Das Auge des Brahma
[2]
Band VIII.
Das Auge des Brahma
Detektiv-Roman
von
Walther Kabel
Leipziger Kriminalbücherverlag
Ich wurde als einziges Kind des Antiquitätenhändlers Leopold Sander im Jahre 1875 in Leipzig geboren. Meinen Vater habe ich nie gekannt. Wie meine Mutter mir als kleinem Jungen erzählte, sollen er und sein Bruder Heinrich, mit dem er das Geschäft gemeinsam betrieb, auf einer Seereise verschollen sein. Meine ersten Kindheitserinnerungen zeigen mir ein altes, baufälliges Haus, in dessen Parterreräumen meine Mutter, eine blasse, stille Frau, die seinerzeit sehr angesehene Handlung mit Hilfe eines langjährigen Buchhalters weiterführte. Dann wurde das Geschäft verkauft, und wir zogen nach Plagwitz hinaus. Ich besuchte das Gymnasium und bestand mit achtzehn Jahren das Abiturientenexamen, ging dann nach Dresden und studierte an der Technischen Hochschule Ingenieurwissenschaften, vornehmlich Eisenbahnbau. Dort lernte ich Erich Kiselowsky kennen, den ich, da uns das gleiche Studium in den Hörsälen häufig zusammenführte, bald trotz – oder besser – wegen seiner bisweilen fast verletzenden Offenheit und Ehrlichkeit [6] schätzen lernte und schließlich derart in mein Herz schloß, daß wir unzertrennliche Freunde wurden. Ich habe nie einen opferwilligeren, aufrichtigeren und mit solch liebevollem Verständnis für meine Besonderheiten ausgestatteten Menschen – meine Mutter ausgenommen – kennengelernt wie den, der mir durch einen Zufall in der Person Erichs in den Weg geführt wurde.
Er stand ganz allein da. Nach dem Verluste seiner Eltern hatte ihm ein reicher Verwandter die Mittel zur Fortsetzung seiner Studien gewährt. Als ich ihn dann näher kennenlernte, erfuhr ich auch, weshalb er so einsam, ohne jeden Verkehr und ohne jeden jugendlichen Frohsinn, nur in seiner Arbeit aufgehend, dahinlebte. Er krankte wie so viele, denen ein allzu beständiges Herz von der Natur mitgegeben ist, an einer Jugendliebe. Dieses Herz, wohl das treueste, das je geschlagen hat, trauerte einem Mädchen nach, das sich solch heiligen Gefühls völlig unwürdig gezeigt und, den Lockungen eines behaglichen Wohllebens folgend, schließlich einen anderen, reichen Freier vorgezogen hatte. Nie kam er über diese Enttäuschung ganz hinweg.
Nach Beendigung unserer Studien fanden wir beide als Ingenieure bei einer großen Hamburger Firma Anstellung, die gerade das Eisenbahnnetz in der Provinz Schleswig-Holstein ausbaute. Kurz vor meinem fünfundzwanzigsten Geburtstage erhielt ich von meiner Mutter einen Brief, in dem sie mich bat, mich auf jeden Fall für einige Tage freizumachen und mein Wiegenfest bei ihr zu verleben. Welche [7] Bedeutung der Eintritt in mein fünfundzwanzigstes Lebensjahr für mich erhalten sollte, ahnte ich noch in keiner Weise, als mich der Schnellzug von Hamburg aus meiner Vaterstadt entgegenführte. –
An meinem Geburtstagsabend war’s, ich besinne mich auf jene Stunde noch so genau. Auf dem Tische brannte die Lampe. Die Mutter saß in einem alten, bequemen Korbstuhl, und vor ihr lagen mehrere vergilbte Blätter, über die sie oft zärtlich mit der Hand hinstrich.
„Du bist jetzt in das Alter gekommen,“ begann sie wehmütig, „in dem du nach dem Willen deines Vaters in das Geheimnis unserer Familie eingeweiht werden sollst. Du wirst dieses Geheimnis bewahren, wie ich es bisher getan habe. Einen Nutzen bringt dir die Kenntnis der Schicksale deines Vaters nicht. Ich bitte dich sogar, niemals den Versuch zu machen, dich an jenen zu rächen, die uns Unrecht zufügten. Überlasse die Vergeltung einem Mächtigeren.
Ich habe dir oft erzählt, daß dein Vater, um für das Geschäft seltene Antiquitäten einzukaufen, häufig größere Reisen unternehmen mußte, die ihn in alle Gegenden Europas führten. Im Frühjahr 1847 kam er dabei auch in ein Bauernhaus im Elsaß, dessen Eigentümer, wie man ihm gesagt hatte, verschiedene altertümliche Schmuckgegenstände besaß. Unter diesen fand er einen blauen Stein, der mit seiner echt goldenen Fassung anscheinend aus einem Diadem gewaltsam herausgebrochen war. Er kaufte ihn für eine verhältnismäßig geringe Summe. Als [8] er dann zurückkehrte und seinem Bruder, deinem Onkel Heinrich, der ein großer Edelsteinkenner war, den seiner Ansicht nach unechten Stein zeigte, erkannte dieser sofort, daß er einen Diamanten von unermeßlichem Werte vor sich hatte. Damals waren wir jung verheiratet und bauten nun die glänzendsten Zukunftspläne, da der Stein nach Schätzung deines Onkels Hunderttausende einbringen mußte. Die Schwierigkeit war nur, einen Käufer für ihn zu finden. Fast ein Jahr lang dauerten die vorsichtigen Nachfragen. Inzwischen wurdest du geboren, und mein Glück wäre vollkommen gewesen, wenn deinen Vater nicht die Sucht, den Diamanten um eine möglichst hohe Summe loszuschlagen, beständig gequält hätte. Heimlich habe ich oft heiße Tränen vergossen, da er selbst mich über seinen stets geheimgehaltenen Plänen zu vernachlässigen begann; habe die Stunde verwünscht, in der der blaue Stein in unser Haus kam. Eines Tages, es war im Sommer 1876, teilte dein Vater mir dann mit, daß er auf längere Zeit zusammen mit seinem Bruder verreisen müsse. Erst auf meine inständigen Bitten ließ er mich wissen, daß sie den Stein im Orient verkaufen wollten. Vergeblich habe ich damals meinen ganzen Einfluß aufgeboten ihn zurückzuhalten, seinen Bruder allein reisen zu lassen. Vergeblich waren meine Tränen, mein Flehen. Am 12. September schifften sich beide auf dem ‚Herkules’ in Hamburg ein. Ich habe sie nie wieder gesehen.
Erst nach zehn Jahren erhielt ich aus Kolombo auf Ceylon diesen Brief, den ich mir als [9] teures Andenken aufbewahrte, um ihn dir einst übergeben zu können. Ich kenne seinen Inhalt so genau, daß ich ihn dir nicht vorzulesen brauche, sondern aus dem Gedächtnis die Erlebnisse der beiden schildern kann. –
Durch einen befreundeten Kaufmann, dessen Handelsbeziehungen ihn auch mit den Neigungen der eingeborenen Fürsten Indiens bekannt gemacht hatten, war dein Vater auf die Idee gekommen, den blauen Diamanten einem jener oft märchenhaft reichen Radschas anzubieten. Da er den Stein jedoch keinem Menschen, selbst deinem Onkel nicht anvertrauen wollte, so wurde verabredet, daß beide zusammen nach Indien reisen sollten. In Kalkutta angelangt, hörten sie von dem Radscha Sorahmatra von Sadani, der ein eifriger Sammler besonders seltener Edelsteine sei. Durch einen Vermittler, einem höheren Beamten der indischen Regierung, traten sie mit jenem Fürsten in Unterhandlung und folgten arglos einer Einladung auf seine in der Nähe der Hafenstadt Madras an der Küste gelegene Burg. Hier wurden sie jedoch, nachdem der Radscha den Stein gesehen hatte und man auch über den Preis einig geworden war, in einer Nacht heimlich in ihren Schlafgemächern überfallen, geknebelt und in ein tiefes Verließ geschleppt, wo sie bei kärglicher Nahrung über zehn Jahre zubrachten. Nur selten durften sie in einem kleinen, rings von hohen Mauern umgebenen Hofe einige Stunden frische Luft schöpfen. Und da ihnen diese Erholungsstunden stets zu derselben Zeit gewährt wurden und ihr Wärter, [10] ein alter Hindu, der das Englische einigermaßen beherrschte, ihnen dann stets mitteilte, daß der Fürst wieder verreist sei, so kam dein Vater auf den Gedanken, daß sie vielleicht ohne Wissen Sorahmatras von betrügerischen Dienern in dem unterirdischen Kerker verborgen gehalten würden. Denn an dem Abend, der ihrer Gefangennahme vorausging, hatten sie dem Radscha den Stein übergeben, und am nächsten Morgen sollte ihnen die Anweisung über die vereinbarte Kaufsumme auf die Bank von England ausgehändigt, und sie dann unter sicherem Geleit bis Madras gebracht werden. Es ist also nicht unmöglich, daß der Radscha einem seiner Beamten diese Anweisung übergeben hat, und dieser, um das Geld für sich zu behalten, im Verein mit anderen ebenso gewissenlosen Genossen die beiden in jenes Verließ werfen ließ und seinem Herrn nachher erzählte, die deutschen Kaufleute seien abgereist.
Leider ist es nie gelungen, Licht in die Sache zu bringen. Denn als ihnen endlich die Flucht gelang und sie nach monatelangem Umherirren und unter den größten Gefahren die Stadt Kolombo auf der Insel Ceylon erreichten, wo sie sofort bei dem englischen Gouverneur Beschwerde gegen den Radscha erhoben und ihre Leidensgeschichte berichteten, wies man sie einfach ab und glaubte ihnen kein Wort von ihren abenteuerlichen Erlebnissen. Selbst die Einmischung des deutschen Konsuls half nichts. Denn damals tobte gerade wieder einer jener gefürchteten Aufstände, wodurch die Eingeborenen [11] die verhaßte englische Fremdherrschaft abzuschütteln suchten. Und da der Radscha Sorahmatra von Sadani als einer der wenigen Fürsten der Küstenländer den Engländern treugeblieben war, hatte man weder Zeit noch Lust, auf phantastische Verdächtigungen zweier Kaufleute hin gegen ihn vorzugehen. – Dann starb dein Onkel plötzlich an einem schweren Anfall von Malaria, und nun stand dein Vater allein und vollkommen mittellos in dem fremden Lande da. Trotzdem versuchte er nochmals, sich sein gutes Recht zu holen. Als einfacher Matrose fuhr er auf einem Küstenfahrzeuge nach Kalkutta, um hier mit Hilfe jenes Beamten der englischen Regierung, der die Brüder an Sorahmatra gewiesen hatte, weitere Schritte zur Aufklärung der Angelegenheit zu tun. Doch der Beamte war, wie er nach mühsamen Nachforschungen herausbrachte, durch die Rebellen auf einer Reise ermordet worden. Die englischen Behörden verhielten sich daher auch in Kalkutta allen Vorstellungen und Anträgen gegenüber völlig ablehnend, zumal dein Vater für seine Behauptungen keinerlei Beweise beibringen konnte.
Da gab er denn die weitere Verfolgung seiner Sache vorläufig auf und wollte als Matrose, aller Mittel entblößt, auf einem Schiffe in die Heimat zurückkehren. Er ließ sich für die Hamburger Brigg ‚Ariadne‘ anheuern und schrieb mir noch kurz vor der Abreise diesen Brief, den du hier vor dir siehst. Dein Vater kam nie wieder. Die ‚Ariadne‘ ist am 15. Dezember 1890 im Roten Meer mit Mann und Maus untergegangen.“ –
[12] Das hat mir meine Mutter an jenem Abend meines fünfundzwanzigsten Geburtstages erzählt. Ich weiß noch, daß ich darauf tagelang wie im Traum umhergegangen bin, daß ich jene vergilbten Blätter immer wieder gelesen habe. Eine seltsame Unrast hatte von mir Besitz ergriffen. Im Wachen und Träumen erschien mir der strahlende Edelstein als lockendes Bild. Ich sah mich von Reichtum, Glanz und Luxus umgeben, ich sah mich als Herrn eines großen industriellen Unternehmens, das mit Hilfe des Freundes immer mehr aufblühte, als hochgeachteten, angesehenen Mann …
Es waren schier berauschende Luftschlösser, und ganz erfüllt von diesen phantastischen Wünschen kehrte ich nach Hamburg zurück.
Ich war gespannt, wie mein Freund den Bericht über die Schicksale meines Vaters aufnehmen würde. Gleich am Abend meiner Rückkehr vertraute ich mich ihm an. Schweigend hörte er mir, offenbar mit größtem Interesse, zu. Erst als die Verlesung jenes letzten Briefes meines Vaters beendet war, sagte er in seiner kühl-sachlichen Weise:
„Ich an deiner Stelle würde zuerst vorsichtige Erkundigungen einziehen, ob der Diamant sich noch im Besitze des Radschas befindet. Dann erst [13] könnten wir uns über weitere Schritte schlüssig werden.“
Ganz erregt sprang ich von meinem Stuhle auf.
„Aus deinem letzten Satze scheint hervorzugehen, daß du auch der Ansicht bist, man müßte die Sache nicht auf sich beruhen lassen, wie meine Mutter mir’s ans Herz gelegt hat. – Ist dem so?“
Erich schaute mich mit seinen ehrlichen blauen Augen groß an.
„In mir lebt zu viel Gerechtigkeitsgefühl, um dir zureden zu können, daß du diesen wertvollen Stein, der noch heute dein und deiner Mutter rechtmäßiges Eigentum ist, ruhig in der Hand der Räuber läßt,“ sagte er einfach. Und fügte sofort hinzu: „Doch von alledem später, wenn wir die Gewißheit haben, wo der Diamant jetzt zu suchen ist.“ –
Damals, als diese Unterredung stattfand, weilten wir in einem kleinen, holsteinischen Orte, den wir mit der nächsten Kreisstadt durch einen Schienenweg verbinden sollten. Daß dieses Nest kein geeignetes Feld für die meine Gedanken jetzt so lebhaft in Anspruch nehmenden, durchaus notwendigen Ermittelungen über den Verbleib des Edelsteines war, sagte ich mir selbst und verschob meine Nachforschungen daher bis zu unserer Rückkunft nach Hamburg.
In der Alsterstadt angelangt, begann ich unverzüglich überall, besonders bei Leuten, die vom [14] Diamantenhandel etwas verstanden, nachzufragen. Nach Monaten ebenso unermüdlichen wie vorsichtigen Forschens erfuhr ich endlich zweierlei. Zunächst ganz Genaues über die Geschichte „meines“ Diamanten.
Einen Edelstein von reinster hellblauer Färbung und vollendetstem Brillantenschliff kaufte König Ludwig XIV. von Frankreich von einem holländischen Schiffskapitän und verleibte ihn dem französischen Kronschatz ein. Diesen Diamanten, der unter dem Namen „das Auge des Brahma“ auf der Insel Ceylon und in ganz Vorderindien berühmt gewesen war, hatte ein Diener einem der eingeborenen Fürsten der Wunderinsel gestohlen und an den Holländer weiter veräußert.
Während der Wirren der großen französischen Revolution verschwand das „Auge des Brahma“ spurlos. Es sollte von einem Freunde des auf dem Schafott gestorbenen französischen Königspaares aus Paris nach Deutschland gebracht worden sein, tauchte jedoch nie wieder auf. –
Weiter ermittelte ich dann aber auch, daß in den Kreisen der Diamantenhändler das Gerücht verbreitet war, dieser Diamant solle jetzt zu den Schätzen eines indischen Radschas gehören, der ihn zwei deutschen Kaufleuten durch schmählichen Verrat geraubt hätte. Als ich mir über diesen Punkt volle Gewißheit zu verschaffen suchte, führte mich der Zufall mit einem Kaufmann aus Amsterdam zusammen, der mir bestimmt versicherte, er habe auf seiner letzten Geschäftsreise nach Indien vor nicht [15] ganz einem Jahr den berühmten blauen Stein auf Verlangen des Radschas Sorahmatra von Sadani abschätzen müssen und „das Auge des Brahma“ auf diese Weise zu Gesicht bekommen. Der Holländer, ein Mann namens van Kuyper, bat mich dann noch, seine Mitteilungen geheimzuhalten, da er dem indischen Fürsten tiefstes Stillschweigen über die vorgenommene Taxierung zugesagt habe.
Mehr brauchte ich nicht zu wissen. Der Radscha besaß den Stein also noch immer. Nunmehr mußte es meine Sorge sein, zu meinem Eigentum zurückzugelangen. –
Erich zeigte sich hocherfreut, als ich ihm dieses glückliche Resultat meiner Forschungen mitteilte. Nur mit einem war er nicht einverstanden:
„Ich hätte mich an deiner Stelle nie dem Amsterdamer Kaufmann anvertraut,“ meinte er. „Das war reichlich unvorsichtig von dir. Wie nun, wenn der Mann ein falsches Spiel treibt und dem Fürsten die Mitteilung zugehen läßt, daß der Sohn jenes Mannes, der seinerzeit den Stein auf gewaltsame Weise einbüßte, sich sehr angelegentlich nach dem blauen Diamanten erkundigt habe. Dann ist der Radscha durch diese Nachricht, die er dem Holländer fraglos gut bezahlt, vor dir gewarnt. Denn soviel Kombinationsgabe wird selbst ein Inder besitzen, um sich zu sagen, daß du deine Nachforschungen zu einem bestimmten Zweck unternommen hast – eben um wieder zu deinem Eigentum zu gelangen.“
Leider mußte ich dem Freunde recht geben. [16] „Trotzdem werden wir jetzt natürlich zusehen, ob wir Sorahmatra die Beute nicht wieder abjagen können,“ fügte Erich in seiner bestimmten Weise hinzu. „Schade ist es nur, daß wir beide so arme Teufel sind, die nicht einmal die Überfahrt nach Indien bezahlen, geschweige denn monatelang dort leben können, um als Amateur-Detektive sich lediglich dieser einen Aufgabe zu widmen. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als unsere Stellung hier in Hamburg zu kündigen und uns um einen Posten bei einer Firma zu bemühen, die in Indien größere Aufträge hat. Auf diese Art würden wir kostenlos auf den Schauplatz unserer zukünftigen Detektivtätigkeit gelangen und wären dann in der Lage, zunächst einmal das Terrain zu sondieren, wie man mit einem Fachausdruck sagt.“
Das war Erich, wie er leibte und lebte. Mit einem Schlage hatte er die Sachlage erfaßt und auch sofort den richtigen Ausweg gefunden, wie wir uns ohne größere Geldmittel weiterhelfen konnten.
Am nächsten Kündigungstermin begaben wir uns gemeinsam zum Geheimen Oberbaurat Köhler, dem Generaldirektor der Hamburger Aktiengesellschaft für Eisenbahnbau, und baten um unsere Entlassung, da wir gern ins Ausland gehen wollten, um dort für unsere Kenntnisse ein größeres und selbständigeres Arbeitsfeld zu finden.
Er hörte uns ruhig an.
„Ich denke, meine Herren,“ sagte er dann mit liebenswürdigem Lächeln, „wir werden uns nicht [17] zu trennen brauchen. Schon lange trägt sich unsere Gesellschaft mit der Absicht, ihren Betrieb zu erweitern und auch im Auslande Aufträge anzunehmen. Deutschland haben wir so ziemlich ‚abgegrast‘, und die Geschäfte gehen von Jahr zu Jahr schlechter. In der letzten Vorstandssitzung ist beschlossen worden, zunächst einige Vertreter der Firma nach der Türkei, Indien und China zu senden, um dort Verbindungen anzuknüpfen und Verträge über größere Eisenbahnbauten abzuschließen. Sprechen Sie Englisch und Französisch, meine Herren?“
Erich bejahte.
„Englisch sogar fließend, Herr Geheimrat,“ setzte er hinzu. „Wir haben uns bereits auf der Universität in dieser Sprache vervollkommnet und unsere Übungen hier fortgesetzt.“
„Sehr gut – sehr gut! – Wohin würden Sie beide denn nun am liebsten gehen?“
„Nach Indien,“ war Erichs selbstverständliche Antwort.
„Gut denn. In einigen Tagen erhalten Sie die näheren Bedingungen über Besoldung usw., sowie meine besonderen Wünsche für die Handhabung Ihrer neuen Tätigkeit vorgelegt und können sich dann endgültig entscheiden.“ –
Eine Woche später hatten wir die neuen Verträge unterzeichnet, auf Grund deren wir uns der Firma vorläufig für ein Jahr als Vertreter für Indien gegen einen hochanständigen Gehalt verpflichteten.
