichem Tagebuch unter dem Namen „Ephemerides“ zusammenfaßte. Nachdem für die Jurisprudenz das Nöthige geschehen war, ließ er die Neigung zur Medicin und Naturwissenschaft um so mehr vorwalten, als seine Tischgenossen, unter denen Mediciner die Mehrzahl bildeten, ihn durch ihre Gespräche beständig an jene Lieblingsfächer mahnten. So nahm er im Winterhalbjahr (1770–71) an Ehrmann’s Klinikum Theil und besuchte Lobstein’s Vorlesungen über Anatomie. Auch für die Chemie, die Spielmann las, fehlte es ihm nicht an Zeit. Zugleich erweiterte und stärkte sich sein Natursinn. Hatte er sich in Leipzig mit dem Rosenthal begnügen müssen, so lag hier lockend vor ihm ausgebreitet ein herrliches Land: es bald als Fußwanderer, bald als Reiter zu durchstreifen, ward ihm zur Lust. Noch im Sommer 1770 unternahm er mit zwei Elsässer Freunden, Engelbach und Weyland, eine Reise ins Lothringische; lange begleitete ihn die Erinnerung an die Eindrücke und Anschauungen, die sich dort auf Schritt und Tritt ihm dargeboten.

Um diese Zeit, da die gesammten Fähigkeiten seiner Natur wetteifernd nach Ausbildung strebten, begann er auch unter seinen Gefährten das natürliche Herrscherrecht zu üben, dessen Anerkennung man ihm gewährte, ohne daß er sie forderte. Auch hier, wie in Leipzig, fand er eine Tischgesellschaft, unter deren Mitgliedern, deren Zahl im Winterhalbjahr bis auf zwanzig stieg, manche seine Freundschaft verdienten und erhielten. Bei den Jungfern Lauth in der Krämergasse Nr. 13 trafen sich die jungen Männer, die einem älteren Mentor, dem Actuar beim Vormundsschaftsgericht, Johann Daniel Salzmann (1722–1812), gern die Würde des Vorsitzes überließen. Von den Franzosen hatte Salzmann die Sicherheit und Eleganz der Umgangsformen angenommen. Durch die freundlich gemessene Art seines Auftretens und Benehmens zog er die Jüngeren zu sich heran und legte ihnen doch eine gewisse Zurückhaltung auf. Seinem still wirkenden persönlichen Ansehen fügte man sich um so lieber, da man seiner Welterfahrung eben [429] so sehr wie der Lauterkeit seines Wohlwollens vertrauen durfte. Von Herz und Geist war er ein Deutscher; das Beste seiner Bildung verdankte er der deutschen Popularphilosophie; am Christenthum schätzte er vornehmlich die moralische Seite. Die Richtung auf das praktische Leben, die ihm durch die klare Verständigkeit seines Wesens geboten war, hinderte ihn nicht, die Litteratur nach seiner Weise zu pflegen. Und er pflegte sie in deutschem Sinne. Er war thätig besorgt, das vaterländische Element gegen den übermächtigen französischen Andrang zu schützen, und auch seine jüngeren Freunde durften in diesem Bestreben nicht lässig werden. Einer Gesellschaft, die er gestiftet, war die Aufgabe zugetheilt, deutsche Rede und Schrift zu fördern. Einem solchen Manne konnte G. sich anschließen; er konnte den Aelteren, der das Drängen der Jugend gar wol begriff, zum Vertrauten seiner Studien wie seiner Leidenschaften machen. Unter den übrigen Genossen scheint ihn niemand wohlthuender berührt zu haben, als der gleichaltrige Lerse, der uns heute noch im Götz lebendig ist. Ueber Jung (Stilling), dessen Erscheinung am Lauth’schen Mittagstisch etwas fremdartig auffiel, hielt G. die schützende Hand; mit brüderlicher Herzlichkeit suchte er den Bedrängten aufzurichten; er nahm Theil an dessen Freuden und Kümmernissen und gab dem eingeengten Geiste weitere Aussichten; er hatte Verständniß für des gläubigen Mannes zuversichtlichen Frommsinn, den andere schalten oder verhöhnten.

Wenn auch die Freunde sich ohne Widerspruch dem wohlerwogenen Worte, dem milden Gebote Salzmann’s unterordneten, so gewahrte doch alsbald jeder Ankömmling, der sich diesem Kreise zugesellen wollte, daß in Wirklichkeit G. hier das Regiment führte. Sein Wort entfesselte die gesellschaftliche Lust und dämpfte die Ungebühr. Sein Blick war bezwingend; wen der Strahl aus diesen leuchtenden Augen traf, der fühlte, daß ein Herrscher vor ihm stand. Gewiß hat der junge Herrscher seine Macht nicht mißbraucht. Zwar konnte sein rücksichtsloser Freimuth hie und da verletzen; auch er entging dem Vorwurfe nicht, unter dem so mancher bedeutende Mensch in seiner Jugend leiden muß: kurzsichtige Beobachter sprachen wol von seinem Hochmuth, seiner unerträglichen Ueberhebung. Aber an ihm war nichts von Schein, nichts von Anmaßung. Er folgte dem Gesetze seiner Natur; nie hätte er sich anders darstellen können, als er war. Die Ahnung neuer großer Ziele trieb ihn vorwärts auf Bahnen, die kein Anderer beschreiten durfte: das Bewußtsein unerschöpflicher innerer Kräfte trug ihn empor. So ließ er aus den Tiefen seiner Natur sein Selbstgefühl frei hervorbrechen, ohne zu beachten, wie heftig er damit bei denen anstieß, die nur den Werth des Herkömmlichen zu schätzen wußten und an dem Werdenden die Abzeichen künftiger Größe nicht entdeckten.

Hätte vor den Blicken derjenigen, welche die kühnen Aeußerungen seines Wesens aus Hoffart und Mißachtung Anderer herleiteten, sein Inneres sich aufschließen können, sie würden hier nichts dergleichen wahrgenommen haben. Vielmehr war sein Gemüth auf das liebevollste gestimmt. Im Herbste 1770 betrat er zuerst das Haus des Sessenheimer Pfarrers Joh. Jak. Brion. Die Eindrücke, die ihm in jener ländlichen Umgebung geworden, gab er gleich hernach in den Worten wieder: „Die Gesellschaft der liebenswürdigen Töchter vom Hause, die schöne Gegend und der freundlichste Himmel weckten in meinem Herzen jede schlafende Empfindung, jede Erinnerung an alles, was ich liebe.“ Am 15. October richtete er die ersten Zeilen an die jüngere Tochter, die achtzehnjährige Friederika Elisabetha. Sie war die „liebe neue Freundin“, um die seine Gedanken schwebten, zu der es ihn aber- und abermals unwiderstehlich hinzog. Die Gewalt einer reinen jugendlichen Neigung führte die Gemüther zusammen. Es blieb keine Muße, das Künftige zu überdenken; der leidenschaftliche [430] Austausch unschuldsvoller Gefühle bot den Liebenden in jedem Augenblicke der Gegenwart ein seliges Genügen. Erst allmählich tauchten, beim Ausblick in die Ferne, bänglichere Empfindungen auf.

G. hat in Dichtung und Wahrheit alles erschöpft, was über Friederike, was über ihre Liebe und ihr Geschick zu sagen ist. Wir vermögen das wirklich Erlebte, das ihm später aus aufgefrischter Erinnerung wieder entgegentrat, nicht mehr von den dichterischen Bestandtheilen der Erzählung zu sondern. Beide Elemente sind unauflöslich in einander verwoben. Die Dichtung setzt sich der Wirklichkeit nicht entgegen, wenn sie auch, um ihres eigenen Zweckes willen, darauf verzichtet, den Verlauf der wirklichen Vorgänge genau zu beobachten. Jener Zweck besteht einzig darin, die innere Wahrheit der Erlebnisse zum Ausdruck zu bringen. Dem Gesetze dieser Wahrheit muß das zufällig Wirkliche sich unterwerfen; dasselbe wird, wenn nicht ausgelöscht, so doch dergestalt behandelt, daß an und in ihm das Wesentliche und Nothwendige sich offenbart. Erst jüngst hat ein mit echtem Künstlerblick ausgerüsteter Freund Goethe’s uns zur Würdigung der feinen Kunst angeleitet, welche in der Schilderung Friederikens alle Einzelheiten im Hinblick auf eine bestimmte Gesammtwirkung bildet und ordnet. An dieser Friederike, wie der Dichter sie geschaffen oder nachgeschaffen, müssen wir uns genügen lassen. Was wir in Wahrheit über sie wissen, wissen wir durch ihn. Das zehnte und elfte Buch von „Dichtung und Wahrheit“, der Brief an Frau v. Stein vom 28. September 1779 – das sind die vertrauenswürdigen Urkunden über Sein und Geschick dieser Friederike, der wir ein Fortleben in der liebevollen Erinnerung der kommenden Geschlechter vergönnen. Man hat nach ihren späteren Lebenszuständen mit peinlicher Ausdauer geforscht; der Eifer solcher Forschenden verlor sich manchmal in eine böswillig spähende Neugier. Dieser blieb freilich die erhoffte schnöde Befriedigung versagt. Es ließ sich kein Flecken an dem Bilde des Mädchens anbringen, welches das Herz, das sich der Liebe zu G. freudig erschlossen, vor jeder anderen Berührung verwahrte. Wie geringfügig ist nun aber auch alles, was als Ergebniß redlicher Forschungsmühen gewonnen worden! Die paar Worte ihrer Hand, die sich gerettet haben, verrathen uns nichts von ihrem Wesen; was sie an G. schrieb, bleibt uns vorenthalten. Und wie wenig sagen uns die halb getrübten Ueberlieferungen, die spärlichen nackten Daten! Selbst was wir über die mehrfachen Veränderungen, die ihre äußere Lage betrafen, zuverlässig erfahren, reicht kaum hin, einen dürftigen Umriß ihres Lebens zu zeichnen. An dem, was man Glück nennt, ward ihr nur ein kärglicher Antheil. Wollte sie, als das Alter herannahte, nicht ganz vereinsamt dastehen, so mußte sie den Familienkreisen ihrer verheiratheten Geschwister sich anschließen. Dort, in enge, wenn nicht kümmerliche Zustände gebannt, verbrachte sie die Tage in der Erfüllung bescheidener Pflichten, zum Frommen ihrer Nächsten. Die letzten acht Jahre verflossen ihr in Meissenheim bei Lahr, wohin sie ihrem Schwager, dem Pfarrer Marx, gefolgt war. Am 3. April 1813 ging sie still aus der Welt; wie sie bis ans Ende sich hülf- und liebreich bewahrt hatte, so erfreute sie sich auch bis ans Ende der dankbaren Liebe der Ihrigen. Ihr Erdendasein schloß gerade zu der Zeit, da G. sie in einer höheren Welt wieder auferstehen ließ.

Und als eine Angehörige jener Welt, dem irdischen Wechsel und Wandel entzogen, mag sie uns vor Augen bleiben, verklärt in dem Jugendglanze, der sie einst vor Goethe’s Blicken umleuchtete. Wir mögen sie sehen, wie sie, in leichtem, sommerlichem Anzuge, leichtschwebenden Fußes sich über Felder und Wiesen dahinbewegt, bald dem Geliebten entgegeneilend, bald ihn an ihrem Arm zu ihren Lieblingsplätzen geleitend. In freier Himmelsluft, in der Umgebung von Strauch und Blume scheint sie in der Heiterkeit ihres Daseins [431] am frischesten aufzublühen; so fühlt sich denn auch alles erheitert unter dem Einfluß ihrer Nähe. Das wohlthuende Gleichgewicht ihres Wesens wird nicht leicht unterbrochen; der Frohsinn, den sie der Reinheit ihres Gemüths verdankt, bleibt ungestört. Dabei hat sie einen klaren Blick für Menschen und Dinge ihres Bereichs; ihre thätige Liebenswürdigkeit, ihre voraussehende Klugheit ist darauf gerichtet, die kleinen Störungen und Widerlichkeiten, die das tägliche Leben, das gesellschaftliche Beisammensein bedrohen, möglichst fernzuhalten; gern fügt man sich ihren Anordnungen; geschickt weiß sie es einzurichten, daß ländliche Festlichkeiten zur Befriedigung aller Theilnehmenden verlaufen. Aber auch in der winterlichen Stube verliert sie nichts von ihrer Anmuth; eben so herzlich fließt auch hier das Wort von ihrer Lippe; ihr Betragen bleibt gleich ungezwungen, und nicht minder hell klingen ihre einfachen volksmäßigen Weisen, die tief in des Dichters Empfindung dringen und ihn auf das Gebiet des Volksliedes hinlocken. Am liebsten möchten wir sie uns vergegenwärtigen, wie sie dem Freunde ihr unschuldvolles Gemüth offen darlegt, wie sie in unbefangener Hingebung zu ihm aufblickt, dem Zauberfluß seiner Rede lauscht und sein neues Lied vernimmt, das Lied, das sie selbst hervorgerufen.

Denn mit Recht erscheint sie uns als die Muse seiner nun zu frischem Jugendleben erwachenden Lyrik. Das Goethe’sche Lied, wie es jetzt aus der Fülle seines inneren Lebens hervorzuklingen beginnt, ist alles künstlichen Wesens wie aller Reflexion ledig geworden; es verzichtet auf epigrammatische Wendungen, auf Spiele des Witzes und auf den Schmuck wohl angebrachter Sinnsprüche; es stellt sich nicht betrachtend neben oder gar über das Gefühl; es wird vielmehr zum unwillkürlichen Ausdruck desselben. Ohne weitere Vermittlung tritt die Empfindung ins Wort hinüber; das Wort darf sie nicht mit dem herkömmlichen dichterischen Apparat verhüllen: es muß sie in leuchtender Wahrheit offenbaren. In dem beseelten Laut des Liedes gewinnt das Gefühl Stimme und herzbezwingende Sprache. Nur bei ungebrochener Einheit von Leben und Dichtung konnte eine solche Lyrik entstehen. Andere tragen die Poesie mit Bewußtsein ins Leben; sie wollen ihm eine poetische Außenseite verleihen und es mit einem würdigeren Inhalte ausstatten. Selbst einer der edelsten Dichter, wie Klopstock, aus dem gewiß die lautere Wahrheit der Empfindung sprach, verräth häufig das Bemühen, seinem Leben erst durch seine Kunst die höhere und höchste Weihe zuzuführen. Die Goethe’sche Lyrik hingegen ist die nothwendige Blüthe des Lebens selbst. Sie entspringt aus dem Leben und ergänzt es zugleich. Sein menschliches Dasein würde unvollkommen bleiben, wenn er nicht dichtete, und seine Dichtung würde der inneren belebenden und überzeugenden Kraft ermangeln, wenn sie nicht auf dem sicheren Grunde seines persönlichen Daseins ruhte. Andere errichten sich ihr poetisches Reich in bedenklicher Entfernung von dem Umkreis ihres gewohnten Lebens: G. weiß nichts von einem solchen abgesonderten Bezirk der Dichtung. Wohin er seinen Fuß setzt, da ist poetischer Boden. Er lebt, was er dichtet.

So wird Wahrheit oberstes Gesetz seiner Lyrik, wie seiner gesammten Dichtung. Der Poet gibt uns ein fortwährendes Selbstbekenntniß; jedes Gedicht ist eine helle Lebensspur.

Will er die Fülle des wirklichen Daseins in die Dichtung aufnehmen, so muß er wiederum die volle Poesie befruchtend in die Wirklichkeit einströmen lassen. Schöpft der Dichter aus seinem eigenen Selbst, dann muß er, der zum Sprecher der Menschheit berufen ist, das persönliche Sein dergestalt erweitern und veredeln, daß die Menschheit sich in ihm wiedererkennt und wiederfindet. Hätte G. nur von Selbstempfundenem und Selbsterlebtem gesungen, so bliebe ihm immerhin das Verdienst, daß er die Lyrik aus der Verkünstelung zu Wahrheit [432] und Natur zurückgeführt. Aus anerschaffener Kunst aber vermag er den Stoff, den er dem eigensten Leben und Fühlen entnommen, so zu formen und zu verklären, daß uns aus seinem Liede die ewigen Gefühle der Menschheit, rein und allverständlich, entgegen tönen. Was er in seinem innern Selbst genossen und geduldet, hat er uns allen zugetheilt. So wird er der große, ja der größte Künstler unter den Lyrikern.

Die Lieder, welche des Dichters Neigung zu Friederike hervortrieb, zeigen uns sein Gemüth in vollem Einklang mit der Natur. Kein Gegensatz der innern Empfindung und der äußern Lebensmächte läßt sich wahrnehmen. Wenn er aus vollem Herzen der herrlich leuchtenden Natur entgegenjauchzt, so gibt ihm die Natur mit ihren tausend Stimmen eine Antwort, wie sein Herz sie ersehnt. Alle leidenschaftliche Tragik bleibt dieser Poesie fern. Diese Lieder können als die freie und zugleich als die heiterste Offenbarung des menschlichen Gemüthes gelten.

Aber es bedurfte noch einer anderen mächtig entscheidenden Einwirkung, um den Geist des Dichters aller bis dahin getragenen Fesseln völlig zu entledigen: Herder trat ihm entgegen. Vielleicht zum ersten Mal erfuhr G. den Einfluß einer Persönlichkeit, welcher er in jedem Sinne eine Ueberlegenheit über sich selbst zugestand. Herder, 1744 geboren, zählte nicht nur fünf Jahre mehr als der Straßburger Student; seine Leistungen, seine Schicksale, der männliche Ernst seines Strebens, die Erfahrungen, die er schon an sich selbst und am äußern Leben gemacht, ließen ihn dem Werdenden gegenüber als einen Gereiften erscheinen. Im Mai 1769 war Herder auf sein Gesuch der „bishero mit Ruhm und bestem Beyfall bekleideten Aemter“ enthoben worden; er verließ Riga; von leidenschaftlichem Drange vorwärts getrieben, riß er sich aus Verhältnissen los, in denen ein Geist, welcher minder lebhaft ins Große und Weite strebte, dauernde Befriedigung gefunden hätte. Durch die „Fragmente über die neuere deutsche Litteratur“ und die „Kritischen Wälder“ hatte er das Ansehen eines Führers der jüngeren Generation gewonnen und zugleich laute, bitter verletzende Feindseligkeit gegen sich erweckt. Welch eine Welt von Ahnungen und Anschauungen, von Wünschen und Vorsätzen sich in seinem Innern drängte, bezeugt das denkwürdige Journal seiner Reise vom J. 1769. Nach Straßburg kam er im Beginne des September 1770 als geistlicher Begleiter des jungen Prinzen von Holstein-Gottorp, von dem er sich aber nach wenigen Wochen trennte, da er gewillt war, dem Rufe zu folgen, der aus Bückeburg an ihn erging. Die Hoffnung, durch die Kunst der Straßburger Aerzte von seinem Augenleiden befreit zu werden, bestimmte ihn zu längerem Verweilen in der Universitätsstadt. Er blieb den Winter über bis in den April 1771. G. ward sein treuer Gesellschafter, und hielt standhaft bei ihm aus in erfreulichen, wie auch in bösen Stunden, in denen durch das Mißlingen der schmerzhaften Cur die Stimmung des Leidenden sich verdüsterte. Wol kehrte Herder das Gefühl seiner Superiorität gegen den Jüngeren hervor; er traf ihn mit herben Scherzen und verschonte ihn nicht mit seinen Launen. Aber G. ließ sich nicht abstoßen; er schien sich liebevoll willig unterzuordnen; was er von Herder empfing, war auch um den höchsten Preis nicht zu theuer erkauft. Herder zog ihn mit Geistesgewalt in die großartige litterarische Bewegung hinein, die er, selbständig auf Hamann’s und Lessing’s Pfaden schreitend, kühn befördert hatte und aus eigener Kraft weiter zu leiten entschlossen war. Indem er G. an seinen Einsichten theilnehmen ließ und ihm Aussichten ins Weite, ja ins Unbegrenzte eröffnete, trieb er unwiderstehlich ihn aus den engeren Anschauungen heraus, in denen die Bildung der Zeit ihn bis dahin noch immer befangen gehalten. –

Die Schranken des Herkommens, die auch G. in Auffassung und Ausübung [433] der Kunst noch nicht siegreich durchbrochen hatte, jetzt fielen sie nieder. Der Blick ward frei: die Welt- und Völkerpoesie that sich in unermeßlicher Ausdehnung vor ihm auf. Derjenigen Satzungen ward nicht mehr geachtet, die nur auf Meinungen, welche nach Zeit und Ort wechseln, oder auf Ueberlieferung sich stützen. Die hohle Regel zerbrach. Geltung und Achtung gebührte nur den ewigen Kunstgesetzen, welche die Meister aller Zeiten in sich getragen, denen sie bewußt oder unbewußt gehorchten. Durch Herder lernte G. den Unterschied erkennen zwischen dem Zeitlichen und Ewigen in der Poesie; er ward durch die Schärfe, mit welcher jener das Falsche vom Echten sonderte, unweigerlich gezwungen, die Götter und Götzen des Jahrhunderts in ihrer wahren Gestalt oder Mißgestalt zu sehen. Es ward eine heftige, nicht durchaus schmerzlose, aber durchaus heilsame Erschütterung in seinem geistigen Dasein bewirkt. Herder zerstörte ihm den Wahnglauben an unrechtmäßige oder zwangsweise aufrecht erhaltene Autoritäten; aber er gab ihm den rechten Glauben an die Schöpferkraft des menschlichen Geistes; er weihte ihn ein zur Erkenntniß des wahrhaft Großen, was dieser Geist in den verschiedenen Epochen der Geschichte der Menschheit aus sich erzeugt hatte. Wenn er auch den jüngeren Freund durch Scherz und herben Ernst oft niederschlug und ihn zuweilen vielleicht mit unbilliger Härte an seine Unzulänglichkeit mahnte, so mußte dem suchenden und ringenden Dichtergeiste doch durch alle diese ihm zuströmenden Anregungen die köstliche Zuversicht auf sein eigenes schöpferisches Vermögen bestärkt werden. Nun erschien ihm die Bibel als poetische Uroffenbarung wie von einem neuen Lichte bestrahlt. Der Gesang Homer’s tönte aus dem Innern des wundersamsten Volkslebens als veredelter Naturlaut einer jugendlich kräftigen Menschheit hervor. Shakespeare’s Gestalt erschien in ihren wirklichen Umrissen; die Beschäftigung mit dem Volksliede, dessen im Elsaß erhaltenen Resten G. mit Erfolg nachspürte, leitete zu der Einsicht, daß die poetische Fähigkeit als eine der gesammten Menschheit verliehene Gabe aufzufassen sei, die in einzelnen Erkorenen sich zum höchsten Grade der Ausbildung steigere.

