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Sinaïde

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Autor: Otto Julius Bierbaum
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Titel: Sinaïde
Untertitel: oder Die freie Liebe in Zürich
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1904
Verlag: Albert Langen
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Erscheinungsort: München
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Quelle: Google-USA* und Commons
Kurzbeschreibung:
Ausgabe von 1920 Commons
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[85]
Sinaïde


oder


Die freie Liebe in Zürich


[87] Mein Freund Emil, von dem ich nicht leugnen kann, daß er ein Dichter ist, also eigentlich keinen Anspruch darauf hat, für sehr glaubwürdig genommen zu werden, trat an einem sehr kalten Tage in mein Zimmer und sprach: Wenn du mir jetzt, unbeschadet deines verwünschten Teatotalertums, einen steifen Grog brauen läßt, will ich dir, nobel und schreibfaul wie ich bin, eine Geschichte schenken.

Den Grog, erwiderte ich, sollst du haben, aber könntest du ihn nicht vielleicht ohne Geschichte trinken? Ich möchte dir nämlich gerne meine letzten vierundachtzig Übungssonette vorlesen.

[88] Nein, sagte Emil, das geht nicht. Erstens, weil ich selber berufsmäßig Sonette mache, und zwar bessere als du. Zweitens, weil Sonette und Grog zusammen passen wie Ananas und Sardellenbutter. Und drittens, weil ich diese Geschichte jetzt durchaus erzählen muß.

Dann allerdings, lautete meine Entscheidung, wird sich die Geschichte schwer vermeiden lassen.

Der Grog kam, Emil kostete ihn, erklärte, daß er zwar etwas fadenscheinig, für den Ort seiner Herkunft aber ganz wacker sei, und begann:

Zürich, Hauptstadt des gleichnamigen Kantons, an der Limmat und dem Züricher See gelegen, erfreut sich, wie du weißt, eines eidgenössischen Polytechnikums und einer kantonalen Universität. Dies war, wie ich vor nun fast zwanzig Jahren meinem Vater erklärte, der Grund, weshalb ich einen unwiderstehlichen Drang empfand, mich dorthin zu begeben. Mich in den schönen Wissenschaften auszubilden, war mein Bestreben. In den schönen Wissenschaften [89] schlechthin, nicht in einer Spezialdisziplin, welche auch immer es sein mochte. Mein aufs Universelle gerichteter Geist hätte es als schnöde Fesselung empfunden, wenn ich ihm zugemutet hätte, nur an einer und nicht an allen Brüsten jener Alma mater zu saugen. Wer weiß, meine liebe Seele, dachte ich mir, ob du immer so umfassend bestrebt sein wirst, und ließ ihr den Willen. Die Folge war, daß meine Kollegienhefte sich zu einer Ragoutschüssel gestalteten, auf der sich Kostbrocken aus den unglaublichsten gelehrten Garküchen vereinigten, und daß ich mir für alle Zeit den wissenschaftlichen Magen, wenn ich so sagen darf (du darfst nicht, erklärte ich), verdarb. Dies das eine, negative Resultat. Das andere, positive, ist von einer, wie ich ohne weiteres gestehe, schmählichen Dürftigkeit. Nur zweierlei ist mir im Gedächtnis geblieben. Erstens aus dem collegio logico der himmelschreiende Satz: Alle Berliner sind Dichter; nun war Homer ein Berliner; also war Homer ein Dichter. Was der Herr Professor damit beweisen wollte, habe [90] ich vergessen, weil er selber erklärte, es sei etwas Selbstverständliches, aber die gräßliche Zwangsvorstellung, daß Homer ein Berliner gewesen sei, ist mir geblieben, und ich habe noch heute zuweilen melancholische Zustände davon. Die andere Frucht meiner gelehrten Studien in Zürich besteht darin, daß ich über die verschiedene Art der Behaarung bei den verschiedenen Rassen der Erde in einer so eingehenden Weise unterrichtet bin, daß man es schon anstößig nennen muß. Wahrscheinlich hätte ich auch das vergessen, wie alles andere, wenn in jenem unpassenden Kolleg nicht ein über alle Begriffe schönes Mädchen neben mir gesessen hätte.

An dieses Mädchen muß ich noch heute sehr oft denken, und da ich dabei gleichzeitig auch immer an jenes haarige Thema denken muß, ist es mir mit in der Erinnerung geblieben … Aber was für ein junges Mädchen war das auch! Zumal, zuvörderst und vor allem: Was für Haare hatte sie!

(Hier erlaubte ich mir eine Bemerkung: [91] Emil! sprach ich, das hätte ich nicht von dir gedacht. Du schwelgst geradezu in haarigen Erinnerungen. Nicht allein, daß du ein absolut überflüssiges Kolleg über die Behaarung des Menschen besuchst, das eigentlich nur für Friseure Interesse haben kann, – nein, du bandelst auch, wie ich ahne, in demselben Kolleg ein Verhältnis mit einem durch seine Behaarung ausgezeichneten Mädchen an. Mit anderen Worten: Du bist für Krafft-Ebing reif und Haaromane.)