Nun kam das Schwerste für mich – den [18] Widerstand meiner geliebten Mutter zu besiegen. Ich wußte nur zu gut, wie schwer sie mich von sich lassen würde, wenn ich zu diesem Zwecke in die Fremde ziehen wollte, da sie schon den geliebten Gatten des Unglücksteines wegen verloren hatte. Auf meine Bitte hin begleitete Erich mich nach Halle. Ich will über diese Tage, in denen wir beide mit allen Überredungskünsten meiner Mutter Angst zu beschwichtigen suchten, über all die Tränen, die die einsame Frau aus Sorge um mich vergoß, schnell hinweggehen. Schließlich gab sie nach. Der Abschied war herzzerreißend. Und es sollte ein Abschied auf ewig sein. – – –
Am 15. November 1901 langten wir nach einer glücklichen Überfahrt auf dem deutschen Passagierdampfer „Phönix“ in der bedeutenden, an der Koromandelküste gelegenen Hafenstadt Madras an. Absichtlich hatten wir diesen Umweg gemacht, da wir uns, bevor wir nach unserem zukünftigen Wohnsitz Kalkutta gingen, zunächst einmal Sadani, die Residenz des Radschas Sorahmatra, ansehen wollten.
In Madras stiegen wir im Hotel Antwerpen ab und waren aufs freudigste überrascht, als der Portier, der wohl nach unserer harten Aussprache des Englischen in uns Deutsche vermutete, uns sofort in unserer Muttersprache begrüßte. Er war ein geborener Züricher, der schon zehn Jahre in Madras wohnte. Wir erhielten zwei Zimmer im Hochparterre angewiesen, große, luftige Räume, deren Fenster nach dem in üppigster Pracht tropischer Gewächse blühenden Hotelgarten hinauslagen.
[19] Bereits am nächsten Tage fuhren wir mit einem Küstendampfer als harmlose Touristen, des Scheines wegen sogar mit den unvermeidlichen Kameras ausgerüstet, nach Sadani, das wir vierundzwanzig Stunden später erreichten. Über dem Städtchen erhebt sich auf einer steilen, malerischen Felsgruppe das Radschaschloß, ein mächtiger, zum Teil aus weißem Marmor hergestellter Bau, der sicherlich auf eine Vergangenheit von mehr als fünfhundert Jahren zurückblicken kann.
Leider sollte unser Ausflug so gut wie resultatlos verlaufen. Das Schloß zu betreten war verboten, da der alte Fürst seit einiger Zeit schwer krank lag und dauernd von mehreren englischen Ärzten behandelt wurde. Unsere vorsichtigen und unverfänglichen Fragen, wo der Radscha seine Schätze aufbewahre, beantwortete uns unser Führer dahin, daß die Schatzkammer in den unterirdischen Gewölben der Burg liege und ständig durch ein paar Leute der fürstlichen Leibgarde bewacht würde. – Das war alles, was wir herausbrachten.
In Madras lernten wir dann am Abend unserer Rückkehr im Hotel den deutschen Forschungsreisenden Dr. Graeber kennen, der gerade aus dem Innern Ceylons kam, wo er in den Südabhängen des Tschamaigebirges reiche Goldlager entdeckt hatte, die er nun an eine englische Bergbaugesellschaft in Madras verkaufen wollte. Dr. Graeber, der den Orient besser als Europa kannte, gab uns nach manch wichtigen Fingerzeig für unsere zukünftige Tätigkeit und warnte uns besonders vor der Rachgier [20] und Hinterlist der eingeborenen Bevölkerung und dem oft geradezu gewissenlosen geschäftlichen Ehrgeiz der in Indien ansässigen Briten.
Wir saßen auf der Hotelveranda beim Lichte der elektrischen Lampen bis spät in die Nacht hinein, und der reichlich genossene Sekt, zu dem der Landsmann uns freundlichst eingeladen hatte, war mir bereits erheblich zu Kopfe gestiegen, so daß ich die helle Kugel der Bogenlampe über uns schon bedenklich oft doppelt sah. – Als Dr. Graeber sich dann verabschiedete, da er ein schweres Tagewerk hinter sich hatte und schließlich recht müde und schweigsam wurde, blieb mein Freund zu meinem nicht geringen Erstaunen noch in seinem bequemen Korbstuhl sitzen und bestellte bei dem aufwartenden Kellner „zwei Flaschen Selter – recht kalt!“
Als das Kohlensäurewasser vor uns stand, goß er ein Glas davon ein und reichte es mir über den Tisch hin.
„Trinke nur! – Ich habe dir nämlich eine Eröffnung zu machen, die du mit klarem Verstande anhören mußt.“
Sein ernstes Gesicht, seine vorsichtig flüsternde Stimme ernüchterten mich schneller als das kühle Getränk.
„Ist dir gestern in Sadani jener europäisch gekleidete Hindu aufgefallen, dem wir auf den Straßen und am Hafen mehrmals begegneten?“ fragte er jetzt ebenso leise.
Ich schüttelte den Kopf.
„Nein. – Wie sah denn der Mann aus?“
[21] „Bartlos, schlank, ziemlich hellbraune Gesichtsfarbe, gelber Leinenanzug und weißer Schlapphut,“ lautete Erichs kurze Erwiderung.
„Ich besinne mich wirklich nicht. – Was ist’s mit diesem Inder?“ meinte ich schon wieder ziemlich uninteressiert.
„Nun – derselbe braune Bursche saß bis vor einer Stunde ebenfalls hier auf der Veranda, – dort, zwei Tische von uns entfernt, anscheinend eifrig mit der Lektüre eines englischen Blattes beschäftigt. In Wahrheit hat er jedoch die ganze Zeit über unser Gespräch mit Dr. Graeber belauscht, wie ich deutlich bemerkte, ohne ihm jedoch irgendwie meine Teilnahme für seine Person zu verraten.“
„Erscheint er dir irgendwie verdächtig?“ forschte ich, jetzt durch ein zweites Glas Selters völlig ermuntert.
Erich nickte.
„Freilich. Der Mann zeigte schon in Sadani für uns ein Interesse, das hier im fremden Lande, wo uns niemand kennt, doppelt auffällig war. Wenn ich dir diese Beobachtung nicht gestern schon mitteilte, so geschah es lediglich deshalb, weil ich zunächst noch annahm, daß ich mich getäuscht hätte und der kaffeebraune Kerl uns nur als Fremde so prüfend bei jeder Begegnung anstarrte. Als er dann aber auch hier in Madras in unserer Nähe auftauchte, kam mir die Sache bereits weniger harmlos vor. Der Portier, den ich vorhin ansprach und fragte, ob er den Burschen vielleicht kenne, gab mir nun eine Auskunft, die uns zwingt, recht [22] sehr auf unserer Hut zu sein. Denn der Hindu ist kein anderer als der Privatsekretär des Radschas Sorahmatra und wohnt seit heute hier im Hotel. – Begreifst du, worauf ich hinaus will?“
„Donnerwetter!“ entfuhr es mir. „Der Holländer van Kuyper –“
„Ja, derselbe, vor dem ich dich warnte,“ vollendete Erich mit Nachdruck. „Kein Zweifel, er hat dem Fürsten verraten, daß du dich so eingehend nach dem ‚Auge des Brahma‘ erkundigt hast.“
Mein Freund hatte recht. Nur so war es erklärlich, daß der Hindu ein so großes Interesse für uns an den Tag legte und uns sofort nach Madras nachgereist war.
„Die Sache ist äußerst unangenehm für uns,“ meinte ich ärgerlich. „Fraglos wird uns der Radscha jetzt auf Schritt und Tritt weiter nachspüren lassen.“
„Unangenehm – stimmt! – Aber doch nicht allzu schlimm, wenn wir in der nächsten Zeit lediglich unseren Geschäften nachgehen und so den Eindruck hervorrufen, als wenn wir unsere Absichten auf den Diamanten völlig aufgegeben haben,“ beruhigte mich Erich. –
Bald darauf begaben wir uns auf unsere Zimmer. Als wir den mit bunten Bastmatten belegten Korridor entlang schritten, drängte sich Erich plötzlich an mir vorbei und sagte kurz: „Laß mich nur vorangehen!“ Dann öffnete er die Tür, die in unser Wohnzimmer führte, und drehte, noch im Korridor stehenbleibend, das elektrische Licht an, [23] dessen Schalter dicht neben dem Eingang angebracht war. In dem großen Raume schaute er sich dann recht argwöhnisch um, wie ich sehr wohl bemerkte.
Doch nirgends war etwas Verdächtiges wahrzunehmen. Die Vorsicht trieb Erich nachher in unserem gemeinsamen Schlafzimmer sogar so weit, daß er unter die leichten Eisenbettstellen schaute und sich auch überzeugte, ob die durchbrochenen Holzläden vor den Fenstern fest schlossen.
„Man kann in diesem verteufelten Lande nicht genug die Augen offenhalten,“ sagte er, indem er sich zu entkleiden begann.
Ähnliche Worte hatte vorhin Dr. Graeber gebraucht. – Mir selbst erschien diese Ängstlichkeit ziemlich überflüssig. Ich war aber inzwischen so müde geworden, daß ich meine Meinung für mich behielt, mit einem kurzen „Gute Nacht“ die Lampe auf meinem Nachttischchen ausdrehte und unter mein Moskitonetz schlüpfte.
Ich schlief sofort ein. Mein vom Alkohol überhitztes Hirn gaukelte mir die wildesten Traumbilder vor. Ich hatte mit dem Radscha Sorahmatra einen furchtbaren Schwertkampf wegen des blauen Diamanten zu bestehen und versuchte seinen gelben Privatsekretär zu erwürgen, der mir bei diesem verzweifelten Ringen den Arm fast zerdrückte. Der Schmerz war so intensiv, daß ich erwachte und ganz verwirrt in die Höhe fuhr …
Vor meinem Bett stand Erich in seinem weißen, leichten Nachtanzug. „Du hast einen festen Schlaf, [24] das muß man sagen. Ich habe dir fast das Handgelenk ausgerenkt, bevor ich dich munter bekam.“
Jetzt erst bemerkte ich, daß meines Freundes von der Tropensonne und der langen Seereise stark gebräuntes Gesicht geisterbleich war. Auch in seinen Augen lag noch ein Ausdruck so wilden Entsetzens, daß ich augenblicklich völlig wach war.
„Was gibt’s? Wie siehst du denn aus, Erich!“ stieß ich hervor, schnell das Netz abstreifend.
„Wie einer, der soeben zwei Huartas[* 1] mit diesem Stocke erschlagen hat,“ erwiderte er leicht zusammenschaudernd und hob dabei sein in Sadani gekauftes, reich geschnitztes Bambusrohr in die Höhe.
„Huartas?“ Ich begriff nicht sofort die ganzen Schrecken, die in diesem einen Worte lagen.
„Ja, Huartas. Zwei ausgewachsene Exemplare sogar. – Dort liegen sie. Und er wies mit dem Stock nach der Tür.
Mit einem Satze war ich aus dem Bett. Die gelbgrünen Schlangenleiber, die dort regungslos übereinanderlagen, sah ich im Lichte der von Erich eingeschalteten hellen Deckenbeleuchtung nur zu genau.
Mein Freund stand noch immer vor mir und blickte suchend im Zimmer umher.
„Vielleicht hat man uns noch mehr von dem Gewürm ins Zimmer geschmuggelt,“ meinte er dann und schaute vorsichtig in jede Ecke und auch unter die Schränke und den großen Waschtisch. Bei [25] diesem hielt er sich länger auf und zündete darauf hastig ein Talglicht an, daß er brennend unter das breite, mit Marmoraufsatz versehene Möbel schleuderte.
Mit einem Male schnellte er empor.
Ich hatte mich weit vorgebeugt. Mein Herz hämmerte mir in der Brust … Und dann schlüpfte unter dem Waschtisch lautlos ein dünner Schlangenkörper hervor und suchte in den Schatten von Erichs Bett zu flüchten. Zwei kurze Schläge mit dem Stock, die tadellos trafen. Auch dieses dritte giftige Reptil war unschädlich gemacht. –
Nochmals leuchteten wir darauf in beiden Zimmern jeden Winkel ab. Wir fanden nichts mehr. Und dann erzählte Erich, als wir im Wohnzimmer bei einer Zigarre unsere Nerven zu beruhigen suchten – denn an Schlafen war nach diesem Erlebnis doch nicht mehr zu denken – wie das nächtliche Abenteuer begonnen hatte. Er war, da ihn der Gedanke an die verdächtige Begegnung mit dem Sekretär des Radscha nicht einschlafen ließ, noch einmal aufgestanden und hatte sich aus seinem Koffer ein Buch geholt, um beim Schein der Nachtlampe noch eine Weile zu lesen. Plötzlich durch ein leises, schleifendes Geräusch unter seinem Bett aufmerksam gemacht, hatte er sich halb aufgerichtet und dann die eine Huarta erblickt, die langsam über den Bastteppich dahinglitt. Zum Glück stand sein Stock in Griffnähe am nächsten Fenster, und so konnte er dem durch das Licht geblendeten Reptil schnell durch einen wohlgezielten Hieb das Rückgrat zerbrechen [26] und es nachher vollends töten. Wie er noch mitten im Zimmer stand, war auch schon hinter unserem Koffer die zweite Huarta hervorgekommen, die Erich dann ebenso geschickt abtat.
„Jedenfalls kannst du überzeugt sein,“ fuhr er fort, „daß kein anderer als der Hindu in dem gelben Leinenanzug uns als Beauftragter Sorahmatras diese gefährliche Überraschung bereitet hat.“
Das war unser erstes Erlebnis in Indien. Wir sagten keinem Menschen ein Wort davon, spielten vielmehr nach Erichs Vorschlag am nächsten Morgen die Harmlosen. Die toten Huartas packten wir in einen leeren Pappkarton und warfen diesen samt seinem greulichen Inhalt später auf der Überfahrt nach Kalkutta ins Meer. Unser Schweigen hatte seinen guten Grund. Wir wollten unseren gefährlichen Feind in dem Glauben lassen, daß wir nichts von seinen Ränken ahnten, um so seine späteren Anschläge desto leichter durchschauen und vereiteln zu können.
Einen Monat später fühlten wir uns in Kalkutta bereits völlig heimisch und hatten auch unsere geschäftliche Tätigkeit schon begonnen, die sich freilich vorläufig darauf beschränkte, überall Erkundigungen einzuziehen, ob nicht irgendwo ein Bahnbau geplant werde. Wir erhielten die Nachricht, daß von Benares ein neuer Schienenweg durch das [27] Kainur-Gebirge nach Jaipur gelegt werden solle und ein zweiter von dem Radscha Artasa von Brolawana geplant werde. Sofort nahmen wir die Gelegenheit wahr, um diese Projekte unserer Firma zu sichern. Während Erich, nachdem die nötigen Vorarbeiten erledigt waren, nach Benares reiste, wollte ich mein Glück bei dem Radscha Artasa versuchen, mit dessen Minister, einem geborenen Holländer, ich mich schon vorher nach einem recht teuren Telegrammaustausch mit unserem Hauptgeschäft in Hamburg schriftlich in Verbindung gesetzt hatte.
Als der klappernde und klirrende Zug der Schmalspurbahn, die die Eisenbahnlinie Benares-Baxar mit Brolawana, der Residenz des Radscha Artasa verbindet, in den kleinen Bahnhof von Brolawana gegen elf Uhr vormittags einlief, atmete ich aus tiefstem Herzen erleichtert auf. Vor dem Empfangsgebäude, das bei seinem verlotterten Zustande diesen großartigen Namen kaum mehr verdiente, erwartete mich das tadellos bespannte Gefährt des Herrn van Straaten, das mich dann in flottestem Tempo nach der Stadt brachte. Schon auf dem Wege durch die von den ärmeren Klassen bewohnten äußeren Straßenzüge bemerkte ich, daß sich der Bevölkerung eine ungewöhnliche Erregung bemächtigt zu haben schien. Überall standen eifrig sprechende und wild gestikulierende Gruppen umher, und diese Anzeichen irgendeines besonderen, ganz Brolawana in Atem haltenden Ereignisses mehrten sich, je näher wir dem Zentrum der Residenz kamen.
Nach einer Fahrt von kaum zehn Minuten hielt [28] der Wagen vor dem fürstlichen Ministerium, einem palastähnlichen Gebäude, in dem van Straaten die Geschicke des verhältnismäßig kleinen, aber unermeßlich reichen indischen Vasallenstaates als oberster Ratgeber des Radschas leitete. Van Straaten empfing mich mit ausgesuchtester Höflichkeit. Nach den einleitenden Begrüßungsworten nahmen wir in den bequemen Sesseln an dem großen Mitteltisch seines mit wahrhaft prunkhafter Eleganz eingerichteten Arbeitszimmers Platz. Um es ehrlich einzugestehen – mir klopfte doch etwas das Herz, als ich mich nun so nahe vor der Entscheidung sah. Denn nur zu gern hätte ich meiner Firma den großen Auftrag – es handelte sich um ein Millionenprojekt – und damit einen fraglos glänzenden Verdienst verschafft.
Der Minister ging auch sofort ohne lange Einleitung direkt auf den Kernpunkt der Sache ein. – Der Radscha hatte mit der Zeit selbst eingesehen, daß die Schmalspurbahn, die ihm eine französische Gesellschaft vor zwölf Jahren ebenso teuer wie schlecht gebaut hatte, in keiner Weise mehr den gesteigerten Ansprüchen an eine sichere und schnelle Beförderung der Reisenden und der im Fürstentum zum Export gelangenden Waren genügte. Er wollte daher eine neue Bahnlinie, die einen direkten und kürzeren Anschluß nach Kalkutta als der nächsten Hafenstadt ermöglichte, herstellen lassen und war zu diesem Zweck mit verschiedenen ausländischen Firmen in Verbindung getreten. Die Offerte meiner Firma nun war bedeutend niedriger im Preise als [29] die der Konkurrenz, so daß ich begründete Hoffnung hatte, das Geschäft zu machen.
„Ich habe die von Ihrer Gesellschaft vorgelegten Zeichnungen nochmals nachprüfen lassen,“ begann Herr van Straaten. „Die von Ihnen vorgeschlagene Führung der Bahnlinie hat ja allerdings den Vorteil, die Strecke um einige Meilen abzukürzen, erfordert aber die Anlegung von drei kostspieligen Brücken und einem Tunnel. Trotzdem ist der Fürst, bei dem ja die letzte Entscheidung liegt, nicht abgeneigt, Ihnen den Zuschlag zu erteilen. Nur müßten Sie mit Ihrem Preise noch um eine Viertelmillion heruntergehen, Herr Sander. Die englische Firma Wilson & Co. aus London, die hier in Kalkutta eine Filiale besitzt, hat uns, wie ich Ihnen leider mitteilen muß, beinahe ebenso günstige und praktische Anerbietungen gemacht wie Sie und dabei genau dieselbe Bausumme gefordert. Der Radscha, der ja in vielem von der englischen Regierung abhängig ist, möchte nun nicht gerade den Anschein erwecken, als ob er aus alter Abneigung gegen alles, was Engländer heißt, Wilson & Co. unberücksichtigt gelassen hat. Sie verstehen mich wohl: fordern Sie weniger als Ihre englischen Konkurrenten, so können wir uns etwaigen Vorhaltungen gegenüber immer damit herausreden, daß wir erklären, wir hätten natürlich dem billigsten und besten Bieter die Ausführung des Projektes übertragen. Telegraphieren Sie also, bitte, umgehend nochmals das Nötigste nach Deutschland und geben Sie mir dann persönlich Bescheid.“
[30] Ich beeilte mich zu versichern, daß von meiner Seite alles geschehen würde, um den baldigen Abschluß des bindenden Vertrages herbeizuführen.
„Nebenbei, Herr Sander: es genügt mir, wenn Sie mir nach einer Woche die Entschließung Ihrer Firma mitteilen,“ meinte der Minister hierauf. „Der Fürst ist nämlich augenblicklich durchaus nicht in Stimmung, sich mit der Bahnbaufrage näher zu beschäftigen. Er würde es mir nur falsch auslegen, wenn ich ihn vor der Auffindung Mankassas mit solch nebensächlichen Dingen wie einer neu geplanten Verkehrsstraße langweilen wollte.“
Bei diesen Worten des Ministers dachte ich sofort an das unruhige Leben und Treiben in den Straßen, das mir aufgefallen war und für das ich noch immer keine Erklärung hatte. – Mankassa? – Der Name war mir nicht unbekannt. Sicherlich hatte ich ihn schon irgendwo gehört. Und der Minister hatte von einem „unangenehmen Ereignis“, von der Auffindung Mankassas und einer hiermit in Zusammenhang stehenden gereizten Stimmung seines Herrn gesprochen! Da mußte also offenbar irgendeine dem Fürsten wertvolle Persönlichkeit verschwunden sein. – Richtig – jetzt glaubte ich auch Bescheid zu wissen: Mankassa hieß ja wohl der jugendliche Thronfolger von Brolawana. Daher hielt ich es jetzt auch für angebracht, Herrn van Straaten als dem Vertreter des Radschas mein aufrichtiges Bedauern über das Verschwinden des Prinzen auszudrücken.