Nachdem Herder aus Straßburg geschieden, hegte und befestigte G. die neu gewonnenen Ueberzeugungen in seinem Innern; er predigte sie mit hinreißendem Eifer und verbreitete sie in seinem Freundeskreise, der sich rückhaltlos zu ihnen bekannte.

Von ihnen ward auch Lenz ergriffen, der sie hernach mit einer ins Tumultuarische gehenden, halb kindischen Heftigkeit vortragen und vertheidigen sollte. Um das Ende des April 1771 hatte er sich in Straßburg eingefunden; seine Beziehung zu G. konnte damals noch keine innige werden. Was die um G. versammelten Freunde zu geistiger Gemeinschaft verband, war vornehmlich die Bewunderung Shakespeare’s oder vielmehr die leidenschaftlich unbedingte Liebe zu seinen Werken. In ihnen erblickte man die Natur selbst; das Schicksal der Menschheit, das Geschick des Einzelnen ward durch sie offenbart; aus ihnen vernahm man mächtige Naturworte, die man ausdeuten, aber nicht abschwächen, deren Gehalt man sich aneignen, aber nicht kritisch wägen sollte. Die scheinbare Freiheit, in welcher sich die Form des Shakespeare’schen Dramas bewegt, die Vernichtung jedes sichtbaren Regelzwanges schmeichelte dem unbändigen Freiheitsgefühl, das in dieser litterarischen Jugend auf- und abstürmte. Sie verehrte in dem Briten den Führer zur Selbständigkeit.

Während sie an der Riesengestalt des Dichters hinaufstaunte, verhöhnte sie „die Herren der Regeln in ihrem Loch“, welche den herkömmlichen Maßstab, der nicht mehr giltig war, an die Größe einer solchen Erscheinung anlegen und sie als ungeheuerlich verschreien wollten. Und jene Selbständigkeit sollte nicht nur von dem Einzelnen errungen, sie sollte dem Geiste der gesammten Nation zurückgegeben [434] werden. Deutsch zu sein in Leben und Kunst, das Vaterländische in Wissenschaft und Sitte zu pflegen, das Fremde, das sich gebieterisch aufdrängen wollte, abzuwehren, das erschien als Pflichtgebot, dem man aus innerster Neigung folgte. In der Nähe Frankreichs, auf einem Boden, der nicht mehr für deutsch gelten konnte, warfen sich die Genossen, denen G. voranging, zu Gegnern und Verächtern alles französischen Wesens auf. Hier ward der entscheidende äußere Anstoß zu der Umwälzung gegeben, deren Wirkungen sich alsbald über die ganze Breite der deutschen Litteratur ausdehnten und diese in ihren Tiefen umgestalteten. Die Litteratur Frankreichs, die sich noch immer mit ihrer vermeintlichen Herrschaft über Europa brüstete, erschien altersmatt; sie war verneinend und glaubenslos. Von ihr wandte G. sich ab, um Blick und Sinn in die deutsche Vergangenheit zu richten, deren Kunstherrlichkeit im Straßburger Münster ihm verkörpert vor Augen stand. Er erbaute sich an den schriftlichen Zeugnissen, die unsere Vorfahren von ihrem Sein und Treiben hinterlassen haben. Mochte die Darstellung in diesen Schriften auch noch so ungelenk sein, so trat doch aus ihnen die Gestalt der Vorzeit seiner bildenden Phantasie entgegen. Und so konnte wol im Anblick des Münsters ihm der Gedanke aufsteigen an eine Dichtung, die, ähnlich wie sein Götz, der frischen Gegenwart angehörte und doch den Hauch verschwundener Jahrhunderte spüren ließe.

Während so unter der gemeinsamen Einwirkung Homer’s und Shakespeare’s, der biblischen Poesie, des classischen und des heimischen Alterthums der deutsche Dichter sich in ihm ausbildete, rückte die Zeit des Abgangs von Straßburg immer näher. Dem Verlangen des Vaters gemäß sollte er bei seiner Promotion den Erfolg seiner juristischen Studien durch eine gedruckte Abhandlung öffentlich documentiren. Er hatte denn auch der Facultät eine gewandt und lebhaft geschriebene Abhandlung überreicht, in welcher er den Grundsatz verfocht, daß dem Gesetzgeber nicht nur das Recht zustehe, sondern die Pflicht obliege, für Geistlichkeit und Laien einen gewissen Cultus zu bestimmen. Ohne das Verdienstliche der Arbeit zu verkennen, hegte die Facultät doch ernste Bedenken gegen den Stoff derselben. Sie wünschte nicht, eine Dissertation solches Inhalts unter ihren Auspicien gedruckt zu sehen, erbot sich aber, den Verfasser nach seinem Wunsche zum Licentiaten der Rechte zu befördern, wenn er, wie es in Straßburg damals nicht selten geschah, über Thesen disputiren wollte. So setzte denn G. 56 Positiones juris auf, unter denen sich auch eine These gegen die Abschaffung der Todesstrafe befand; sie wurden gedruckt; am 6. August 1771 ward die heitere Feierlichkeit der Disputation vollzogen, und der Dichter konnte als graduirter Rechtsgelehrter den Heimweg antreten.

Er verließ den Straßburger Boden im sichern Gefühl erlangter Freiheit; die Fesseln französischer Bildung waren von ihm abgefallen. Er verließ diesen Boden voll kühner Gedanken, voll aufstrebender Hoffnungen, aber auch mit einem Schmerzgefühl, das der Trennung von Friederiken folgen mußte. Eine unruhig wogende Stimmung bemächtigte sich seiner; unter den wechselnden Eindrücken der Reise, vor allem beim Anblick der Abgüsse, die im Mannheimer Antikensaal versammelt waren, schien sie sich zu beschwichtigen; aber sie brach mehr als ein Mal wieder hervor, nachdem er schon längst die Schwelle des Vaterhauses wieder überschritten hatte.

Dennoch wurden die Aufgaben des praktischen Lebens ohne Verzug rüstig ergriffen. Schon am 28. August, also im Beginne seines 23. Jahres, wandte sich der Licentiat an das höchste Gericht Frankfurts mit dem Ersuchen, ihm die Ausübung der Advocatur zu gestatten; drei Tage hernach ward er der Gewährung seiner Bitte versichert. Die von G. L. Kriegk 1874 bekannt gemachten Actenstücke zeigen, daß er die Geschäfte, die sein juristischer Beruf ihm zuführte, [435] mit ernsterem Sinne betrieb, als seine eigenen Aeußerungen vermuthen lassen. Unstreitig benahm er sich auch hier mit der pflichtmäßigen Gewissenhaftigkeit, die er hernach als weimarischer Staats- und Geschäftsmann niemals verleugnet hat. Die juristische Thätigkeit seiner Frankfurter Jahre, die freilich, bei seiner Art zu leben und zu schaffen, manche Unterbrechung erleiden mußte, kann immerhin als eine förderliche Vorbereitung zu seinem späteren amtlichen Wirken gelten. Erleichtert ward ihm die Praxis durch die Gewandtheit eines Schreibers, Liebholdt, dem alle Formalien geläufig waren, vor allem aber durch die Theilnahme des Raths Goethe, der nun in Angelegenheiten des Sohnes seine tüchtige Rechtskenntniß freudig zur Geltung brachte. So blieb dem jungen Advocaten Raum genug, die poetischen Geister walten zu lassen. Und sie zogen mit Macht heran.

Am 14. October hatte er in enthusiastischer Rede Shakespeare als seinen Freund gefeiert, dem er seine geistige Erleuchtung verdanke, dem er in der Nebenrolle eines Pylades zur Seite bleiben möchte; und im folgenden Monate war er ganz hingenommen von der Arbeit an einem Werke, das wenigstens unter dem Anhauch des Shakespeare’schen Geistes entstand. Er brachte die Lebensgeschichte Götzens von Berlichingen in dramatische Form; das ungefüge Büchlein, in welchem der Ritter selbst über sein Thun und Treiben berichtet, hatte die Anregung und den Stoff gegeben. Vor dem Auge des Dichters stand das Bild der Zeit, die er darstellen wollte, in großen Zügen fest; Begebenheiten und Charaktere waren sorgfältig, wenn auch nicht nach dem Gesetze innerer und äußerer Einheit, geordnet. Nachdem die Ausführung einmal begonnen war, wuchs das Werk rasch unter dem herzlichen Beifalle der Schwester, die nach wie vor die Vertraute seines Geistes blieb. Er arbeitete mit einer Leidenschaft, daß er „darüber Sonne, Mond und die lieben Sterne vergaß“. Indem er die lockenden Einzelheiten seines Stoffes liebevoll ergriff und sie mit besonderer Neigung ausbildete, ließ er die Gesammtwirkung aus der Acht. Wie die Scenen sich aneinander reihten, wurden sie Cornelien mitgetheilt; nach etwa sechs Wochen, noch vor dem Ende des Jahres, gelangte das Werk zum Abschluß. Die „Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand, dramatisirt“, ward nun dem Urtheil der Freunde, Salzmann und Herder, vorgelegt. Auch ein neu gewonnener Freund konnte bald sein Urtheil sprechen: J. H. Merck in Darmstadt (1741–91). Durch die Brüder Schlosser ward G. diesem eigenartigen Manne zugeführt, der damals auch mit Herder in Verbindung stand. Wie entschieden auch in der Natur Merck’s das kritische und verneinende Element vorwalten mochte, so hat er doch offenbar in G. den mächtig sich entfaltenden Dichtergeist gleich im Beginne erkannt. Wenn er auch so wenig, wie irgend einer der übrigen Zeitgenossen, den ganzen Umfang des Goethe’schen Wesens zu überblicken vermochte, so war er doch vielleicht einer von den ersten, die deutlich einsahen, in welcher Richtung sich dieser Dichtergeist vorwärts bewegen müßte. So lange er selbst gesund blieb an Geist und Gemüth, kam er niemals in Gefahr, G. mißzuverstehen. Schärfe der Beobachtung und nicht mindere Schärfe des witzigen Wortes war ihm eigen; er war ein tiefdringender, wenn auch nicht ganz unbefangener Menschenkenner: denn mancherlei Erfahrungen hatten ihn verbittert. Obgleich Productivität im höheren Sinne ihm versagt blieb, so mußte er sich doch auf litterarischem und wissenschaftlichem Gebiete unablässig regen und bewegen. Daß er seine Naturstudien nicht als Liebhaber, sondern als ernster Forscher betrieb, kam hernach dem Dichter, als auch dieser zum Forscher wurde, vielfach zu gute. Sowie er sich darstellte, mit allen Mängeln, mit allen Ecken und Zacken seiner Natur, war Merck damals für G. ein hochwichtiger Genoß, in manchen Fällen ein Führer.

[436] Bald sah sich G. in den Darmstädter Kreis hineingezogen. Neben Männern, wie Petersen und Wenck, fand er dort auch Caroline Flachsland, Herder’s Braut. Aus manchen noch vorhandenen Zeugnissen und Berichten wissen wir, welch ein geistig bewegtes Treiben in dieser „Darmstädter Gemeinschaft der Heiligen“ herrschte; selbst wenn es bis zur Ausgelassenheit stieg, blieb es noch poetisch veredelt. G., angeregt und anregend, griff heiter und kräftig ein; hier traf er auf Gemüther, denen er mit seinen eben entstandenen Werken und Werkchen eine echte Lust bereitete und die ihm mit dankbarer Empfänglichkeit lohnten.

Durch Merck ließ er sich zur Mitarbeit an den Frankfurter gelehrten Anzeigen bestimmen. Dies kritische Blatt, das mit dem Beginne des J. 1772 erschien, war der Verkündigung der neuen Ansichten und Tendenzen gewidmet, welche damals, unter dem Widerstande der älteren Generation, sich in Leben, Kunst und Wissenschaft herrschend verbreiteten. Kaum zwei Jahre lang konnten die „Anzeigen“ diesem ihrem ursprünglichen Zwecke treu bleiben. Im ersten Jahre gab G. eine reichliche Beisteuer: seit dem 11. Februar mag er etwa 27 Recensionen geliefert haben; im folgenden kamen wol nicht viel mehr als acht hinzu. Diese Aufsätze, die oft von lauterem Jugendfeuer durchglüht sind, deuten sammt und sonders in die Zukunft. Der Kritiker, der hier mit dichterischem Schwunge, zuweilen ungestüm, aber nie ohne Klarheit, redet, er will Raum machen für eine neue Poesie und Kunst; nur auf die Natur, auf das ewig Wahre, soll der Künstler blicken. Der Bruch mit dem Herkömmlichen wird unwiderruflich ausgesprochen.

Wie Goethe’s Leben sich jetzt von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat, nach allen Richtungen hin unaufhaltsam ausbreitet und in die mannigfachsten Beziehungen zur Welt und Menschheit tritt, mahnt es an das eigene Wort des Dichters: „Mit jedem Schritt wird weiter die rasche Lebensbahn“. Von der Fülle dieses immer mehr sich ausbreitenden Lebens durch flüchtige Andeutungen einen Begriff zu geben, wird unmöglich. Wir müssen uns bescheiden, auf die wichtigsten Lebenspunkte, auf die folgenreichsten Wendungen im Lebensgange nur hinzuweisen. Eben so unmöglich wird eine Betrachtung alles dessen, worin dies Dasein nothwendig seinen höchsten Ausdruck findet, der dichterischen Schöpfungen, der wissenschaftlichen Leistungen. Es muß genügen, wenn nur die Erinnerung an einige derselben geweckt wird.

Im Frühling 1772 finden wir den jungen Rechtsbeflissenen in Wetzlar, am Sitze des Reichskammergerichts. An dieser Stätte sollte das deutsche Recht in voller Majestät thronen und von dort seine heilbringende Wirksamkeit über die deutschen Lande ausdehnen; dort sollte G. die abschließenden juristischen Weihen empfangen. Am 25. Mai als „Praktikant“ immatriculirt, verweilte er dort bis zum 11. September. Der Einblick in die völlig entarteten Rechtsverhältnisse konnte ihm weder tröstlich noch belehrend sein. Er sah in eine rettungslose Verworrenheit hinein, in eine Welt von Mißständen und Mißbräuchen, die sich durch eine Reihe von Menschenaltern unter dem Scheine der Gesetzmäßigkeit schmählich behauptet hatten. Er mochte sich auch hier wol fragen, wie es doch möglich sei, daß das heilige römische Reich noch zusammenhalte. Doch lasteten derartige Betrachtungen sicherlich nicht allzu schwer auf seinem Gemüthe. Er fand Erholung bei den Alten, denen er sich, wie schützenden Genien, mit wachsender Innigkeit anschloß. Er las seinen Homer, seinen Pindar; man wußte in Wetzlar, wie eifrig er sich dieser edlen Neigung hingab. Von den schönen Geistern des Orts ward er als eine aufstrebende, ja fast schon wie eine anerkannte Größe empfangen, obwol sein Name über den Kreis der persönlichen Freunde noch nicht hinausgedrungen war. Männer, wie Gotter, Goué, Kielmannsegge lockten ihn in eine lustig-phantastische Ordensbrüderschaft; er konnte [437] sich in ein erneutes akademisches Leben versetzt wähnen. Was aber jenem Wetzlarer Sommer Reiz und Bedeutung verlieh, das war das trauliche Verhältniß zu der Familie des Deutschordens-Amtmanns Buff. Im Mittelpunkte derselben stand die Tochter Charlotte (11. Januar 1753 bis 16. Januar 1828), ein reines deutsches Mädchenbild, in einfacher Lieblichkeit anziehend, umgeben von einer Geschwisterschaar, über der sie mit der Sorgfalt einer Mutter wachte. Schon seit einigen Jahren hatte sie dem Legationssecretär J. Chr. Kestner (28. August 1741 bis 24. Mai 1800), der damals bei der hannöverschen Kammergerichtsvisitation thätig war, ihre Hand zugesagt. Am 9. Juni sah G. zuerst auf einem ländlichen Ball das 19jährige Mädchen. Wir dürfen dem Bräutigam trauen, wenn dieser, der seine Worte bedächtig abwägt, von ihr rühmt, ihr Blick sei wie ein heiterer Frühlingsmorgen. Weil sie den Tanz liebte, blickte sie an jenem Tage noch heiterer als sonst. Ohne daß sie es wollte oder merkte, war G. für sie gewonnen. Es zog ihn von nun an immer wieder in ihre Nähe. Hatte sie ihm zuerst gefallen, wie sie voll harmloser Laune sich dem Vergnügen hingab, so lernte er nun auch ihr häusliches Thun und Walten schätzen. Das deutsche Haus ward für ihn ein Heimathsort. Er spielte mit den Kindern und war ernst und gemüthvoll, heiter und melancholisch mit den Erwachsenen. Er gab sich in der ganzen Unbefangenheit seines Wesens, und eben dadurch machte er sich den Großen, wie den Kleinen unentbehrlich. Könnte man aus dem ersten Theile des Werther alles entfernen, was der Darstellung den düster drohenden Hintergrund gibt und die unausweichliche Katastrophe vorbereitet, so gewänne man ein treues Bild des Zustandes, der den Dichter damals in Lottens Nähe beglückt hat. Aber während ihn dies Glück noch ganz umfing, fühlte er sich schon gedrungen, Lottens Erscheinung, wie sie ihm unmittelbar vorschwebte, mit festen und hellen Strichen zu zeichnen. In der Recension der „Gedichte von einem polnischen Juden“, welche die Frankfurter Anzeigen am 1. September brachten, finden wir freilich die Tochter des Amtmanns Buff nirgends genannt; wir wissen aber, von welchem Urbild G. die Züge borgte, mit denen er das Mädchen schildert, das er einem unter dem Segen des vaterländischen Genius aufblühenden Dichterjünglinge zur Gefährtin wünscht. Kestner sah in dem Freunde seiner Braut auch den eigenen Freund. Er hatte, auf seine Weise, das Außerordentliche in Goethe’s Natur wohl erkannt; er war zugleich von dessen Edelsinn und der Treue Lottens so innig überzeugt, daß er von dem Verkehr der Beiden keinerlei Gefahr für sein eigenes Glück besorgte. Dennoch war es heilsam, daß G. mit kühnem Entschluß durch eine tapfere Flucht sich und die Freunde vor den Conflikten sicher stellte, denen bei längerer Dauer eines so hoch gespannten Verhältnisses selbst die edelsten Charaktere nicht hätten entgehen können. Er wandertc nach Ehrenbreitstein bei Koblenz zur Familie La Roche; in dem litterarisch-geselligen Cirkel, der sich ihm hier aufthat, mangelte es nicht an neuen Eindrücken, nicht an Gelegenheit zu neuen Wahrnehmungen, an denen der Poet sich bereichern konnte. Ein etwa fünftägiger Aufenthalt genügte, ihn auch in dieser Familie völlig heimisch zu machen, welche dann durch verschiedene Generationen hindurch ihm verbunden bleiben sollte.