Nun ja, fuhr Emil fort, es ist wunderlich, daß ich gerade in diesem seltsamen Kolleg das Mädchen mit dem unvergleichlichen Haar kennen lernen mußte, aber ich kann dir schwören, daß ich schon damals weit davon entfernt war, mich nur partiell zu verlieben. Ich ging darin immer aufs Ganze. Aber das ist richtig: in diesem Falle sah ich zuerst eine ganze Weile nichts als die Haare. Ich verfing mich in den Haaren, wie weiland Ares sich in Aphroditens Haaren verfing, denn darauf kannst du dich verlassen: Der tölpelhafte Hephaistos [92] brauchte nicht erst ein Netz um die beiden zu knüpfen.

(O Gott, warf ich hier ein, wenn du mythologisch kommst, wird’s glutig. Du bist nicht der erste, der seine eigenen Aventüren in alte Göttergeschichten hineinkommentiert. Das ist ein Trüc aus der Renaissance.)

Ob es glutig wird, entgegnete Emil, solltest du einstweilen der Muse des epischen Gesanges überlassen. Aber es ist richtig, daß ich, als ich jene Haare zum ersten Male sah, zu meinem lieben Herzen also sprach:

Siehe, in Zürich studiert Aphrodite mit goldenem Haare,
Sitzt im Kollege und schreibt mit elfenbeinenen Fingern,
Was der Professor herab vom hohen Katheder verkündet.

Aber es wurde mir bald klar, daß man diesem Haare auch nicht mit der antiken Mythologie und in Hexametern nahe käme. Diese Haare waren einfach unaussprechlich. Wenn ich sagen würde: sie waren goldblond, so würde ich mich an ihnen versündigen. Es gibt Dinge, die man beleidigt, wenn man versucht, sie in ein [93] Adjektivum zu pressen. Man müßte, wollte man von diesen Haaren einen Begriff geben, ein Epos schreiben.

(Hier ergriff mich ein Beben, ich hob die Arme wie der Adorant von Xanten und rief: Emil, halt ein! In diesem Stile schwärmte man 1885. Laß dich zur Erde nieder, Dichter, und rede mit Menschenzungen.)

Und Emil fühlte menschlich und sprach: So will ich nur noch das eine andeutend bemerken, daß das Rot dieser Haare zwischen dem Tone alter Rötelzeichnungen und dem Rot stand, mit dem Toulouse-Lautrec auf einigen seiner Lithographien die Lippen geschminkter Frauen hervorgehoben hat. Kannst du dir dabei etwas denken?

(Nicht das geringste, bekannte ich, aber ich bin nun unerschütterlich davon überzeugt, daß du in das Mädchen verliebt warst.)

Wenn du, entgegnete darauf Emil, mit allen deinen Überzeugungen so auf dem Holzwege bist, wie mit dieser, so gnade Gott deinen Überzeugungen. Nein: in ein solches Mädchen verliebt sich kein junger Dichter. Ein [94] solches Mädchen betet er an, ein solches Mädchen besingt er. – Ach, was habe ich diese Person besungen! Paß ’mal auf!

(Und er entnahm seiner Brieftasche ein kleines Heft und wollte zu lesen beginnen. Ich aber hob wieder meine Arme hoch wie der schöne Xantener und sprach: Lies nicht, Emil; ich muß sonst an meine Jugendsünden denken und weinen.)

Und Emil steckte das Heft ein und sagte milde: Ich kann sie noch immer auswendig. Und so hieß das eine:

Deine Augen, Idol der Steppe, sind gelb
Wie verschleierter Bernstein. Schräg
Wie einer Mongolin stehn sie dir im Antlitz,
Die Bernsteinmandeln, aber die Wimpernspeere,
Die dieses gelbe Heiligtum schützen, sind schwarz,
Glänzend steinkohlenschwarz. Diana
Hält ihre goldenen Bogen darüber: die Brauen.

(Und da wunderst du dich noch, warf ich erschüttert ein, daß du damals keinen Verleger für deine Verse gefunden hast?)

Nein, sprach Emil, ich wunderte mich damals, [95] aber heute danke ich meinem Schöpfer dafür. Ein anderes aber ging so:

O wie lasziv dein Mund ist, mein Idol!
Wenn rotgelbe Rosen aus Fleisch wären: so,
So wären rotgelbe Rosen, – aber dann
Würden alle Rosen des Gartens welken wollen,
Die Welt
Wäre rosenlos.

(Bei dieser Stelle bekam ich einen epileptischen Anfall, schlug mit Händen und Füßen um mich und versetzte auf diese sehr empfehlenswerte Manier meinem Freunde eine gute Tracht Prügel.)