Merkwürdigerweise aber überflog des Ministers [31] intelligente Züge bei meiner wohlgesetzten Rede ein leises Lächeln.
„Sie irren, Herr Sander, Mankassa ist keiner der Söhne meines Herrn, sondern – fast könnte man sagen – ein viel, viel wichtigerer Zubehör unseres Staates, nämlich der weit und breit berühmte, von allen Hindus wie eine hohe Gottheit verehrte, heilige weiße Elefant – das Kleinod von Brolawana. Er wurde dem Vater des jetzigen Radschas von einem frommen Brahmanen vor ungefähr vierzig Jahren zum Geschenk gemacht, mit dem Bedeuten, daß in dem Körper des Tieres die Seele des Begründers der Fürstendynastie von Brolawana wohne. Wie Ihnen wohl bekannt sein dürfte, ruht der Schwerpunkt der brahmanischen Religion in der Lehre von der Seelenwanderung, die die Seelen der verstorbenen Gläubigen je nach ihren Taten in den Leibern höherer oder niederer Tiere wieder auferstehen läßt. Die Vorfahren meines Herrn gehörten nun – Radscha Artasa ist freilich schon bedeutend aufgeklärter – zu den fanatischsten und gläubigsten Anhängern des Brahmanismus. Daher wurde für Mankassa, dessen Haut eine auffallend helle, weißgraue Färbung besitzt, die man nur sehr, sehr selten bei Elefanten findet, in dem Garten des fürstlichen Palastes ein besonderes, mit wahrhaft verschwenderischer Pracht ausgeschmücktes, tempelartiges Gebäude errichtet, in dem der heilig gesprochene Elefant mit einem ganzen Hofstaat von Priestern, Wärtern, Fütterern und Fliegenabwehrern hauste. Sehr bald verbreitete sich der Ruf [32] Mankassas, dessen Nähe man allerhand wunderbare Heilwirkungen zuschrieb, durch ganz Indien. Von weither strömten die Pilger zusammen, um vor dem heiligen Tiere ihre Gebete zu verrichten. Und niemand von diesen Bittstellern, selbst der ärmste Hindu nicht, kam mit leeren Händen. Reiche eingeborene Fürsten schickten besondere Gesandtschaften, die die wertvollsten, mit Diamanten verzierten Goldgeräte vor dem weißen Elefanten niederlegten. Heute beträgt die jährliche Zahl dieser Pilger gegen zehntausend. So ist Mankassa für Brolawana die beste Einnahmequelle geworden. – Vor vier Tagen nun wurde der Elefant – was jede Woche einmal geschieht – wie gewöhnlich in feierlichem Zuge nach dem einen Kilometer von der Stadt entfernten See geführt, um dort unter allen möglichen Zeremonien ein Bad zu nehmen. Auf dem Wege bekam Mankassa mit einemmal ohne jede äußere Veranlassung einen Wutanfall – bei älteren Elefanten sollen derartige Temperamentausbrüche ja recht häufig sein –, schlug wild mit dem Rüssel um sich, so daß die ihn begleitende Dienerschaft nicht schnell genug flüchten konnte, raste dann in toller Jagd querfeldein und verschwand in dem weiten Sumpfgebiet, das sich meilenweit nach Osten zu erstreckt. – Die Aufregung des Fürsten, für den Mankassa allerdings mehr Spekulationsobjekt ist, können Sie sich denken. Sofort wurden zahlreiche Reiter zur Verfolgung des Flüchtlings ausgeschickt, die jedoch sämtlich unverrichteter Sache zurückkehren dürften, da wenige Stunden nach der Flucht Mankassas ein [33] heftiger Regenguß einsetzte, der sicherlich alle Spuren verwischt hat, und außerdem die undurchdringlichen, von breiten Sumpf- und Moorflächen unterbrochenen Dschungeln, die Brolawana wie ein Gürtel umgeben, selbst für zahlreiche Elefantenherden kaum auffindbare Schlupfwinkel bieten. Wer weiß, ob wir Mankassa je wiedersehen. Denn bisher sind, wie gesagt, alle Nachforschungen ohne Erfolg geblieben.“
„Hoffen wir das Beste!“ suchte ich van Straaten zu trösten, dem ja auch viel an der recht baldigen Wiedererlangung des kostbaren Tieres liegen mußte. Da ich des liebenswürdigen Holländers kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen mochte, verabschiedete ich mich nunmehr, nachdem ich ihm noch meinen Dank für den interessanten Vortrag ausgesprochen hatte.
Als ich dann wenige Minuten später das in der Hauptstraße gelegene erste Hotel der Stadt betrat, um dort einen Imbiß einzunehmen, begegnete ich in der Vorhalle einem in einen weißen Leinenanzug gekleideten Europäer, den ich an seinen breiten Bartkoteletten und dem länglichen, hageren Gesicht sofort als den Vertreter der Londoner Firma Wilson & Co. wiedererkannte, die ja nach der Angabe van Straatens unsere schlimmste Konkurrentin bei der Erlangung des Zuschlages für den neuen Bahnbau war. Ich hatte diesen Herrn Housfield einmal flüchtig in Kalkutta kennengelernt. Trotzdem schritten wir jetzt ohne Gruß aneinander vorüber. Dieser lange, dürre Engländer, um dessen Lippen stets ein so überlegenes Lächeln spielte, war mir [34] herzlich unsympathisch, besondere da man mir noch kürzlich in Kalkutta im Deutschen Klub besagt hatte, Housfield ginge, wenn es darauf ankäme, ein Geschäft zu machen, kaltblütig über Leichen.
Nachdem ich mich mit den wirklich vorzüglichen Speisen und Getränken gestärkt hatte, bummelte ich in behaglichem Schritt durch die Straßen der kleinen Residenz, um mir Brolawana in aller Ruhe anzusehen. Während ich gerade vor dem Geschäfte eines indischen Teppichwirkers stand und die feinabgetönten Farben der Gewebe bewunderte, kam ein seltsamer Aufzug die Straße entlang. Voran schritten zwei reichgekleidete, eingeborene Diener, die ein mächtiges, an zwei Stangen befestigtes Plakat trugen. Darauf war in einer leidlich gut gelungenen Zeichnung ein schneeweißer Elefant auf einem Hintergrunde von dunkelgrünen Bäumen abgebildet. Sodann folgte ein Mann, der einer Messingtrompete in kurzen Unterbrechungen stets dasselbe langgezogene Signal entlockte. Den Beschluß machte ein vierter Inder, der von einer langen Papierrolle mit lauter Stimme irgendeine Bekanntmachung ablas. Von einem sehr höflichen Europäer, der wie ich stehengeblieben war und dem von einer Unmasse einfachen Volkes begleiteten Ausrufer nachschaute, erfuhr ich dann, daß Radscha Artasa auf diese Weise dem Wiederbringer des heiligen weißen Elefanten von Brolawana eine hohe Belohnung zusichern ließ.
Durch diesen Zwischenfall kam ich auf den Gedanken, auch den Palast des Fürsten und die von van Straaten ihrer kostbaren Ausschmückung wegen [35] so sehr gerühmte Behausung des undankbaren Ausreißers Mankassa zu besichtigen, zumal ich mit meiner Zeit – ich konnte erst am nächsten Morgen wieder abreisen, da inzwischen kein passender Zug abging – nichts Besseres anzufangen wußte.
Van Straaten hatte wirklich nicht zuviel gesagt. Der tempelartige Bau, in dem der Elefant mit seinem Hofstaate untergebracht war, zeigte eine geradezu die Augen blendende, äußerst prunkhafte Verwendung von weißem Marmor und reichen Goldverzierungen. Mehrere weite Hallen, die durch buntfarbige Deckenfenster ein mildes, weiches Licht empfingen und mit Mosaikfußboden von polierten Steinplatten ausgelegt waren, grenzten, nur durch schlanke Säulenreihen getrennt, aneinander. Ungehindert, von keinem mißtrauischen Tempeldiener beobachtet, durchschritt ich die Säle, deren überaus farbenfreudige und doch für das Auge so wohlgefällige Innenausstattung in mir allerlei Erinnerungen an die Märchen aus Tausend und eine Nacht und die darin geschilderten Feenpaläste wachrief und mich in eine ganz seltsame Stimmung versetzte. Wohl eine halbe Stunde verweilte ich in dem völlig verwaisten Gebäude. Gerade als ich mich auf den Rückweg begeben wollte, hörte ich mit einem Male hinter einer durch einen golddurchwirkten Teppich verdeckten Seitenpforte Stimmen. Unwillkürlich blieb ich wie angewurzelt stehen. Die betreffenden Personen hatten inzwischen die große Mittelhalle, in der ich mich befand, ebenfalls betreten. Wer sie waren, konnte ich nicht sehen, da ich in einer von [36] einer Säule halb verdeckten Nische stand, wo ich eben die hohe, aus Elfenbein geschnitzte Statue des Gottes Brahma bewundert hatte. Schon wollte ich dieses zufällige Versteck verlassen. Doch der schon erhobene Fuß streckte sich nicht zum ersten Schritt. Wie gebannt verharrte ich jetzt völlig regungslos, denn ich hatte den einen der Leute spöttischen Tones in fließendem Englisch sagen hören:
„Sie können lange suchen! Dort, wo wir ihn verborgen haben, werden sie ihn niemals finden.“
Nicht nur diese wenigen, in Anbetracht des Verschwindens Mankassas recht verdächtigen Worte waren es, die mir blitzschnell den Entschluß eingaben, noch weiter den Lauscher zu spielen, sondern hauptsächlich diese Stimme, dieses harte, schneidende Organ, das ich sofort wiedererkannte. Der, der da eben so höhnisch triumphierend gesprochen hatte, war niemand anders als Housfield, der Vertreter von Wilson & Co., unserer Konkurrenzfirma, jener Mann, von dem man behauptete, er ginge über Leichen …
Doch zu dem weiteren Abwägen meines Tuns kam ich auch gar nicht. Eine andere Stimme flüsterte in gebrochenem Englisch:
„Sprich leise, Sahib[* 2], wir müssen vorsichtig sein.“
Der, welcher Housfield dergestalt warnte, hatte jedoch nicht beachtet, daß in der gewölbten Halle infolge der guten Akustik selbst das leiseste Flüsterwort überall zu vernehmen war.
[37] „Du siehst ja, hier ist keine Seele,“ sagte Housfield nach einer kleinen Pause. Anscheinend hatte er sich flüchtig umgeschaut, ob sie auch wirklich allein waren. „Außerdem – deine braunen Kollegen dürften kaum genug Hirn in ihren Faulenzerschädeln besitzen, um aus meinen Worten gleich den Schluß zu ziehen, daß ich Mankassa, euren Pflegling, gemeint habe,“ fügte er verächtlich hinzu.
Sie waren unterdessen langsam weitergegangen, schritten jetzt an der Nische, in der ich stand, vorüber und betraten die nächste Halle, ohne auch nur einen einzigen Blick zur Seite zu werfen. Ich hatte mich nicht getäuscht: Es waren Housfield und ein in ein helles Gewand gekleideter Hindu, dessen stark gebogene Hakennase und langer schwarzer Bart es mir leicht machten, sein Profil meinem Gedächtnisse einzuprägen.
Was die beiden weiter noch verhandelten, bis sie durch einen der hinteren Ausgänge den Tempelbau verließen, konnte ich nicht mehr verstehen. Aber ich wußte auch so genug. Ohne langes Besinnen eilte ich der hohen Eingangspforte zu und bog draußen sofort in einen der zahlreichen Seitenwege des Parkes ein, in dessen Hintergrunde der langgestreckte, mit unzähligen Erkern und Türmchen phantastisch ausgeputzte Palast des Fürsten lag. Wohlbehalten kam ich an der von der Leibgarde des Radschas gestellten Torwache vorüber, und suchte van Straaten wieder auf.
Als ich ihm meine soeben gemachten Beobachtungen [38] und die von mir erlauschen Sätze mitgeteilt hatte, erhob er sich erregt aus seinem Sessel.
„Hier liegt sicher ein ganz gemeines Schurkenstück vor,“ meinte er mit drohend gerunzelter Stirn. „Ich habe gleich nicht recht daran glauben wollen, daß der sonst so überaus gutmütige Elefant ohne besonderen Grund urplötzlich einen derartigen Tobsuchtsanfall bekommen haben sollte. Fraglos haben wir es mit einem wohlüberlegten Plane zu tun, dessen Zweck mir auch schon ziemlich klar ist. – Doch wir wollen uns nicht lange aufhalten. In kürzester Zeit werde ich das Spiel dieser Halunken aufgedeckt haben, so wahr ich van Straaten heiße.“
Keine Viertelstunde später stand der sofort herbeigerufene Oberaufseher des Elefantentempels vor uns. Van Straaten, der gleich vermutete, daß der Genosse des Engländers seiner Kleidung nach zu dem Tempelpersonal gehören müsse, beschrieb ihm den Inder, den ich in Gesellschaft Housfields gesehen hatte, und der Mann wußte auch sofort Bescheid.
„Es ist Sing-Lana, der Oberste der Fütterer, Sahib!“ gab er uns prompt zur Antwort.
„Gut. Nimm jetzt diesen Brief, der an mich adressiert ist, suche Sing-Lana auf und schicke ihn mit dem Schreiben zu mir. Tue, als ob du mir etwas Eiliges zu melden hättest. Von dieser Unterredung hier zu niemand ein Wort! Du kennst mich …“
Als Sing-Lana nach einer halben Stunde völlig ahnungslos erschien und mit einer Verbeugung bis zur Erde hinab van Straaten den Brief überreichte, [39] der nur ein zusammengelegtes Zeitungsblatt enthielt, sagte der wegen seiner strengen Gerechtigkeitsliebe ebenso sehr gefürchtere wie geachtete Holländer mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete:
„Führe uns sofort zu dem Orte hin, wo Mankassa verborgen ist! Sofort!“
Der Inder taumelte förmlich zurück vor Entsetzen, warf sich dann aber heulend und um Gnade flehend van Straaten zu Füßen.
„Sahib Housfield hat mich verführt. Nur er ist an allem schuld. Wir wollten die Belohnung, auf deren Aussetzung wir sicher rechneten, teilen,“ brachte der ungetreue Diener nun stotternd hervor.
Sing-Lana erzählte uns dann, nachdem er sich etwas beruhigt und van Straaten ihm auch versprochen hatte, bei dem Radscha ein gutes Wort für ihn einzulegen, über diesen raffinierten Streich folgende Einzelheiten:
Vor etwa zwei Wochen hatte Housfield den Hindu aufgesucht und mit aller Vorsicht für seinen Plan zu gewinnen gewußt. Als Zeitpunkt der Ausführung wurde der Tag bestimmt, an dem Mankassa das nächste Mal zum Baden geleitet wurde. Sing-Lana hatte sodann, genau den Anweisungen Housfields folgend, dem Elefanten auf dem Wege zu dem etwa einen Kilometer von der Hauptstadt entfernten See unauffällig ein großes Stück glimmenden Feuerschwamm in das rechte Ohr gesteckt. Hierzu bot sich ihm um so leichter die Möglichkeit, als er es verstanden hatte, sich gerade an dem Tage einen Sitz neben dem Führer auf dem Rücken Mankassas [40] zu verschaffen. Der durch den Schmerz wildgemachte Elefant raste dann auch sehr bald davon. Housfield selbst war dem feierlichen Zuge, in dessen Mitte das heilige Tier einherschritt, von weitem zu Pferde gefolgt und konnte daher als der einzige Reiter, der sich in der Nähe befand, ungesäumt die Verfolgung des Durchgängers aufnehmen, ohne daß die Schar der Diener hiervon etwas merkte. Nach einer tollen Jagd von zwei Stunden erreichte er wirklich den Elefanten, der gerade aus einer Sumpflache mit dem Rüssel Wasser in sein verletztes Ohr spritzte. Da die Schmerzen infolge dieser zweckmäßigen Behandlung sicher sehr bald nachgelassen hatten, ließ sich das inzwischen wieder ganz zahm gewordene Tier ohne Widerstreben von Housfield fortführen. Dieser machte einen weiten Bogen nach Osten und gelangte mitten in der sehr dunklen regnerischen Nacht, sich nur nach dem Kompaß orientierend, nach einem überaus beschwerlichen Marsche glücklich bei dem kleinen, einsam auf einer Lichtung im Dschungel liegenden Gehöfte an, das dem in alles eingeweihten Bruder Sing-Lanas gehörte. Hier sollte Mankassa so lange bleiben, bis Radscha Artasa in der Angst um das wertvolle Tier eine genügend große Belohnung für dessen Auffindung ausgesetzt haben würde. Housfield hatte dem Bruder Sing-Lanas noch für alle vorkommenden Fälle die genauesten Verhaltungsmaßregeln gegeben und war dann wieder nach Brolawana zurückgekehrt. Heute nun suchte er Sing-Lana, nachdem er kaum die öffentliche Ankündigung der Belohnung mitangehört hatte, in [41] dem Elefanten-Tempel auf, um mit ihm das Notwendige über die nunmehr vorzunehmenden Schritte zu bereden. Geringe Bruchstücke dieses Gesprächs hatte ich in jener Nische der großen Mittelhalle verborgen erlauscht.
Es konnte keinem Zweifel unterliegen, daß den Gaunern ihr Plan ohne mein Dazwischenkommen auch wirklich geglückt wäre. Niemand würde Verdacht geschöpft haben, wenn Housfield am nächsten Tage stolz dem Radscha die Nachricht überbrächt hätte, der heilige, weiße Elefant sei von ihm auf einem Jagdzuge in der Umgegend entdeckt und vorläufig in einem Gehöft untergebracht worden. So hatte der mit allen Hunden gehetzte Engländer sich den Ausgang dieser gewinnreichen Entführung zurechtgelegt. Und ebenso sicher war es, daß der Fürst in seiner Freude ihm dann nicht nur die Belohnung ausgezahlt, sondern auch der von Housfield vertretenen Firma Wilson & Co. den wichtigen Bahnbau übertragen haben würde.
Nun kam es allerdings anders, ganz anders. Housfield wurde ebenso wie das von ihm verführte Brüderpaar kurzerhand in Haft genommen. Bei dem Verhör vor dem zuständigen englischen Richter gab er mit größter Frechheit alles zu und erklärte auch, es sei ihm bei diesem Streich nicht so sehr um die Belohnung als vielmehr um den Abschluß des Riesengeschäftes für seine Firma zu tun gewesen.
Leider gelang es Sing-Lana schon am nächsten Tage, aus der Zelle des bereits recht baufälligen Gefängnisses auszubrechen und – wenigstens vorläufig [42] – spurlos zu verschwinden. Daß er auf mich einen wütenden Haß geworfen hatte, sollte ich nur zu bald erfahren. – Housfield und Sing-Lanas Bruder wurden später zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt, da die englischen Gerichte in Indien gerade derartige Verletzungen des religiösen Empfindens der Eingebogenen selbst an Europäern schwer ahnden, schon um der unruhigen, leicht aufzuwiegelnden Bevölkerung zu beweisen, daß England ihre Religionseinrichtungen sehr wohl zu schützen wisse. – An demselben Tage aber, an dem man Mankassa, das Kleinod von Brolawana, feierlich in seine prunkvolle Behausung zurückholte, überreichte mir Herr van Straaten außer der in einem kostbaren Elfenbeinkästchen eingeschlossenen, recht beträchtlichen Belohnungssumme – nach unserem Gelde etwa 10 000 Mark – auch das von dem Fürsten unterzeichnete Schreiben, in dem unserer Firma für den von ihr anfänglich geforderten Preis – also ohne Abzug der Viertelmillion – der Zuschlag für ihr Projekt erteilt wurde.
Als ich von dieser erfolgreichen Geschäftsreise, die mir noch nebenbei ein kleines Kapital eingebracht hatte, nach Kalkutta in unser gemeinsames Heim zurückkehrte, fand ich meinen Freund bereits vor. Erich war etwas verstimmt, da die Regierung das Projekt der neuen Bahnlinie von Benares [43] nach Jabalpur aus strategischen gründen plötzlich aufgegeben hatte und daher seine ganze Arbeit umsonst gewesen war. Mir gratulierte er aufs herzlichste.