G. wandte sich zurück nach Frankfurt; dort, in der Vaterstadt, im Elternhause, auf seiner hochgelegenen Stube, welche bald die Abbilder antiker Gottheiten zu einer wahren Künstlerwerkstätte weihten, dort schuf oder entwarf der Dichter in ununterbrochener Reihenfolge während der nächsten drei Jahre die Werke, die das neue Zeitalter der deutschen Litteratur eröffneten.

Aus Wetzlar hatte er den Keim der Dichtung mitgenommen, die zwei Jahre hernach die Gemüther in Deutschland, dann in der ganzen gebildeten Welt so übermächtig erschüttern sollte. Die Wetzlarer Freunde aber vernahmen seine [438] frischen Geistes- und Herzensworte in zahlreichen Briefen, aus denen die Reinheit seines Gemüths vielleicht am ungetrübtesten widerscheint. Jeder dieser Briefe, von denen mancher ein köstliches Gedicht zu nennen ist, bezeugt sein unaufhörliches Wachsen an Geist und Kunst. Auch nachdem der Palmsonntag 1773 Lotte und Kestner für immer vereint hatte, blieb G. unverändert der Freund des Ehepaares, bis mit dem Erscheinen Werther’s eine erklärliche Störung eintrat, der aber im Verlaufe der Zeit die erwünschte Ausgleichung folgte.

Noch vor dem Ende des J. 1772 ward der Bogen „Von deutscher Baukunst“ ausgefertigt, den dann Herder zu verdienten Ehren brachte, indem er ihn aufnahm in die Sammlung „Von deutscher Art und Kunst“, so daß nun Erwin v. Steinbach neben Ossian und Shakespeare erschien. Die ersten Monate des J. 1773 waren der Umgestaltung des „Götz“ gewidmet, bei der sich G. durch strengere Grundsätze des Stils und der künstlerischen Behandlung leiten ließ. Als das so geläuterte Werk im Juni ans Licht kam, erregte es ganz Deutschland. Es war die Erstgeburt des Genius; er offenbarte sich gleich in ganzer Größe, mit überraschender Gewalt. G. ward das Haupt der jungen Dichterschule, der anerkannte Führer der Bewegung, der Befreier, der vom starren Regelzwange zu Wahrheit und Natur zurückführte.

Kaum übersehbar sind die Productionen und Entwürfe, die sich jetzt aus dem Geiste des Dichters hervordrängten. Und von wie manchen ist uns nur unsichere Kunde erhalten! Kurz vor und nach dem Götz ließ er zwei Schriftchen theologischen Inhalts ausgehen; mit ihnen muß man den im Februar 1774 gedruckten Prolog zu Bahrdt’s Offenbarungen verbinden, um zu erkennen, daß G. dem leeren und anmaßlichen Rationalismus eben so fremd und feind ist, wie dem gemüthlosen Buchstabenglauben. Den Volkston des 16. Jahrhunderts erneuerte er in derben Fastnachtsspielen und Farcen. Wenn auch hinter den Masken, die hier auftreten, meist Personen aus der ihn umgebenden Gesellschaft versteckt sind, so greifen diese Scherze doch weit über seinen gesellschaftlichen Kreis hinaus. Mit dem unbegrenzten Muthwillen der echten Komik, die sich dem echten Ernst keineswegs widersetzt, bekriegt und negirt er alles Halbe, Schiefe, Unwahre und Schwächliche, das sich unter dem Schutze des Zeitgeistes, im Gefolge falscher Tendenzen, Geltung und Ansehen erschleichen will. Die alte volksmäßige Weise, die G. hier wieder einführt und die er auch im ersten Faust so vielfach anklingen ließ, behandelt er nicht als ein Nachahmer. Er fühlt sich den alten Meistern, einem Hans Sachs und dessen Zeitgenossen, wirklich congenial; die alte Form muß in seinem Künstlersinne natürlich wieder auferstehen; er handhabt sie mit so sicherer Freiheit, als ob er sie selbst sich erfunden und zugerichtet hätte. Erschien er hier der älteren deutschen Zeit verwandt, so mußte er zugleich seine Verwandtschaft mit dem classischen Alterthum erweisen. Nicht ungestraft durfte der ganz modern geartete Wieland den Euripides herabziehen, um sich selbst gegen ihn in Vortheil zu setzen. In der Farce „Götter, Helden und Wieland“, die im October 1773 wie durch einen glücklichen Wurf entstand, ward das Griechenthum gegen die entstellende und verkleinernde Auffassung der Neueren mit keckem Spott, mit Entrüstung und Begeisterung vertheidigt; der angeborenen, wenn auch zuweilen ungezogenen Kraft einer unverkünstelten Menschheit ward zum Rechte verholfen gegen moderne Schwächlichkeit und Verzärtelung. Der Dichter des Prometheus war zu einer so nachdrücklichen Apologie des Alterthums wohl berufen. Jenes gewaltige Drama, das sich neben den vollendeten Faust wie ein ragender Torso stellt, war bestimmt, dem menschlichen Selbstbewußtsein den schärfsten Ausdruck zu verleihen oder vielmehr das Selbstgenügen des schöpferisch bildenden Menschen zu verkündigen, so wie das rücksichtslose Widerstreben gegen die „stolzen Bewohner des Olympus“, die sich unendlich und [439] allmächtig wähnen. Die zwei Acte des Fragments die dem J. 1773 angehören, wurden dem Freundeskreise bald bekannt; in den Besitz der Nation gelangten sie fast sechs Jahrzehnte später durch die Ausgabe letzter Hand. Um dieselbe Zeit, wie den Prometheus, wahrscheinlich schon früher, muß G. auch den großartigen Plan des „Mahomet“ ergriffen haben; die Ausführung einzelner hervorstechender Momente der Handlung ward begonnen. Ein „Julius Cäsar“ tauchte auf, der sich schon in der Straßburger Zeit hatte blicken lassen; „Faust“ kam immer näher und wuchs immer mächtiger empor.

In den beiden folgenden Jahren blieb der erregte Schaffensdrang unvermindert und ungehemmt. Nach langer, stiller Vorarbeit war endlich der Werther im Goethe’schen Geiste gereift. Der Dichter befreite sich durch dies Werk für immer von den krankhaften Elementen der Zeitstimmung, die auch an ihn herangedrungen waren; er verfuhr als ein darstellender Künstler höchster Art, der kein anderes Gesetz kennt, als das der inneren Wahrheit. Die Heilung sollte vorbereitet werden durch Aufdeckung der Krankheit. Wer darf es ihm nun zur Schuld anrechnen, wenn die Zeitgenossen, von dem realen Inhalt des Werkes ergriffen, gerade durch die Treue und die beispiellose Gewalt der Darstellung sich verleiten ließen, aus einer Dichtung, die, richtig erfaßt, dem Uebel hätte wehren müssen, neuen Krankheitsstoff zu saugen? Er mußte es ruhig geschehen lassen, daß man die im Werke selbst enthaltene Warnung überhörte; er konnte nicht hindern, daß andere jenen quälenden Wahnbildern nachjagten, die er selbst von sich weggescheucht hatte. Die künstlerische Weisheit, die hier ein so fest geschlossenes Ganzes formte, konnte erst gewürdigt werden, als die unmittelbare Wirkung des Stoffes gebrochen war. Dieser Stoff selbst, wie geringhaltig kann er auf den ersten Blick erscheinen! Aber G. wußte ihn dadurch zur höchsten Bedeutung zu erheben, daß er den ganzen geistigen Gehalt der Zeit hier zusammendrängte, daß er allem, was die Gemüther erfüllte und bewegte, hier einen Eingang verstattete. So wird das Büchlein Werther zum Spiegelbild einer bestimmten Epoche des deutschen Lebens.

Der 1. Februar 1774 war der Tag, an dem G. die abschließende Ausarbeitung begann; in den nächsten vier bis sechs Wochen erhielt der Roman die Gestalt, in welcher er dann im Herbst vor dem deutschen Publicum erschien. Aber noch vor den „Leiden des jungen Werther’s“ war das Trauerspiel „Clavigo“ der Oeffentlichkeit übergeben worden, das wirkungsvollste unter den unmittelbar für die Bühne berechneten Stücken Goethe’s. Die Memoires des Beaumarchais weckten in ihm „romantische Jugendkraft“; was dieser aventurier français mit so gewandter Beredsamkeit erzählte, verschmolz mit Dem, was er an sich selbst erfahren und in sich selbst erlebt hatte; so folgte dem Abschlusse des Romans unmittelbar dies Drama, für welches er weislich eine strengere oder, wenn man will, beschränktere Form gewählt hatte. Klopstock hatte sein Wohlgefallen an dem Stück; die jungen Verehrer des Götz wollten jedoch in diesem regelmäßigen, der herkömmlichen Weise mehr angenäherten Drama ihren vergötterten Dichter kaum wieder erkennen.

Was damals sonst noch in dramatischer Form erschien, reichte nicht an die Bedeutung des bisher Geleisteten. Doch auch diese minder gehaltvollen Arbeiten wurzeln ganz in des Dichters Leben; auch sie bezeugen, was sich in seinem Inneren zugetragen. Wir nennen die Schauspiele mit Gesang „Erwin und Elmire“ (gedruckt 1775) und „Claudine von Villa Bella“ (gedruckt 1776), in welchen beiden neben naturkräftiger, oft absichtlich ins Derbe getriebener Prosa die lieblichsten Liedestöne vernommen werden; ferner das mit gährender, glühender Leidenschaft so überreich ausgestattete „Schauspiel für Liebende“, Stella. Den Commentar zu diesem uns so seltsam anmuthenden Erzeugnisse des J. 1775 [440] haben wir wol nicht in des Dichters eigenen Lebensverhältnissen allein zu suchen. G. ist auch hier ein treuerer Dolmetscher der durch jene Zeit verbreiteten Gesinnungen, als der ungläubig sich verwundernde Leser unserer Tage ahnen mag.

Das Bedeutendste, das damals unternommen ward, mußte dem Publicum vorenthalten bleiben. Zum Genusse der köstlichen Fragmente des „Ewigen Juden“ wurden sicherlich nur wenige Freunde zugelassen. Vom Faust drang eine Kunde in weitere Kreise; aber der Einblick in die damals schon ausgeführten Theile ward auch nur den Mitstrebenden und Vertrauten, oder einem älteren verehrten Meister, wie Klopstock, verstattet. Wenn G. seit dem Herbste 1774 den litterarischen Genossen die fertigen Scenen vorlas, so glaubten jene, das Stück nähere sich bereits der Vollendung. Im folgenden Jahre war dann die Arbeit daran noch überaus ergiebig. Schon damals muß der Faust den Charakter eines allumfassenden Gedichts getragen haben, eines Gedichts, von dem, wie Schelling später rühmte, eine Kraft ausgeht, welche das Innerste der Welt bewegt. Schon damals müssen auch in der Sprache und Versification alle die Eigenschaften hervorgeleuchtet haben, die, mehr als 50 Jahre hernach, A. W. Schlegel preist, indem er bekennt, daß die hier bewährte Meisterschaft ihn in immer neues Erstaunen versetze, und dann hinzufügt: „alles ist unmittelbar und augenblicklich, alles ist Leben, Charakter, Seele, Geist und Zauberei“. Wenn wir nun diesen Werken, die neben einander in des Dichters Geiste Raum hatten, noch den „Egmont“ beigesellen, der im Herbste 1775 schon sehr weit gediehen sein muß, und zugleich an „Hanswursts Hochzeit“ erinnern, so scheint sich die in jenen Jahren thätige Schöpferkraft ins Unermeßliche auszudehnen.

Zwischen diesen umfassenden Dichtungen schlingen sich die kleineren Lieder hindurch, aus denen die wechselnden Herzensstimmungen und Seelenregungen – und sie wechselten in jenen Jahren sehr lebhaft, – rein und entzückend hervorklingen. Zu einer besonders anziehenden lyrischen Gruppe vereinigen sich die Gedichte, die sich auf Goethe’s Beschäftigung mit der bildenden Kunst beziehen und sein damaliges Kunstevangelium enthalten.

Unser Staunen über Zahl und Bedeutung dieser Productionen muß sich noch steigern, wenn wir uns die äußeren Lebenszustände Goethe’s anschaulich machen. Mochte sein Geist auch unaufhörlich arbeiten, so war es ihm doch selten möglich, sich, wie es etwa bei Abfassung des Werther geschah, zu völlig gesammelter Thätigkeit ganz in sich selbst abzuschließen. Der Verkehr mit der freien Natur, der Verkehr mit den Menschen durfte nie lange unterbrochen werden; ja das Wogen und Treiben dieses gesellschaftlichen Verkehrs begünstigte die freie Entfaltung des dichterischen Vermögens. In Frankfurt drängten sich die Jugendfreunde um ihn, denen andere beitraten, die mit Recht oder Unrecht als seine Genossen gelten wollten. Seitdem sein Name durch ganz Deutschland erklang, kamen sie von allen Enden herbei, die Welt- und Geschäftsleute, die Männer der Litteratur und Wissenschaft, die Meister und Gesellen, Anhänger der älteren Zeit und Kunst und gläubige Jünger der neuen Schule; sie alle näherten sich dem Genius, um ihn anzustaunen, sich mit Begeisterung seiner zu erfreuen oder ihn wenigstens wie eine Erscheinung ohne gleichen zu beobachten. Er aber bezwang die Herzen, indem er die Geister unterjochte. Das Dämonische seines Wesens brach oft mit ungezähmter Gewalt hervor; aber unter dem Eindrucke seiner Herzensgüte fühlte man die Furcht vor seiner Größe schwinden. Die meisten von Denen, die tiefer in seine Natur hinein sahen, hätten seinen eigenen Satz bekräftigen können, daß es gegen große Vorzüge eines Andern kein Rettungsmittel gibt als die Liebe. Nach dem ersten längeren Beisammensein mit ihm schreibt Lavater an Zimmermann: „Du würdest ihn vergöttern, er ist der furchtbarste und liebenswürdigste Mensch“.

[441] Die Schwester war damals nicht mehr an seiner Seite. Als Gattin J. G. Schlosser’s, dem sie am 1. November 1773 angetraut worden, hatte sie das elterliche Haus verlassen. Durch frühen Tod (1777) sollte sie bald dem Manne wieder entrissen werden, der sie als die „schönste Weiberseele“ erkannte. Ihre Entfernung machte sich dem Bruder fühlbar genug. Die entstandene Lücke konnte nicht ausgefüllt werden durch die Beziehungen zu Maximiliane Brentano, der Tochter der Frau von La Roche, noch weniger durch das freundliche, aber leidenschaftslose Verhältniß zu Anna Sibylla Münch, aus dem die Eltern gern ein dauerndes Bündniß hätten hervorgehen sehen. Für alles, was er entbehren mochte, ward ihm in anderer Weise reichlicher Ersatz. Im J. 1774 knüpften sich Verbindungen mit den bedeutendsten Persönlichkeiten. Im Juni und Juli war er mit Lavater und Basedow zusammen; mit den beiden Propheten, von denen der letztere sich oft so wunderlich geberdete, ward jene Rheinreise unternommen, deren G. in Vers und Prosa gedenkt, und deren einzelne Momente uns jetzt aus Lavater’s Tagebuche so anschaulich entgegentreten. In dieselbe Zeit fällt die Stiftung des Freundschaftsbundes mit Fr. Heinr. Jacobi. Das Gefühl des Widerwillens, das G. bisher gegen diesen und gegen dessen ganzes Sein und Thun gehegt und sogar in einer verwegenen Farce kundgegeben hatte, es war bei dem ersten persönlichen Zusammentreffen wie ausgelöscht. Der Geist Spinoza’s schien über den Beiden zu schweben und sie einander entgegenzuführen. Jacobi, in der Philosophie bewanderter als G., hatte durch eindringendes Studium sich mit der Ethik Spinoza’s vertraut gemacht; der Dichter hatte aus ihr Beruhigung geschöpft und Aufklärung über sein eigenes Streben gewonnen. Die neuen Freunde konnten sich nicht genug thun in wechselseitiger Mittheilung alles dessen, was ihr Inneres ausfüllte. Für immer, so schien es, hatten sie sich aneinander geschlossen; Jacobi glaubte den Mann gefunden zu haben, dessen sein Herz bedurfte, den Mann, der das ganze Liebesfeuer seiner Seele aushalten konnte. Wirklich vermochten sie sich niemals wieder ganz von einander loszureißen; aber Zerwürfnisse traten ein, die auf den Gegensatz der Naturen deuteten; Entfernung und Entfremdung ward unvermeidlich. Die alte Liebe oder vielmehr das Andenken derselben versöhnte und einigte sie dann wieder; dennoch mangelte das gegenseitige Verständniß, das allein den Bund innerlich hätte festigen können.

Im October jenes Jahres und im März des folgenden erschien Klopstock, dem G. sich schon brieflich genähert (28. Mai 1774), dem er eben noch im Werther seine Huldigung dargebracht hatte. Der Erneuerer der deutschen Poesie stand damals noch dem Jüngeren mit einer Art von väterlichem Ansehen gegenüber; er vernahm mit Beifall, was dieser ihm von seinen neuesten Arbeiten vortragen mochte. Die wichtigste Begegnung aber fand in eben den Tagen statt, da die Freundin Klettenberg (13. Decbr. 1774) die Erde verließ.

Der 17jährige Erbprinz von Weimar, Carl August, und sein jüngerer Bruder, Constantin, waren, von dem Grafen Görtz und dem Hauptmann K. L. v. Knebel begleitet, auf der Reise nach Paris begriffen. Sie berührten Frankfurt. Es war eine für Goethe’s ganze Zukunft entscheidende Stunde, in der Knebel ihn den Prinzen vorstellte (11. December). Eine rasche Annäherung ergab sich im Verlaufe eines Gespräches, in welchem der Dichter ungezwungen darthun konnte, daß auch die Angelegenheiten des praktischen Lebens, die Fragen nach Wohl und Wehe der bürgerlichen Gesellschaft ihn vielfach beschäftigt hatten. Der künftige Herzog scheint gleich damals einen mächtigen und richtigen Eindruck von Goethe’s Persönlichkeit empfangen zu haben. Nicht so bald wollte man sich trennen. Der Dichter mußte den Prinzen auf einige Tage nach Mainz folgen.