Deine Kritik ist schlagend, bemerkte Emil, als mein Anfall vorüber war, und so will ich nun in Prosa reden. – Also, dieses unvergleichliche Wesen saß neben mir in einem Kolleg über die menschliche Behaarung, und mir war es vom Schicksal bestimmt, ihm fortwährend große anthropologische Bilderbogen zuzuschieben, mit denen dieser unglaubliche Wollbart von Professor seine scheußliche Wissenschaft in Farbendruck illustrierte. Schamhaft, [96] wie junge Lyriker nun einmal im Leben sind, wenn sie sich auch in Versen noch so schamlos gebärden (Eben drum! bemerkte ich mit Sachkenntnis), wollte ich mich dazu durchaus nicht verstehen, vermutend, mein Idol damit zu beleidigen. Was war die Folge? Mein Idol wurde wütend, ohrfeigte mich mit bernsteingelben Blicken und setzte sich schließlich demonstrativ weg von mir zu einem weniger lyrisch delikaten Anthropologiestudenten. Damit war Aphrodite einstweilen für mich erledigt, weil ich eben für sie erledigt war. Aber ich sollte mehr von ihr erfahren. Und dies erst ist nun die Geschichte, die ich dir erzählen wollte.

(Man wird es mir nachfühlen, daß ich hier die Bemerkung nicht unterdrücken konnte: Du hast eine eigenartige epische Ökonomie, Emil. Die Technik der Novelle erfordert einen hurtigen Anlauf. Du erzählst wie eine hundertjährige Schildkröte. Wenn du in dem Tempo fortmachst, werde ich am Ende deiner Geschichte Enkel auf meinen Knien schaukeln, und für [97] Kinder ist die Geschichte nicht angelegt, wie mir scheint.)

Darin, entgegnete Emil, irrst du dich nicht, aber du kannst ganz ruhig sein: ich bin gleich fertig. Laufe nicht so aufgeregt hin und her, sondern setze dich und unterlasse deine kritischen Anmerkungen. Dann werden wir bald am Ende sein.

(Ich setzte mich nieder, tat einen Schwur, nicht mehr hineinzureden, und dachte bei mir: Der gute Junge ist jetzt in einer heillosen Verlegenheit, was er mir nun eigentlich vorlügen soll.)

Emil aber fuhr mit dem Ausdruck lauterster Wahrheitsliebe fort, wie folgt: Ich hatte damals die verrückte Idee, Gogol und Dostojewskij im Urtexte lesen zu wollen, und lag daher bei einem russischen Studenten dem Studium der russischen Sprache ob.

(Bei einem Haare hätte ich eine Bemerkung über die Verwendung des Verbums obliegen gemacht, aber ich dachte an meinen Schwur und schwieg.)

[98] Sehr weit über die Aneignung der russischen Schrift bin ich dabei nicht hinausgediehen, aber Herr Tschernitschew, mein Lehrer, meinte, als wir soweit waren, es sei an der Zeit, mich mit meinen Kenntnissen dem russischen Studentenvereine vorzuführen, und so wurde ich eines Tages eingeladen, in der Russenbude zu erscheinen, um eine Art Prüfung abzulegen. Ich ging um so lieber hin, als mir mein Lehrer erzählte, ich würde dort eine berühmte Nihilistin zu sehen bekommen, die kurz vorher ein Attentat gegen einen Polizeidirektor verübt hatte. Gott, dachte ich mir in meiner lyrischen Seele, dabei fallen mindestens hundert freie Rhythmen ab.

(Sie seien dir verziehen, wenn du sie mir nicht rezitierst, bemerkte ich zu mir selber, da ich zu Emil ja nichts bemerken durfte.)

Ich wurde, in Oberstraß war’s, ganz oben, in einem kleinen alten Häuschen, das nun längst niedergerissen ist, in ein rundes Turmzimmer geführt, in dem sich etwa ein Dutzend Menschen befanden, deren Geschlecht ich nicht [99] gleich unterscheiden konnte, erstens, weil es etwas duster war von wegen einer viel zu spärlich brennenden Hängelampe, zweitens, weil alle diese Menschen gleichermaßen halblang geschnittene Haare hatten, und drittens, weil sie bis zu den Knien hin ganz gleich angezogen waren. Anfangs dachte ich, sie seien alle im Hemde, später aber bemerkte ich, daß die Männer unten doch noch Hosen anhatten, und zwar Pluderhosen, die in Schaftstiefeln steckten, und die Weiber Röcke. Die Hemden aber waren, wie man mir erklärte, die Nationaltracht. Tolstoj, der Überchrist, kostümiert sich, wie ich aus der „Woche“ weiß, ebenso. Es mag eine ganz hübsche Tracht sein, wenn die Hemden frisch gewaschen sind. Bei meinen russischen Freunden waren sie nicht ganz frisch gewaschen. Meine russischen Freunde legten mehr Wert auf reine Gesinnungen, als auf reine Wäsche. Honny soit, qui mal y pense! Ich erkläre mir das damit, daß einer nicht alles haben soll auf dieser Welt. Den einen schmückt unbefleckte Überzeugung, den andern frische Wäsche.

[100] (Hier konnte ich nicht mehr schweigen; ich mußte rufen: Du bist frivol, Emil!)