„Daß man durch einen heiligen Elefanten zu Gelde kommt, dürfte einem Europäer bis jetzt kaum passiert sein,“ meinte er lächelnd. „Schade nur, daß wir uns hier gleichzeitig einen weiteren Feind in der Person dieses Sing-Lana geschaffen haben, von dem Engländer Housfield ganz abgesehen,“ setzte er ernster hinzu. „Der Engländer spricht ja allerdings vorläufig nicht mit, da er über die Unzweckmäßigkeit, heilige Rüsselträger zu entführen, einige Zeit in einer Gefängniszelle wird nachdenken müssen.“
In den nächsten Monaten hatten wir beide dann so reichlich zu tun, daß wir kaum zur Besinnung kamen. Einmal mußte die bisher nur oberflächlich festgelegte Bahnstrecke Brolawana-Baxar – bei diesem Städtchen sollte die neue Linie Anschluß an die Hauptbahn Kalkutta-Benares erhalten – mit aller Genauigkeit vermessen werden, dann waren auch eingeborene Arbeiter anzuwerben und die aus Europa zu Schiff eingetroffenen Maschinen und Gerätschaften sowie die gleichzeitig mit herübergekommenen deutschen Vorarbeiter an Ort und Stelle zu schaffen und unterzubringen.
Um meinen Edelstein und seinen jetzigen Besitzer konnte ich mich daher vorläufig so gut wie gar nicht kümmern. Trotzdem wurde ich die Gedanken an das „Auge des Brahma“ selbst während der angestrengtesten Tätigkeit nie ganz los.
[44] Dann stieß ich eines Tages – es war kurz vor Beginn des eigentlichen Bahnbaues – in einer englischen Zeitung auf einen gesperrt gedruckten Artikel, in dem der Tod des alten Radschas Sorahmatra von Sadani und der Regierungsantritt seines ältesten Sohnes Matasana Tuma-Lenk, auf Deutsch „Stern des Himmels“, gemeldet wurde. –
Acht Tage später verließen wir unser Heim in Kalkutta und begaben uns nach Baxar, wo unsere deutschen Streckenmeister inzwischen schon mit dreihundert Eingeborenen die Vorarbeiten begonnen hatten.
Der Ausbau der Linie schritt rüstig vorwärts. Wir waren inzwischen schon so völlig mit den einheimischen Verhältnissen vertraut geworden, daß wir mit unseren braunen Hilfskräften, zumeist Hindus, gut auskamen. Unsere Firma hatte uns beiden Ingenieuren zu unserer Bequemlichkeit ein kleines Holzgebäude geliefert, das auseinanderzunehmen war und außer der mit allem Luxus eingerichteten Küche nur noch einen großen, uns gleichzeitig als Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer dienenden Raum enthielt. Dieses praktische Holzhäuschen, das im Innern mit mehreren, durch Akkumulatoren in Bewegung zu setzenden Ventilatoren versehen war, ließen wir mit dem Vorwärtsrücken des Schienenstranges immer an einer uns geeignet erscheinenden Stelle aufrichten. So hatten wir stets ein gemütliches Heim, in dem wir bei unseren Zeichnungen, guter Lektüre und gelegentlichen anregenden Gesprächen gar nicht so sehr merkten, daß wir uns mitten in der Wildnis [45] der indischen Dschungel mit ihrer Fieberluft und ihren gefährlichen vierbeinigen und kriechenden Bewohnern befanden. Abends, wenn die Arbeit auf der Strecke ruhte und unsere farbigen Untergebenen in ihren Laubhütten mit dem Kochen ihrer einfachen Mahlzeit beschäftigt waren, ließen wir uns regelmäßig unsere Pferde satteln und machten kurze Ausflüge nach den nächsten Dörfern hin. – – – – –
Bei einem dieser Spazierritte kamen wir bei einbrechender Dunkelheit auch einmal in ein Hindudorf – Goldari hieß es – und ließen uns dort einen Schluck Wasser reichen, da der Abend so schwül war, daß unsere Leinenanzüge vom Schweiß völlig durchweicht waren. Wir unterhielten uns mit dem Dorfältesten, der leidlich englisch sprach, und dieser machte uns auf eine Fakirgesellschaft aufmerksam, die auf dem Dorfplatze beim Scheine lichterloh brennender Holzfeuer ihre Künste zeigte.
Auf Vorschlag des Dorfältesten begaben wir uns ebenfalls auf den Anger und schauten wohl eine Stunde lang den braunen Gesellen zu, bis Erich mit einem der zerlumpten Kerle in einen heftigen Streit geriet und wir, um weiteren Unannehmlichkeiten zu entgehen, es vorzogen, unsere Pferde zu besteigen und davonzureiten.
Schon bei der Rückkehr in unser kleines, transportables Häuschen fiel es mir auf, daß mein Freund merkwürdig wortkarg war und meist in Gedanken versunken vor sich hinstarrte. Auch den Rest des Abends blieb er stumm, trotzdem ich mir alle Mühe [46] gab, eine Unterhaltung in Fluß zu bringen. Am nächsten Tage mußte ich dann leider feststellen, daß aus dem sonst so lebendigen, humorvollen Erich ein mürrischer, beinahe unliebenswürdiger Gesellschafter geworden war. Ich fürchtete schon, die ersten Anzeichen von Malaria könnten sich bei ihm in dieser Weise bemerkbar machen. Aber bald wurde ich eines Besseren belehrt. Denn als ich ihm gegen Abend vorschlug, heute einmal zur Abwechselung einen kleinen Pirschgang nach dem nahegelegenen Flüßchen zu unternehmen, wo man sicherlich bei der Tränke jagdbares Wild antreffen würde, meinte er mit schlecht verhehlter Verlegenheit:
„Laß dich nicht stören, Fritz. Ich für meine Person möchte doch lieber ein Stück reiten. Bei der drückenden Schwüle zu Fuß zu gehen, ist ein recht mäßiges Vergnügen.“
Es war dies das erstemal, daß wir uns über die Verwendung unserer freien Stunden nicht einig waren. Bisher hatte stets einer dem andern sofort nachgegeben. Mein Freund brach wirklich an diesem Abend allein auf, während ich mir nur meinen eingeborenen Diener als Büchsenträger mitnahm. Als ich dann gegen zehn Uhr todmüde heimkehrte, war Erich noch nicht zu Hause. Ich legte mich sofort in meine Hängematte, nachdem ich die Ventilatoren eingestellt und die große, in der Mitte des Daches befindliche Luke geöffnet hatte, zog das Moskitonetz über mir zusammen und versuchte einzuschlafen. Aber Stunden vergingen, und noch immer war ich wach und lauschte gespannt auf jedes Geräusch, das von [47] draußen in unser Häuschen hereindrang. Und noch nie hatte mich das Kreischen der vorüberstreichenden Vögel, das dumpfe Brüllen eines beutelüsternen Leoparden und das gleichmäßige Surren der Ventilatoren so sehr gestört wie gerade heute. Auch Erichs Wolfspitz Hasso, den er sich von Europa mit herübergebracht hatte, zeigte seine Anhänglichkeit für seinen Herrn in einer Weise, die mir immer lästiger wurde. Das Tier kam nicht zur Ruhe, legte sich bald hier, bald dort zum Schlafe nieder, um nach kurzer Zeit wieder aufzustehen und langsam auf dem Linoleumfußboden mit tappenden Schritten auf- und abzuwandern. Als unsere kleine Weckeruhr die zwölfte Stunde verkündete, erhob ich mich kurz entschlossen, machte Licht und trat ins Freie hinaus. Der Zufall wollte es, daß ich in demselben Augenblick dumpfe Hufschläge vernahm und bald darauf auch ein Reiter vor mir auftauchte, dem Hasso freudig bellend entgegensprang.
„Du bist wohl unter die Nachtschwärmer gegangen, Erich?“ begrüßte ich den Freund scherzend.
Er antwortete nur mit einem unverständlichen Murmeln und warf seinem inzwischen herbeigeeilten Diener die Zügel zu. Erst als wir uns allein in unserem Häuschen befanden, stieß er plötzlich in einem eigenartig verängstigen Tone hervor:
„Du mußt mir helfen, mich retten – vor mir selbst! Wie ein wahnsinniger Rausch ist’s plötzlich über mich gekommen. Mein Blut siedet, ich fiebere am ganzen Körper. So – so hat mich dieses [48] Mädchen behext – mich, denselben Menschen, der seit Jahren jedes Weib ängstlich gemieden hat.“
Ernstlich besorgt schaute ich in sein bleiches Gesicht.
„Du faselst, Erich. Offenbar hast du Fieber. Da, in dem Medizinschränkchen liegt die Schachtel mit den Chininpulvern. Nimm schleunigst eines und dann versuche zu schlafen. Morgen aber bleibst du ruhig zu Hause. Mit einer beginnenden Malaria ist nicht zu spaßen.“
Da lachte er bitter auf.
„Ich wünschte, ich hätte Malaria! Aber leider … Das Fieber steckt bei mir im Herzen, Fritz, hier – hier!“ Er schlug sich mit der Faust dröhnend gegen die Brust. Und hastig, als ob er sein Geheimnis nicht länger für sich behalten könnte, fuhr er fort:
„Gestern abend waren wir doch in dem Dorfe – Goldari heißt’s, richtig! Du besinnst dich, daß wir dort etwa eine Stunde einer Fakirtruppe zuschauten, die den armen Hindus ihre Gauklerstückchen vorführte. Truppe ist zuviel gesagt. Es waren nur drei Personen, zwei halbverhungerte braune Kerle und – sie – sie –“
Erschreckt richtete ich mich auf.
„Wie, diese braune Schöne hat dir’s angetan, die Enkelin des alten Fakirs, den du mit deinen spöttischen Bemerkungen über seine angeblich übernatürlichen Fähigkeiten so schwer beleidigtest?“
Erich war stehengeblieben.
[49] „Laß den alten Narren und ebenso seinen Gehilfen aus dem Spiel!“ sagte er geringschätzig. „Hier handelt es sich nur um das Mädchen. Und die ist eine Zauberin – muß es sein, muß! Denn mich, den kaltblütigen, zielbewußten Menschen, mit einem Schlage so vollkommen aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen, das geht nicht mit rechten Dingen zu.“
Die letzte Bemerkung hatte mein Freund offenbar etwas sehr voreilig hingesprochen. Im Gegenteil – meiner Ansicht nach war es sogar sehr leicht zu verstehen, daß ein Mann sich in die schlanke, phantastisch aber peinlich sauber gekleidete, glutäugige Indierin verlieben konnte. Hatte das Mädchen mit ihren dunklen, unergründlichen Augen, deren Ausdruck beständig von ungezügelter Wildheit bis zur weichsten Träumerei wechselte, doch auch auf mich einen eigenartigen Reiz ausgeübt.
Ohne Scheu gestand Erich mir nun ein, daß ihn am vergangenen Abend sofort beim ersten Anblick des braunen Mädchens ein seltsames Gefühl von Unruhe überkommen hatte, über dessen eigentliche Bedeutung er sich zunächst selbst nicht klarzuwerden vermochte. Daher war er auch so schweigsam neben mir nach Hause geritten. Und in einer schlaflos verbrachten Nacht hatte er dann erkannt, daß ihn eine unbezwingliche Sehnsucht zu der Indierin hinzog, eine Sehnsucht, die sich selbst durch die angestrengteste Tätigkeit am Tage darauf nicht betäuben ließ, und der er dann abends willenlos nachgab, indem er wieder nach dem Dorfe Goldari [50] hinauseilte, nur um Lundja-Mana, die Enkelin des alten Fakirs, zu sprechen. Und das Unglück hatte es wirklich gewollt, daß er ihr bei den ersten Hütten begegnete.
Als mein armer Freund mir nichts mehr zu gestehen hatte, sann ich, bevor ich ihm antwortete, erst lange darüber nach, wie ihm geholfen werden könnte. Das eine war sicher: hier mußte sofort mit einer Radikalkur eingegriffen werden, wenn man den unheilvollen Einfluß zerstören wollte. Schießlich machte ich ihm den Vorschlag, am kommenden Morgen in aller Frühe mit der Lokomotive des Zuges, der das fertiggestellte Stück der Bahnstrecke zum Herbeischaffen des notwendigen Arbeitsmaterials des öfteren befuhr, nach Baxar hinüberzudampfen und dort einige Tage zu bleiben. Inzwischen würde dann hoffentlich die Fakirtruppe aus unserer Gegend verschwunden sein.
Erich war mit allem einverstanden. –
Der nächste Morgen brachte mir eine herbe Enttäuschung. Erich schien sein Versprechen, nach Baxar fahren zu wollen, völlig vergessen zu haben. Und als ich ihn vorsichtig daran erinnerte, brauchte er allerhand Ausflüchte, die mir bewiesen, daß sein Liebesabenteuer mit Lundja-Mana sicherlich eine Fortsetzung erfahren würde. Auf Grund unserer langjährigen Freundschaft glaubte ich mir jetzt das Recht herausnehmen zu können, ihm ernstliche Vorhaltungen über sein energieloses Benehmen zu machen. Doch zu meinem großen Schmerze erfuhr dieser gutgemeinte Freundesdienst eine Zurückweisung, deren [51] beinahe beleidigende Form mich zu dem festen Entschlusse kommen ließ, mir fortan jede Einmischung in Erichs Privatangelegenheiten zu sparen. Es war seit dem Anfange unserer Bekanntschaft unser erster Streit, der mich daher um so mehr betrübte. –
Während der nächsten drei Tage geschah nichts Besonderes. Erich und ich, die wir bisher ein Herz und eine Seele gewesen waren, gingen uns scheu aus dem Wege und sprachen nur das Notwendigste miteinander. Abends blieb ich stets allein. Mein Freund ritt immer sofort nach Arbeitsschluß davon. Wohin, wußte ich nicht. Seinen Wolfspitz Hasso vernachlässigte er vollkommen. Der arme Kerl fühlte das sehr gut und schlich beständig mit trübseligem Gesicht und hängendem Schwanze umher. Da das treue Tier mir leid tat, nahm ich es regelmäßig bei meinen abendlichen Jagdausflügen mit, wofür es mir stets auf seine Hundemanier durch freudiges Bellen und Umherspringen seine tiefe Dankbarkeit ausdrückte. Am vierten Abend hatte ich dann eine Begegnung, die neue, noch schwerere Sorgen auf meine Seele lud.
Ich war mit meiner Büchse am Ufer des nahen Flüßchens entlanggeschlichen, um womöglich einen Panther, der die Hütten unserer Arbeiter häufig umschlich und schon manches Zicklein geraubt hatte, zum Schuß zu bekommen. Hasso führte ich an der Leine mit mir, da ich fürchtete, der Hund könnte beim Umherstreifen in dem dichten Unterholz von einer der hier recht zahlreichen Giftschlangen gebissen werden. Plötzlich – ich schritt gerade einen [52] Pfad in dem Röhricht entlang, den wahrscheinlich Elefanten ausgetreten hatten – blieb der Wolfsspitz mit gesträubtem Rückenhaar stehen und starrte unverwandt in das undurchdringliche Gestrüpp, wobei er jene knurrenden Laute ausstieß, mit denen das gut dressierte Tier stets vor einer drohenden Gefahr zu warnen pflegte. Blitzschnell hatte ich den Kugellauf meines Gewehres entsichert und durchforschte aufmerksam mit den Augen jene Stelle, hinter deren grünem Blättervorhang ohne Zweifel irgendein verdächtiges Wesen lauerte. Aber vergebens suchten meine Blicke das Unterholz zu durchdringen. Schließlich hob ich die Büchse an die Schulter und stelle nach jener Richtung, als ob ich aufs Geratewohl dem unbekannten Feinde eine Kugel entgegensenden wollte. Das half.
„Sahib, schießt nicht!“ tönte es hinter dem dichten Blätterdach in gebrochenem Englisch hervor. „Ich bin’s, Sarka-Mana, der Fakir, den Ihr im Dorfe Goldart vor sechs Tagen gesehen habt.“
Und wenige Augenblicke später stand der alte Inder vor mir auf dem schmalen Elefantenpfade.
„Was treibst du hier?“ fragte ich mißtrauisch, und musterte die hagere, braune Gestalt nicht gerade freundlich. Auch Hasso knurrte den Inder höchst bedenklich an.
„Sahib, ihr werdet einem alten Manne eine Frage erlauben,“ sagte er unterwürfig. „Wo hat Sahib Kiselowsky meine Enkelin hingebracht? Sie ist seit vorgestern nacht verschwunden, und nur er [53] kann sie mir entführt haben, mir und ihrem Verlobten Dama-Schenk, meinem Gehilfen.“
Bei dieser Nachricht fuhr ich erschreckt zusammen, faßte mich aber schnell und erwiderte möglichst ruhig: „Ich kann nicht glauben, was du mir da eben von meinem Freunde erzählst, Sarka-Mana. Woher willst du auch wissen, daß gerade Sahib Kiselowsky das Mädchen fortgebracht hat und irgendwo verbirgt?“
„Ich weiß es, Sahib. Wir Fakire wissen mehr als andere Sterbliche, viel mehr,“ antwortete er ohne jede Prahlerei. „Und auch meine Enkelin werde ich finden, wenn nur erst der Vollmond über meinem Haupte leuchtet. Für den Sahib Freund aber wäre es besser, wenn er Lundja-Mana mir sofort wiedergeben würde, – sofort!“ fügte er mit drohendem Aufblitzen seiner dunklen Fanatikeraugen hinzu. Darauf schlüpfte er ohne jeden weiteren Gruß in das Gestrüpp zurück.
Da mir diese Begegnung jede Freude an der Fortsetzung meines Pirschganges gründlich verdorben hatte, kehrte ich heim, allerdings mit der festen Absicht, Erich noch heute ernstlich ins Gewissen zu reden und zu warnen, mochte daraus auch vielleicht ein völliger Bruch zwischen uns entstehen.
Ich habe meinem Freunde dann wörtlich wiederholt, was der alte Fakir gesprochen hatte, habe ihm vorgestellt, wie gefährlich es gerade in Indien für ihn sei, die Rache eines beleidigten Verwandten und eines betrogenen Verlobten herauszufordern.
Stumm, den Kopf in die Hand gestützt, hörte [54] Erich, der vor mir am Tische saß, meine Worte an. Jetzt, wo sein Gesicht von dem Schein der Lampe so scharf beleuchtet wurde, bemerkte ich den Ausdruck eines schweren Seelenkampfes auf seinen Zügen. Und da überkam mich plötzlich ein tiefes Mitleid. Warm legte ich ihm die Hand auf die Schulter.
„Erich, folge meinem Rat! Mach dich frei von diesem Mädchen, sobald als möglich, und fliehe irgendwohin, wo du Zerstreuung, Ablenkung findest! Glaube mir: dein Leben ist in Gefahr! In den unheimlichen Augen des alten Fakirs war nichts Gutes zu lesen.“
Da sagte er mit dumpfer Stimme:
„Denke von mir, was du willst. Ich kann von Lundja-Mana nicht lassen, ich kann nicht, ich kann nicht!“ Und ein verzweifeltes Stöhnen war der Nachhall seiner trostlosen Worte.
Der da vor mir am Tische saß, stellte nur noch eine klägliche Ruine des einst so schaffensfrohen, frischen Mannes dar. Unendliches Erbarmen machte mir das Herz weich. Aber ich schwieg. Eins jedoch stand bei mir fest: am nächsten Morgen würde ich meinen armen Freund, wenn es auch gewaltsam geschehen müßte, mit mir nach Baxar nehmen und ihn dort einem Nervenarzt übergeben. Denn daß Erichs Geist nicht mehr normal sein konnte, hatte mir diese Ansprache nur zu deutlich gezeigt.
Es sollte nicht sein. Das Schicksal wollte es anders. Um fünf Uhr früh begann mit einem Male – auf unserem verlorenen Posten eine Seltenheit – der auf einem kleinen Wandbrett angebrachte Telegraph zu klappern. Ein langer Papierstreifen, mit Punkten und Strichen bedeckt, rollte sich ab. Er brachte die überraschende Nachricht, daß am nächsten Tage der Radscha mit einem zahlreichen Gefolge auf unserer Station eintreffen würde, um zu Ehren seines Gastes, des Vizekönigs von Indien, Tigerjagden in dem wildreichen Revier abzuhalten. Zu gleicher Zeit wollte der Fürst den bisher fertiggestellten Teil der Bahnstrecke besichtigen.
Unter diesen Umständen war natürlich an eine Fahrt nach Baxar nicht zu denken, zumal wir damit rechnen mußten, daß der Reisemarschall des Radschas schon heute mit dem üblichen riesigen Troß anlangen würde, um das Zeltlager, besser die Zeltstadt, für seinen Gebieter mit all dem märchenhaften, farbenprächtigen Luxus aufzuschlagen, den wir schon einmal zu bewundern Gelegenheit gehabt hatten.