[442] Aber während sich hier die Aussicht auf neue Lebensverhältnisse eröffnete, ward G. von einer alles verschlingenden Leidenschaft ergriffen, welche ihn „alle Freuden, die unendlichen, alle Schmerzen, die unendlichen“, welche die Götter ihren Lieblingen geben, ganz durchkosten ließ. Man lese die Briefe, welche er seit dem 26. Januar 1775 an die nie mit Augen gesehene Gräfin Auguste Stolberg (1753–1835) richtete, und zugleich die kurzen Billets, welche Johanna Fahlmer (1744–1821) um jene Zeit erhielt; man höre auf die Lieder und Gedichte des Jahres 1775, die vom Kampfe der Empfindungen, vom Widerstreit der Leidenschaften gegen die äußere Welt erfüllt sind; und endlich blicke man auf die verklärende Darstellung im Schlußbande von Dichtung und Wahrheit: man wird dann nicht verwundert sein, aus Goethe’s spätesten Tagen sein Bekenntniß zu vernehmen, in der That sei Lili die erste und auch die letzte gewesen, die er tief und wahrhaft geliebt. „Lili“, schreibt Lavater, „ist eine reiche, herrlich schöne, reformirte Kaufmannstochter, in die G. bis zu Heurathsgedanken verliebt ist“. Sicherlich war Anna Elisabeth Schönemann (23. Juni 1758 bis 6. Mai 1817) wie kaum eine andere würdig, sein Leben zu theilen; zum edeln Liebreiz ihres Wesens gesellte sich der Adel eines festen Charakters; der Liebende glaubte, „dem Hafen häuslicher Glückseligkeit“ nahe zu sein. Die Neigung, die zwischen Beiden waltete, war nicht minder zart als tief. Aber die äußeren Familien- und Gesellschaftsverhältnisse standen ihr entgegen. Die mit den Grafen Stolberg und Haugwitz im Mai unternommene Schweizer Reise, in deren Beginne ein abermaliges Zusammentreffen mit Carl August erfolgte, erscheint uns wie ein Versuch, den G. mit sich selbst anstellte, um zu erfahren, ob er Lili entbehren könne. Als er gegen Ende des Juli von seiner „Wallfahrt durch die liebe heilige Schweiz deutscher Nation“ wieder heimgekehrt war, erneuerte sich der Wechsel von Pein und Seligkeit, den uns jeder Satz seiner Briefe noch jetzt mit so erschütternder Unmittelbarkeit vergegenwärtigt. Trotz den leidenschaftlich dringenden Abmahnungen der Schwester Cornelie konnte er sich noch immer nicht zwingen, einem ersehnten Glück fürs Leben zu entsagen. Und doch entschwand es ihm. Andere Lebenspfade waren ihm gewiesen.

Am 3. September 1775 übergab die Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar ihrem nunmehr mündig gewordenen Sohne Carl August die Regierung, welche sie seit dem Tode ihres Gemahls (1758) als Obervormünderin thatkräftig verwaltet hatte. Noch in demselben Monate reiste der junge Herzog nach Karlsruhe; dort feierte er am 3. October seine Vermählung mit der Prinzessin Louise von Hessen-Darmstadt. Auf der Hin- und Rückreise verweilte er in Frankfurt (22. September und 12. October). Jede erneute Begegnung zwischen Fürst und Dichter war ein weiterer Schritt zur Verbindung der Gemüther; auf beiden Seiten wuchs das Zutrauen, die Achtung. Unbefangene Zeugen ihres Beisammenseins konnten schon damals wahrnehmen, daß Carl August sich mit warmer Herzlichkeit dem Manne zuneigte, den er sich zum Lebensfreunde erwählen sollte. G. mußte dem fürstlichen Paare auf dessen Wunsch versprechen, ihm in kürzester Frist nach Weimar zu folgen. Fast wäre durch Tücke des Zufalls jener Wunsch vereitelt worden. In gezwungener Einsamkeit, die aber durch künstlerischen Fleiß belebt ward, harrte er etwa 14 Tage vergebens auf den Cavalier, der den Auftrag erhalten, ihn nach Weimar zu geleiten. Da verließ er ungeduldig am 30. October die Vaterstadt; er war zu einer italienischen Reise gerüstet; er gelangte bis nach Heidelberg, wo man ihn sogar durch verheißungsvolle Anerbietungen festzuhalten suchte: hier aber kam ihm die Aufklärung des Irrthums, der ihn von Hause weggetrieben. Jener Cavalier hatte seine Reise verzögern müssen, und wartete nun in Frankfurt auf den voreilig Entflohenen. Unverzüglich wandte G. sich zur Umkehr; am Morgen des 7. November betrat [443] er die Residenz des Sachsen-Weimar’schen Fürstenhauses. Sie blieb fortan der feste Mittelpunkt seines immer weitere Kreise beschreibenden Lebens.

Wir wissen nicht, wie rasch Lili den Schmerz ewiger Trennung überwinden lernte. Am 25. August 1778 verband sie sich mit B. F. v. Türckheim; ihr ganzes segensvolles Leben, oft reich an Sorgen und Mühen, war eine Erfüllung dessen, was ihre Jugend versprochen hatte. In G. verehrte sie den „Schöpfer ihrer moralischen Existenz“; nicht anders als mit einer Art von religiöser Erhebung mochte sie seiner gedenken. –

Mit dem 7. November 1775 scheint G. sich auf mehr als zehn Jahre dem Auge der Nation zu entziehen. Wenigstens kann die Nation glauben, er habe, wenn auch seinem Dichterberufe nicht gänzlich entsagt, so doch seine dichterische Thätigkeit weit zurücktreten lassen vor den ungestümen Anforderungen, die das Leben, und zwar das höfische Leben, Tag für Tag an ihn richte. Was man in der Ferne über ihn vernahm, lautete so, als ob er dem Genuß, und oft dem rohen Genuß des Augenblicks sich in Gemeinschaft mit dem Herzoge schrankenlos hingäbe und daneben mit leichter Mühe auch den Ehrgeiz befriedigte als Beamter und Staatsmann zu glänzen. Vom Dichter des Götz und Werther erwartete man, er solle ähnliche große Schöpfungen Schlag auf Schlag einander folgen lassen; da diese ausblieben, so setzte sich die lächerliche Vorstellung fest, er werde nur noch durch kleinliche Anlässe, wie sie sich aus dem oberflächlichen Hoftreiben zu ergeben pflegen, zur Uebung seines Talentes gereizt. Man wußte, daß er für das herzogliche Liebhabertheater dichtete, daß er selbst mancherlei Rollen übernahm, und treuherzig oder hämisch beklagte man die traurige Verkümmerung einer solchen Dichterkraft, die Herabwürdigung einer solchen Größe. Die abgeschmacktesten Verleumdungen pflanzten sich durch ganz Deutschland fort. Die Besten ließen sich täuschen. Hat doch sogar Klopstock, sicherlich in guter Meinung, seinen väterlichen Mahn- und Weheruf unmittelbar an G. selbst gerichtet! Dieser aber ließ Lüge und Mißrede durch’s Vaterland schwirren und summen; ihn konnte nichts anfechten; war er sich doch seiner selbst, war er sich doch seiner Zwecke unerschütterlich bewußt!

Und während so vor der gebildeten Masse der Nation seine wahre Gestalt eine Zeit lang verhüllt blieb, lernten die Seinen ihn immer deutlicher erkennen und anerkennen. Aber freilich mußte er diese Anerkennung mit den zusammengenommenen Kräften seines ganzen Wesens erringen. Wie viel Hemmnisse hatte er wegzuräumen! Gleich beim ersten Eingreifen in die Geschäfte begegnete er dem Mißtrauen und dem Argwohn auf Seiten der älteren würdigen Staatsdiener, welche, redlich gesinnt, von dem Emporkommen des Günstlings Unheil für das Land besorgten. Wie oft stellten sich auch noch später seinen kühnsten Schritten, welche zugleich die nothwendigsten waren, bald Beschränktheit, bald Böswilligkeit, und nicht selten beide im Verein entgegen! Wol konnte er sagen: „Es weiß kein Mensch, was ich thue und mit wieviel Feinden ich kämpfe, um das Wenige hervorzubringen“. Er ermunterte sich zu „eherner Geduld, zu steinernem Aushalten“. Wenn er endlich siegreich durchdrang, so war es eben die Reinheit seines Wollens, die Uneigennützigkeit seines Thuns, was ihm zur Herrschaft verhalf und ihm dieselbe sicherte. Den Freund Merck bezeichnet er im J. 1779 als den einzigen Menschen, der ganz erkenne, was er thue und wie er’s thue. Warum wollten wir diesem Freunde, der so scharf blickte und meist so einschneidend urtheilte, warum wollten wir ihm den Glauben versagen, wenn er schlicht die Bemerkung ausspricht: „Das ganze Geheimniß, warum G., wie er ist, unentbehrlich ist, das ist seine wahre Liebe gegen die Menschen, mit denen er lebt, und darin wird’s ihm Niemand gleich thun“. G. selbst aber ruft sich zu: „Niemand als wer sich ganz verleugnet, ist werth zu herrschen und kann [444] herrschen“. Indem er diese Bedingung des Herrscherthums erfüllte, brauchte er sich nur dem unablenkbaren Zuge seiner Natur zu überlassen. Uneigennützigkeit war ihm zugleich Bedürfniß und Maxime.

Die geheimen Gedanken und Vorsätze, die er in Form von Selbstgesprächen seinem Tagebuche anvertraut, sowie die Briefe an Frau v. Stein, die in ihrer regelmäßigen Folge für uns fast den Werth eines Tagebuches haben, ferner die kräftigen Aeußerungen in den allerdings spärlichen Briefen an Lavater und Merck, sie lassen uns den Entwicklungsgang verfolgen, den er seinem moralischen Selbst anwies und auf dem er strenge beharrte. Wir sehen, wie er vor Allem darnach trachtete, die verschiedenen, einander widerstreitenden Elemente seiner Natur in Einklang zu bringen und doch keines derselben zu schwächen, oder gar zu unterdrücken. Er weiß wohl, daß er nicht nur gegen Andere, daß er auch gegen sich selbst zu kämpfen, an sich selbst zu arbeiten hat. Indem er alle Hüllen und Schalen abstreifen will, welche die Entfaltung, das freie Aufstreben seines Wesens hindern könnten, unterwirft er sich einer Selbsterziehung, in deren Verlaufe wir einmal die Worte hören: „Möge die Idee des Reinen, die sich auf den Bissen erstreckt, den ich in den Mund nehme, immer lichter in mir werden!“ Er erzieht sich am Leben und durch das Leben, dessen Mächte ihn bald schmeichelnd, bald feindselig umlagern, ihn zwingen, sich stets gewaffnet zu halten und ihm keine Muße gönnen, thatlos in sich selbst zu versinken oder entkräftendem Genusse zu fröhnen. Wie ganz anders sollte Schiller einst durch das Studium der Geschichte und Philosophie seinem Geiste die männliche Reife geben!

Das erste Jahrzehnt seines weimarischen Lebens bildet in Goethe’s Dasein eine als Ganzes in sich abgeschlossene Epoche, in deren zweiter Hälfte er sich einem ethischen Idealismus mit Bewußtsein zuneigt. Dienend und arbeitend erwirbt er das Recht und die Kraft, über das Leben zu herrschen und die Herrschaft in festen Händen zu halten. Nicht mühelos ersteigt er stufenweise die olympische Höhe, auf welcher ihn hernach die Welt zu erblicken gewohnt war. Am Schlusse dieser Epoche steht der Künstler da, im ungeschmälerten Vollbesitze seiner angeborenen, nun allseitig ausgebildeten Kräfte.

Als persönlicher Freund des Herzogs war G. nach Weimar gekommen. Als solcher stand er an der Spitze des höfischen Treibens, das er mit poetischem Schimmer umgab. Sicherlich hat es, besonders in den ersten Zeiten, nicht an mancherlei Ausschreitungen gefehlt, durch welche die tollen Gerüchte, die man in Umlauf setzte, eine Art von Bestätigung zu erhalten schienen. Aber wie bald verflog der Rausch vor dem Ernste des Lebens und den Anforderungen der Pflicht! Wie bald kamen die Jahre, in denen G. sich und den Freund zur Besinnung, zur Einkehr in sich selbst berief! Mußte er auch häufiger als er wünschen mochte seine Poesie höfischen Zwecken widmen und die Feste der Thorheit und Eitelkeit mit seinen Erfindungen und seinen goldenen Worten schmücken, so war es doch nicht blos der Hofdienst, der ihn dazu trieb. Wie oft regte sich in ihm bei solchem Anlaß die freie poetische Lust! Wie oft mußte er sich innerlich gedrungen fühlen, als Dichter die Familienfeste des hohen Hauses zu verherrlichen, an dessen Glück er in freundschaftlicher Hingebung sein eigenes Wohl geknüpft hatte! Indem er die edlen Glieder eines solchen Hauses feiert, wird sein Blick in bewegten Momenten auf die großen Welt- und Völkerverhältnisse gelenkt. Auch hier ist G. meist der wahre Gelegenheitsdichter, der den Augenblick ergreift, um das Ewige auszusprechen. Welch ein Reichthum breitet sich aus in diesen sogenannten „höfischen“ Poesien, die sich bis ins letzte Jahrzehnt fortsetzen und die uns neuerdings G. v. Loeper so schön geordnet und commentirt hat! Besonders in den späteren Productionen dieser Art waltet oft die volle Dichterkraft, wie in dem Vorspiel von 1807, in den Stanzen auf die romantische Poesie [445] (1810), und vor Allem in dem großartigen Maskenzuge von 1818. Will man eine köstliche Probe dieser Festdichtungen aus früherer Zeit, so höre man auf die Verse, die Amor am 30. Januar 1782 an die Herzogin Louise richtete!

Der Freund des Fürsten war bald dessen Führer und Rathgeber. In dieser Doppelstellung ward es ihm eine gern übernommene Pflicht, sich an den Geschäften des Landes auf das Ernstlichste zu betheiligen und in die Verwaltung überall da einzugreifen, wo Mißbräuche zu beseitigen, stockende Verhältnisse in lebendigen Fluß zu bringen und heilsamere Zustände zu begründen waren. Die verschiedensten und fremdartigsten Aufgaben fielen ihm zu; oft mußte er erst durch die That erfahren, ob er ihnen gewachsen wäre. Wenn er schon im November 1777 zum Mitglied der Bergwerkscommission berufen ward, so begünstigte dies Amt seinen Verkehr mit der „großen, leise sprechenden Natur“; indem er für Eröffnung und Fortgang des Ilmenauer Bergbaues thätig war, bereicherte er zugleich seine Anschauungen und Kenntnisse von der Erde, ihrer Oberfläche und ihren Tiefen. Aber er durfte sich auch der Uebernahme der Kriegscommission nicht entziehen; er mußte sogar den Wegebau unter seine Obhut nehmen. Bald hatte er an den befreundeten Höfen als Diplomat in gemessener Würde zu erscheinen; bald waren leidige Wirrnisse in den höheren Beamtenkreisen des eigenen Landes zu schlichten. Natürlich wandte er jetzt und später seine besondere Neigung den werdenden und wachsenden Anstalten zu, die der Pflege der Wissenschaft und den Interessen der Kunst gewidmet waren und die einst seiner Fürsorge ihren höchsten Flor verdanken sollten. Während dieses ersten Jahrzehnts jedoch wurde ihm Theilnahme an fast alle den Geschäften zugemuthet, die der Herzog energisch gefördert zu sehen wünschte. Und indem er so für die Gesammtheit und oft im Stillen liebevoll für den Einzelnen wirkt, erinnert er uns an das Wort, das sein Schwager Schlosser schon im October 1773 über ihn gesprochen: „Sein Herz ist so edel als eins. Wenn er einmal in der Welt glücklich wird, so wird er Tausende glücklich machen; und wird er’s nie, so wird er immer ein Meteor bleiben, an dem sich unsere Zeitgenossen müde gaffen und unsere Kinder wärmen werden.“

Das Glück, gleichsam herbeigerufen durch das Verdienst, blieb hier denn auch nicht aus. Die Gunst des Fürsten ebnete dem Freunde den Weg. Rasch ging er auf der Laufbahn des Beamten vorwärts. Nachdem er am 11. Juni 1776 den Titel eines geheimen Legationsrathes mit Sitz und Stimme im geheimen Conseil erhalten hatte, ward er schon im September 1779 zum geheimen Rathe ernannt, und betrat so, wie er selbst bemerkte, mit dem 30. Jahre die höchste Ehrenstufe, die ein Bürger in Deutschland erreichen konnte. Jenes Jahr sollte einen Abschnitt bilden im Leben der Freunde. G. wünschte den Herzog auf einige Zeit dem Treiben des Hofes zu entfremden; der damals 22jährige Fürst sollte in Anschauung erhabener Naturscenen seinen Sinn zu männlicherem Ernste sammeln. So führte ihn der ältere Genoß auf jene fast abenteuerlich zu nennende Schweizer Winterreise (12. September 1779 bis 13. Januar 1780), deren Denkmal uns in den Briefen erhalten ist, welche das höchste Muster großartig klarer Naturdarstellung geben. Als er den Gedanken an diese Reise gefaßt, schildert er in einem Schreiben an die Mutter sein Leben als ein solches, in dem er sich täglich übe und täglich wachse; er bezeichnet sich als einen von Gott geliebten, der die Hälfte seines Lebens hingebracht und aus vergangenen Leiden manches Gute für die Zukunft hofft und auch für künftiges Leiden die Brust bewehrt hat.

Das Jahr 1782 brachte neue Ehren und Lasten. Er ward in den Adelsstand erhoben und nach dem unvermeidlich gewordenen Abgange des Kammerpräsidenten v. Kalb mußte er an dessen Stelle treten. Am 4. Juni übersendete [446] er der Freundin Frau v. Stein das eben empfangene Adelsdiplom mit den Worten: „Ich bin so wunderbar gestimmt, daß ich mir gar nichts dabei denken kann. Wie viel wohler wäre mir, wenn ich, von dem Streit der politischen Elemente abgesondert, in Deiner Nähe den Wissenschaften und Künsten, wozu ich geboren bin, meinen Geist zuwenden könnte.“ Aehnliche Klagen und Wünsche läßt er auch sonst verlauten, wenn er fürchtet, das Getriebe der Welt, der Andrang der Geschäfte könne ihn aus seiner Bahn hinausschleudern.

Sobald er aber seine Zustände als ein Ganzes prüfend überblickt, muß er sich bekennen, daß er bei der „Weite und Geschwindigkeit seines Wesens“ eines solchen Kreises der Thätigkeit bedarf, in welchem alle seine Kräfte auf vielfach verschiedene Weise unaufhörlich in Bewegung gesetzt werden; er dankt Gott dafür, sich in einer so „engweiten Situation“ zu befinden, „wo die mannigfaltigen Fasern seiner Existenz alle durchgebeizt werden können und müssen“. Sicherlich hätte er auf keine der Mühen, unter denen er manchmal seufzte, verzichten mögen. Oft dachte und sann er so angestrengt, daß „Abends sein ganzes Wesen sich zwischen den Augenknochen zusammenzudrängen schien“. Aber beschwichtigend sagt er zu sich selbst: „der Druck der Geschäfte ist sehr schön der Seele; wenn sie entladen ist, spielt sie freier und genießt des Lebens. Elender ist nichts als der behagliche Mensch ohne Arbeit, das Schönste der Gaben wird ihm ekel.“ Und von der Fülle der ihm verliehenen Gaben braucht er nichts einzubüßen. Er vermag recht wohl von dem Geheimrathe „sein anderes Selbst zu trennen, ohne das ein Geheimrath sehr gut bestehen kann.“ Indem er sich die nothwendigen Einschränkungen gefallen läßt, welche die Umgebungen und das Amt ihm auferlegen, macht er sich im Inneren nur um so unabhängiger. Die poetischen Geister begleiten ihn auf seinen Dienstreisen. Hat es der „Iphigenie“ geschadet, daß der Dichter an ihr bildete und arbeitete, während er (im März 1779) zum Behufe der Rekrutenaushebung die weimarischen Ortschaften besuchte und die jungen Burschen nach der „Physiognomik des rheinischen Streichmaßes classificirte“? Oder hat das Gedicht auf Mieding’s Tod dadurch etwas von der Reinheit seiner Form oder der Innigkeit seines Tones verloren, daß es (im März 1782) auf einer zu gleichem Zwecke unternommenen Reise ausgeführt ward?