Und du bist ein Schwurbrecher! entgegnete dieser, dann fuhr er fort: Meine Prüfung hatte einen märchenhaften Erfolg. Kaum, daß ich eine Zeile russisch gelesen hatte, erhob sich die ganze Versammlung von Hemden und brach in ein wildes Beifallsgetobe aus. Dann stürzte alles auf mich zu und gestikulierte enthusiastisch um mich herum. Die Attentäterin aber, ein großes knochiges Frauenzimmer, drückte meinen Kopf an ihre Brust und küßte mich auf den Scheitel. Kaum, daß ich diesen, wie ich gestehe, heftigen Schreck verwunden hatte, lag mein Kopf an einem anderen Busen und wurde mein Scheitel der Berührung zweier anderer heißer Lippen teilhaftig, und so fort, bis ich von allen abgedrückt und abgeküßt war. Der letzte Kuß aber brannte am wohligsten, – ich blickte auf und sah die Bernsteinaugen über mir. Da konnte ich mich nicht halten, faßte das Mädchen um die Mitte ihres Leibes und küßte es mit wütendem Entzücken auf den [101] Mund. „Ah!“ sagte das Mädchen und erwiderte den Kuß auf eine Weise, daß ich glaubte, mein letztes Stündlein sei gekommen. So über alle Begriffe benommen, süß benommen wurde mir davon zumute. Es war ein Versinken in samtene Nacht.

(Da Emil hier eine Pause machte, benutzte ich die Gelegenheit, zu bemerken: Derartige Prüfungsprämien, allgemein eingeführt, würden eine erfreuliche Steigerung des Studienfleißes in allen Fakultäten zur Folge haben.)

Emil aber fuhr fort: Als ich wieder zu mir kam, hörte ich, daß die Attentäterin eine Ansprache an mich hielt, in der sie mich „Enkel Schillers“ nannte und von der Vermählung slawischen und germanischen Geistes viel Schönes zu sagen wußte. Dann wurde sehr viel Wuttki getrunken, was, in Verbindung mit ukrainschen Volksliedern, zur Folge hatte, daß alle zu weinen begannen. Ich weinte aus Höflichkeit mit, konnte es aber lange nicht so gut, wie meine russischen Freunde, die allerdings auch mehr Wuttki getrunken hatten, ein Getränk [102] übrigens, das selber wie gegorene Tränen schmeckt. Schließlich lagen wir einander in den Armen, immer einander in den Armen, küßten uns auf Stirn, Mund, Nase, wohin’s immer gerade traf und vermählten unsere Tränen miteinander. Trotz meiner Betrunkenheit wußte ich es im Verlaufe von etwa einer Stunde, während der ich Russen beiderlei Geschlechtes und aller Fakultäten überall hingeküßt hatte, so einzurichten, daß ich am Busen meines Bernstein-Idols landete. O Sinaïde! lallte ich dabei, wie zwei hüpfende Lämmer sind deine Brüste, die wie Mondstein leuchten, auf den der Mondschein scheint. Aber deine Nase ist eine Nardenbüchse, gen Osten gerichtet, und dein Mund besteht aus zween Tuberosenblättern, aber roten, wenn ich bitten darf, während hingegen deine Nasenlöcher vergleichbar sind den Rosinenkernen im Hochzeitskuchen der Königin von Saba, und von deinen Achseln her ein Rüchlein kommt wie aus Zimmetwäldern. Ja, Sinaïde, Europa reitet auf dem Stier der Brutalität in den Despotismus, aber die grüne Mütze der Weltfreiheit [103] sitzt auf deinem feurigen Haare und singt gleich einer Nachtigall: Avanti, vorwärts, en avant, – es lebe die Liebe! O Sinaïde, Sinaïde, – daß ich lustwandelte in den Zimmetwäldern deiner Schönheit! Daß ich zu Asche verbrennte im gelben Feuer deiner Augen! Daß der Sammet deiner Haut mein Leichentuch wäre! Laß mich, o Sinaïde, laß mich die Muschel meines Ohres an die Muschel deines Ohres legen und lauschen, was die Seele des ewigen Rußland raunt! Ich schwöre dir, Sinaïde, ich bin verliebt in dich wie ein Maikäfer!

(Da Emil zweifellos noch lange so weiter in Überschnappungen geschwelgt hätte, ohne dadurch im mindesten den Gang der Geschichte zu fördern, die nun endlich zu hören ich ernstlich gewillt war, rief ich nur das eine Wort: Stop! Und hatte die Genugtuung, daß er augenblicklich aufhörte wuttkideutsch zu lallen und in ein ruhiges Redefahrwasser einbog. Nämlich so):

Item, ich dampfte den Alkohol und meine [104] Schwärmerei in dem bekannten Stile aus, der so reich an kühnen Assoziationen wie arm an vernünftigem Sinne ist. Als ich mich leidlich nüchtern geredet hatte, bemerkte ich, daß der Schauplatz der Handlung verändert war. Ich befand mich mit dem bernsteinäugigen Mädchen in einem zwar etwas engen, sonst aber angenehmen Bette und war zu meiner Überraschung angetan wie sie, nämlich auch mit so einem russischen Hemde, aber ohne Hosen. Sie lag neben mir und schlief mit ruhigen Atemzügen. Ihr Haar war wie ein goldenes Vließ über ihre Brust gebreitet. Ich sagte mir sogleich: Lieber Freund, du träumst da recht angenehm, aber morgen früh wirst du einen entsetzlichen Katzenjammer haben. Dies gedacht, schlief ich auf der Stelle ein.