Und wirklich – mittags tauchte aus dem[1] westlichen Dschungel eine endlose Reihe hochbepackter Elefanten auf, und einige Stunden später waren bereits auf dem fünfhundert Meter von unserem Häuschen entfernten, langgestreckten und mit schattigen Palmen bestandenen Hügel eine Anzahl Diener mit dem Errichten der aus schwerer Seide bestehenden [56] Zelte beschäftigt. Für uns gab es natürlich gleichfalls alle Hände voll zu tun, so daß ich nicht viel Zeit hatte, trüben Gedanken nachzuhängen. Als ich dann – mein Freund wollte inzwischen unsere Garderobe für den Empfang des Fürsten einer wahrscheinlich sehr notwendigen Prüfung unterziehen – gegen Abend in unserem kleinen, gemütlichen Heim erschien, meldete mir mein Diener, daß Sahib Kiselowsky fortgeritten sei und mir sagen ließe, ich sollte mit der Abendmahlzeit nicht auf ihn warten.
Es fiel mir bei dieser Nachricht wirklich schwer, meine Enttäuschung zu verbergen. Denn wohin Erich seinen flinken Braunen gelenkt hatte, wußte ich genau - eben dorthin, wo er Lundja-Mana verborgen hielt. Er hatte also der Versuchung auch heute nicht widerstanden, trotz der gestrigen Aussprache.
So aß ich denn allein mit recht schlechtem Appetit zu Abend. Die meisten Stücke des vortrefflichen Brathuhns bekam Hasso, der wie immer einen anständigen Hunger entwickelte. Ich hatte die Tür des Häuschens offen gelassen und konnte daher von meinem Platze aus einen großen Teil der Gegend, durch die sich der frisch aufgeschüttete Eisenbahndamm wie ein graugelber Streifen hindurchzog, bequem überblicken. Während ich noch so in Gedanken versunken in das abwechslungsreiche Landschaftsbild hinausschaute, erschienen plötzlich in der Tür zwei lange, hagere Gestalten, die nach bescheidenem Gruß [57] draußen stehen blieben. Es waren Sarka-Mana der Fakir, und sein Gehilfe Dama-Schenk.
„Sahib, verzeiht die Störung,“ begann der Alte, „wir möchten Euern Sahib Freund sprechen.“
„Er ist ausgeritten,“ entgegnete ich der Wahrheit gemäß und streichelte gleichzeitig beruhigend den wütenden Hasso, der sich schon zum Sprunge niedergeduckt hatte. Fraglos waren die beiden Inder dem klugen Tiere äußerst unsympathisch.
Sarka-Manas Augen glitten inzwischen blitzschnell prüfend über die Einrichtung unseres Häuschens hin.
„Sahib,“ bat er dann in demselben unterwürfigen Tone, „ich möchte Euch allein etwas sagen, Euch allein.“ Und dabei schaute er bezeichnend nach meinem Diener hin, der eben die Teller wegräumte. Nachdem dieser von mir hinausgeschickt war, fuhr der alte Fakir mit leiser, eindringlicher Stimme fort:
„Sahib, Lundja-Mana, meine Enkelin, ist noch immer nicht zu mir zurückgekehrt. Aber in der ersten Vollmondnacht gehört sie wieder uns, nur uns! Mag Sahib Kiselowsky dem Mädchen das bestellen von mir, ihrem Großvater.“
„Und weiter wünscht Ihr nichts?“ fragte ich kurz, um die braunen, unbequemen Gesellen endlich loszuwerden.
„Nichts, Sahib. Nur vergeßt nicht: in der ersten Vollmondnacht gehört Lundja-Mana wieder uns – uns für immer!“
Als ich allein war, grübelte ich über des Alten [58] rätselhafte Worte nach. Schließlich zog ich meinen Taschenkalender hervor, um nachzusehen, an welchem Tage wir die volle Mondscheibe zu erwarten hatten. Also noch zwei Tage …
Sie vergingen infolge der Abwechslung, die der Besuch des Radscha mit sich brachte, wie im Fluge. Mein Freund aber fand immer noch Zeit, mehrere Stunden der Nacht seinen geheimnisvollen Ausflügen zu opfern, deren Ziel mir auch jetzt noch unbekannt war. Gewiß – ich hatte Erich den Auftrag des alten Fakirs getreulich ausgerichtet, jedoch nicht das geringste damit erreicht. Als einzige Antwort bekam ich von ihm zu hören:
„Mag Sarka-Mana seine Enkelin nur suchen! Im übrigen, Fritz, überlasse mich nur meinem Schicksal. Mir ist nicht mehr zu helfen.“
Um mich zu zerstreuen, unternahm ich am folgenden Spätnachmittag wieder einen Pirschgang nach dem Flusse hin. – Hasso ließ ich daheim, weil er mir letztens einen Hirsch durch seinen Übereifer verscheucht hatte. Wie ich nun gerade an einer offenen, sandigen Stelle des Ufers entlangschlich und nach Raubtierfährten suchte, bemerkte ich plötzlich frische Spuren von menschlichen Füßen, denen ich dann, einer dunklen Vorahnung nachgebend, mit aller Vorsicht folgte. So gelangte ich bald an den Rand einer Lichtung, auf der drei vereinzelte Palmenbäume standen. Unter[2] dem mittelsten saßen auf dem Grasboden vier Leute, die ihren lebhaften Armbewegungen nach in einer sehr eifrigen Unterhaltung begriffen schienen. Da ich die Gesichtszüge [59] in dem Dämmerlicht des hereinbrechenden Abends nicht unterscheiden konnte, stellte ich mein Jagdglas ein und erkannte zu meinem nicht geringen Schrecken die beiden Fakire und Sing-Lana, den entflohenen Fütterer des heiligen Elefanten. Den vierten, ganz europäisch gekleideten Eingeborenen hatte ich in der Gegend noch nie bemerkt. Anscheinend wurde er aber mit Hochachtungen behandelt.
Ich war mir nicht gleich klar darüber, was ich tun sollte. Sing-Lana hätte ich zu gern eingefangen und dem Radscha ausgeliefert. Während ich noch unschlüssig hinter dichtem Buschwerk verborgen dastand, erhoben sich die vier und trennten sich. Sing-Lana schritt allein dem Flusse zu, während die anderen drei in der Richtung nach unserem Lagerplatz verschwanden. Sofort beschloß ich, die gute Gelegenheit zu benutzen und den Hindu unschädlich zu machen.
Es gelang mir auch wirklich, den Spitzbuben völlig zu überraschen. Mit vorgehaltenem Gewehr zwang ich ihn stehenzubleiben. Da ich wußte, daß er das Englische radebrechte, machte ich ihm klar, daß er jetzt ganz gehorsam vor mir her nach dem Lager gehen müsse und daß ich jeden Fluchtversuch durch eine Kugel verhindern würde. – Wortlos, scheinbar ganz verzweifelt, tat er, was ich wünschte. Ich ließ mich durch seine vorgespiegelte Ergebung in sein Schicksal nur zu leicht täuschen und trug die Büchse lose unterm Arm, während ich hinter ihm dreinschritt. Plötzlich machte er mitten in einem dichten Dorngebüsch einen Satz nach rückwärts, warf [60] mich im ersten Anprall zu Boden und lag nun mit seiner Riesengestalt über mir, in der Rechten stoßbereit einen Dolch schwingend.
„Hund von einem Fremdling!“ keuchte er mit verzerrtem Gesicht, „du mußt jetzt sterben, wie auch dein Freund sterben wird!“
Schon glaubte ich meinen letzten Augenblick gekommen, als aus dem Gestrüpp ein grauer Tierkörper hervorschnellte und Hasso, der meiner Spur gefolgt sein mußte, sein kräftiges Gebiß in das nackte Genick des Hindu vergrub.
Entsetzt fuhr Sing-Lana herum, suchte den Hund abzuschütteln, stieß auch mit dem Dolche nach meinem treuen Retter, den mir ein gütiges Geschick gerade noch im rechten Moment gesandt hatte.
Hasso hielt fest. Und mit einem Ruck stand ich jetzt auf den Beinen und bückte mich nach dem Gewehr. Da – eine letzte, verzweifelte Anstrengung des Hindu, und es glückte ihm, sich von den Zähnen des Wolfsspitzes zu befreien. Ehe ich noch die Büchse an der Backe hatte, war Sing-Lana in den Dornenbüschen verschwunden. Hasso wollte ihm nach. Ich rief den Hund jedoch zurück, weil ich fürchtete, der Inder würde das mir jetzt doppelt liebgewordene Tier vielleicht niederstechen.
Als ich nach meiner Rückkehr Erich dieses neue Abenteuer mitteilte, ihm auch die Worte Sing-Lanas wiederholte, wurde er doch nachdenklich.
„Wer der vierte, dir unbekannte Eingeborene war,“ sagte er dann, „darüber kann ich dir Aufschluß geben: kein anderer als der Privatsekretär [61] deines unlängst verstorbenen Feindes, des Radscha Sorahmatra von Sadani.“
„Und das – das sagst du mir mit solcher Gleichgültigkeit!“ rief ich erschreckt. „Wie lange weißt du denn schon, daß dieser Spion uns auch hierher gefolgt ist?“
„Seit gestern,“ erwiderte er einfach. „Ich habe dich nicht unnötig beunruhigen wollen.“
„Und was nun?“
„Dasselbe wie bisher: über dein Zusammentreffen mit dem Hindu schweigen, abwarten und vorsichtig sein.“ – Damit schlüpfte er in seine Hängematte und wickelte sich in das Moskitonetz ein. – –
Für den Freitag hatten wir eine Einladung des Radscha zur Mittagstafel erhalten. Diese fanden wir in dem großen Wohnzelte aufs prunkvollste gedeckt und mit einer schier erdrückenden Menge silberner und goldener Tafelgeräte bestellt. Der Fürst, ein noch junger Mann mit fast europäischem Gesichtsschnitt und ganz heller Hautfarbe, behandelte uns mit großer Liebenswürdigkeit und unterhielt sich besonders eifrig mit meinem Freunde, dessen echt germanische Erscheinung – Erich war ein wahrer blonder Hüne – ihm offenbar sehr gefiel. Nach Tisch wurden die elfenbeinverzierten Ebenholzstühle, auf denen der Radscha und sein vornehmster Gast, der Vizekönig von Indien, gesessen hatten, vor das Zelt unter den baldachinartigen Vorbau getragen, während für uns und das fürstliche Gefolge elegante Feldstühle in einem Halbkreise schon bereitstanden. [62] Der Boden war weithin mit schweren Teppichen belegt, und auf dieser Bühne begannen jetzt phantastisch aufgeputzte Tänzerinnen unter den Klängen einer indischen Nationalkapelle, deren meist guitarrenähnliche Instrumente seltsam weiche, einschmeichelnde Töne hervorbrachten, ihre sinnverwirrenden, von Leidenschaft durchglühten Reigen vorzuführen. Inzwischen reichten Diener Mokka, Zigarren, Zigaretten und die feinsten Liköre herum, ebenso konnte man auf Wunsch eisgekühlte Getränke aller Art erhalten.
Nachdem die Tänzerinnen, denen der Radscha als Zeichen seines Beifalls eine Handvoll Goldmünzen zugeworfen hatte, verschwunden waren, erschienen in dem von den Zuschauern gebildeten Kreise zu meinem nicht gerade freudigen Erstaunen plötzlich Sarka-Mana, der Fakir, und sein Gehilfe Dama-Schenk, beide heute in ihrem Äußeren so vollständig verwandelt, daß ich sie erst bei genauerem Hinsehen wiedererkannte. Ihre zerrissenen, beschmutzten Lumpen hatten sie gegen helle, mit Seidentroddeln reichverzierte Mäntel vertauscht, die ihre schlanken Gestalten sehr vorteilhaft kleideten. Das Handwerkszeug zu ihren Kunststücken wurde ihnen von zwei Dienern in einem großen, viereckigen Weidenkorbe nachgetragen. In der Mitte des Kreises machten sie Halt und verbeugten sich mit über der Brust gekreuzten Armen tief vor dem Fürsten. Dieser wandte sich jetzt an meinen Freund, der einige Schritte von dem Radscha entfernt neben mir saß.
„Ich hoffe, Ihnen heute etwas ganz Besonderes darbieten zu können. Gewöhnlich zeigt Sarka-Mana, [63] der zu den berühmtesten Mitgliedern der Fakirsekte gehört, der großen Menge nur jene alltäglichen Gauklerstückchen, wie Sie und Ihr Freund sie wohl schon in Ihrem Vaterlande gesehen haben werden.“
„Wir sind Hoheit für die Entladung zu größtem Danke verpflichtet,“ erwiderte Erich mit höflicher Verbeugung. „Ganz besonders deswegen, weil ich noch nie – auch hier in Indien nicht – einen Fakir gefunden habe, dessen Leistungen nicht ein mittelmäßiger, europäischer Taschenspieler übertroffen hätte. Jedenfalls vermochte ich bisher nicht zu begreifen, wie selbst aufgeklärte Männer der Wissenschaft daran glauben können, daß die Fakire über übernatürliche Fähigkeiten verfügen.“
Des Radschas Gesicht war plötzlich merkwürdig ernst geworden.
„Sie werden anders denken lernen, noch heute, seien Sie überzeugt! Mein Leibarzt Dr. Schusterius gehörte auch zu den Zweiflern. Vielleicht sprechen Sie einmal mit ihm über das Thema, wenn Sie Sarka-Mana angestaunt haben – denn das werden Sie sicher tun.“
Dann winkte der Fürst dem alten Fakir, der bisher anscheinend völlig teilnahmslos dagestanden hatte, mit der Hand zu.
Dieser begann sein Programm sofort mit einem Experiment, das meine Zweifelsucht sehr stark ins Wanken brachte.
Er entnahm dem Weidenkorbe einen langen, buntfarbigen Seidenschleier, schwenkte ihn einige [64] Male in der Luft herum und wickelte ihn dann um einen vielleicht einen Meter langen, dünnen Ast, an dem sich noch frische, grüne Blätter befanden. Den so vollkommen eingehüllten Zweig legte er dicht vor den Füßen des Vizekönigs nieder und trat dann zurück, alles, ohne nur ein einziges Wort zu sprechen. Hierauf reichte ihm sein Gehilfe Dama-Schenk eine Flöte, auf der Sarka-Mana eine für meine Ohren äußerst melodische Tanzweise zu spielen begann. Plötzlich fing der in den Seidenschleier eingewickelte Zweig an, sich zu bewegen, erst ein wenig, dann immer heftiger, bis sich das Seidenbündel mit einem Male kerzengrade aufrichtete und aus den Falten des herabsinkenden Schleiers der platte Kopf und der halbe Leib einer Kobra, einer der gefährlichsten Giftschlangen Indiens, sich herausschälte.
Sarka-Manas Flötenspiel ging nun in ein immer schnelleres Tempo über. Und wie magnetisch von den Tönen angezogen, bewegte sich die Kobra langsam auf den alten Fakir zu, der sich inzwischen mit untergeschlagenen Beinen auf dem kostbaren, dicken Perserteppich niedergelassen hatte. Immer näher schlängelte sich das gefährliche Reptil, immer näher, bis es so dicht vor dem Flötenspieler lag, daß er es bequem mit der Hand erreichen konnte. Was nun folgte, geschah so blitzschnell, daß ich die Einzelheiten des Vorganges nicht klar zu übersehen vermochte. Jedenfalls griff Sarka-Mana plötzlich mit der Rechten nach der Kobra und schwenkte schon im nächsten Augenblick denselben belaubten Zweig in der Hand, den er vorhin in den seidenen [65] Schleier eingehüllt hatte. Die Schlange war spurlos verschwunden.
Keine Beifallsäußerung wurde laut.
Angesichts dieser verblüffenden Darbietung blieb ein jeder stumm und schaute nur mit staunender Bewunderung auf Sarka-Mana, der jetzt mit kühler Gelassenheit zu der zweiten Nummer seines Programmes schritt.
„Erhabener Fürst,“ ließ sich der Alte vernehmen, „in längst entschwundenen Zeiten, als noch die Götter auf Erden wandelten, gaben sie einem meiner Ahnen die Macht, Böse zu strafen und Gute zu belohnen. Und diese Macht ist auch auf mich übergegangen, auf Sarka-Mana, den letzten meines Geschlechts. Hier diesen Pfeil werde ich nachher in die Luft versenden, und er wird, aus den Wolken herabfallend, den treffen, der sich nicht scheut, im reinen Lichte des Vollmondes mit schwer belastetem Gewissen einherzuwandeln. Wann dieser strafende Pfeil einen für das Gericht der Götter Gezeichneten erreichen wird, – ich weiß es nicht. Sicherlich aber geschieht es nur, wenn das leuchtende Gestirn der Nacht uns sein volles Antlitz zeigt. Darum, wer sich schuldig fühlt, der mache gut, was er begangen. Noch ist es Zeit! Zum Mond hinauf steigt mein Geschoß, und der Mond versendet es wieder! Eine reine Seele schützt allein vor ihm! Haltet eure Seelen rein!“
„Unsinniges Gewäsch!“ meinte Erich, ironisch die Achseln zuckend, als Sarka-Mana schwieg.
Mir aber waren plötzlich die geheimnisvollen Worte eingefallen, die der alte Inder zweimal zu [66] mir gesprochen hatte – auf dem engen Elefantenwege im Dschungel und dann vor der Tür unseres Hauses. Beim letztenmal hatte er, wie ich mich nur zu gut besann, wörtlich gesagt: „In der ersten Vollmondnacht kehrt Lundja-Mana für immer zu uns zurück!“ Und jetzt spielte der Vollmond in seiner rätselhaften Ansprache ebenfalls eine so wichtige Rolle!
Indessen hatte der Fakir dem Radscha den Pfeil überreicht, mit der Bitte, auf eins der weißen, an dem Schaft befestigten Bänder einige Zeichen zu machen. Als zweiter schrieb dann der Vizekönig mit einem Bleistift einige Worte auf einen der schmalen Zeugstreifen.
Jetzt kam Sarka-Mana mit dem auf diese Weise gekennzeichneten Geschoß zu uns herüber und hielt es meinem Freunde hin. Dabei bückte er sich tief zu dessen Ohr herab und flüsterte ganz leise, so daß nur ich, der neben Erich saß, ihn gleichzeitig verstehen konnte: „Sahib, wenn Lundja-Mana nicht bis Mitternacht bei uns ist, dann wird dieser Pfeil des göttlichen Strafgerichts Euch treffen!“
Erich lachte nur höhnisch auf und antwortete mit einem englischen Schimpfwort, das man am besten mit „alter Halunke“ übersetzt. Dann zog er einen Bleistift hervor, breitete eines der Bänder des Pfeiles über das Knie und schrieb trotzig mit großen Buchstaben darauf:
„Lundja-Mana.“
Schweigend ging der Fakir in die Mitte des Kreises zurück, legte den Pfeil auf die Bogensehne und [67] schoß ihn senkrecht in die klare, sonnendurchstrahlte Luft hinaus. Und der Pfeil stieg höher und höher, während seine weißen Bänder hin- und herflatterten, wurde immer kleiner, bis er schließlich im Äther verschwand. Aber vergebens warteten wir darauf, daß das Geschoß, dem Gesetze der Schwere folgend, wieder zur Erde herabsinken würde. So viele Augen auch nach ihm ausschauten, niemand erblickte es – wenigstens vorläufig nicht.
Unwillkürlich schaute ich in diesem Moment zu dem Radscha hinüber. Und da bemerkte ich deutlich in dem bronzefarbenen Gesicht des jungen Fürsten ein eigentümliches Lächeln, ein Lächeln, das fraglos meinem Freunde allein galt, dessen Mienen jetzt nichts mehr von jener spöttischen Überlegenheit verrieten, mit der er vorhin die indischen Fakire auf eine Stufe mit den europäischen Zauberkünstlern gestellt hatte.
Im Gegenteil: Erichs Antlitz war mit einem Male aschfahl geworden, und als ich die Richtung seiner Blicke verfolgte, merkte ich, daß sich die seinen mit denen Dama-Schenks wie Degenklingen in tödlichem Hasse kreuzten.
Da rief auch schon der Radscha zu uns herüber:
„Nun, Master Kiselowsky, was sagen Sie jetzt?“
Erich faßte sich schnell. Zu meinem großen Befremden antwortete er, offenbar gegen seine innere Überzeugung:
„Ich bewundere ehrlich den hohen Grad von Vollkommenheit der Taschenspielerkunststücke Sarka-Manas, [68] Hoheit; etwas Außergewöhnliches kann ich aber auch jetzt nicht dabei finden.“
Der Fürst schüttelte ungeduldig den Kopf.
„Ich stelle Ihnen gern meine gesamte Dienerschaft zur Verfügung. Lassen Sie die Umgebung sorgfältigst nach dem Pfeile absuchen – niemand wird ihn entdecken, niemand. Ich sehe dieses Experiment nicht zum ersten Male von dem Fakir, weiß auch, wie es gewöhnlich endet,“ sagte er plötzlich sehr ernst hinzu. – –
Dama-Schenk entleerte nun den großen Weidenkorb seines Inhaltes, zeigte, daß er tatsächlich nichts mehr enthielt, und breitete dann wieder den flachen Deckel darüber.