Für alles Peinliche, mit dem ihn denn doch zuweilen die Ueberlast der Geschäfte bedrückte, gewährte ihm das Verhältniß zum Herzog reichlichen Ersatz. Nicht dem Fürsten, dem Freunde zu Liebe hatte er sich unter das amtliche Joch gefügt; dem Freunde zu Liebe trug er die Bürden so lange, als er seine Dienste für ersprießlich, ja nothwendig halten mußte, so lange als er überzeugt war, durch Ausübung seiner amtlichen Pflichten den Rechten seiner Künstlernatur keinen Eintrag zu thun. Zur Wahrheit ward jetzt Lavater’s Prophezeihung aus dem Jahre 1774: „G. wäre ein herrliches handelndes Wesen bei einem Fürsten. Dahin gehört er. Er könnte König sein. Er hat nicht nur Weisheit und Bonhomie, sondern auch Kraft.“ – Auf eigener Kraft ruhend, konnte er seinen Platz behaupten neben einem edlen und großgesinnten Fürsten, der selbst als eine der kraftvollsten Naturen seiner Zeit dastand und der keineswegs bereit war, sich das Selbstbewußtsein des geborenen Herrschers, das ihn erfüllte, irgendwie schmälern zu lassen. Diese Freundschaft, in ihrer Art ebenso einzig wie das Bündniß mit Schiller, sollte länger als ein halbes Jahrhundert dauern und alle Prüfungen überstehen, die bei dem Wechsel irdischer Zustände sie treffen konnten. Wurden in späterer Zeit durch das Eingreifen anderer Persönlichkeiten die innigen Beziehungen zwischen den Freunden einmal leise getrübt, so brauchten sie nur einander Auge in Auge zu sehen, und „wie leichte Wolken vor der Sonne“ schwanden alle störenden Elemente. Brach der Eigenwille Carl August’s allzu herrisch hervor, so verharrte G. in würdiger Ruhe und wich nicht von dem, [447] was er als das Rechte erkannt hatte. Vielleicht die ernsteste Störung war gegen Ende des Jahres 1808 eingetreten, und am 3. September 1809, an seinem Geburtstage, schrieb der Fürst: „Wenn Du thätig, froh und wohl bist, so lange ich noch mit Dir gute Tage erleben kann, so wird mir mein Dasein höchst schätzbar bleiben.“ – In den früheren Jahren, da der Herzog noch im Werden war, blickte er mit verehrender Dankbarkeit auf den Freund und Leiter. Und dieser ließ sich niemals herbei, ihm durch Nachgiebigkeit zu schmeicheln, ihn auch nur durch Schweigen zu schonen. Sobald die fürstliche Willkür Schaden zu bringen drohte, trat er ihr hemmend mit unerschrockenem Wort entgegen und wies mahnend auf die Pflicht der Entbehrung, die dem Herrscher vor Allem auferlegt ist. Nie gab es eine hochsinnigere Freundschaft zwischen Fürst und Unterthan. Auf welchem Grunde sie errichtet war, das mag, unter so vielen Zeugnissen, vornehmlich das Gedicht „Ilmenau“ lehren, das den Herzog zu seinem 27. Geburtstag begrüßte. In welchem Tone der Freund zum Freunde sprechen durfte, das kann uns der Brief vom 26. December 1784 beweisen, der den Zweck hat, den geplagten Landmann gegen die Uebergriffe des jagdlustigen Fürsten zu schützen.

Erhielt das Leben Goethe’s während der weimarischen Lehrjahre durch die Verbindung mit dem Herzog die feste Grundlage, so empfing es eine wundersame Verklärung durch das Geistes- und Seelenbündniß mit Charlotte v. Stein (geb. v. Schardt, 25. December 1742 bis 6. Januar 1827). Der Verkehr mit der um sieben Jahre älteren Freundin bildete um ihn eine Atmosphäre, in der sich die zarteste Blüthe des Dichtergeistes entfaltete. An der Reinheit dieses Verhältnisses zweifeln nur diejenigen, die unfähig sind, sich in das Wesen Goethe’s und in die ihn umgebenden Zustände vermittelst lebendiger Anschauung hineinzuversetzen, oder auch solche, die niemals gelernt haben, aus klaren Zeugnissen klare Schlüsse zu ziehen.

In den Jahren, da sich, nach mancherlei Schwankungen, zwischen ihm und der Freundin das innigste Einverständniß begründet hatte, waren auch die Beziehungen zu Herder besonders innig und fruchtbar. Herder, welcher ja seit dem October 1776 auf Goethe’s Betrieb gleichfalls ein Weimaraner geworden, arbeitete in der ersten Hälfte der achtziger Jahre an seinen köstlichen Uebersetzungen aus der griechischen Anthologie und an den „Ideen“. In manchen philosophischen und naturwissenschaftlichen Ueberzeugungen und Grundansichten waren die Freunde einig. Noch immer wirkte das Wort des älteren fördernd und oft aufklärend; er und Frau v. Stein bildeten das Publikum, an das G. damals bei seinen Arbeiten am liebsten dachte, während das wirkliche große Publikum seinen Augen wie entrückt war. Aber Herder konnte jetzt im Geistesverkehr nicht mehr das Uebergewicht behaupten, das ihm der Jüngere einst in Straßburg so willig zugestanden hatte. Er verehrte jetzt in G., wie er es selbst im Sommer 1787 gegen Schiller aussprach, einen „allumfassenden Geist“; er wollte ihn als Geschäftsmann vielleicht noch mehr denn als Dichter bewundert wissen.

In der That hat G. eben in jenen Jahren, da ihn die Nation fast aus den Augen verlor, das Fundament gelegt zu der Universalität seines Wesens, die ihm unter den großen Erscheinungen der Geistesgeschichte der Menschheit den Charakter der Einzigkeit verleiht. Der bildenden Kunst blieb er durch Studium und Ausübung beständig nahe. Philosophische Erbauung fand er nach wie vor beim Spinoza. Dem Studium der Natur ward er durch seine Amtsgeschäfte gleichsam in die Arme geführt. Durchstreifte er das seiner Fürsorge anvertraute Land, stieg er auf die Höhen des Harzes oder fuhr er in die irdischen Tiefen nieder, überall sammelte er die Fülle der Anschauungen, so daß alsdann für immer seinem Seherblick ein Bild des Naturganzen vorschwebte, ein Bild „der [448] nach dem Regellosen strebenden, sich selbst immer regelnden und so im Kleinsten wie im Größten durchaus Gott- und menschenähnlichen Natur.“ Noch spät preist er es dankbar, daß ihm gleich bei seinem Eintritt in den weimarischen Lebenskreis der unschätzbare Gewinn zu Theil geworden, Stuben- und Stadtluft mit Land-, Wald- und Garten-Atmosphäre zu vertauschen. Im Studium der Botanik ward ihm eine neue Welt aufgeschlossen; ja er that im Alter das Bekenntniß, daß nach Shakespeare und Spinoza auf ihn die größte Wirkung von Linné ausgegangen sei. Mit leidenschaftlichem Ernst versenkte er sich in die Betrachtung der Pflanzenorganisation. Unter der Mannichfaltigkeit der Erscheinungen strebte er die gesetzmäßige Einheit der Urform zu ergründen. Mit nicht minderer Leidenschaft suchte er in den Wunderbau des menschlichen Körpers einzudringen. Seine frühere Theilnahme an Lavater’s Physiognomik hatte ihn nicht übel vorbereitet zu den anatomischen Studien, die er im Beginne der achtziger Jahre unter der Leitung Loder’s mit dem gewissenhaftesten Fleiße betrieb. Auch hier schritt er vom Lernen nicht nur zum Lehren, sondern zum selbständigen Schauen und Entdecken vorwärts. Ihn leitete die Ueberzeugung „von der Consequenz des Typus durch alle Gestalten hindurch“; mit dem Ausdrucke einer wahrhaft beglückenden Freude konnte er am Abend des 27. März 1784 seinem Publikum, der Frau v. Stein und Herder, Kunde geben von dem am Menschen wahrgenommenen Zwischenknochen (os intermaxillare). „Ich habe eine solche Freude“, ruft er aus, „daß sich mir alle Eingeweide bewegen.“ Als er in einer sorgfältig verfaßten Abhandlung seinen kostbaren Fund, ihm werther als Gold und Silber, den Meistern der Zunft vorlegte, wollten diese für’s erste seine Freude keineswegs theilen. Sie beharrten darauf, dem Menschen jenen Knochen abzuleugnen und so die Einheit und Folgerichtigkeit in der Bildung und Umbildung organischer Naturen zu verkennen. Erst allmählich ließ sich die Wissenschaft herbei, dasjenige zu bestätigen, was der schauende Dichter, der freilich vor keiner Mühe der Forschung zurückwich, mit Zuversicht verkündet hatte.

Durch all dies vielfältige Forschen und Bemühen ward aber das Recht der Poesie wahrlich nicht verkürzt. Aeußerte er einmal, seine Schriftstellerei subordinire sich dem Leben, so könnte man im entgegengesetzten Sinne sagen, sein Leben werde zu einer immer breiter und tiefer strömenden Quelle seiner Poesie. Bis zu welchem Maße sein Geistes- und Seelenleben sich in jenen Jahren erweiterte und vertiefte, dessen wird man erst inne, wenn man den Reichthum der dichterischen Pläne und Gestalten überblickt, die damals entworfen oder schon ausgebildet wurden. Dann erkennt man zugleich, daß, wie später so auch jetzt, der Poesie die rechtmäßige Abgabe zufloß von allem, was G. in Leben und Wissenschaft eingeerntet.

Die poetischen Erzeugnisse, die dem ersten weimarischen Jahrzehnt angehören, treten in drei Gruppen auseinander, unter denen jedoch mancherlei innere Bezüge stattfinden. Wir gewahren zuerst eine größere Reihe von Arbeiten, für den Hof oder das Liebhabertheater bestimmt. Neben den eigentlichen Maskengedichten erscheinen hier Dramen größeren und geringeren Umfangs, wie „Die Geschwister“ (Ende October 1776), „Lila“ (gegen Ende des Jahres 1776), das Monodram „Proserpina“, das zu den herrlichsten Produktionen Goethe’s zählt und einen durchaus ungeziemenden Platz erhielt in der dramatischen Grille „Der Triumph der Empfindsamkeit“. Dies genialische Possenspiel „so toll und grob als möglich“, das zuerst den Namen „Die Empfindsamen“ tragen sollte, ward am Geburtstage der Herzogin Louise (30. Januar) 1778 unter dem Titel „Die geflickte Braut“ aufgeführt. Es verspottete die schwachmüthige Schwärmerei und das empfindelnde Wesen, das in den siebziger Jahren, genährt durch die gleichzeitige Litteratur, sich der zarten Seelen bemächtigt hatte. Der Spott traf hier [448a] neben dem Siegwart auch den Werther selbst, zum deutlichen Anzeichen, daß der Dichter sich jener Stimmungen völlig entäußert habe. Die zahmere Gestalt, in welcher die „Grille“ uns seit dem Jahre 1787 vorliegt, gibt uns wahrscheinlich kaum eine matte Ahnung von der ursprünglichen tollkühnen Verwegenheit dieses halb parodistischen Scherzes. Zu Ende des Jahres 1779, während der Rückkehr aus der Schweiz, entstand das von Schweizer Luft durchzogene Singspiel „Jery und Bätely“. Am 18. August 1780 ward die freie Nachdichtung eines Theils der aristophanischen Vögel, am 22. Juli 1782 die liebliche „Fischerin“, und zwar auf dem natürlichen Schauplatz an der Ilm, zur Darstellung gebracht. Das letztgenannte „Wald- und Wasser-Drama“ war mit Volksliedern durchwebt, die aus Herder’s Sammlung stammten. Zu Anfang vernahm man den „Erlkönig“. Diesen verschiedenartigen Dramen mag auch das im J. 1784 umständlich ausgeführte Singspiel „Scherz, List und Rache“ beigezählt werden, an welches G. Hoffnungen für die deutsche Opernbühne knüpfte, die sich nicht erfüllen konnten.

Die zweite großartigere Gruppe setzt sich aus Schöpfungen ersten Ranges zusammen, aus Werken, die bis auf den heutigen Tag und für immer zu den festesten Stützen des Goethe’schen Dichterruhms gehören; wir nennen Wilhelm Meister, Iphigenie, Tasso, Elpenor, Egmont. In diesen Dichtungen wird der neue Kunststil vorbereitet, den G. während der italienischen Reise zur Vollkommenheit ausbildete und dann bis zu seinen späteren Jahren festhielt. Eben weil diese Werke, ihrem inneren Wesen nach, einen neuen Stil forderten, eben deshalb konnten sie erst dann zur Vollendung gelangen, als dieser Stil selbst im nothwendigen Zusammenhang mit des Dichters veränderter Welt- und Kunst-Ansicht die Vollendung erreicht hatte. In diesem ersten weimarischen Jahrzehnt suchen sie noch ihre Form; sie können nur bis zu einem gewissen Punkte ausgeführt oder nur zu einem vorläufigen Abschlusse gebracht werden. Der von ächt tragischer Gewalt durchdrungene, mit den mächtigsten Klängen der Dichterrede ausgestattete Elpenor blieb leider zu einem fragmentarischen Dasein verurtheilt. An den beiden Acten, die G. nach vorheriger Mittheilung an Schiller erst 1806 im Druck erscheinen ließ, hat er am 11. August 1781 zu arbeiten begonnen; nach dem Frühlinge 1783 ist er zu dem Werke nicht mehr zurückgekehrt. Daß er dies Drama von wahrhaft tragischer Anlage aufgeben konnte oder mußte, dient vielleicht zur Bestätigung des Ausspruchs, den er am 9. December 1797 gegen Schiller that, er sei überzeugt, daß er sich durch den bloßen Versuch, eine wahre Tragödie zu schreiben, vernichten könnte. Der „Egmont“, für den schon in Frankfurt so viel geschehen war, erhielt zwischen den Jahren 1778 und 1782 mancherlei wichtige Zusätze, ohne daß sich das Stück zur Befriedigung des Dichters zum Ganzen runden wollte; das „Studentenhafte der Manier“, das noch aus der Zeit des ersten Entwurfs herrührte, war so leicht nicht zu tilgen; um es dem verehrten Möser vorzulegen, der ihn soeben gegen Friedrich den Großen wirksam vertheidigt hatte, beendigte er das Schauspiel im Frühling 1782; er wußte jedoch wohl, daß es noch nicht vollendet war. Den „Tasso“, der seit dem März 1780 hervorzutreten beginnt, hatte gleich zuerst Frau v. Stein unter ihren besonderen Schutz genommen; sie wollte sich alles zueignen, was der italienische Dichter im Drama sprach; und so konnte G. durch den Mund seines dichterischen Helden, den freilich kein Heroismus auszeichnen durfte, oft und lang zu der Verehrten reden. Trotzdem wollte die Dichtung keinen rechten Fortgang nehmen. Zwei Acte, in Prosa verfaßt, lagen im Sommer 1781 fertig da; in den folgenden Jahren aber stockte das Werk; erst nach des Dichters Rückkehr aus Italien konnte es, und auch dann nur „wie ein Orangenbaum sehr langsam“ wachsen; mit einer Sorgfalt, die ihm fast unerlaubt vorkommen wollte, pflegte er bis zum [448b] Juli 1789 dies Drama, in welchem, nach Tieck’s Worten, „der deutsche Laut am zierlichsten und lieblichsten sich vernehmen läßt, in welchem eben so viel Tiefe als Zartheit des Gemüthes sich offenbart und Wahrheit und Poesie gleichsam Hand in Hand gehen“. Der „Iphigenie“ hingegen war ein schnelleres Wachsthum beschieden. Sie könnte in gewissem Sinne zur Gruppe der dem Hofe gewidmeten Dichtungen gerechnet werden. Denn als G. sie zwischen dem 14. Februar und dem 28. März 1779 ausführte, bestimmte er sie ganz eigentlich für das Liebhabertheater, auf dem sie auch gleich am 6. April erschien. Corona Schröter zeigte sich als Priesterin Dianen’s, G. selbst als Orest; man erblickte in ihnen Gestalten von halbgöttlicher Schönheit. Auch dies Werk, das aus den Tiefen des deutschen Seelenlebens emporstieg und des Dichters Versöhnung mit den über der Menschheit waltenden Mächten feiert, auch dies Werk, auf dem von Anfang an die Verklärung hellenischer Schönheit ruhte und das wir uns jetzt ohne die getragene Melodie des Verses nicht denken können, es ward gleichfalls zuerst in Prosa niedergeschrieben; in den beiden folgenden Jahren wurden vergebliche Versuche einer strengeren Ausarbeitung gemacht. Aber das Gedicht trug seine Form in sich; ja, oft genug war diese schon deutlich erkennbar herausgetreten; der Vers hatte sich ungerufen eingefunden. Es war daher das erste der Werke, die unter dem Himmel Italiens reiften; die eingeborene Form ward hervorgelockt. G. ließ das Stück „Zeile vor Zeile, Period vor Period regelmäßig erklingen“, und am 6. Januar 1787 war die Ausstattung des zärtlich gehegten Schmerzenskindes vollendet. Der „Egmont“, der nie bis zur reinen Versform durchdringen konnte, ward dann erst im Beginne des September endgiltig abgeschlossen. Noch vor den in Weimar begonnenen großen Dramen hatte sich der Wilhelm Meister zu regen angefangen. Wir erfahren, daß G. schon am 16. Februar 1777 an dem Roman dictirte, dessen erstes Buch er am zweiten Tage des nächsten Jahres endigte. Neben allen übrigen Arbeiten schritt nun auch diese voran; nicht beschleunigten, aber doch stetigen Ganges kam der Autor im November 1785 zum Schlusse des sechsten Buches; zu den sechs übrigen ward der Plan im folgenden Monate aufgezeichnet. In diesem vielgliederigen Werke war es zuerst vornehmlich auf das Theaterwesen abgesehen; allmählich, wie der Weltblick des Dichters immer umfassender ward, erweiterte es sich zu dem lehrreichsten Welt- und Gesellschaftsgemälde; es führt uns die ernstesten Probleme vor; es führt von der Kunst zur Lebenskunst. Wird uns einmal die ursprüngliche Bearbeitung der ersten Hälfte mitgetheilt, so muß dadurch nicht nur die Entstehungsgeschichte des Romans erhellt werden: auch mancher Moment in der künstlerischen und menschlichen Entwicklung Goethe’s muß dadurch ein neues Licht empfangen.

Neben den beiden Dichtungsgruppen, und zum Theil in Verbindung mit ihnen, zeigen sich die lyrischen Poesien, deren Quell auch in jenem Jahrzehnt „sich ununterbrochen neu gebar“. Wir brauchen nur „jener Genien Gesänge“ die Lieder Mignon’s und des Harfner’s, und die Hymnen, wie „Meine Göttin“ (15. September 1780) oder „Das Göttliche“ zu nennen, um an das Tiefste und Höchste einer eben so klaren wie unergründlichen, alle Tonarten mit gleicher Meisterschaft beherrschenden Lyrik zu erinnern. Daß den Gedichten an Lida (Frau v. Stein) größere Zartheit als allen übrigen eigen sei, hat G. selbst zugegeben. Seit dem Frühjahr 1782 näherte er sich der antiken Form in Epigrammen, die, gleich dem Liede und oft mit dem Reize des Liedes, die individuellste Seelenstimmung aussprachen. Gedacht sei hier noch der im August 1784 begonnenen „Geheimnisse“, von denen wir nur das schwer zu enträthselnde und eben dadurch so anlockende Fragment besitzen. Vielleicht hat G. niemals seinen Versen eine so einschmeichelnd weiche Klangfarbe wie hier gegeben. Das Gedicht [448c] schien zu einem idealen Gegenstück des Ewigen Juden bestimmt; es sollte das Edelste aller Religionen in symbolischer Darstellung vor das geistige Auge bringen und zur reinen Humanität hinleiten. Herder und Frau v. Stein sollten als Schutzgeister auch über diesem Gedichte walten. Der Prolog dieses „wunderbaren Liedes“ ward hernach erwählt, die erste Sammlung der Schriften zu eröffnen. Auf einsamer Höhe stellt der Dichter sich hier der Wahrheit gegenüber, durch die allein er jedes Glück haben will. Die Genossen, mit denen er einst stürmend in Leben und Kunst vorangedrungen, sie sind längst von seiner Seite gewichen; er kennt nun die Wahrheit und ist allein; aber den Weg, den er gesucht, er will ihn den Brüdern zeigen. Schon damals konnte er, der Ewigjunge, von sich sagen, was er später aus Italien schreibt: er sei für alles zu alt, nur für’s Wahre nicht.

Die weimarische Lehrzeit war abgeschlossen. Am 3. September 1786 früh aus Karlsbad entweichend, trat er die Fahrt an ins Land der Kunst. Am Abend des 29. October hielt er durch die Porta del Popolo seinen Einzug in die ewige Stadt. In Neapel war er am 25. Februar 1787; dort erinnerte er sich mit Rührung seines Vaters, der ihm so oft die Herrlichkeiten dieses Paradieses gerühmt hatte. Jetzt konnte der Dichter, der sich selbst den Todfeind von Wortschällen nennt, mit lebendigem Auge schauen und geistig sich aneignen, was bisher für ihn nur eine wesenlose Existenz im Worte gehabt. Im April und Mai wurden Siciliens Wunder und Wonnen geschaut und genossen; aus dem Weltbilde der Odyssee, das sich hier in jedem einzelnen Zuge belebte, hob sich die Gestalt der Nausikaa heraus, um die Phantasie des Dichters zu begleiten. Das homerische Gedicht „schien die Natur selbst“. Am 6. Juni betrat er zum zweiten Male Rom, das ihn nun wie eine frisch gewonnene Heimath fesselte. Als er endlich am 22. April scheiden mußte, durchdrang ihn ein Schmerzgefühl, als ob er der Heimath den Rücken wendete. Eine heroisch-elegische Stimmung überkam ihn, als er an dem Abende, welcher der letzte sein sollte, das im Mondenlichte erglänzende Rom durchwanderte. Und wieder verbreitete der Mond seinen vollen Glanz, als am Abend des 22. Juni der Heimgekehrte den Boden Weimars betrat.