(Und ich werde das gleiche tun, beteuerte ich, wenn du nicht auf der Stelle deine Geschichte endlich erzählst.)

Wie? rief Emil, ist das noch nicht Geschichte genug? Kann man von einem Novellisten mehr verlangen, als diese Situation? [105] Ist dieses Gewebe aus Wuttkischleiern, ukrainischen Volksliedern und feurigroten Haaren noch nicht genug? Soll ich etwa ...?

(Nein, erklärte ich, du sollst nicht! Ich habe auf sämtliche Geheimpublikationen des Inselverlags subskribiert; mein Bedarf an Erotik ist gedeckt. Ich wünsche eine ordentliche Geschichte!)

So muß ich dir also, entgegnete Emil, die erzählen, die mir Sinaïde (doch hieß sie eigentlich ganz anders) am nächsten Morgen erzählt hat.

(Bezahle mit eigenem oder fremdem Gelde, aber bezahle! lautete mein Verdikt. Und Emil bezahlte in russischer Währung, wie folgt):

Als wir vor dem dampfenden Samowar saßen, und Sinaïde bereits ihre zehnte Zigarette geraucht hatte (sie drehte ihre Zigaretten mit einer Hand in der Tasche, – ein Kunststück, das ich nie wieder zu bewundern Gelegenheit gehabt habe), zupfte sie mich am linken Ohrläppchen und sagte in ihrem entzückenden Kauderwelschdeutsch, das ich leider nicht einmal andeuten [106] kann: Wie gefallen dir meine Landsleute?

– Ausgezeichnet, antwortete ich. Es sind famose Burschen, voller Temperament und Rasse.

Krüppel und Lahme sind sie, mein Guter; Vogelscheuchen, die klappern, –: Apostel! – Na, na, meinte ich, Kerls, die jeden Augenblick bereit sind, Bomben zu werfen und sich für ihre Ideale hängen zu lassen …

Sie sind die Stricke nicht wert! Bomben werfen, – als ob das weiter was wäre! Ideale im Munde herumschleudern, wie man Wasser gurgelt beim Zähneputzen, – was will das heißen? Gedankenzüchter sind sie! Zweibeinige Parodien auf ihre Ideale! Jämmerliche Schwindler! Feige Faselhänse, die vor lauter Zukunftsphrasen die Gegenwart versäumen! Plebejer, die aus dem Worte Freiheit einen schlechten Fusel gemacht haben, an dem sie sich noch sentimentaler trinken, als sie ohnehin schon sind! Falsche Propheten, die Wein predigen und Spülichtwasser trinken!

[107] – Ich denke: Fusel?

Das ist es ja eben: Fusel statt Wein! Gegorenes aus abgestandenen Worten anstatt Sekt! Sekt, mein Liebling, ich meine: gärende edle Natur! – Ah, diese russischen Bauern! Man sollte sie nicht bloß nach Sibirien, sondern zum Teufel schicken!

Die Bernsteinaugen wurden ganz dunkel, feurig, als ob es in ihrem Inneren glühte. Sie riß meinen Mund an ihre Lippen und küßte mir die Seele aus dem Leibe.

– Hör auf, Sinaïde, rief ich, hör auf! So küßt man keinen Mitteleuropäer. Ich bin deinen Küssen nicht gewachsen, sie werfen mich um, schlucken mich weg, blasen mein deutsches Liebeslämpchen aus. Du bist eine Kußfurie, die nicht in unsere gemäßigte Zone paßt. Ah, wie recht hatte ich, daß ich dich als Zeltidol eines Tatarkhans besungen habe.

Besungen hat er mich, der Enkel Schillers, sagte sie mit Lachen, und wenn ich ihn küsse, schnappt er nach Luft. Aber daß du mich für was Tatarisches angesehen hast, freut mich. [108] Ich bin keine Russin, wenigstens keine ganze. Meine Mutter war eine Grusierin. Byzantinisches Kaiserblut war in ihr. Mein Vater trägt einen russischen Fürstennamen, aber seine Familie stammt aus Turkestan. Wildes und uralte Kultur ist meine Erbschaft. Darum bin ich nirgends zu Hause, überall fremd. Am fremdesten aber unter russischen Bauern, die nach Freiheit grunzen, und unter Schweizer Eidgenossen, die sich eine Freiheit zusammengekleistert haben aus hunderttausend Unfreiheiten. O diese Pfahlbürger der Freiheit, wie ich sie hasse! Und zu denken, daß wir drüben in Rußland hierher starren, wie zum gelobten Lande! Daß wir hier das goldene Alter lebendig glauben.

– Das ist allerdings ein beträchtlicher Irrtum, erlaubte ich mir zu bemerken, ganz abgesehen davon, daß die Freiheit, die du meinst, außerhalb aller Menschenmöglichkeit liegt in unsrer Zeit.