So blieb der Korb eine ganze Weile auf dem dicken Teppich unberührt stehen, während Sarka-Mana und Dama-Schenk einige Meter davon bewegungslos wie Statuen in aufrechter Haltung verharrten.
Da flog plötzlich der Deckel zur Seite, und in dem nunmehr offenen Korbe richtete sich langsam eine weibliche, mit bunten Seidengewändern bekleidete schlanke Gestalt auf, eine Gestalt, die vollkommen Lundja-Mana, der Enkelin des alten Fakirs glich. Ich erkannte sie sofort wieder. Eine Täuschung war gänzlich ausgeschlossen. Und niemals werde ich das todestraurige Lächeln vergessen, mit dem die schöne Inderin meinen Freund anschaute.
[69] Erich saß, schwer atmend, fast keuchend, neben mir, den Oberkörper weit nach vorn gebeugt, und seine stieren Blicke verfolgten jede Bewegung der – sagen wir – der Erscheinung, während sein Gesicht sich langsam mit einer grünlichen Blässe überzog.
Die Szene in der Mitte des Zuschauerkreises hatte sich inzwischen vollständig verändert. Sarka-Mana stand in einer Entfernung von vielleicht sieben Schritt von Dama-Schenk, der einen mittelgroßen Kürbis in der ausgestreckten Hand hielt. In des Fakirs Hand aber blitzten zwei lange, spitze Messer, von denen er das eine jetzt prüfend wog und es dann blitzschnell nach dem Kürbis hinschleuderte. Und bis zum Heft fuhr es in die gelbe Frucht hinein.
Hierauf kam das Entsetzliche, das meine gewiß nicht verweichlichten Nerven bis zum Reißen spannte und meine Seele mit Schauern des Grauens füllte.
Blitzschnell hatte der alte Inder das zweite Messer dem ersten folgen lassen, aber sich dabei ein anderes Ziel erwählt: Lundja-Manas Herz, in dem die blitzende Stahlklinge vollständig verschwunden war. Und allmählich sank die Gestalt des braunen Mädchens zusammen und verschwand langsam wieder im Innern des aus Weiden geflochtenen Behälters. Die dunklen Augen aber ruhten, bis der Rand des Korbes sie verdeckte, noch immer mit dem gleichen, unendlich wehmütigen Ausdruck auf meinem Freunde, der zitternd wie Espenlaub, einer Ohnmacht nahe, in seinem Stuhle lehnte.
Minuten vergingen. Die Inder standen beide [70] wie die Bildsäulen mit über der Brust gekreuzten Armen da. Es war, als ob sie durch ihre völlige Bewegungslosigkeit den erschütternden Eindruck dieses furchtbaren Schauspiels noch erhöhen wollten. Und alle, die Zeugen dieses für das menschliche Begriffsvermögen gänzlich unerklärlichen Vorganges gewesen waren, befanden sich in einer Art schwerer Erstarrung, blieben regungslos, stumm, richteten ihre Blicke wie gebannt auf den Weidenkorb, als müßte aus dem hellen Geflecht jeden Moment das rote Blut der Inderin hervorfließen.
Plötzlich wurde jedoch die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf etwas anderes gelenkt. Mein Freund hatte sich, noch bevor ich ihn daran zu hindern vermochte, erhoben und war, taumelnd wie ein Trunkener, vorwärtsgeschritten. Vor dem Korbe machte er halt, stieß einen markerschütternden Schrei aus und stürzte vornüber zu Boden, wobei er den Korb im Fallen mit umriß.
Und jetzt sah man – woran ich nie gezweifelt hatte – daß dieser vollständig leer war.
Soeben hatte die Weckeruhr elf geschlagen. In unserem kleinen Häuschen saß neben dem Lager Erichs, das wir aus Decken auf dem Fußboden zurechtgemacht hatten, Dr. Schusterius, der Leibarzt des Fürsten, und prüfte eben den Pulsschlag des Kranken, der jetzt in vollkommener Apathie dalag, nachdem es uns nach stundenlangen Bemühungen [71] gelungen war, ihn aus der tiefen Ohnmacht zu erwecken. Ich selbst hatte meinen Platz an dem Mitteltische gewählt und setzte beim Scheine der verhüllten Lampe ein Chiffre-Telegramm an unsere Firma auf, die mir umgehend einen anderen Ingenieur als Ersatz für meinen sicherlich auf längere Zeit arbeitsunfähigen Freund schicken sollte.
Dr. Schusterius, ein geborener Rheinländer, der nach mannigfachen Schicksalen die Anstellung bei dem Radscha gefunden hatte, verließ jetzt leise seinen Platz und winkte mir dabei verstohlen zu, ihn hinauszubegleiten.
„Mit Ihrem Kollegen steht’s schlecht,“ sagte er draußen leise zu mir. „Das Herz setzt alle Augenblicke aus. Diese plötzlich eingetretene Herzschwäche ist mehr als bedenklich.“
Ich hatte mich bisher gescheut, dem Landsmann etwas von dem traurigen Herzensroman Erichs mitzuteilen und ihn bei dem Glauben gelassen, daß mein Freund lediglich infolge der heutigen aufregenden Vorstellung des Fakirs von diesem schweren Nervenanfall heimgesucht worden sei. Jetzt hielt ich es aber doch für geraten, dem Arzte die Wahrheit einzugestehen. Aufmerksam hörte er mir zu.
„Also so liegt die Sache,“ meinte er dann sehr ernst. „Nun begreife ich erst, wie ihn das letzte Experiment so furchtbar ergreifen konnte. Für mich unterliegt es hiernach auch keinem Zweifel mehr, daß Sarka-Mana mit voller Absicht gerade dieses Gauklerstück in sein Programm aufgenommen hat. Ihm war es fraglos darum zu tun, den weißen [72] Sahib, der ihm seine Enkelin entführt hatte, einzuschüchtern. Schade nur, daß wir nicht wissen, wo Ihr Freund Lundja-Mana verborgen hält. Sonst hätte ich doch geraten, das Mädchen schleunigst herbeizuholen, um allen weiteren unangenehmen Folgen vorzubeugen.“
Nachdem unser Patient die Arznei willig genommen hatte, verabschiedete sich Dr. Schusterius.
Ich war mit Erich allein, der regungslos auf seinem Lager ruhte. Der Mond, der senkrecht über unserem Häuschen ruhte, schien durch die offene, nur mit einem feinen Gazenetz überspannte Dachluke in das Zimmer und zeichnete auf den Fußboden ein helles Viereck. Leise surrten die Ventilatoren, und ein erfrischender Luftzug durchwehte ununterbrochen den kleinen Raum. Hasso, der Wolfsspitz, lag zu meinen Füßen, den Kopf nach seinem Herrn hin gerichtet, und schlief. Im Traume winselte der Hund bisweilen leise auf, als ob ihn irgend etwas ängstigte. Ich hatte mir ein Buch vorgenommen und las. Denn schlafen konnte ich nach dem Tage mit all seinen Aufregungen doch nicht.
Die Weckeruhr schlug dreiviertelzwölf. Mit einem Male bewegte der Kranke sich. Als ich hinsah, hatte er den Kopf in die Hand gestützt und starrte nach oben, wo der Mond durch das Gazenetz der Dachluke wie ein gelblicher, verschwommener Kreis sichtbar war.
„Kann ich dir irgend etwas reichen, Erich?“ fragte ich fürsorglich.
Er antwortete nicht, trotzdem er die Augen [73] weit geöffnet hatte. Nochmals fragte ich. Er blieb stumm.
Von fern her schallte das Kreischen einer aufgescheuchten Affenherde herüber, gleich darauf das langgezogene, schauerliche Geheul des Panthers.
Ich fühlte, wie mein Herz schneller und schneller schlug, wie mich plötzlich eine unerklärliche Angst überfiel. Das Alleinsein mit dem Kranken, der noch immer, als ob sein Geist schon völlig umnachtet wäre, zum Himmel emporstierte, wirkte auf meine überreizten Nerven immer peinigender. Vergebens zwang ich mich zum Weiterlesen. Meine Gedanken schweiften fortwährend ab. Ich überflog die Seiten und wußte nichts von ihrem Inhalt. Große Schweißtropfen standen mir auf der Stirn, meine Hände waren kalt und feucht. Da begann die Uhr zwölf zu schlagen.
Der letzte Schall war eben verhallt, als mein Freund plötzlich aufschrie. Der Schrei hatte nichts Menschliches an sich. Mit zwei Schritten befand ich mich an der Lagerstatt des Kranken, der jetzt mit weitaufgerissenen Augen auf dem Rücken lag.
Ich taumelte fast zurück, schaute nochmals hin, beugte mich vor, um genauer sehen zu können: kein Zweifel – was dort aus Erichs Brust, genau an der Stelle, wo sich das Herz befinden mußte, herausragte, war ein Pfeil – derselbe Pfeil mit den hellen Bändern am Schaft, den Sarka-Manas Bogen heute in den unermeßlichen Äther geschickt hatte … Und langsam färbte sich Erichs weißes Nachtgewand auf der Brust rot …
[74] Noch stand ich wie gelähmt da, unfähig, das Schreckliche zu fassen, als mein Freund keuchend und kaum verständlich hervorstieß:
„Verzeih mir – war schlecht zu dir – rette – Lundja-Mana – Insel im Fluß, wo – Arbeitsmaterial – –“
Dann stöhnte er noch einmal tief auf, seine Arme zuckten wie im Krampf, und alles war vorüber. –
Eine Viertelstunde später kam Dr. Schusterius, den ich durch meinen Diener hatte rufen lassen, notdürftig bekleidet, ganz atemlos angerannt. Er konnte nur noch den bereits eingetretenen Tod feststellen. Nachdem ich ihm erzählt, was seit seinem Fortgange geschehen war, wies er mit der Hand nach oben, wo in dem straff gespannten Gazenetz der Dachluke ein zackiger Riß klaffte.
„Dort ist der Pfeil hindurchgefahren,“ sagte er leise, damit die draußen die Tür umdrängende Menge der Diener und Arbeiter ihn nicht verstehen konnten.
„Woher das Geschoß aber gekommen ist, die Frage wird Ihnen niemand beantworten können, niemand!“ – – – – –
Am nächsten Vormittag machte ich mich in Begleitung des Doktors nach der kleinen Insel auf, die mitten in dem nur zwei Meilen entfernten Flusse lag und auf der wir in einer Wellblechbude das Material für den Brückenbau vorläufig untergebracht hatten, weil das Inselchen von den Eingeborenen wegen der im Flusse zahlreich vorkommenden Krokodile [75] möglichst gemieden wurde. Uns stand ein großes, flaches Boot zur Verfügung, so daß wir auch unsere Pferde mitnehmen konnten. Wir fanden das langgestreckte, niedrige Wellblechgebäude unversehrt vor. Die Tür war mit einem Vorhängeschloß fest verschlossen. Schon wollte ich mit dem Schlüssel öffnen, damit wir das Innere durchsuchen konnten, als Hasso, den ich heute auch mitgenommen hatte, auf der anderen Seite der Insel plötzlich in ein klägliches, ganz eigentümlich klingendes Geheul ausbrach, das nicht verstummen wollte.
„Kommen Sie!“ sagte da mein Gefährte kurz. „Ich kenne diese Art von Hundegeheul. Hasso hat fraglos eine menschliche Leiche gefunden.“
Durch dichtes Gestüpp mußten wir uns den Weg bis zu jener Stelle bahnen, zu der uns des Tieres langgezogene, jämmerliche Töne hinführten. Und Dr. Schusterius hatte das Richtige vermutet. Zwischen blühenden Blumen, die Hände unterm Kopf verschränkt, mit friedlichem Lächeln, als ob sie schliefe, lag dort Lundja-Mana, die Enkelin des Fakirs.
In ihrem Herzen aber steckte, bis zum Heft hineingetrieben, ein langes Messer.
Erschüttert standen wir eine Weile wortlos vor diesem rührenden Bilde. Dann sagte mein Landsmann, trübe vor sich hinnickend:
„Also auch sie hat büßen müssen! Armes, braunes Kind! Deine Liebe zu dem weißen Sahib ist dir wirklich teuer zu stehen gekommen. – Und Sie, lieber Freund, verstehen Sie jetzt die volle Bedeutung [76] all der rätselhaften Warnungen Sarka-Manas? Bis zur ersten Vollmondnacht sollte Lundja-Mana zu ihrem Großvater zurückkehren, sonst –! Und dieses ‚Sonst‘ ist pünktlich eingetreten. Morgen werden wir zwei Körper nebeneinander in die Erde betten.“
Und so geschah es auch. Auf derselben Insel wurden die sterblichen Überreste meines Freundes und der jungen Inderin unter schlanken Palmen zur letzten Ruhe bestattet. Radscha Artasa hat später über diesem Doppelgrabe einen kleinen, tempelartigen Bau aus Granitblöcken errichten lassen, so daß Erich eine würdige Grabstätte erhielt. Eine Photographie dieses einsamen, mir heiligen Platzes hängt über meinem Schreibtisch neben einem langen Pfeile mit eiserner Spitze, an dessen Schaft verschiedene helle Bänder befestigt sind. Eines von diesen Bändern, dessen Ende fast schwarz von Blut ist, trägt in großen Buchstaben die Aufschrift von der Hand meines toten Freundes:
„Lundja-Mana.“
Wie ich damals über diese ersten Wochen nach Erichs Tode hinweggekommen bin, wie es mir möglich war, ohne den zu existieren, an den ich mich so sehr gewöhnt hatte, weiß ich heute nicht mehr. Eine Stumpfheit, eine Gleichgültigkeit hatte mich befallen, die doppelt groß wurde, wenn die Tagesarbeit erledigt war und ich die Abendstunden dann allein [77] in meinem Häuschen zubringen mußte. Erst als Dr. Schusterius, der mich jetzt häufiger besuchte, meine trüben Gedanken durch den Hinweis auf meine heilige Pflicht, den Tod meines Freundes an den Übeltätern zu rächen, abzulenken verstand, kam mir wieder die alte geistige und körperliche Spannkraft zurück.
Gewiß, Radscha Artasa, auf dessen Gebiet diese zwei geheimnisvollen Todesfälle sich ereignet hatten, tat alles, um des Fakirs und seines Gehilfen, die gleich nach dem plötzlichen Abbruch der Vorführungen verschwunden waren, habhaft zu werden. Doch alle Nachforschungen nach dem Verbleib der beiden Männer waren resultatlos. Als ich mir dann noch, angeregt durch Dr. Schusterius, aus Kalkutta einen seit Jahren in Indien lebenden und mit den einheimischen Verhältnissen sehr gut vertrauten Detektiv kommen ließ und der Radscha hiervon erfuhr, teilte er mir sofort mit, daß er selbstverständlich auch die Bezahlung des Geheimagenten übernehmen würde. Jedenfalls ging schon hieraus hervor, daß es dem Fürsten mit seinen Bemühungen, Sarka-Mana und Dama-Schenk in seine Gewalt zu bekommen, völlig ernst war, woran man leicht hätte zweifeln können, wenn man die nachlässige Justizausübung in den indischen Vasallenstaaten kennt. Auch van Straaten, der allmächtige Minister des Fürsten, versicherte mir wiederholt, daß nichts unterlassen würde, was zu der Verhaftung der beiden Fakire führen könnte.
Trotzdem blieben alle Bemühungen auch nach [78] Hinzuziehung des Detektivs ohne Erfolg. Nicht weniger als ein halbes Jahr beschäftigte sich der Geheimagent mit der Aufgabe, all die Fragen zu entwirren, die das rätselhafte Ende meines Freundes mir unwillkürlich aufdrängten, – Fragen, deren Lösung mich schon damals wie eine fixe Idee beschäftigte. – – –
War Erich wirklich auf eine übernatürliche Weise gestorben? Hatte der Privatsekretär des Fürsten Sorahmatra vielleicht dabei seine Hand im Spiele gehabt? War mein Freund nur der Rache der beiden Fakire zum Opfer gefallen oder hatten noch andere Motive bei seiner Ermordung mitgesprochen? Weiter: warum war meine Person geschont worden, wenn wirklich, wofür ja das von mir beobachtete Zusammensein der vier Inder auf jener Lichtung am Flusse sprach, der Vertraute des Radscha von Sadani uns bis hierher verfolgt und mit Sarka-Mana, Dama-Schenk und dem flüchtigen Sing-Lana fraglos ein nicht ganz harmloses Komplott geschmiedet hatte?
Wie gesagt, auch der Detektiv aus Kalkutta, dem ich mich, soweit ich es für nötig hielt, anvertraut hatte, vermochte mir nicht eine einzige dieser Fragen genügend zu beantworten. Die Geschehnisse jener Tage, in denen Radscha Artasa in unserem Lager weilte, sind bis heute unaufgeklärt geblieben.
[79] Fast sieben Monate waren seit Erichs Tode vergangen, als ein anderes Ereignis mich noch einmal, und zwar zum letztenmal mit meinem grimmigen Todfeinde, dem Fütterer des heiligen Elefanten von Brolawana, und auch mit jenem Privatsekretär des verstorbenen Fürsten Sorahmatra zusammenführte.
Die Katastrophe von Para-Dschala …[WS 2]
In den Kreisen der Eisenbahningenieure aller Länder wird dieses entsetzliche Unglück nie vergessen werden. Die ganze Welt nahm Anteil daran. Mein Name als der des leitenden Ingenieurs stand damals in allen Zeitungen.
Hier die Vorgeschichte jener Katastrophe, die nichts anderes war als ein Versuch, mich beiseitezuschaffen. Heute will ich endlich die Welt hierüber aufklären, da bisher stets angenommen wurde, daß andere Beweggründe für die Urheber jener Explosion mitgesprochen hätten. –
Das schwierigst Geländehindernis für unseren Bahnbau bot das Sinpau-Gebirge, das wir nicht umgehen konnten, sondern auf irgendeine Weise durchschneiden mußten. Zu diesem Zweck war es nötig, den Para-Dschala, einen schlanken Bergkegel, auf dem sich ein uralter Hindu-Tempel befand, zum Teil wegzusprengen.
Im Gebiete des wildzerklüfteten Sinpau-Gebirges hausen die Mallak, ein der Hindu-Religion mit größtem Fanatismus ergebener, noch völlig unbezwungener Volksstamm, der weder den Radscha von Brolawana noch die Engländer als Herren anerkennt. [80] Als nun bekannt wurde, daß das größte Heiligtum der Mallak, eben jener Bergkegel Para-Dschala, der neuen Eisenbahnlinie zum Opfer fallen sollte, wurden die äußerst kriegerischen Angehörigen dieses Volkes von ihren Priestern aufs schlimmste aufgewiegelt, und ganz plötzlich begann ein offenbar sehr gut organisierter Widerstand gegen die Fortsetzung des Bahnbaues. Die Belästigungen durch die Mallak nahmen schließlich derart überhand, daß Militär herbeigeholt werden mußte, um uns gegen die Mordgier der Eingeborenen zu schützen. Trotzdem sollte für uns mit dem ersten Meißelschlag, der in den Fels des heiligen Berges getrieben wurde, eine Zeit unausgesetzter Schrecken ihren Anfang nehmen. Keine Woche verging, in der wir nicht ein paar Arbeiter durch heimtückische Kugeln verloren hätten. Wir lebten wie im Kriege, nur daß wir von unsern Gegnern höchst selten etwas zu sehen bekamen. Die wildzerklüftete Beschaffenheit des Sinpau-Gebirges kam unseren fanatischen Feinden sehr gelegen. Da gab es Schleichwege, von denen wir keine Ahnung hatten, weite, unterirdische Höhlengänge, in denen die meuchlerischen Schützen wie Gespenster verschwanden. Das uns jetzt reichlich zugeteilte Militär half wenig. Am Tage hielt es uns die erbitterten Mallak wohl vom Leibe. Kam die Nacht, so begannen die Schrecken. Schüsse knallten hier und dort. Dann ward es wieder still. Eine Bewegung im Lager. Man brachte einen Arbeiter, der plaudernd neben einem Posten draußen gestanden hatte und von einem Geschoß niedergestreckt worden war. Zwei [81] Stunden später wieder ein paar Schüsse. Bald darauf trug man einen zweiten Toten herbei. So ging es Nacht für Nacht. Gewiß, bisweilen glückte es, diesen oder jenen der braunen Bande abzufassen. Dann wurde kurzer Prozeß gemacht. Er ward an dem Gerüst eines der Gesteinbohrer aufgeknüpft. Tagelang ließen wir die Leichen dort baumeln, um die anderen abzuschrecken. Es half nichts. Jede Nacht dasselbe Spiel. Bald hier, bald da das laute, in den Felsentälern widerhallende Peng Peng der Schüsse. Und zumeist waren wir die Leidtragenden bei der Partie.