Wie sich während dieser zwei Jahre des italienischen Lebens seine geistige Wiedergeburt vollzog, das lehren uns auf jeder Seite mit unvergleichlicher Anschaulichkeit das Tagebuch und die Briefe, die er damals nach der Heimath, meist an die Vertrautesten, Frau v. Stein und Herder, sandte. Aus ihnen ward 30, zum Theil 40 Jahre später die „Italienische Reise“ zusammengestellt. Sie geben uns ein Bild Italiens, wie es kein Sterblicher vorher oder nachher je in Worten zu geben vermocht hat. Aber darauf beruht nicht ihr einziger, ja nicht einmal ihr vorzüglichster Werth. Wer diesen erkennen und diese Briefsammlung im Sinne Goethe’s lesen will, der lese sie als einen Theil seiner Autobiographie. Denn diese Berichte, die uns als freie Aeußerungen des Moments entgegentreten, schildern die Rückkehr des Dichters und Menschen zu seinem eigensten Selbst; sie erzählen, wie G. mit der Kunst, seiner Lebensgefährtin, das neue, und jetzt für alle Zeit unlösbare, Bündniß schließt. Auch die übrigen Aeußerungen, die uns aus diesen beiden Jahren erhalten sind, die Briefe an Carl August, an Knebel, Voigt, ja selbst an den Diener Philipp Seidel, sie alle bezeugen mehr oder minder deutlich, daß in dieser Zeit, da, wie er der Mutter sagt, sich so viele Träume und Wünsche seines Lebens auflösten, er sich als Künstler wiedergefunden hat. Aber wenn er sich auch als einen neuen Menschen bezeichnet, so darf man nicht glauben, er sei in dem Lande, wo ihm „die Kunst wie eine zweite Natur ward“, von Grund aus ein anderer geworden. Sein Wesen ward ausgebildet, aber nicht umgewandelt, indem er seiner Künstlernatur ihre volle Freiheit [448d] wiedergab. Italien zeigte nur, was in Weimar langsam der Reife sich genähert hatte; ja, um es noch wahrheitsgemäßer auszudrücken, in Italien offenbarte sich, was er in Weimar geworden war. Er kam als Künstler nach Deutschland zurück; aber es war ja auch Sehnsucht des Künstlers gewesen, was ihn nach Italien getrieben.

Um dieselbe Zeit, da ihm diese Sehnsucht befriedigt ward, trat er auch wieder vor der Nation in voller Dichterherrlichkeit hervor. Freilich mußte die Nation sich an den neuen Werken seiner Kunst erst allmählich heraufbilden; für’s erste fuhren die meisten noch fort, in dem Dichter der Iphigenie und des Tasso den Urheber des Götz und des Werther zu suchen und zu vermissen.

Noch vor dem Beginne der italienischen Reise hatte sich G., um dem stets wiederholten schamlosen Nachdruck zu steuern, zur Sammlung seiner Werke entschlossen. Er einigte sich mit dem Leipziger Verleger Göschen; in einem für die Oeffentlichkeit bestimmten Briefe, den der Buchhändler seit dem Juli 1786 in den angesehensten Zeitschriften mittheilte, gab er ein Verzeichniß der Werke, welche die acht Bände füllen sollten. Damals glaubte er nur einen „unvollendeten“ Egmont und vom Tasso nur zwei Acte verheißen zu dürfen. Aber die ihm vergönnte glückliche Muße gestattete ihm, mehr als das Versprochene zu leisten. Bei den vorbereitenden Arbeiten, die das Unternehmen erforderte, lieh Herder ihm seine Hülfe und kargte nicht mit seinem aufmunternden Worte. Und so konnte der Autor, der sich so lange im Verborgenen gehalten, in der ersten Gesammtausgabe seiner „Schriften“, die zwischen 1787 und 1790 zu Leipzig bei Georg Joachim Göschen ans Licht trat, die erste Epoche seiner künstlerischen Thätigkeit befriedigend abschließen und eine neue großartig einleiten. Am 22. September 1787 kamen ihm in Rom die ersten „vier zarten Bändchen“ vor’s Auge; wol nicht ohne eine Anwandlung von Wehmuth sah er in ihnen „die Resultate eines halben Lebens“; und doch erfreute er sich daran; denn er durfte sich sagen, daß hier jeder Buchstabe „gelebt, empfunden, genossen, gelitten, gedacht sei“. Zusammengeordnet waren hier Werther und Götz, die Mitschuldigen, Iphigenie, Clavigo, die Geschwister, Stella, der Triumph der Empfindsamkeit, die Vögel. Dem Ganzen vorauf ging die „Zueignung“, die ursprünglich im Titel den Beisatz „an das deutsche Publikum“ führen sollte. Von den älteren Productionen war der Werther in einzelnen Abschnitten vermehrt und beträchtlich umgestaltet worden; in Götz und Clavigo zeigten sich nur leise Umbildungen des Ausdrucks; aus letzterem Drama mußte eine ausschweifende Wuthrede des rachedürstenden Beaumarchais entfernt werden; die Mitschuldigen hatten seit dem J. 1770 manche Läuterung durchgemacht; auch in der Stella war manches Mißfällige beseitigt; der versöhnliche Schluß jedoch war geblieben: als „Trauerspiel“ erschien das Stück erst 1816 in den Werken, nachdem es sich schon 1806 als solches auf die Bretter gewagt hatte. – Die letzten vier Bände der Schriften folgten langsamer. Der fünfte brachte (1788) den Egmont und die Singspiele Claudine und Erwin; aus diesen hatte der Dichter „die alte Spreu seiner Existenz herausgeschwungen“; melodisch dahinfließende Jamben ersetzten den prosaischen Dialog, der ihm nun als „äußerst platt“ zuwider war; Handlung und Personen waren in eine idealische Sphäre hinaufgehoben. Dann kam 1789 der achte Band mit dem Puppenspiel, den zwei Sammlungen vermischter Gedichte, die für die meisten damals noch ein unerkannter Schatz blieben, den beiden kleinen Dramen Künstlers Erdenwallen und Künstlers Apotheose, von denen das letztere im September 1788 ausgeführt worden, und dem Bruchstück der Geheimnisse. Den Beschluß machten 1790 der sechste und siebente Band mit Tasso, Lila, Jery und Bätely, Scherz, List und Rache und dem Fragment des Faust, das mit dem Monolog begann und mit Gretchen’s Worten: „Nachbarinn! Euer [448e] Fläschchen!“ abbrach; zwischen dem Gespräch mit Wagner und der zweiten Unterredung mit Mephistopheles klaffte die große Lücke; dagegen fand sich von späteren Zusätzen schon die Hexenküche und die Scene in Wald und Höhle. Das waren die Gaben, mit denen G. in seinem 40. Jahre vor seinem Volke wieder erschien.

Nach der Rückkehr aus Italien mußte in der Gesammtheit seiner Lebensverhältnisse eine wesentliche Veränderung eintreten. Die frühere Geschäftsthätigkeit ward nicht wieder aufgenommen; sie hatte ihm geleistet, was sie leisten konnte; sie hatte den Menschen gereift und dem Dichter Blicke in Regionen eröffnet, die sonst dem Künstlerauge meist verschlossen bleiben. Der großsinnige Fürst bewährte sich als der einsichtigste Freund: er entlastete den Dichter aller ungehörigen Bürden; diesem blieb nur die oberste Aufsicht über alle die Anstalten, „welche für Wissenschaften und Künste in Thätigkeit gesetzt worden“; im Mai 1791 übernahm er auch die Leitung des Hoftheaters, von welcher er sich erst im April 1817 zurückzog. Er hörte nicht auf, der erste Staatsdiener zu sein, der auch ferner berechtigt war, „in beständiger Connexion mit den Kammer-Angelegenheiten zu bleiben, den Sessionen des Collegii beizuwohnen und dabei seinen Sitz auf dem für den Fürsten selbst bestimmten Stuhle zu nehmen.“ Nachdem er 1804 zugleich mit seinem Amtsgenossen Voigt das Prädicat Excellenz empfangen, ward ihm 1816, als dem Staatsminister des Großherzogs, sein Gehalt, der früher von 1200 auf 1800 Thaler gestiegen war, auf 3000 Thaler erhöht. Am 7. November 1825 ward die fünfzigste Wiederkehr des Tages gefeiert, an welchem er, der Einladung Carl Augusts folgend, in Weimar eingetroffen. Stadt und Land nahm Antheil an dem Feste. Mit Worten, die aus dem Herzen flossen, begrüßte der Fürst in seinem ersten Staatsdiener „den Jugendfreund, der mit unveränderter Treue, Neigung und Beständigkeit in allen Wechselfällen des Lebens ihn begleitet, und den für immer gewonnen zu haben er als eine der höchsten Zierden seiner Regierung achte.“

In jener Zeit aber, da G. sich aus dem formreichen Italien in das gestaltlose Deutschland zurückgewiesen sah, fühlte er sich gedrängt, auch sein Hauswesen umzuwandeln. Der Seelenbund mit Frau v. Stein mußte sich lösen. Wer mag sie scheltenswerth finden, wenn das leidenschaftliche Schmerzensgefühl über einen solchen Verlust sie zur herben Verkennung des Freundes fortriß?

G. fand für’s erste Behagen und Genügen in einem Verhältnisse, das ihm und uns die Römischen Elegien und das Gedicht „Die Metamorphose der Pflanzen“ als poetischen Gewinn eintrug, und das wir weder beschönigen, noch verdammen wollen. Im Juli 1788 hatte er die 24jährige Johanna Christiane Sophia Vulpius (6. Juni 1764 bis 6. Juni 1816) in sein Haus genommen; am 25. December 1789 ward ihm der Sohn August[WS 2] geboren (Julius August Walther, † zu Rom Ende October 1830). Die kleine Freundin, die in späteren Zeiten von dem naiven Reiz ihrer Jugend wenig ahnen ließ, blieb an Goethe’s Seite dieselbe, die sie gewesen. Der Gedanke, sich geistig an ihm emporzubilden, ist ihr wol niemals gekommen. Aber sie leistete ihm, was er von ihr erwartete: sie bereitete ihm angenehme, häuslich-gesellige Verhältnisse. Durch treue Anhänglichkeit und hausmütterliches Walten bethätigte sie die dankbare Verehrung, mit der sie zu ihm aufblickte. Ihr einfach gerader Verstand leitete sie bei dem Bestreben, zur Ruhe und Heiterkeit seines häuslichen Daseins beizutragen. In den drangvollen Tagen, die der Schlacht bei Jena folgten und in denen sich ihre standhafte Energie zum Heile Goethe’s bewahrt hatte, ließ er der Verbindung mit ihr die kirchliche Weihe geben (19. October 1806). Als sie 52jährig starb, ließ er seinen Schmerz in Worten aufrichtiger Trauer ausklingen. Hoffentlich wird man es Christianen endlich verzeihen, daß der größte der Dichter sie zu seiner Hausgenossin wählte und ihr einen bescheidenen, wohlverdienten [448f] Antheil an seinem Leben gönnte; ihr einfaches Bild wird nicht immer durch Lüge und Verleumdung getrübt bleiben. –

Reich an mannichfacher äußerer Bewegung waren die ersten Jahre, in denen G. die Eindrücke des italienischen Kunstlebens in sich zu verarbeiten hatte und die dort gewonnenen Ueberzeugungen in nothwendigen Zusammenhang mit seinem ganzen Sein und Wirken zu bringen trachtete. Im Frühling 1790 reiste er nach Venedig, um dort der aus Italien heimkehrenden Herzogin Amalia zu begegnen; seinem Aufenthalte in der neptunischen Stadt verdankte er die venetianischen Epigramme. Gegen Ende des Juli machte er sich auf, dem Herzoge auf dessen Wunsch nach Schlesien zu folgen; inmitten der kriegerischen und diplomatischen Bewegungen schuf er sich, dem Studium der vergleichenden Anatomie hingegeben, seine eigene Geisteswelt. Das „lärmende, schmutzige, stinkende“ Breslau wollte ihm kein Behagen einflößen; er war froh, sich am 6. October wieder in den Schutz seiner Hausgötter begeben zu können. Nun erfreute er sich eines ruhigen, im häuslichen Bereiche fruchtbar und thätig verbrachten Jahres. Aber bald darauf drang der Strom der Begebenheiten, die im Gefolge der französischen Staatsumwälzung die europäische Welt erschütterten, unmittelbar an ihn heran. In dem unseligen Jahre 1792 ward er Augenzeuge des von den Verbündeten gegen das revolutionäre Frankreich gerichteten Unternehmens; er erlebte Schmach und Jammer des Rückzugs; er erprobte an sich die Wirkungen des Kanonendonners, er theilte mit den Soldaten die Langeweile, die Gefahren und Mühsale des Feldlebens. Auch hier boten ihm seine Naturstudien, und zwar die optischen, Trost und erhebende Belehrung. In der ruhig grandiosen Darstellung der „Campagne in Frankreich“ (gedruckt 1822) erscheint er als der eindringende Beobachter, der die weltgeschichtliche Bedeutung der Ereignisse in dem Augenblicke, da sie sich vollziehen, erkennt. Seltsam fügte es sich, daß gerade damals ihm ein ehrenvoller Platz im Rathe seiner Vaterstadt angeboten ward. Aber dies Erbieten konnte ihn den weimarischen Zuständen, mit denen sein Leben so eng verflochten war, nicht abwendig machen; der Bund mit dem fürstlichen Freunde war unauflöslich; und keineswegs durfte er hoffen, daß die reichsstädtischen Verhältnisse, denen er sich einst mit Willen und Absicht entzogen hatte, ihm jetzt einen angemesseneren Spielraum für seine Kräfte eröffnen würden. Auch der Sommer 1793 sah ihn an der Seite seines Herrn auf kriegerischem Schauplatze vor dem belagerten Mainz, auch hier ward er unmittelbarer Zeuge und Chronist. Wie er sich als Dichter zuerst der erschütterten Welt gegenüber zu stellen versuchte, das zeigen die Dramen „Der Groß-Cophta“ (1791), „Der Bürgergeneral“ (1793), sowie das erst 1817 gedruckte Fragment „Die Aufgeregten“. Ferner sollten in der „Reise der Söhne Megaprazon’s“, die, im Hinblick auf Rabelais entworfen, nicht weit über den Anfang gedieh, und in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ die Gesinnungen des Dichters dargelegt werden, welcher dem alles bedrohenden Geiste des Umsturzes, der durch Europa ging, sich als Freund und thätiger Förderer des Bestehenden entgegensetzte. Auch die hexametrische, „zwischen Uebersetzung und Umarbeitung schwebende Behandlung“ des Reinecke Fuchs (gedruckt 1794) gehört zu den Werken, die in unmittelbarem Bezug auf die Zeitstimmung ausgeführt wurden. Hierbei kam Gottsched’s hochdeutsche Uebersetzung (1752) zu Ehren; denn ihr verdankte G. manche Hülfe, wenn er auch zuweilen im Einzelnen das Original mit richtigerem Verständniß erfaßte. Die unheilige Weltbibel, die er seinen erregten Zeitgenossen erneut in die Hände gab, war zugleich ein Hof- und Regentenspiegel, in den mancher, der auf der Weltbühne damals sich spreizte, zur Ergötzung und Belehrung hineinschauen und sein eigenes Bild, wenn auch unter Verzerrungen, wiedererkennen mochte. Des ungeheuren Stoffes, den die Zeitgeschichte bot, sollte [448g] er erst in „Hermann und Dorothea“ (1796–97) mit poetischer Allgewalt vollkommen Herr werden. Eine durch hohe Symbolik verklärte Darstellung der Revolutionsepoche sollte Deutschland in der Trilogie erhalten, vor der wir in der „Natürlichen Tochter“ (1801–3) nur das einleitende Stück besitzen.

Die Einsicht, daß er nicht zur bildenden Kunst berufen sei, war einer der Vortheile, die ihm Italien gebracht hatte. Mußte er nun auf die ernste strenge Ausübung verzichten, so wollte er doch um so entschiedener, forschend und anschauend, von Seiten der Theorie wie der Geschichte, in das Wesen der Kunst eindringen, ihre Tiefen ergründen, sich zu ihrem Gipfel aufschwingen. Und dazu konnte ihm denn die Ausübung, wie er sie anspruchslos fortsetzte, auch fernerhin behülflich sein. Aus diesem edlen, auf Betrachtung und Forschung gegründeten Verhältnisse zur Kunst erwuchs ihm eine der reinsten Glückseligkeiten seines Lebens. Durch Verbreitung seiner Anschauungen und Grundsätze aber ist er ein Lehrer der Kunst für Deutschland geworden, den freilich bis auf den heutigen Tag nur die Besten hören mochten. Um so unerschütterlicher bestand er, im Gegensatze zur Zeitrichtung, auf seinen Principien, weil er täglich erfuhr, in wie hohem Maße sie ihm bei Ausübung der poetischen Kunst förderlich wurden.

Ohne ein Vorbild in seiner unmittelbaren Zeitumgebung zu finden, hatte G. aus seiner Vorstellung heraus den neuen Kunststil geschaffen, und eben deshalb stand er auch mit der Anerkennung desselben zuerst allein; nur die Ersten der Nation konnten sich allmählich verständnißvoll zu ihm gesellen. Auf dem festen Grunde derselben ewigen Formengesetze, nach welchen die Natur schaffend bildet, war dieser Stil errichtet worden. Dem Poeten genügte nicht die liebevoll getreue Nachahmung des Wirklichen; auch die Manier konnte ihn nicht befriedigen, mit welcher der Künstler die Dinge, oft nach einseitigen Vorstellungen, ergreift und sie dann in beschränkter, wenn auch scharfer, Charakteristik wiedergibt. Er strebte nach dem Stil, der aus der tiefsten Erkenntniß der Dinge hervorgeht, oder, wie er selbst es ausdrückt, auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntniß ruht, auf dem Wesen der Dinge, insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greiflichen Gestalten zu erkennen. Ueber diesem Stile walten dieselben „wahren und natürlichen“ Gesetze, nach welchen die bildenden Künstler des Alterthums ihre hohen Werke hervorgebracht, die Werke, vor denen G. ausruft. „alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen; da ist die Nothwendigkeit, da ist Gott.“

Wie er sich aber längst gewöhnt hatte, Kunst und Natur als verschwistert anzusehen, so konnten auch Kunstbetrachtung und Naturstudium, sich wechselseitig fördernd, gleichen Schritt halten. Indem er über alle einzelnen Zweige der bildenden Kunst nachdachte, ward er zuletzt immer wieder an „das A und O aller uns bekannten Dinge, an die menschliche Figur“ herangeführt. Mit Recht erblickt er im Menschen den höchsten, ja den eigentlichen Gegenstand bildender Kunst; um ihn jedoch zu verstehen, erschien eine Kenntniß der organischen Natur unerläßlich. Die Wissenschaft nun weiß zu rühmen, wie er den Bildungsgesetzen des thierisch-menschlichen Organismus selbständig forschend nachging und wie er den Faden spann, der ihn durch das Labyrinth des menschlichen Baues führte. So konnte er auch, bei seiner einfachen, naturgemäßen Methode, nicht irren, als er den „Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären“ (1790) ausarbeitete; denn die Vegetation selbst „hatte ihm Schritt für Schritt ihr Verfahren vorgebildet.“ Von seinen Bemühungen um die Farbenlehre gab er öffentlich Rechenschaft in den zwei Stücken der „Beyträge zur Optik“ (1791 und 92), deren erstes durch ein entzückendes Bild des farbenreichen Italiens eröffnet wird.