Rede nicht wie ein deutscher Hauslehrer, rief sie. Das ist es ja, was mich rasend macht! – [109] Warum ist Freiheit unter Menschen nicht möglich? Warum sind allein wir Menschen dazu verdammt, uns einander einzuengen in Pflichten, Gesetze, Verbote, Moralen? Was ist das für eine verfluchte Verrücktheit, daß wir nicht leben, wie uns die Sinne treiben? Warum machen wir diese Erde zu einem Schauplatze allgemeiner Verkümmerung?

(Ich hoffe, konnte ich nicht umhin, hier zu bemerken, daß du eine Antwort auf diese rhetorischen Fragen gehabt hast. – Antworte du, erwiderte Emil, dem Feuer, mein Lieber, wenn es um dich her wabert und loht, antworte du dem Sturm, wenn er auf dich einbraust und dir den Atem versagt. Nein: ich habe mich des Rhythmus gefreut, in dem sie ihren Zorn ausließ und habe meine Augen geweidet an dem Auf- und Niedergehen ihrer Brust, an der Brunst ihrer Blicke, am Blitzen ihrer Zähne, und ich war glücklich, hier zum ersten Male ein Weib nackt zu sehen. Sie aber fuhr fort):

Und wenn es nicht allen erlaubt sein darf, frei hinzuleben, in schrankenloser Lust und [110] Herrlichkeit, warum nehmen sich nicht die Starken das Vorrecht dazu, meinetwegen auf Kosten zehnfacher Unfreiheit der Schwachen? Weil die Masse dumpf und stumpf ist von Natur, muß deshalb auch der Klare, Kühne sein Leben dumpf und stumpf machen? Kocht man irgendwo Orangen und Kartoffeln in einen Brei zusammen? Aber dieses nichtswürdige heutige Leben stampft alles in einen Brei, den Vornehmen und den Gemeinen, und je freier sich ein Land heißt, um so frecher übersieht es den Unterschied zwischen Orange und Kartoffel. Lache nicht!

– Ich fuhr aber doch fort, zu lachen, und sprach: O mein adliges Fräulein Orange, was gebärdet Ihr Euch so böse? Bloß, weil es Euch so gut steht? Ach, es ist entzückend, Euch zuzusehen, wie Ihr noch mehr erglüht, immer glühende, aus Zorn über uns Kartoffeln, die wir davon, wenn auch nur in einem flüchtigen Anscheine, vergoldet werden. Wer möchte sich, wo solche Farbeneffekte leuchten, in die graue Wüste der kahlen Logik begeben und Euch [111] nachweisen, daß Eure botanischen Bilder schief sind? Nein, Sinaïde, dein Wort ist die Wahrheit, und ich weiß zwei Liebesäpfel, für die ich alle pommes frites der bürgerlichen und adeligen Küche hingebe. Komm her, Orange und laß mich dein schwellendes, süßes Fleisch kosten!

Dagegen hatte sie nichts einzuwenden, und die Orange ließ sich im eigentlichsten Sinne zur Kartoffel herab. Dann aber war sie doch noch nicht beruhigt und fuhr in ihrer Standrede fort:

Ah, ich bin ja nur so zornig, weil ich mich habe düpieren lassen, düpieren von diesen russischen Bauern, die auf ihren schmierigen Blättern goldene Lügen nach Rußland schicken, denen man, im Fette der Langenweile erstickend oder im Schmutze der Not und Knechtschaft versinkend, so gerne glaubt, wie ein Kind das Märchen von der Fee Rosenlicht für wahr hält, wenn es ihm im dunklen Zimmer erzählt wird, während draußen das Eis kracht und die Flocken fallen. So glaubte ich an die Lüge [112] von der freien Liebe, glaubte ihr und rannte ihr nach, besinnungslos, selig besinnungslos im Glauben an eine Welt der Erfüllung aller Sehnsucht Leibes und der Seele. Freie Liebe, – weißt du was das heißt im Blute eines phantastischen jungen Mädchens? Als ich nach Zürich reiste, glaubte ich nach Arkadien zu fahren in die Arme strahlender Helden, in ein Leben verschwenderischen Genusses, überströmender Exaltation der Sinne und Gedanken. Ich kannte die Liebe noch nicht, aber ich machte mir in unsagbaren Gefühlen wollüstiger Sehnsucht ein Bild von ihr, so überschwänglich beglückend, daß ich dafür noch mehr verlassen haben würde, als ich in Wirklichkeit verlassen habe. – Und nun, mein lieber Schiller, stelle dir mein Erwachen in Zürich vor! Die Bauern holten mich in ihren Hemden ab und führten mich, ihre sentimentalen Lieder brüllend, in eine schmierige Wohnung, in der es nach Schnaps, Käse und schlechten Zigaretten roch. Sie feierten mich als eine russische Jungfrau von Orleans, aber als eine, die von der Höhe [113] herabgestiegen sei, um das Volk zum Siege zu führen, – mich, die hierher gekommen war, ihre Jungfrauschaft so schnell wie möglich zu verlieren, mich, die sich einbildete, jetzt in die Höhe zu steigen! Ich verstand kein Wort von alledem und dachte mir: nun, die wahren Helden werden sich später zeigen, und ich fragte ganz naiv, wo denn die Strahlenden seien. Sie verstanden mich gar nicht und redeten immer weiter und weiter von Heimweh und allerhand Idealen. – Aber es war damals einer unter ihnen, der einen besseren Eindruck auf mich machte, ein langer, schlanker, kraushaariger Bursch mit braunem Gesicht und großen glühenden schwarzen Augen. Seine Hände waren gepflegt, sein Hemd frischwaschen, und er hatte eine vornehm lässige Art, wenn er sprach. Freilich redete auch er nicht von den Dingen, die mich interessiert hätten, nicht vom Leben, von der Freude, dem Glück, sondern, daß man fleißig am Polytechnikum Chemie studieren müsse, um neue Sprengmittel für Bomben zu erfinden, und daß der Tod am Galgen eine [114] Wollust sei, wenn er die Quittung für ein gelungenes Attentat bedeute. Aber er schluchzte doch wenigstens nicht in einem fort und kreischte nicht, wenn er etwas sagte. Auch hatte es schließlich einen gewissen Reiz, ihm zuzuhören, wie er die gefährlichsten Unternehmungen ruhig auseinander legte, als ob es ganz alltägliche Dinge seien, die man, wenn es so weit wäre, besorgte wie einen Geschäftsgang. Und das Bombenwerfen gehörte ja schließlich auch zu meiner Vorstellung vom Helden, wie es denn noch jetzt das Einzige ist, das mich mit diesen Bauern verbindet.