Dabei blieb’s jedoch nicht. Wir hatten über die beiden Flüsse, die der Schienenstrang durchschnitt, zwei Brücken gebaut, zur Vorsicht schon in Eisenkonstruktion. Eines Tages traf dann an unserer Arbeitsstelle die Nachricht ein, daß beide Brücken in einer Nacht in die Luft gesprengt worden waren, nachdem man die dort postierten Wachen, je fünf Mann und einen Unteroffizier, hinterrücks erschossen hatte. Das war ein harter Schlag für uns. Denn wir mußten jetzt zunächst die Arbeit am Para-Dschala einstellen, um erst die Brücken wieder notdürftig auszuflicken. Nach einem Monat waren wir damit fertig. Nun konnte der Tanz am heiligen Berge auf’s neue beginnen.
Nachdem wir dann endlich genügend Sprenglöcher gebohrt hatten, um einen Felsvorsprung, den wir scherzend „die Nase“ getauft hatten, als schwerstes Hindernis zu beseitigen, wurden die Zündschnüre gelegt und alles für die Sprengung am nächsten [82] Morgen bereitgemacht. Diese gelang vollständig. „Die Nase“ war verschwunden. Nun ging es rüstig vorwärts. Zwei Wochen später hatten wir in dem Para-Dschala schon eine recht erhebliche Ausbuchtung freigelegt und auch bereits gegen zweihundert Meter Geleis eingefügt. Es galt jetzt nur noch die letzten siebzig Meter zu bewältigen. Diese gedachte ich nach Rücksprache mit meinem neuen Kollegen, der als Ersatz für meinen Freund aus Deutschland herübergekommen war, auf einmal zu beseitigen. Hatten wir doch mit der Zeit soviel Neues hinsichtlich der Anlage der Sprengschüsse hinzugelernt, daß uns die Aufgabe gar nicht so riesengroß vorkam, wie sie dem Laien scheinen mag. Es handelte sich nach unseren Berechnungen um ungefähr 1500 Kubikmeter Gestein, die zu „bewegen“ waren, wie der Fachmann sagt. Nicht weniger als achtzig Sprenglöcher, die meisten bis zu drei bis vier Meter Tiefe, wurden in den heiligen Berg getrieben und mit Dynamit und Pulver gefüllt. Hierauf legte ich selbst mit Hilfe meines Kollegen die Zündschnüre und Pulverbahnen. Dies konnten wir wegen der großen Verantwortung unseren Leuten nicht überlassen. Aber ein Regenguß, der am Abend dieses Tages einsetzte und einige Stunden andauerte, machte unsere Mühe zuschanden. Die Zündschnüre waren durchweicht und die Pulverbahnen, die das gleichzeitige Explodieren aller Ladungen herbeiführen sollten, weggewaschen.
Dann brach der Unglückstag an. Die Nacht war kühl und sternenklar gewesen und ohne jede Störung verlaufen. Der Morgen brachte warmen [83] Sonnenschein. Unsere Arbeiter sollten die über den Felsabhang verteilten Sprenglöcher nachprüfen, ob auch kein Wasser eingedrungen war, und die Zündschnüre und Pulverbahnen erneuern. Als die Arbeiterkolonnen das Lager verlassen hatten, wie immer von einigen Soldaten begleitet, beendete ich erst noch in Ruhe mein Frühstück und machte mich dann selbst auf den Weg nach der Sprengstelle. Mein Kollege Kramer war bereits vorausgeeilt, so daß ich als einiger Nachzügler allein folgte. Als ich gerade um eine Biegung des fertigen Schienenstranges komme und vielleicht noch zweihundert Meter von der mit Dynamit und Pulver gespickten Felspartie entfernt bin, sehe ich mit einem Male einen Hindu mit langem, schwarzem Bart und großer Habichtsnase – unverkennbar Sing-Lana, der Elefanten-Fütterer – mit einer brennenden Fackel hinter einem Busche hervortreten und mit wilden Sätzen mitten unter unsere Arbeiter springen, die sich zum Teil schon auf dem gefährlichen, von Sprenglöchern durchzogenen Boden befanden.
Im Augenblick durchschaue ich die Absicht des Inders und will noch einen Warnungsruf ausstoßen. Zu spät! Ich sehe, wie Sing-Lana mit einem teuflischen Auflachen die Fackel senkt, … ich weiß, was nun erfolgen muß, werfe mich blitzschnell nieder und rolle, öfters hart aufschlagend, den steilen Bahndamm hinab. Gleichzeitig erschüttert ein ungeheurer Krach die Luft, über mir fliegen die Schienen und Schwellen wie Streichhölzer davon, losgerissen von der Gewalt der Explosion; dann saust ein Steinhagel [84] auf mich hernieder, als ob der jüngste Tag angebrochen sei, ich fühle noch einen dumpfen Schmerz an der linken Schläfe, dann ist’s aus. – Ohnmacht umfängt meine Sinne.
Erst nach Stunden erwache ich. Ich liege in unserem Holzhäuschen auf dem Bett mit verbundenem Kopfe. Soldaten unseres Bedeckungskommandos hatten mich gefunden und fortgeschafft. Von ihnen erhielt ich auch den ersten Bericht über die grauenerregende Größe dieser Katastrophe. Nicht einer von den Menschen, die sich in der Nähe der Sprengstelle befanden, war mit dem Leben davongekommen. Einhundertvierundzwanzig zum Teil bis zur Unkenntlichkeit zerfetzte Leichen lagen dort umher. Auch mein Kollege Kramer war tot; ebenso Hasso, Erichs Wolfsspitz, den ich nach meines Freundes rätselhaftem Ende an mich genommen hatte. Das treue Tier, das mich auf Schritt und Tritt begleitete, war mir weit vorausgelaufen und von dem Luftdruck der Explosion auf der Stelle getötet worden.
Einhundertvierundwanzig Opfer! Der Para-Dschala hatte den fremden Eindringlingen den Weg freigegeben – aber unter welchen Verlusten!
Am nächsten Tage trafen Radscha Artasa, Minister van Straaten, Dr. Schusterius und ein Vertreter der englischen Kolonialregierung an der Unfallstelle ein. Der Arzt stellte fest, daß ich nicht nur eine schwere Stirnwunde davongetragen, sondern mir auch den rechten Arm zweimal gebrochen hatte. Sofort wurde ich nach Brolawana gebracht, dort in einem Zimmer des fürstlichen Schlosses sorgsam gebettet [85] und von Dr. Schusterius in Behandlung genommen. Wochenlang lag ich in schwerstem Wundfieber darnieder. Mein kräftiger Körper siegte. Ich genas. – Als ich dann soweit wiederhergestellt war, daß ich mich mit meinem treuen Pfleger und Landsmann in ein längeres Gespräch einlassen durfte, war es natürlich mein erstes, mich bei ihm genau nach den Folgen der Katastrophe zu erkundigen. So erfuhr ich denn, daß man an einer entfernten Stelle des Bergkegels bei der Nachsuche nach etwaigen Verletzten auch einen elegant gekleideten Inder aufgefunden habe, der durch ein losgesprengtes, weit fortgeschleudertes Gesteinsstück getötet worden war. Die Beschreibung, die Dr. Schusterius mir von diesem in der Gegend völlig unbekannten Manne lieferte, paßte ganz genau auf den Privatsekretär Sorahmatras!
Also stieß ich hier wieder auf die beiden Menschen, die sich verschworen zu haben schienen, mich aus dem Wege zu räumen. Und da fiel es mir mit einemmal wie Schuppen von den Augen …
Mir allein hatte dieser Anschlag gegolten, der Unzähligen das Leben kostete, mir allein! Fraglos hatte Sing-Lana meinen Kollegen Kramer, der mir tatsächlich ziemlich ähnlich sah, mit mir verwechselt und aus diesem Grunde unter Opferung seines eigenen Lebens die soeben von unseren Arbeitern frisch aufgeschütteten Pulvergänge mit der Fackel angezündet. Und daß auch der Sekretär des verstorbenen Fürsten von Sadani das seinige getan hatte, um den Elefantenführer zu diesem wahnsinnigen Streiche [86] zu überreden, war ebenfalls mit Sicherheit anzunehmen. Hatte er doch – freilich ein Leichtsinn, der ihm schlecht bekommen sollte – den Erfolg dieses Massenmordes aus der Nähe mit ansehen wollen und ohne Zweifel nur aus diesem Grunde jenen Standort oberhalb der Sprengstelle gewählt, wo ihn dann das Verderben in Gestalt eines umherfliegenden Felsbrockens erreichte.
Dr. Schusterius und mit ihm die ganze übrige kultivierte Welt machten für dieses furchtbare Explosionsunglück lediglich die fanatischen, von ihren Priestern verhetzten Mallak verantwortlich. Ich ließ den deutschen Landsmann bei diesem Glauben, selbst als ich hörte, daß die englische Kolonialregierung, um dem frechen Bergvolk endlich einmal Respekt beizubringen, nicht weniger als fünfzig in einem blutigen Gebirgskriege gefangengenommene Mallak hatte standrechtlich erschießen lassen. Verdient hatten die braunen Burschen diesen Denkzettel ja mehr als reichlich.
In den Tagen, als ich geduldig auf meine völlige Genesung im Radschaschlosse von Brolawana wartete, hatte ich reichlich Muße, mir das, was nun geschehen sollte, zu überlegen. Meine beiden gefährlichsten Widersacher, Sing-Lana und der Privatsekretär, waren nicht mehr. Meine Tätigkeit sofort wieder aufzunehmen, daran konnte ich nicht denken. [87] Ein halbes Jahr mußte ich mindestens noch völlig ausspannen, bevor ich die alte, körperliche Frische erlangt haben würde. So begannen sich denn meine Gedanken langsam wieder mit dem blauen Edelstein zu beschäftigen, der jetzt auch meinem armen Freunde das Leben gekostet hatte. – Wären wir nicht nach Indien gegangen, wäre nie diese Sucht nach Reichtum in meinem Herzen entstanden! Mein Leben hätte ich dann in der alten Heimat in ruhiger Beschaulichkeit fortgesetzt, hätte den Freund mir erhalten, der jetzt auf der Insel im Flusse neben dem braunen Fakirkinde ruhte! Was halfen all die Vorwürfe – nichts – nichts! Und – wäre es nicht von mir geradezu energielos und ein Zeichen von Charakterschwäche gewesen, wenn ich jetzt ein Unternehmen, das schon soviel Opfer gekostet hatte, aufgab, zumal die Verhältnisse sich schon sehr zu meinen Gunsten verschoben hatten …? – Radscha Sorahmatra war tot, ebenso der unheimliche Verfolger, den er mir nachgehetzt hatte. Ich besaß ein kleines Kapital, von dem ich bequem einige Zeit leben und mich daher meiner Aufgabe völlig widmen konnte. Zudem hatte die Krankheit mein Aussehen so verändert, daß mich niemand so leicht wiederzuerkennen vermochte und ich ruhig wagen durfte, nochmals nach Sadani zu gehen und die Versuche zur Erlangung des Diamanten von neuem aufzunehmen. Freilich – im übrigen erschwerten noch dieselben Hindernisse wie damals, als wir von Madras aus den resultatlosen Ausflug nach Sadani machten, die Durchführung meiner Pläne. Das verhehlte ich mir [88] keineswegs. Und doch ließen sich all diese Gedanken aus meinem Ideenkreise nicht mehr verdrängen. Endlich, nach langem Zögern, kam ich zu einem Entschlusse und ging dann auch sofort an die Verwirklichung meiner Absichten.
Ich beantragte telegraphisch bei meiner Firma unter Verzicht auf mein Gehalt einen längeren Erholungsurlaub, der mir auch umgehend gewährt wurde. Sodann reiste ich nach herzlichem Abschiede von dem Radscha, van Straaten und Dr. Schusterius nach Kalkutta ab. Als ich mir hier auf dem Postamt inzwischen vielleicht aus der Heimat eingetroffene Briefe abholen wollte, wartete meiner eine neue, traurige Überraschung. Meine Mutter war gestorben, – einsam, verlassen, während ich in wilden Fieberdelirien im Schlosse von Brolawana lag. So stand ich jetzt ganz allein da, hatte niemand mehr auf der weiten Welt, niemand. – Nachdem ich die erste dumpfe Trauer überwunden hatte, gedachte ich sofort nach Europa zurückzukehren. Die Sehnsucht trieb mich an das Grab der Frau zu eilen, deren stille Herzensgüte meine Jugend so reich gemacht hatte. Es kam anders. Im deutschen Klub in Kalkutta hörte ich zwei Tage später – ich mußte so lange auf den fahrplanmäßigen Dampfer warten – von einem mir bekannten deutschen Schiffskapitän, der mit mir über freigewordene Anstellungen im Gebiete des indischen Kaiserreichs sprach, daß der junge Radscha Matasana von Sudani für seine Privatjacht einen Maschineningenieur suchte, der auch zugleich imstande sei, die [89] elektrischen Lichtanlagen des Schlosses in Ordnung zu halten. Eine Stunde später erschien Dr. Graeber im Klub, jener Forschungsreisende, mit dem wir damals in Madras zusammengetroffen waren. Der Zufall fügte es, daß er im Laufe der Unterhaltung ganz nebenbei erwähnte, er sei mit dem jungen Fürsten Matasana persönlich befreundet, da sie beide im vorigen Jahre längere Zeit gemeinsam auf Java Tiger gejagt hätten. Blitzschnell brachte ich diese beiden Nachrichten in einen für mich aussichtsvollen Zusammenhang. Hier bot sich endlich eine Möglichkeit, meinem Ziele näherzukommen. Die Schwierigkeit war nur, mir auf einen anderen Namen lautende Legitimationspapiere und Zeugnisse zu besorgen. Mein Name mußte ja auch dem Sohne Sorahmatras nur zu gut bekannt sein. Da schoß mir aber auch schon ein rettender Gedanke durch den Kopf. Ich nahm Dr. Graeber beiseite, sagte ihm, daß ich Lust hätte, mich um die Ingenieurstelle bei dem Radscha zu bewerben, und fügte schließlich die Bitte hinzu, er möchte mir doch ein Empfehlungsschreiben an den Fürsten mitgeben.
„Leider dürfte aber der Name Sander,“ erklärte ich weiter, „bei dem Fürsten nicht gerade angenehme Erinnerungen erwecken. Mein Vater hat nämlich auf einer seiner geschäftlichen Reisen nach Indien mit dem alten Radscha Sorahmatra wegen eines Perlenankaufs einen langwierigen Prozeß führen müssen, der schließlich zu Ungunsten des Fürsten entschieden wurde, was diesen große Summen kostete. Es ist daher mehr als zweifelhaft, ob Matasana einen [90] Träger desselben Namens, der zudem noch der Sohn jenes alten Widersachers des Fürstengeschlechts von Sudani ist, in seine Dienste nehmen wird. Ich möchte nun, um dieses Hindernis zu umgehen, den Namen meines bei der Para-Dschala-Katastrophe verunglückten Kollegen Kramer annehmen, der ja auch wie ich Ingenieur war. Kramers Papiere führe ich bei mir, da ich die Absicht hatte, sie von hier aus an seine in Deutschland lebenden Verwandten zurückzusenden. Dieser kleine Betrug wird ja niemanden schädigen. Die Hauptsache ist doch, daß der Radscha einen zuverlässigen Menschen erhält, und der bin ich; meine Zeugnisse stehen Ihnen zur Verfügung.“
Um es kurz zu sagen: meine Notlüge hatte Erfolg. Bereits zwei Tage später, nachdem mir der Fürst auf meine telegraphische Anfrage, ob die Stelle noch frei sei, bejahend geantwortet und meine persönliche Vorstellung erbeten hatte, dampfte ich auf dem Seewege über Madras nach Sadani.
Ob Kramers erstklassige Zeugnisse oder die Empfehlung Dr. Graebers den Ausschlag gaben, weiß ich nicht. Jedenfalls trat ich gleich am Tage meiner Ankunft mit einem sehr günstigen Kontrakt in die Dienste Matasanas. Jetzt hatte ich reichlich Gelegenheit, mich im Schlosse umzusehen und Pläne zu entwerfen, um mit List mein Eigentum zurückzugewinnen. Doch all diese Pläne, die ich in schlaflosen Nächten in allen Einzelheiten mir aufbaute, stellten sich hinterher immer wieder als undurchführbar heraus.
So verging fast ein volles Jahr. Häufig genug [91] ist mir in dieser Zeit die Idee gekommen, mich dem Radscha anzuvertrauen und ihm ehrlich die Geschichte des blauen Diamanten und die Schicksale meines Vaters mitzuteilen. Doch der Erfolg erschien mir immer wieder zu zweifelhaft. War mein Vater damals mit Wissen und Willen Sorahmatras in jenem Verließ gefangengehalten worden, so wußte sicherlich auch sein Sohn und Nachfolger von der Sache, und ich hätte mich dann durch meine Offenherzigkeit nur der Gefahr ausgesetzt, auf irgendeine Weise heimlich beseitigt zu werden. Kannte Matasana dagegen ebensowenig wie sein Vater den wahren Sachverhalt, so war es doch mehr als ungewiß, ob er meiner Erzählung Glauben geschenkt hätte. Mir fehlten ja die Beweise! Der einzige war jener Brief meines Vaters gewesen, und den hatte ich eines Tages nach Erichs Ende in Brolawana, damit er bei meinem plötzlichen Tode nicht in unrechte Hände geriete, voreilig verbrannt. Diese Überlegungen ließen mich schweigen. Zum Glück, wie die Zukunft zeigte.
Es war im Herbst 1902. Die Jacht „Godawari“ lag gerade zur Reparatur einer leichten Bodenbeschädigung im Trockendock in Madras, als ich ein Schreiben meines Herrn erhielt, in dem mir befohlen wurde, sofort nach beendeter Ausbesserung des Schiffes nach Sadani zu fahren, vor der Burg vor Anker zu gehen und dort weitere Befehle abzuwarten. Gerade damals war unser Kapitän an Malaria schwer erkrankt und mir die Führung des Schiffes übertragen worden, da der Fürst den ersten [92] Steuermann, der den Alkohol etwas zu sehr liebte, für zu wenig zuverlässig hielt, um ihm das Kommando über die prächtige Luxusjacht, die anderthalb Millionen Mark gekostet hatte, allein zu überlassen. Als ich mich, vor Sadani angelangt, bei dem Fürsten meldete, wurde ich in sein Arbeitszimmer geführt, in dem sich außer ihm nur noch ein alter Brahmane namens Askari befand, der schon der vertraute Ratgeber Sorahmatras gewesen war. Der Radscha begrüßte mich freundlich wie immer und fuhr nach einigen Fragen, die den Zustand der Jacht betrafen, mit leiser Stimme fort:
„Master Kramer, Sie sind nun schon seit einem Jahre in meinem Dienst und haben sich in dieser Zeit mein volles Vertrauen erworben. Einen Beweis dafür will ich Ihnen heute geben. Sie wissen, daß ich mir in Midnapur bei Kalkutta einen neuen Palast habe bauen lassen, den ich fortan den größten Teil des Jahres zu bewohnen gedenke. Es sollen also in nächster Zeit hier aus Sadani alle kostbaren Gegenstände dorthin gebracht werden, und ebenso will ich auch meine sämtlichen Schätze in den in Midnapur eingerichteten Stahlkammern unterbringen. Wie Ihnen vielleicht bekannt sein wird, besteht der wertvollste Teil dieser Schätze aus einer Sammlung von Edelsteinen, die von meinen Vorfahren angelegt worden ist. Darunter befinden sich mehrere sehr seltene Diamanten. Diese Sammlung nun sollen Sie und Askari, so habe ich es mit dem alten Freunde meines Vaters verabredet, auf meiner Jacht nach Kalkutta und von dort mit der Bahn nach [93] dem neuen Schlosse in Midnapur bringen. Ich habe mich für diese Art der Überführung entschieden, da sie mir am sichersten erscheint. Der Transport auf der langen Bahnstrecke zu Lande ist mir zu gefährlich. Beraubungen von Eisenbahnzügen sind gerade in der letzten Zeit sehr häufig gewesen, und da ich bei Benützung des Landweges notwendig eine größere Anzahl von Personen ins Vertrauen ziehen müßte, würde sich die Gefahr eines Überfalles nur vergrößern. So aber werden nur wir drei wissen, welche kostbare Ladung die ‚Godawari‘ trägt. Auf Ihr Schweigen verlasse ich mich natürlich ebenso wie auf das Askaris.“
In welcher Erregung ich mich damals befand, ist leicht erklärlich. Die Gelegenheit, mein langjähriges Vorhaben auszuführen, war gekommen. Ich schwankte keinen Augenblick, um so weniger, als ich fest überzeugt war, daß der alte Radscha Sorahmatra damals meinen Vater schmählich um sein Eigentum betrogen hatte.