Einen Menschen, der von der Mühe lebt, durfte er sich in diesen Jahren vielleicht mit größerem Rechte als je zuvor nennen. Mühe und Genuß waren [448h] ihm eins, und doch konnte er sich beider nicht im Innersten erfreuen. Durch einen gewissen trockenen Ernst, der sich wol in Form einer mißmuthigen Resignation aussprach, schien die geistige Heiterkeit des poetischen Schaffens unterbrochen zu sein. Er wunderte sich, daß in dem prosaischen Deutschland noch ein Wölkchen Poesie über seinem Scheitel schweben blieb. Er konnte sich glücklich preisen im Besitze der neuen Anschauungen, mit denen er das Gesammtgebiet der Natur und Kunst umfaßte; aber es schien, als hätte er dieselben nur für sich allein gewonnen. Was er als das einzig Rechte erkannt hatte, blieb den meisten unfaßbar; was er mißachtete, stand in Geltung. „Ein rastloses Streben, sich nach allen Seiten auszubilden“ hatte ihn gerade in dem Moment überfallen, da die ungeheuren Weltbewegungen und ihre unmittelbaren Folgen ihn in sich selbst zurückdrängten. Er vermißte eine thätige Theilnahme an seinem Streben, das, dem Höchsten zugewandt, selbst von den näheren Freunden kaum begriffen ward. Da kam Schiller ihm entgegen.

Es war ein Gespräch über naturwissenschaftliche Dinge, das die beiden Männer einander nahe brachte. Die Möglichkeit eines gemeinsamen Wirkens zeigte sich; die Mißverhältnisse schwanden, welche aus dem Gegensatze der beiden Naturen, aus der Verschiedenheit der Lebensstellungen natürlich entsprungen waren; nichts konnte mehr das Bündniß hindern, welches G. und Schiller im Sommer 1794 schlossen, und aus welchem für sie ein neues Leben voll künstlerischer Thaten hervorging. Während des zehnjährigen Bestandes dieser Freundschaft, für die es kein anderes Ende geben konnte als den Tod des jüngeren Genossen, ward die deutsche Litteratur auf den Gipfelpunkt ihrer Vollendung gehoben. G. aber fand sich durch diese Freundschaft überschwänglich entschädigt für alles, was er auf der Höhe seines Daseins bisher hatte entbehren müssen.

Denn er fand in Schiller den hohen Mitstrebenden, nach dem er so lange vergeblich ausgeblickt. Verschieden nach Anlage und Ausbildung ihres Geistes wie ihrer künstlerischen Persönlichkeit, strebten sie in jener Periode ihres Schaffens einem und demselben Ziele in herrlicher Gemeinschaft entgegen. Indem die beiden großen Gestalten sich fest aneinander schließen, umspannen und erfüllen sie mit der Weite und dem Reichthum ihrer vereinigten Geisteskräfte den ganzen Kreis der Litteratur. Für dies Verhältniß findet G. den treffendsten bildlichen Ausdruck in den Worten an Schiller (26. December 1795): „Wir können eine schöne Breite einnehmen, wenn wir mit einer Hand zusammenhalten und mit der anderen so weit ausreichen, als uns die Natur erlaubt hat.“

Ist im Kunst- und Geistesleben einer Nation der von allen strebenden Kräften lange vorbereitete Moment gekommen, in welchem das Höchste zur Erscheinung gelangen soll, so geschieht es nicht selten, daß dieses Höchste in zwei Gegensätzen gespalten auseinander tritt. Diese verharren dann in feindseliger Trennung. Hier, zum ersten und einzigen Male, zeigt sich uns das erhebende Schauspiel, daß die Gegensätze sich suchen, um sich zu versöhnen. Schiller’s und Goethe’s Bund darf als die innigste Vereinigung der schärfsten Gegensätze bezeichnet werden; er ist zugleich die unerwartete höchste Blüthe, zu der das Zeitalter der Humanität sich entfalten konnte.

Die volle Bedeutung des Gegensatzes, der wie durch ein Naturgebot zwischen ihnen befestigt war, haben sie auch während ihrer Vereinigung lebhaft empfunden und nachdrücklich ausgesprochen. Anschauung und Gedanke, der intuitive und speculative Geist standen sich hier verkörpert gegenüber. Aber die Kluft zwischen ihnen scheint sich auszufüllen, wenn man bedenkt, daß jeder die Beschränkung seiner Eigenart zu überwinden und sein Individuum durch Aufnahme dessen, was ihm die Natur nicht freiwillig gegeben, zu ergänzen strebte. Mußte der größere Dichter auch von dem Mannigfaltigen, von der unbegrenzten Fülle der sinnlichen [448i] Anschauung ausgehen, so suchte er doch mit selbstthätiger, freier Denkkraft das Gesetz, das in und über allen Erscheinungen waltet, sie regelt und sie umfaßt; in dem Erfahrungsgemäßen forscht er nach dem Nothwendigen, und das All gibt ihm Aufschluß über das Einzelne. Wirkt die Kunst in ihm gleich einer dunkeln Naturkraft, so beruhigt er sich doch nicht eher, als bis er durch deutlich erkannte Kunstprincipien diese Kraft zu bändigen und zu leiten gelernt hat.

Goethe’s und Schiller’s Bund blieb unzerstörbar, so lange beide strebend vorwärts gingen; denn nicht auf wandelbare Empfindungen, sondern auf die edelsten Bedürfnisse ihrer beiderseitigen Naturen war er begründet. Dies Bündniß konnte sich nur durch die That kund geben und bewähren. Es bestätigt Goethe’s Wort: „Freundschaft kann sich blos praktisch erzeugen, praktisch Dauer gewinnen.“ Wenn G. dem jüngeren Freunde Objecte für dessen Ideen gab, so brachte dieser durch seine vordringende Ideenkraft die hin und wieder stockende Masse der Goethe’schen Anschauungen in fruchtbare Bewegung. Aber keiner wollte dem andern seine Natur aufdrängen; jeder sollte unter den anspornenden Einwirkungen des andern die seinige nur um so großartiger entwickeln. Der hohe ethische Werth dieser Freundschaft offenbart sich eben darin, daß die Gemeinschaft des Strebens den Gegensatz der Naturen überwindet. Der Briefwechsel, in welchem dies Streben von Tag zu Tag sich darlegt, war daher eine „große Gabe“, die der überlebende Freund in seinen letzten Jahren (1828 und 1829) „den Deutschen, ja den Menschen bot“. An Gehalt unerschöpflich, Denkmal und Vermächtniß einer beispiellosen Freundschaft, gehört diese Correspondenz zu den kostbarsten geistigen Besitzthümern der Menschheit.

Was G. in dem Jahrzehnt von 1794–1805 leistete, ist kaum mit flüchtigem Worte hier anzudeuten. „Wilhelm Meister’s Lehrjahre“ wurden (1794–96) durchgearbeitet und unter Schiller’s Beirath fortgeführt und geendigt. Nach dem „tollen Wagestück mit den Xenien“ erhob er sich zu „Hermann und Dorothea, dem Gipfel seiner und unserer ganzen neueren Kunst“; die durch F. A. Wolf’s Prolegomena lebendig angeregten homerischen Studien hielten ihn auf epischem Gebiete fest; als nachgeborener Bruder der homerischen Sänger faßte er den riesenhaften Plan einer Fortsetzung der Ilias: was er hier vermocht hätte, zeigt das Fragment der Achilleis, das uns die tragische Erhabenheit des Ganzen, wie der Geist des Dichters es ausgebildet, sowie die kraftvoll gezogenen Grundlinien der Composition erkennen läßt. Den Schiller’schen „Horen“ (1795–97) und besonders den Musenalmanachen gönnte er seine reichliche Beisteuer. In den letzteren erschienen die vollendeten Erzeugnisse deutsch-hellenischer Lyrik in elegischer Form: „Alexis und Dora“ (1797), „Der neue Pausias“ (1798), „Euphrosyne“ (1799); ferner die Balladen und Romanzen: Zauberlehrling, Schatzgräber, Braut von Korinth, Gott und Bajadere (1798), Blümlein Wunderschön und die Gedichte, die von den Reizen, dem Verrath und der Reue der schönen Müllerin erzählen (1799). Daneben sproßte ein neuer Liederfrühling auf. Wol durfte Schiller, als diese Wunder der Poesie einander folgten, ihm zurufen: „Jetzt, däucht mir, kehren Sie, ausgebildet und reif, zu Ihrer Jugend zurück und werden die Frucht mit der Blüthe verbinden. Diese zweite Jugend ist die Jugend der Götter und unsterblich wie diese.“

Die innige Theilnahme an Schiller’s dramatischer Production bestimmte ihn zu einer, womöglich noch gesteigerten Sorgfalt in Behandlung der theatralischen Angelegenheiten. Wie in die Poesie, so auch in die Bühnendarstellung die ganze Höhe und Würde des idealen Kunststils einzuführen, das war eine für ihn und den Freund gleich wichtige Aufgabe. Um zu diesem Zwecke mit allen Mitteln und von allen Seiten her zu wirken, ward sogar die Uebersetzung Voltaire’scher Tragödien, des Mahomet und des Tancred (1799 und 1800) nicht verschmäht.

[448k] Den Interessen der bildenden Kunst, die er in seinem Sinne durch Preisaufgaben und Ausstellungen (1799–1805) auch praktisch zu fördern suchte, wurden umfangreiche Arbeiten gewidmet, wie die genialische Uebertragung der Autobiographie Cellini’s (erst in den Horen 1796 und 97, dann selbständig und mit werthvollen Zugaben bereichert 1803), die drei Bände der Propyläen (1798–1803), in denen das Reifste der Goethe’schen Kunstweisheit niedergelegt ist, und das Werk: „Winkelmann und sein Jahrhundert“ (1805), zu dessen Ausstattung ihm Heinrich Meyer und F. A. Wolf behülflich waren; er selbst stellte hier das Bild des Verkündigers der alten Kunst in wahrhaft majestätischen Zügen hin.

Inzwischen war seit dem Sommer 1797 der Faust mächtig vorgerückt; wichtige Einzelheiten des zweiten Theils wurden sogar schon 1800 behandelt. Dabei durften die naturwissenschaftlichen Arbeiten, und insbesondere die Vorbereitungen zum großen Werke über die Farbenlehre, keine Unterbrechung leiden. Schiller begleitete sie aufmerksam und liebevoll, munterte zu einer streng methodischen Behandlung auf und ließ auch hier, wie bei den Schriften über die Kunst, seinen philosophischen Ordnungsgeist heilsam einwirken. Mit dem Beginne des J. 1804 konnte nach unsäglichen Mühen, die G. tapfer getragen hatte, die neue Jenaische allgemeine Litteratur-Zeitung begründet werden; er bedachte sie mit köstlichen kritischen Aufsätzen, unter denen die Charakteristik der Voßischen Gedichte hervorstrahlt. Der trübe Winter von 1804 auf 1805 war vorüber; eben hatte der Dichter, selbst von manchem Leiden befangen, die auf Schiller’s Anregung begonnene Uebersetzung des Diderot’schen Dialogs le neveu de Rameau abgeschlossen und die geistsprühenden Noten über die französische Litteratur des 18. Jahrhunderts beigefügt, – da ward ihm der Freund entrissen.

So erschütternd hatte ihn seit dem Tode seiner Schwester der Schmerz wol nie wieder getroffen, wie am Morgen des 10. Mai, als er aus dem Munde Christianen’s die Bestätigung der gefürchteten Kunde vom Hinscheiden Schiller’s empfing. Er schien zu fühlen, daß mit diesem jähen Schlage die zweite Epoche seiner Dichterjugend abschloß. Nicht nur damals, unter dem gewaltsamen Andrange des ersten Schmerzes, klagte er, die Hälfte seines Daseins habe er verloren; auch lange hernach, als die Nähe von Freunden wie Jacobi und F. A. Wolf ihn erfrischt und gestärkt hatte, und mancherlei erheiternde Erscheinungen in buntem Wechsel an ihm vorübergezogen waren, auch da noch konnte er den immer wachen Schmerz nicht zur Ruhe bringen. „Den letzten Tag 1805“ traf er in einem vertraulichen Briefe an Eichstädt, den Redacteur der Litteratur-Zeitung, eine testamentarische Verfügung, und zwar aus dem Grunde, weil er „nach dem Tode eines so werthen Freundes nur halb fortlebte und sich vielleicht hinfälliger glaubte als er war“.

Von Schiller verlassen, sah er, der Dichter, der Künstler, der Kunst- und Naturforscher, einer großen Einsamkeit entgegen. Freilich wurden seine Beziehungen zur Welt, zum Vaterlande und Auslande immer zahlreicher und vielseitiger. Eine junge Generation wuchs auf in der Bewunderung seines Genius. Alle Strahlen des deutschen Geisteslebens schienen in ihm sich sammeln zu wollen. Zu den alten erprobten Freunden traten im Laufe der Jahre neue tüchtige und vertrauenswerthe, wie Reinhard, Boisserée und so manche andere; Wilhelm v. Humboldt bewährte fortdauernd seine Treue; die Freundschaft mit Zelter erwärmte sich zu brüderlicher Herzlichkeit; jüngere Gelehrte, Philologen und besonders Naturforscher drängten sich zum persönlichen oder brieflichen Verkehr mit dem Meister heran; jeder fühlte sich beglückt, der sich zu den Seinen zählen durfte. Aber der Mann kam nicht mehr, der ihm, wie der heimgegangene Freund, in jedem Sinne ein Geistes- und Wirkensgenosse sein konnte. Hatten [448l] er und Schiller sich doch selbst da verstanden, wo sie nicht einig waren. Vermochte einer von den Führern der romantischen Schule sich ihm als ein solcher Genoß zur Seite zu stellen? Unmöglich! Sie hatten den litterarischen Gesichtskreis bedeutend erweitert; sie führten fort, was Herder glorreich begonnen, indem sie unsere Litteratur mit den Litteraturen aller Zeiten und Völker in lebendige Berührung brachten. Unstreitig hatten sie dazu beigetragen, die Besseren der Nation empfänglich zu stimmen für die hohen Kunstwerke, die den männlichen Jahren Goethe’s entstammten; sie hatten ihn ausgerufen zum wahren Statthalter des poetischen Geistes auf Erden; sie verehrten ihn als Haupt und Stifter einer neuen Poesie, in welcher der Einklang zwischen dem Romantischen und dem Classischen hergestellt worden. Er ließ sich ihre Auffassung seiner Dichternatur gefallen; er nutzte für seine Zwecke den Ertrag ihrer wissenschaftlich-künstlerischen Bemühungen; er wehrte den Geist, den sie zu verbreiten suchten, nicht von sich ab; ja, soweit es ohne Widerspruch gegen seine Grundsätze geschehen konnte, begünstigte er sie thätig, um zu zeigen, daß er sie schätzte. Aber niemals hätte er im Einverständniß mit ihnen wandeln und wirken können; sein Weg führte nicht nach den dunkel-hellen Regionen, in denen sie hausten oder denen sie zustrebten. Auf manchen Gebieten mußte er sie sogar als seine entschiedenen Widersacher, als gefährliche Gegner des Rechten und Wahren bekämpfen und verfolgen. Was er über bildende Kunst lehrend und mahnend vortrug, richtete sich meist gegen die neuen Glaubenssätze der Romantiker, welche dem Dünkel und dem Unvermögen schmeichelten. In allem, was ihm das Höchste und Wichtigste war, blieb er auf sich allein angewiesen. Die Einsamkeit, in die er sich versetzt fühlte, belebte er durch unablässige That; denn „nur wer immer wirkt, vermag zu wirken“; und er steigerte und vermannichfaltigte die Forderungen an seine Wirksamkeit, bis die Nacht eintrat, „wo Niemand wirken kann“.

Zuvörderst ordnete er die neue zwölfbändige Sammlung seiner Werke; im Cotta’schen Verlage erschien sie; 1806 begonnen, lag sie 1808 abgeschlossen vor. Im ersten Bande war der seit 1790 so mächtig angewachsene lyrische Reichthum vereinigt; der achte bot die höchste Gabe, die der Dichter zu bieten hatte: den vollendeten ersten Theil des Faust. Schon von dem Fragment hatte man gesagt, es gehöre zum Größten, was die Kraft des Menschen je gedichtet. Jetzt gab sich das Werk als ein Ganzes, das auf eine Fortsetzung deutete; es erschien ausgerüstet mit allem übermächtig dämonischen Zauber einer weltdurchdringenden und neue Welten erzeugenden Poesie. Seitdem Dante seinen Prophetenmund geschlossen, war der Menschheit keine ähnliche Offenbarung geworden.

Aber nicht mit ungetrübtem Genuß konnte Deutschland sich damals seines Dichters erfreuen. Die Jahre des Unheils, der Schmach und Erniedrigung waren gekommen. G. jedoch stand unerschüttert im Sturme der Zeit. Mit einer Beharrlichkeit, in der man den Heroismus nicht verkennen sollte, lehnte er alles von sich ab, was in den bestimmt gezogenen Kreis seiner Pflichten verwirrend einzubrechen drohte; keine fremdartige Anforderung durfte ihn stören in der Vollbringung des Tagewerks, das Gott und die Natur ihm aufgetragen. Er war Patriot, in einer Weise, wie nur er es sein konnte, sein durfte. Vernichtet erschien ihm die politische Macht Deutschlands; um so ruhmvoller sollte die deutsche Hoheit im geistigen Leben wieder auferstehen; und was der deutsche Geist vollführte und errang, sollte der Menschheit zum Gewinne gereichen. Vous êtes un homme, sagte ihm Napoleon am 2. October 1808, nachdem er ihn aufmerksam angeblickt. Das Wort birgt einen Sinn, tiefer und wahrer als der Gewaltherrscher ahnen konnte, der es sprach.

Vor allem war G. beflissen, „seine Geister ins Freie zu wenden“, die Betrachtung organischer Naturen treulich fortzusetzen und den in vieljährigen chromatischen [448m] Studien aufgehäuften Stoff abschließend zu bearbeiten. So konnten denn 1810 die beiden imponirenden Bände „Zur Farbenlehre“ ausgegeben werden; den zweiten füllte die Geschichte der Farbenlehre; sie gilt uns noch jetzt als das nicht wieder erreichte Muster für die historische Behandlung einer Wissenschaft; in keinem seiner späteren prosaischen Werke hat G. das All seines Geistes so klar abgespiegelt. Aber er zeigte sich auch verjüngt in neuen Dichtungswelten. „Pandora“ ward 1807 begonnen, der rasch entsprungene Roman: Die Wahlverwandtschaften“ 1809 zu Ende geführt. In jener begegnen wir den bekannten Gestalten aus des Dichters Jugendjahren; aber ihre geistige Physiognomie ist durchaus umgewandelt; sie haben sich mit dem Dichter fortgebildet und aus seinen Ideen ein neues Dasein erhalten. Ein schmerzlicher Grundton klingt aus den Tiefen dieser Dichtung; ein eigenartig schimmernder Glanz wunderreicher Poesie durchdringt das Einzelne und legt sich blendend über das Ganze; der Poet scheint zu schwelgen im Wechsel der kunstreichsten Formen. Der Roman ist in Rücksicht auf Strenge der Darstellung, auf ungebrochene Einheit der Anlage und Ausführung nur mit dem Werther und mit Hermann und Dorothea zu vergleichen. Er war ursprünglich als Novelle gedacht, denjenigen ähnlich, die in den Wanderjahren, welche seit 1807 den Dichter beschäftigten, später zusammengereiht wurden. In den Wahlverwandtschaften hatte sich G. bemüht, „die innige wahre Katharsis so rein und vollkommen als möglich abzuschließen“. Noch immer blieben seine Dichtungen Bekenntnisse, durch die er vom Drange der Leidenschaft sich zu befreien suchte; sie waren Lebenszeugnisse und Lebensspuren, die er den kommenden Geschlechtern zurückließ. Wie einst Lotte, so hatte auch Ottilie ihr wirkliches Urbild, das der Poet mit freigestaltender Kraft umschuf: in der edel lieblichen, ethisch verklärten Heldin will man die Züge jener Minna Herzlieb wiedererkennen, die in Jena dem Frommann’schen Kreise angehörte und deren Name uns auch aus den Sonetten entgegentönt.