– Aber, Sinaïde, rief ich aus, – warum denn Bomben? Du siehst ja doch, daß sie die Menschen auch nicht lustig machen.

O, sie sind sehr nötig bei uns in Rußland, mein lieber Schiller. Aber das versteht ihr Deutschen nicht. Ihr schreibt im günstigsten Falle Bomben, – wir werfen sie. Anders kann man sich bei uns ja nicht vernehmlich machen. Und ich kenne ja die Gesellschaft, der man zuweilen Nitroglyzerinpillen eingeben muß, [115] aus nächster Nähe und weiß, daß sie ohne diese Abführmittel ganz verkommen würde. Nur ist es eben schade, daß die Pillendreher genau so miserabel sind wie die Patienten, ja, nach meinem Geschmacke noch miserabler. Aber immerhin: diese eine Hantierung macht sie mir sympathisch.

(Hier mußte ich, ich konnte nicht anders, mit einem heftigen: Bitte! eine Pause erzwingen, die ich wie folgt ausfüllte: Nun sag mir bloß, Emil, wurde dir diese Bomben-Orange nicht ein bißchen unheimlich?)

Aber gar nicht, erklärte mein Freund, ich hatte ja schon die Ehre und das Vergnügen, dir des Ausführlichsten auseinander zu setzen, wie schön das Mädchen war. Sieh mal: auf das, was der Mensch sagt, kommt es doch gar nicht an. Worte sind Schall und Rauch, – nicht wahr? Meinungen, Gefühle an sich interessieren mich an anderen Leuten gar nicht; so was mach’ ich und hab’ ich selber. Aber die anderen Leute als Menschen interessieren mich, und wenn sie schön sind oder stark in der Art, [116] wie sie ihre Meinungen und Gefühle vor mich hinstellen, dann gefallen sie mir und ich sehe und höre ihnen zu und gebe mich ihnen hin, ohne darum meine Gefühle, meine Meinungen mit hinzugeben. Wenn ein alter grauslicher Federhalter von Gelehrten, ein Kerl mit Schnupftabak im Bart und einer Sägemühlenstimme, vor mich hintritt und die göttliche Nacktheit der Liebesgöttin preist, womit ich ja ganz einverstanden bin, so finde ich das unausstehlich und wende mich weg. Wenn aber ein schönes Mädchen, dessen Lippen wie schwellende Früchte sind, und dessen rege Brüste den Rhythmus des gesunden Lebens haben und wie rötlich überhauchtes Elfenbein leuchten, Mord und Vernichtung vor mir predigt, so höre ich, obwohl ich ganz und gar nicht für Mord und Vernichtung eingenommen bin, gerne und vergnüglich zu. Ich bin doch kein Staatsanwalt, Otto Julius! Ich habe mich doch nicht um Staat und Moral zu kümmern, wenn die leibhaftige Schönheit vor mir steht. Jeder tue, was seines Amtes ist. Mich geht die Schönheit [117] an, nichts weiter. – Und also sprach die Schönheit: Der schlanke mit den gekrausten Haaren war kein Bauer, das merkte ich gleich, und ich setzte mich zu ihm, während die andern immer weiter weinten und kreischten, und dachte mir: Der ganz rechte ist es wohl noch nicht, aber er gefällt mir. Das sagte ich ihm auch gleich. Sascha (so hieß er), sagte ich, hast du eine Geliebte? Nein, sagte er ganz kurz. Warum denn nicht? fragte ich. Darauf machte er bloß eine Handbewegung, die ich mir so auslegte: Ach, eine von denen da? Und das waren lauter solche, wie du sie gestern gesehen hast. Nun, so dachte ich mir, so eine bin ich, dem Himmel sei Dank, nicht; wir passen recht gut zusammen. Und ich sagte: Ist es dir recht, daß wir zusammen schlafen? Da riß er die Augen auf, als wenn ich ihm zugemutet hätte, dem Zaren den Untertaneneid zu leisten. Aber ich legte mir das als angenehmen Schrecken aus. Gehen wir, Sascha, sagte ich, hier gefällt es mir gar nicht. Ach so, du hast noch keine Wohnung, meinte er; [118] freilich; komm mit. Ich bin allerdings nicht darauf eingerichtet.