Nun wählte G., der 60jährige, sein eigenes Leben zum Stoff des biographischen Meisterwerks, das zugleich den geschichtlichen Commentar zu seinen Poesien und eine allseitige Ergänzung derselben enthalten sollte. Drei Bände von „Dichtung und Wahrheit“ erschienen in den J. 1811–14. Aber schon war, als Deutschland sich der Schmach und des Drucks mit endlich vereinten Kräften ruhmvoll entledigt hatte, Blick und Sinn des Poeten anderen Welten zugekehrt. Das neueröffnete Studium des Orients, und zwar besonders der arabischen und persischen Litteratur, hatte ihn mächtig lockend an sich gezogen. In Hafis, den Hammer 1812 in einer, freilich unzulänglichen, Uebersetzung den Deutschen nahe zu bringen gesucht, fand G. den ihm verwandt scheinenden Dichtergeist, den er sich als Führer durch des Morgenlands Gefilde wählte, dem er sich in seiner jetzigen Lebensperiode anähnlichen konnte, ohne sein eigenes Selbst preiszugeben. Die größte Masse der Gedichte, welche den „West-östlichen Divan“ bilden, entstand 1814 und 1815, und zwar gewann er eine bedeutende Anzahl gerade der köstlichsten auf den beiden Reisen, die ihn in den Sommer- und Herbstmonaten jener Jahre in die vom Feinde frei gewordenen Heimathsgegenden an den Rhein und Main führten. Mit Naturgewalt, wie in den Tagen seiner jungen Kraft, brach die Dichtung hervor und ergoß sich unaufhaltsam mit wahrhaft jugendlicher Ueppigkeit. Und auch hier schmolz die Poesie mit dem Wirklichen, wundersam aber ungezwungen, in einander. Hatems Suleika, deren Reize und Vollkommenheiten kaum durch das Namenhundert Allah’s genügend zu bezeichnen sind, sie schwebte nicht nur als Geistesgebild in den Räumen der vom Dichter auferbauten west-östlichen Welt, um sie mit den Wundern ihrer Lieblichkeit zu erfüllen. In Marianne von Willemer, der geist- und kunstbegabten Gattin eines Frankfurter Freundes (Maria Anna Katharina Therese Jung, [448n] 20. November 1784 bis 6. December 1860) trat ihm Suleika wirklich und leibhaftig entgegen; sie empfing seine poetischen Huldigungen, um sie dichtend zu erwidern. Angehaucht von seinem Geiste, eingeweiht in seine Kunst, schuf sie Lieder, die neben den herrlichsten ihres Freundes im Buche Suleika unvergänglich glänzen; sein Wesen hatte schöpferisch das ihrige so durchdrungen, daß in jeder ihrer Strophen das vollgültige Gepräge der Goethe’schen Lyrik zu erkennen ist.

Der Dichter bezeichnete seinen Divan als „Versammlung deutscher Gedichte in stetem Bezug auf den Orient“ – wir können hinzusetzen: und auf den Zeitpunkt ihrer Entstehung. Denn alle Glieder dieser Versammlung mahnen uns bald mit deutschem, bald mit verhülltem Wort an die Jahre, da der Poet im befreiten Vaterlande, das er durchwanderte, selbst aus befreiter Brust wieder lebensfreudig aufathmete. Auch hier gibt er uns Gelegenheits- und Zeitgedichte. Er erschließt den Orient für die deutsche Poesie, ohne sich den Formen des Orients sclavisch anzubequemen; er blieb auch unter dem Anschein fremder Hülle der Dichter seines Volkes und seiner Zeit; unter der Maske, welche niemals seine wahren Züge ganz verbergen darf, kann er sich mit um so größerer Freiheit bewegen. Eine selige Heiterkeit, gleich der Sonne des Ostens, scheint von diesen Gedichten aus ihre Strahlen nach allen Enden hin zu verbreiten; zu der Leidenschaft, die das Geliebte an sich ziehen will, gesellt sich die weltüberwindende Weisheit und die gläubige Ergebung in den göttlichen Rathschluß. Der Dichter weidet Geist und Sinn an unerschöpflichem Genusse; aber stets hält er den Bezug auf das Uebersinnliche fest. Die Leidenschaft schlägt in mächtiger Flamme auf; aber mit ihrer Spitze rührt die Flamme an das Himmlische; ja, während alle Wonnen der Erde ihn, den nie alternden, umfangen, strebt er in seliger Sehnsucht, gleich dem Schmetterling, dem Flammentod entgegen, um dann in einem neuen Werden sich auf ewig zu verjüngen. In seinem 70. Jahr (1819) gab G. den Divan mit den begleitenden Erläuterungen ans Licht; dem poetischen Theil ward später noch manches erlesene Stück beigefügt. Von der Prosa der Erläuterungen darf man mit einem Goethe’schen Worte sagen, daß sie durchreiht ist mit juwelenem Goldschmuck.

Das letzte ihm gegönnte Jahrzehnt verwandte er zu dem einen großen Zwecke, sein Dasein der Nation so vollständig wie möglich in dauernden Zeugnissen vorzulegen. Neigte er sich doch immer entschiedener der Ansicht zu, daß, wollte man der Nachwelt etwas Brauchbares hinterlassen, es Confessionen sein müßten! Im Verein mit den weimarischen Kunstfreunden setzte er die Zeitschrift „Kunst und Alterthum“ fort (seit 1816); in den Heften „Zur Naturwissenschaft“ (seit 1817) sammelte er, was er für Naturkunde geleistet, und erging sich zugleich in den großartigsten Bekenntnissen über den Verlauf seiner geistigen Entwickelung, über sein einheitliches Wollen und vielseitiges Streben. So zog er, indem er seine Kräfte wohlbedächtig zusammenfaßte, den Kreis seines Wirkens immer weiter. Je williger und entschiedener auch das Ausland den Blick auf ihn lenkte, um so bestimmender griff er ein in das Gesammtgetriebe des europäischen Geistes- und Bildungslebens. Den ersten Theil der Wanderjahre gab er 1821. Auch hier, wie schon in den Lehrjahren, fand sich „eben so viel Hinweisung als Darstellung“. In diesem collectiven Werke mußte aber selbst den unbefangenen Lesern manches Wunderliche mißfällig aufstoßen, bei dem sich der Zweck und die tiefere Absicht des Dichters nicht alsobald errathen ließen. Er selbst erachtete es für geboten, „das Werklein von Grund aus aufzulösen und wieder neu aufzubauen“. Freilich war auch dann noch aus den verschiedenartigen Elementen, die hier verarbeitet sein wollten, ein künstlerisch übereinstimmendes Ganzes nicht wohl zu bilden; aber ein nach seinem Werthe noch lange nicht gewürdigter Schatz von Ideen, von Anschauungen und Ahnungen jetziger und künftiger Zustände [448o] und Bestrebungen ist hier zusammengetragen. Die tiefsten Bedürfnisse der modernen Zeit scheinen hier erkannt zu sein. In den novellistischen Bestandtheilen offenbart und verhüllt sich eine Kunst der Erzählung, wie sie seit dem Cervantes keinem Neueren eigen gewesen. Was G. in den dichterischen Schöpfungen seiner letzten Jahre bot, war ein den später kommenden Geschlechtern hinterlassenes Gut. Unter den Zeitgenossen, ja selbst in der nächstfolgenden Generation vermochten es nur wenige zu genießen oder zu erfassen. Und allerdings ist das Verständniß dieser Dichtungen nicht leicht zu erobern. Denn, indem sie sich aufs Ewige beziehen, stellen sie uns „im Erdenleben das Bild und Gleichniß des Unvergänglichen“ vor Augen. G. selbst verhehlt nicht, daß hier eine scharf eindringende Aufmerksamkeit erfordert werde. Er glaubte einzusehen, „daß sich manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen, nicht direct mittheilen läßt“; er hatte daher, seinem eigenen Bekenntnisse zufolge, das Mittel gewählt, durch einander gegenübergestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren. Es darf wol nicht Wunder nehmen, daß die meisten, statt aufzumerken, sich nach oberflächlicher Betrachtung mißvergnügt oder gar spöttelnd von diesen Gebilden abwandten. Erst jetzt beginnt man, sich des endlich erkannten Gehalts dieser Schöpfungen zu bemächtigen.

In jenen letzten Jahren war seine Hauptsorge auf Ordnung und Sicherung seines litterarischen Nachlasses gerichtet. Mit steigendem Ernst widmete er sich dieser Pflicht, seitdem eine Krankheit, die seinem Leben bedrohlich schien (1823), glücklich überwunden worden. Der ersten Cotta’schen Ausgabe seiner Werke war 1815–19 eine 20bändige gefolgt. Am 1. März 1826 erließ er die Anzeige einer vollständigen Ausgabe letzter Hand. Dieser war der Schutz der deutschen Bundesstaaten zugesagt. Sie ward, einem Schatzhause gleich, bestimmt, den unausmeßbaren Ertrag des Goethe’schen Lebens aufzunehmen. Vierzig Bände erschienen im Laufe dreier Jahre (1828–30). In 15 Bänden ward (1832–33) ein Theil des Nachlasses vorgelegt. In späteren Ausgaben (1836, 1840) vermehrte sich die Masse noch beträchtlich; aber, wie viel auch seitdem nachgesammelt worden, noch immer scheint der Vorrath nicht erschöpft. Der Wunsch nach einer, auch im wissenschaftlichen Sinne, vollständigen Ausgabe wird der Nation erst dann erfüllt werden, wenn das Goethe’sche Archiv sich endlich dem Licht und der Wissenschaft erschließt; dann wird man auch hoffentlich nicht zögern, den Werken die Briefe als einen integrirenden Bestandtheil beizufügen und so das Bild des umfassendsten Menschenlebens, von dem die Geschichte Kunde gibt, vollkommen abzurunden.

Aber nicht blos dem Ordnen und Sammeln, auch dem Hervorbringen und Vollenden war das letzte Jahrzehnt gewidmet. Die Dichterkraft äußerte sich in Formen, die seiner jetzigen Lebenshöhe angemessen waren und die weder dem Jüngling noch dem Manne geziemt hätten; aber sie war nicht gebrochen. Wie gewaltig die Leidenschaft den Dichter noch begeistern und „begeisten“ konnte, das bezeugte die Marienbader „Elegie“, im Herbste 1823, fast ein halbes Jahrhundert nach dem Werther, durch die Trennung von Ulrike v. Lewezow hervorgerufen, das erregteste, schmerz- und weihevollste seiner Liebesgedichte. Er wußte sich noch im Besitze unberechenbarer Kräfte: er fühlte sich der Aufgabe gewachsen, die Faustdichtung zum Schluß zu führen. Er begab sich daran (1825), das Werk zu bezwingen. „Ohne Hast, aber ohne Rast“ schritt er vorwärts. Der vierte Band der letzten Ausgabe (1828) brachte die „Helena“, als klassisch-romantische Phantasmagorie, in welcher der Poet, durch keine Zeit gebunden, über alter und neuer Welt schwebt, um beide in sich und im Gedichte vereinigend zusammenzufassen. Als der letzte Geburtstag kam, war der zweite Faust vollendet, das staunenswürdigste Gebild der Weltlitteratur, zu dessen Verständnisse [448p] jetzt ein neues Geschlecht heranwächst. Das thatenreiche Dichterleben schloß ab mit der Verherrlichung der That, welcher die Erlösung folgt. Der Schluß dieser Dichtung, zu deren Aussteuer die Jahrtausende ihre Bildungsschätze dargeliehen, verklingt in einem vieltönigen Hymnus auf die ewige Liebe. Diese selbst erscheint verklärt in der Strahlengestalt der Mater gloriosa, von welcher Gretchen die Gunst erfleht, den früh Geliebten, nun vom Lichte des neuen Tages Geblendeten zu belehren. Der Dichter, der am Ende seines Daseins diese „vom Worte Gottes durchdrungenen Kreise“ unserer Anschauung eröffnet, scheint seinen eigenen Ausspruch bewähren zu wollen: „am Ende des Lebens gehen dem gefaßten Geiste Gedanken auf, bisher undenkbare; sie sind wie selige Dämonen, die sich auf den Gipfeln der Vergangenheit glänzend niederlassen.“

Prüfungen hatte er bis zuletzt zu erwarten und zu überstehen. Der fürstliche Freund, die Herzogin, ja der eigene Sohn gingen vor ihm aus der Welt; er mußte über Gräber vorwärts. Auch manche Bewegungen im Vaterlande, manche Weltereignisse berührten ihn tief und schmerzlich genug. Niemals erstarrte er zu dem ruhigen Götterbilde, das eine falsche oder böswillige Tradition aufgerichtet hat; niemals verleugnete er das Mitgefühl mit den Geschicken der Menschheit, mit den Geschicken seines Volkes, dem er freilich nie mit tönender Phrase geschmeichelt, dessen angestammte Tugenden er aber liebevoll, wie kein anderer, erkannte und pries, und dessen Einheit auch er herbeisehnte; noch in seinen spätesten Jahren durfte er sagen, daß, wie er draußen die Universalhistorie aufgesucht, sie ihn dagegen wieder in Haus und Garten heimgesucht habe. Mochte daher auch die Heiterkeit manches Tages getrübt werden, im Ganzen bietet doch sein Alter das Bild eines erhabenen Glücks. Wol niemals hat ein Mann, bis an die äußerste Lebensgrenze vorschreitend, seine Lebenszwecke so vollständig erreicht. Er stand in Wahrheit auf der Höhe der Welt. Die Majestät des deutschen Geistes war in ihm verkörpert. Der Widerstand, der gegen ihn laut ward, konnte nicht in die höheren Regionen hinaufreichen. Gerade die Größten unter den Großen Deutschlands bekannten am freudigsten, er sei der Erste, ohne einen Zweiten und Nebenbuhler. Die Führer der fremden Litteraturen aber näherten sich ihm mit den Empfindungen, mit welchen der Vasall seinem obersten Lehnsherrn huldigt. Es war ein französischer Künstler, der ihm 1831 zurief: „Sie sind die große Dichtergestalt unserer Zeit“.

Das Bild, das uns G. in seinem hohen Alter darbietet, stellt sich in eigenartiger Herrlichkeit dem Bilde seiner Jugend gegenüber. Die zwanziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts sind in ihrer Weise nicht minder wunderwürdig als die siebziger des achtzehnten. Sein Dasein hatte nun das Ansehen eines Kosmos gewonnen, in welchem nach unverbrüchlichen Naturgesetzen alles zur schönen Uebereinstimmung sich fügte. Nicht blos den Dichter sah man in ihm; die Besten des eigenen Volkes und der fremden Nationen ehrten in ihm den Lehrer, oder, wie es in der Huldigung der englischen Freunde zum 28. August 1831 ausgedrückt ward, „den Wohlthäter, der durch Wort und That Weisheit lehrte“. Der Lehrer, der als darstellender Dichter wie als Forscher die Geheimnisse des Seelen- und Naturlebens offenbart hatte, stand aber zugleich wie ein König vor seiner Mitwelt. Und mußte sich in ihm nicht ein königliches Selbstbewußtsein regen, wenn er das Ganze seiner Persönlichkeit historisch überblickte? „Man hätte mir eine Krone aufsetzen können“, sagt er, „und ich hätte gedacht, das verstehe sich von selbst.“ Nun trug er eine Krone, wie sie niemals auf eines Sterblichen Haupte geruht. Aber er, der selbst ein wahrhaft Freier war, konnte seine Herrschaft nicht zur Unterdrückung der Geister mißbrauchen; er herrschte um zu befreien. Er wies den Ehrennamen eines Meisters ab: die heranwachsende Dichterjugend sollte ihn ihren „Befreier“ nennen. Wo sich in den Litteraturen Europa’s damals ein freieres Bestreben im Gegensatz zum despotischen [448q] Herkommen Bahn brechen wollte, da war er es, dessen Name, wie der eines Schutzheiligen, angerufen ward, oder der auch unaufgefordert als Schirmherr geistiger Freiheit mit seinem mächtigen Worte hervortrat.

Seiner geistigen Kraft ward bis zuletzt kein Stillstand geboten. Auch die körperliche Erscheinung des Heros ward von der Hand des Alters kaum leise berührt. Nach dem Abschlusse des Faust verweilte er im Beginne des J. 1832 mit frischer Lust wieder im Naturreiche; der Streit zwischen Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire regte ihn an, in erneuten Bekenntnissen seine Ueberzeugungen noch einmal endgiltig darzulegen; ihm ward das Glück zu Theil, noch kurz vor seinem Scheiden des künftigen Triumphs dieser lebenslänglich behaupteten Ueberzeugungen gleichsam durch ein gewichtiges Pfand versichert zu werden. Auch Werke der alten Kunst, die damals frisch vor sein Auge gelangten, erregten den Zweiundachtzigjährigen zu jugendfrischer Begeisterung. Da kam leise die Stunde des Abschieds. Seit dem 16. März sank die Kraft. Nach kurzem Schmerze ward er hinweggenommen. Um Frühlingsanfang, am Donnerstag, dem 22. März gegen die Mittagsstunde, brach das Auge, dem kein irdisches Licht mehr genügen sollte. In den letzten Aeußerungen trat noch der Name Schiller’s auf die nun ewig verstummenden Lippen. –

Seitdem Deutschland sich seiner selbst voll bewußt geworden ist und dies Bewußtsein in Thaten, welche die Welt erschütterten, zum Ausdruck gebracht hat, wächst fortwährend seine stolze Freude an dem Dichter, der dem Vaterlande und der Welt gleichmäßig angehört. Hat Dante die Elemente des mittelalterlichen Daseins in einem ewigen Gedichte zur Einheit versammelt, so wird in Goethe’s Sein und Schaffen der ganze Reichthum des neueren Geisteslebens offenbar. Er hat das Bündniß zwischen Wissenschaft und Poesie neu begründet und bekräftigt; er hat einer nach allen Richtungen auseinander strebenden Menschheit in seinem eigenen Wesen das Beispiel der reinsten Harmonie aller Geisteskräfte gegeben. Wie machtvoll bildend und umbildend er auch auf seine Zeit gewirkt, so möchte man doch fast glauben, erst jetzt trete sein Geist die Weltherrschaft an, und die Prophezeiung Carlyle’s, der in ihm den Herrscher der Zukunft begrüßte, müsse sich nun erfüllen. Ausblickend von der Höhe, auf welcher er ruhte, sah er die Weltlitteratur herankommen. Bildet sie sich einst, wie er sie vorgeahnt, so muß sein Geist schaffend sie durchwehen.


Litterarische Notiz.

Nachdem der Goethe’sche Text, nicht ohne Schuld des Dichters selbst und seiner Gehülfen, vielfachen Verderbnissen preisgegeben worden, hat er in den letzten anderthalb Jahrzehnten von Seiten der Herausgeber und Kritiker die gebührende, liebevoll ernste Behandlung erfahren. In den Cotta’schen Ausgaben ist die Reinheit des Textes durch Vollmer’s musterhafte Sorgfalt gesichert. Die Hempel’sche Ausgabe leistet Vorzügliches in Rücksicht auf Kritik und Erklärung; aber sie leistet es freilich nur in den Theilen, deren Bearbeitung den Herren v. Loeper, v. Biedermann und Kalischer zugefallen ist. Dankbar und rühmend sei hier besonders des Loeper’schen Commentars zu Dichtung und Wahrheit gedacht. – Aus der Masse der biographischen Darstellungen mögen die unter sich wieder so verschiedenen Werke von Schäfer, Goedeke und Herman Grimm herausgehoben werden. Jedes derselben ist in seiner Weise trefflich geeignet, in die Goethe’sche Welt einzuführen. Ueber das erste weimarische Jahrzehnt erhalten wir die ausgiebigste Belehrung in Ad. Schöll’s Einleitungen und Noten zu seiner Ausgabe der Briefe an Frau v. Stein. Das Buch des Engländers Lewes, das vor mehr als 20 Jahren für dessen Landsleute von Nutzen sein konnte, ist hoffentlich in Deutschland für immer beseitigt. Die wahre Biographie Goethe’s kann natürlich nur im Gefolge einer wahrhaften Gesammtausgabe seiner Schriften erscheinen. – Wer die Quellen des Goethe’schen Textes kennen lernen und mit den Hilfsmitteln zu einem historisch-kritischen Studium der Goethe’schen Werke sich vertraut machen will, der ist noch immer zu verweisen auf des unvergeßlichen Salomon Hirzel Verzeichniß einer Goethe-Bibliothek (1767–1874).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. „Wieder sollst du Weingärten pflanzen auf Samarias Bergen. Wer Pflanzungen anlegt, darf ihre Früchte genießen.“
  2. Julius August Walther von Goethe (1789–1830); Sohn Johann Wolfgang von Goethes