Wir gingen. Es war eine schöne, milde, ganz dunkle Nacht, und seine volle Stimme klang mir ins Blut, – so angenehm, wohlig, ich weiß nicht: wie ein inwendiges Kosen. Ein gottvolles Gefühl überkam mich. Noch nicht die Liebe, – nein. Nicht das ingrimmige Begehren, nicht diese wonnige Wut, – nicht das …, wenn ich es dir auch sagen könnte, du verständest es ja doch nicht, Mitteleuropäer. Wie heißt das Werk von eurem alten Musiker? Richtig: Das wohltemperierte Klavier. Bon. Ein wohltemperiertes Klavier zum Spielen mit der Liebe war ich damals. Es ist ein Vorstadium bei mir. Verstehst du? Nun gut: wir kamen an. Eine etwas bessere Studentenwohnung; wie meine da. Ich wollte ihm um den Hals fallen, hatte aber die Empfindung: schöner wär’s, er tut’s. Und wartete. Er tat aber nichts dergleichen, sondern benahm sich bloß albern geniert. Stotterte etwas von Bett und Kanapee und Wandschirm und löschte das Licht aus. Will [119] er mich denn gar nicht sehen? dachte ich mir und zog mich aus. Ich war ärgerlich, fühlte aber doch noch diese wohlige gewisse Erwartung. Nun lag ich im Bett und lauschte. Zieht er sich nicht endlich aus? dachte ich mir. Da hörte ich, wie er sich aufs Kanapee legte und gleich darauf klang es herüber: Schlaf wohl! Ich fuhr wie von der Tarantel gestochen auf und starrte[WS 1] maßlos bestürzt ins Dunkel. Was soll das heißen? Schlaf wohl? Und ich schrie: So komm doch! – Was denn? rief er, fehlt dir etwas? – Du, du, du fehlst mir, rief ich; warum willst du mich nicht? – – Ach, ich mag das nicht erzählen! Dieser Tölpel hielt mir eine Rede über die Notwendigkeit der Keuschheit für die Apostel der Freiheit und was noch alles. Ich sprang aus dem Bett und stieß ihm die Fäuste ins Gesicht. Er wehrte sich nicht einmal. Dann fiel ich erschöpft in einen Weinkrampf, während er sich wie ein Samariter um mich bemühte. Das war mir das Ekelhafteste. Ich raffte mich auf, zog mich an und stürzte auf die Straße. Er [120] natürlich hinter mir her. Seine Stimme hatte einen so widerwärtig besorgten Klang, daß ich ihn mitten unter den Passanten ohrfeigte. Sie ist krank, – erklärte er milden Tones den erstaunten Schweizern. Sie sind krank! rief ich, Sie sind ein Kapaun! Die Schweizer äußerten auf ihre gutturale Manier ihr Vergnügen über die streitenden Russen, die sie nicht verstanden, und ich machte Miene, auch sie zu ohrfeigen. Da sprach mich ein Herr mit einem Knebelbart französisch an, und ich erklärte ihm sofort, daß ich nur den einen Wunsch hätte, sofort wieder nach Rußland zu reisen. Er schlug statt dessen vor, mit ihm in ein Café zu gehen. Ich nahm an.

(Jetzt schien mir wieder einmal der Augenblick gekommen, meinen Freund zu unterbrechen, und ich sprach: Lieber Emil! Durch die Einführung dieses Knebelbarts in deine Geschichte hast du sie, wie ich dir nicht verhehlen kann, aus der Beletage extraordinärer Leidenschaft auf das Parterre der Gewöhnlichkeit degradiert. Du brauchst sie gar nicht mehr zu beendigen. [121] Was nun noch kommen kann, ist Realismus der achtziger Jahre, und der wäre mit meinem Grog [du bist schon beim achten Glase] zu teuer bezahlt.)

Indessen irrst du dich, mein Lieber, entgegnete Emil und lächelte auf eine skandalöse Manier. So war es nicht. Jener Knebelbart war nicht der hurtige Franzose, als den du dir ihn vorstellst, sondern unser Freund Frank Wedekind. Daß dieser sich nicht so benommen hat, wie du es mit deiner literar-historischen Anmerkung anzudeuten beliebtest, liegt auf der Hand, und ich brauche es nicht ausdrücklich zu beteuern. Sinaïde erklärte mir, daß sie sich ihm zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet fühle, weil er ihr in einem Augenblicke den Glauben an die Menschheit wiedergegeben habe, als sie im Begriffe war, ihn zu verlieren.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: starte