In aller Stille traf ich meine Vorbereitungen. Vierzehn Tage hatte ich noch Zeit. Ich fuhr, angeblich um für die „Godawari“ einige Maschinenteile zu ergänzen, nach Madras, hob meine Barmittel, die durch meine Ersparnisse eine ziemliche Höhe erreicht hatten, von der Filiale der Ostindischen Bank ab, erkundigte mich genau nach den Abfahrtszeiten der großen Dampferlinien nach Kalkutta und kam darauf nach Sadani zurück, ohne irgendwie Argwohn erregt zu haben.
In einer dunklen Nacht stiegen dann der Fürst, Askari und ich in die Gewölbe hinab, nachdem Matasana die beiden ständigen Wachen fortgeschickt hatte. Was ich damals geschaut, wird wohl selten einem gewöhnlichen Sterblichen vergönnt sein. Ich hatte schon immer von dem unermeßlichen Reichtum meines Herrn sprechen hören, aber was meine Augen bei dem Schein unserer hellen Azetylenlampen in Schränken und Truhen aufblitzen, funkeln und gleißen sahen, übertraf alle meine Vorstellungen. Lange Zeit habe ich wie betäubt dagestanden, keines Wortes mächtig. Dann kam es wie ein Fieber über mich, meine Hände bebten, auf die Stirn trat mir kalter Schweiß. Meine Gedanken jagten sich, neue Pläne durchzuckten mein Hirn.
Da fühlte ich den Blick Matasanas, der durchdringend auf meinem bleichen Gesicht zu forschen schien. Ich nahm mich zusammen, zwang mich unter Aufbietung meiner ganzen Energie zur Ruhe. Aber dennoch führte ich wie im Traume des Fürsten Anordnungen aus. Er hatte einen eisernen Schrank von alter indischer Schmiedeart geöffnet und reichte uns wortlos die kleinen, aus Ebenholz gefertigten Kästchen zu, in denen[3] die wertvollen Steine aufbewahrt wurden. Askari und ich legten sie ebenso wortlos in die Lederkoffer. – – –
Am Morgen bereits machte die „Godawari“ seeklar, und bald befanden wir uns auf dem offenen Meere, steuerten Kalkutta zu. – – –
[95] Am Abend des zweiten Tages war’s. Wir kreuzten gerade in der Bai von Bengalen gegen einen böigen Nordost auf, als ich dem Inder in die Fruchtlimonade, die er regelmäßig zu trinken pflegte, ein unschädliches Schlafmittel mischte. Dann stieg ich an Deck, um die Wachen zu revidieren, und kam erst nach einer Viertelstunde wieder nach unten. Askari lag auf dem Diwan, auf dem er die Nächte, nur eingehüllt in eine dünne Decke, zubrachte, neben ihm aber standen wie immer die beiden braunen Lederkoffer.
„Ich bin müde, Kramer,“ sagte er noch wie erklärend. „Die Seekrankheit hat mich doch sehr angegriffen.“
Bald war er fest eingeschlafen. Ich wartete eine halbe Stunde und horchte auf die regelmäßigen Atemzüge des alten Mannes. Dann begann ich ihn zu rütteln. Er schlief aber wie ein Toter und murmelte auf meine Anrufe nur unverständliche Worte vor sich hin.
Eine starre Ruhe war über mich gekommen. Ohne Hast führte ich meinen Plan weiter aus. Ich hatte mir alles genau überlegt. Nachdem ich die Kajütentür verschlossen und die Oberlichtfenster dicht verhängt hatte, nahm ich Askari vorsichtig die kleinen Schlüssel zu den Patentschlössern weg, die er an einer Schnur um den Hals trug, öffnete die Koffer und durchsuchte die kleinen Ebenholzkästchen, die durch einen Druck auf einen Perlmutterknopf aufsprangen.
Endlich fand ich den blauen Diamanten – mein Eigentum! Er lag auf einem Bett von weißer [96] Seide, und ein Bündel farbiger Lichtstrahlen leuchtete auf, als der Schein der Lampe ihn traf. Ich hätte aufjubeln mögen in dem Augenblick, da ich endlich am Ziel war. Noch ein schneller Blick zu dem Brahmanen hin, dann ließ ich den Stein in meine Tasche gleiten und legte in das leere Etui einen zusammengefalteten Zettel hinein, den ich schon vorher geschrieben hatte. Darauf stand:
- „Ich heiße nicht Kramer, sondern Sander, bin ein Sohn jenes deutschen Kaufmannes, dem der Radscha Sorahmatra den blauen Edelstein raubte. Ich habe nur zurückgenommen, was mir von Rechts wegen gehört!“
Askari rührte sich nicht, als ich ihm die Schnur mit den Schlüsseln wieder umhängte.
Nun hieß es den Diamanten verbergen, so verbergen, daß niemand ihn bei mir finden konnte. Auch daran hatte ich gedacht! In einem Schälchen mischte ich Gips und umgab damit den Stein, so daß er ungefähr Taubeneigröße bekam. Als die Gipsschicht hart geworden war, rieb ich den derartig präparierten Stein dick mit Fett ein und – würgte ihn hinunter. Ich wußte, daß Gegenstände von solcher Größe den Magen nicht passieren können, sondern sich darin festsetzen. Nun mochte man suchen! – – –
Der Brahmane erwachte am nächsten Morgen mit etwas dumpfem Kopf, schrieb aber seine Mattigkeit der Seekrankheit zu, die ihm gleich am ersten Tage sehr zugesetzt hatte.
[97] Der Rest unserer Reise verlief ohne Zwischenfall. Ich hatte es so eingerichtet, daß wir gerade zwei Stunden vor Abgang eines großen Dampfers in Kalkutta anlangten und ließ mich sofort an Land rudern, um, wie ich Askari sagte, bei der Hafenpolizei die vorgeschriebenen Meldungen zu erstatten. Mein Geld und meine Papiere trug ich bei mir. In einem Warenhause kaufte ich mir noch schnell die notwendigste Reiseausrüstung und einige Kleider und befand mich zehn Minuten vor Abfahrt der „Ozeana“ an Bord. Als ich mich dann in meiner Kabine umgezogen hatte – mein dunkler Bart war dem Messer eines chinesischen Barbiers zum Opfer gefallen – hätte wohl so leicht niemand in mir den einstigen Ingenieur der ‚Godawari‘ wiedererkannt. – –
Fünf Wochen später kam ich in San Franzisko an. Hier war es, wo ich mich bei einem berühmten Professor untersuchen ließ. Der Arzt erklärte mir – ich hatte ihm von einem gewöhnlichen Stein erzählt, den ich zufällig verschluckt hätte – daß der Fremdkörper sich an der Magenwand festgesetzt habe und nur durch eine Operation zu entfernen sei. Diese Operation ließ ich jedoch nicht vornehmen, sondern verschob sie auf später. Dann reiste ich von Land zu Land. Aus Furcht vor Verfolgern hielt ich mich niemals längere Zeit an demselben Orte auf, denn ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß der Radscha Matasana alle Anstrengungen machen würde, den blauen Diamanten wieder in seinen Besitz zu bringen, und sein Reichtum erlaubte [98] es ihm ja auch, die gewandtesten Detektive auf meine Spur zu hetzen. Ende des Jahres 1903 – ich kam gerade nach Kapstadt – bewies mir ein Erlebnis an Bord des Lloyddampfers „Bismarck“, daß meine Vorsicht durchaus nicht überflüssig gewesen war.
Der Zufall spielt bisweilen merkwürdig, so auch damals. Auf dem „Bismarck“ befanden sich unter den Passagieren auch drei höhere englische Kolonialbeamte, die über Sansibar nach Indien zurückkehren wollten. Neben ihnen saß ich eines Abends im Speisesalon. Die drei Herren, Vertreter der englischen Aristokratie, spielten um ziemlich hohe Einsätze Makao und sprachen in den Pausen sehr ungeniert über wichtige Vorfälle in der Kapkolonie, erwähnten auch einen großen Diamantendiebstahl, dessen Opfer wenige Tage vorher einer der bedeutendsten Juweliere in Kapstadt geworden war. Bei dieser Gelegenheit erinnerte der eine der Herren seine Mitspieler an den noch immer unaufgeklärten Raub des berühmten blauen Diamanten des Radscha Matasana, äußerte auch, daß damals trotz der sofort aufgenommenen Verfolgung der Dieb – das war ich – entkommen sei, und man von dem wertvollen Steine nie mehr etwas gehört habe.
Am interessantesten an diesem Gespräch war mir aber eine Bemerkung, die ein anderer der Engländer einfließen ließ. Danach sollte der Fürst die Suche nach dem geraubten Stein auffallend lässig betrieben und jede Mitwirkung der Behörden ebenso wie die Hilfe der Presse abgelehnt haben, so daß man in eingeweihten Kreisen sogar auf die Vermutung [99] kam, der Radscha habe die ganze Diebstahlsgeschichte aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen nur erfunden.
Nun, dieses Rätsel hätte ich den Herren ganz gut lösen können! Matasana hatte eben gefürchtet, daß durch irgendeinen Zufall das Verbrechen seines Vaters aufgedeckt werden könnte und wollte daher der Öffentlichkeit möglichst wenig Gelegenheit geben, sich mit der Sache zu beschäftigen.
Ich wartete darauf noch ein Jahr, bevor ich nach Deutschland zurückkehrte, um mir den Stein, der mich in der letzten Zeit schon stark belästigt hatte, durch eine Operation aus dem Magen herausnehmen zu lassen. Jedoch verschiedene Ärzte, an die ich mich wandte, ließen sich durch die auffallenden Bedingungen, mit denen ich meinen Besuch einleitete, abschrecken und lehnten mein Ansinnen rundweg ab. Freilich, diese Bedingungen waren auch merkwürdig genug. Und doch mußte ich die Vornahme der Operation von der genauesten Erfüllung meiner Wünsche abhängig machen. Das erforderte meine Sicherheit. Ich mußte ja mein Geheimnis auch weiterhin bewahren – wenigstens solange, bis ich den Diamanten verkauft hatte.
Eines Tages entdeckte ich dann, als ich mich gerade in Berlin aufhielt, in einem entlegenen Vorort das Schild eines Arztes, das offenbar erst vor ganz kurzer Zeit dort angebracht worden war. Als ich mich bei dem Portier des Hauses erkundigte, ob meine Vermutung zutreffe und Dr. Sprengel noch ein Anfänger sei, bejahte der Mann meine [100] Frage mir einem vielsagenden Lächeln. „Er ist vor zwei Wochen eingezogen, mein Herr. Und zu tun hat er natürlich noch nichts.“
Unschlüssig überlegte ich. Sollte ich hier meinen Versuch wiederholen? Vielleicht ging dieser Doktor Sprengel, der ein gutes Honorar sicher gebrauchen konnte, auf meine Bedingungen ein.
Da die Nachmittagssprechstunde noch nicht vorüber war, stieg ich kurz entschlossen die läuferbelegte Treppe zur ersten Etage empor und läutete.
Eine Frau mit weißer Haube auf dem grauen Haar öffnete und führte mich in das kleine Wartezimmer, nach dessen Einrichtung zu urteilen es dem jungen Arzt pekuniär nicht gerade glänzend gehen konnte. Meine Aktien stiegen.
Nach einer Weile rief mich Dr. Sprengel dann in sein Konsulationszimmer.
„Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?“ fragte er höflich, und forderte mich durch eine Handbewegung zum Niedersitzen auf.
„Herr Doktor,“ begann ich nach einem prüfenden Blick in sein frisches, offenes Gesicht, „bevor ich mit meinem Anliegen an Sie herantrete, muß ich Sie bitten, mir ehrenwörtlich Stillschweigen über alles das zu geloben, was wir vielleicht zu verhandeln haben. Ich möchte jedoch sofort bemerken, daß ich Sie als Arzt konsultieren will und daß meine – Behandlung Ihnen ein ganz schönes Stück Geld einbringen kann.“
Der junge Arzt stutzte bei diesen Worten genau so wie seine übrigen Kollegen, die ich bisher aufgesucht [101] hatte. – Diese Einleitung war doch etwas sehr merkwürdig! – Aber schnell gefaßt erwiderte er: „Wir Ärzte sind verpflichtet, das Berufsgeheimnis zu wahren. Also dürfte sich die Abgabe eines Ehrenwortes wohl erübrigen!“
Doch ich schüttelte bedächtig den Kopf.
„Das weiß ich sehr wohl, Herr Doktor. Ich muß aber trotzdem bei meiner Bedingung bleiben. Gehen Sie nicht darauf ein – nun gut, so zahle ich Ihnen die Gebühr für Ihre Zeitversäumnis, und Sie verlieren vielleicht – Tausende!“
Sprengel zuckte bei diesen Worten doch zusammen. Nach kurzem Überlegen sagte er:
„Ich setze natürlich voraus, daß Sie wirklich nur meine ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen wollen, und daß es sich um keine Sache handelt, die mich irgendwie mit den Gesetzen in Konflikt bringen könnte.“
Wieder blickte ich ihn prüfend an und schien auf dem Grunde seiner Seele lesen zu wollen. – „Und Ihr Wort soll sich auf alles beziehen, was heute hier zwischen uns besprochen wird?“ fragte ich dann mit Betonung.
„Jawohl – auf alles.“
„Gut denn,“ erwiderte ich aufatmend, da die bisherigen Unterredungen dieser Art schon bei diesem Punkt stets ein Ende gefunden hatten, „schlagen Sie ohne Sorge ein, Herr Doktor! – Der Handschlag eines Mannes gilt mir mehr als das gesprochene Wort!“
[102] Einen Augenblick ruhten unsere Hände mit festem Druck ineinander.
Und nun band ich ihm notgedrungen unter Verschweigen meines wahren Namens jenes Märchen auf, das ich mir längst zurechtgelegt hatte.
„Hören Sie meine Geschichte, Herr Doktor! Ich heiße Heinrich Gabler und bin in der Provinz Sachsen geboren. Mein Beruf als Seemann führte mich durch die ganze Welt. Ich versuchte mich auch in anderen Stellungen. In Südafrika besaß ich jahrelang eine Farm, verkaufte sie günstig und wurde dann Eigentümer einer Bark. Durch einen unglücklichen Zufall habe ich nun vor Jahren in einer großen Stadt Hinterindiens einen Kristall verschluckt, der sich in meinem Magen festsetzte und durch keinerlei Mittel zu entfernen war. Damals ging ich natürlich sofort in eine Klinik und ließ mich genau untersuchen. Die Ärzte sagten mir, daß der Stein sich vermutlich an der linken Magenwand gelagert habe und mich voraussichtlich kaum belästigen werde. Seitdem sind Jahre vergangen, und ich trage den Stein noch immer mit mir herum. In der letzten Zeit verursachte er mir Beschwerden. Mein Appetit hat nachgelassen, und ich leide auch häufig an starkem Magendrücken. Von diesem jahrelangen, mir jetzt unbequemen Begleiter sollen Sie mich nun auf operativem Wege befreien, Herr Doktor.“
Der junge Arzt hatte aufmerksam zugehört.
„Aber weshalb wenden Sie sich denn in diesem Falle nicht an einen Chirurgen, der eine Klinik besitzt?“ fragte er verwundert. „Ich kann eine [103] derartige Operation hier in meinem Hause kaum ausführen, jedenfalls nicht, ohne einen Kollegen hinzuzuziehen. Und um ganz offen zu sein: – Sie kommen sicherlich auch billiger weg, wenn Sie sich in einer Klinik behandeln lassen!“
Ich lächelte.
„Ich begreife Ihr Erstaunen. Jedoch habe ich zu diesem Massenbetrieb in unseren großen Krankenhäusern kein rechtes Vertrauen. Meine Mittel gestatten mir außerdem, alle Unkosten, die, wie ich mir selbst schon überlegt habe, nicht gering sein werden, mit Leichtigkeit zu tragen, denn ich will ja auch das Krankenlager nach der Operation hier bei Ihnen durchmachen, und dazu würden doch gewiß noch verschiedene Anschaffungen nötig sein.“
Sprengel wurde die Sache offenbar immer rätselhafter. Bevor er antwortete, überlegte er nochmals prüfend meine bisherigen Angaben. Ich las ihm die Gedanken förmlich vom Gesicht ab. – Gewiß, manches Merkwürdige fand sich in meiner Erzählung, mochte er sich sagen. Alles nur Andeutungen, die ebenso gut erfunden sein konnten. Andererseits - aus welchen Gründen sollte er das Ansinnen dieses Sonderlings ablehnen? Der Mann verlangte von ihm nichts als ärztliche Hilfe, hatte sich wahrscheinlich gerade an ihn gewandt, weil er bei einem wenig beschäftigten Arzte die sorgfältigste Pflege erhoffte.
So erwiderte er denn:
„Ich gehe auf Ihren Vorschlag ein, Herr Gabler. Ein Bekannter von mir ist erster Assistenzarzt [104] an der chirurgischen Klinik. Ihn werde ich hinzuziehen. Bei dem heutigen Stande der Operationskunst gehört ja die Entfernung eines Fremdkörpers aus dem Magen nicht einmal zu den besonders schwierigen Eingriffen. Komplikationen sind allerdings immer möglich. Aber bei Beobachtung aller Vorsichtsmaßregeln glaube ich Ihnen doch einen guten Erfolg versprechen zu können.“
Ich nickte befriedigt. Die energische Art des jungen Arztes gefiel mir.
„Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Es freut mich, daß wir einig geworden sind. Doch muß ich Sie natürlich bitten, auch Ihren Freund, den zweiten Arzt, in derselben Weise zum Schweigen zu verpflichten. Auch dürfte es zweckdienlich sein, ihr Dienstpersonal nur in das Notwendigste einzuweihen. Mir kommt es aus bestimmten Gründen, die ich für mich behalten möchte, darauf an, daß ein möglichst kleiner Kreis von Personen von dieser Sache erfährt.“
Sprengel stutzte nun doch wieder. Was konnte mich wohl nur veranlassen, so sehr auf Geheimhaltung der Operation zu dringen? mochte er sich abermals fragen.
Ich las diese Gedanken deutlich von seiner nachdenklich gerunzelten Stirn. Alles stand jetzt auf dem Spiel. – Schnell holte ich meine Brieftasche hervor und reichte ihm 500 Mark in Banknoten hin.
„Hier ist vorläufig eine Anzahlung, Herr Doktor. Davon sollen Sie die nötigen Auslagen bestreiten. Über das weitere Honorar werden wir uns schon verständigen. Mit Ihrem Bekannten können [105] sie selbst die nötigen Abmachungen treffen und brauchen dabei meinen Geldbeutel nicht zu schonen. Überhaupt – lassen Sie es an nichts fehlen, mir kommt es auf hundert Mark mehr oder weniger wirklich nicht an.“ – Dann erhob ich mich. „Übermorgen werde ich mir Bescheid holen. Und nochmals – ich bitte um Ihre Hand, daß sie meine Bedingungen gewissenhaft erfüllen.“
Etwas zaudernd streckte der junge Arzt mir die Rechte hin.
Da lächelte ich ihn wieder zuversichtlich an.
„Sie werden diese Konsultation nicht zu bereuen haben, – nie! Und – den Kristall, den ich so lange bei mir getragen habe, müssen sie mir sorgfältig aufbewahren. Ich möchte ihn mir zum Andenken mitnehmen!“
Dann verabschiedete ich mich, und Dr. Sprengel geleitete mich höflich hinaus. Die fünf blauen Scheine hatten ihre Schuldigkeit getan. Aber an der Korridortür fragte er noch:
„Wäre es nicht besser, Herr Gabler, wenn Sie mir Ihre Adresse angeben würden?“
Ich wohne hier in einem Pensionat und bin wenig zu Hause. Es ist mir bequemer, wenn ich selbst übermorgen nachfragen kann. – Guten Abend, Herr Doktor – auf Wiedersehen!“
Im Sprechzimmer Dr. Sprengels standen die Fenster weit offen und ließen die frische Luft des warmen Maitages in den von Chloroformgeruch [106] erfüllten Raum hinein. Die beiden Ärzte waren eben dabei, die Instrumente zu reinigen und fortzupacken. Frau Kniefke, die Wirtschafterin mit dem weißen Häubchen, ging geräuschlos hin und her, wusch mit einem Schwamm den Operationstisch ab, trug die Schüsseln hinaus und schaute bisweilen auch nach dem neuen, einfachen Feldbett hinüber, auf das man mich gelegt hatte. Ich war schneller aus der Narkose erwacht, als Dr. Sprengel und sein Kollege Winter vermuten konnten, und wenn ich auch noch nicht imstande war, außer den Augenlidern auch nur ein Glied zu rühren, so hörte ich doch bereits jedes Wort, das die beiden wechselten, und vermochte auch hin und wieder mit unsicherem Blick das Zimmer zu überschauen.
Doktor Winter sagte eben halblaut zu seinem Kollegen, indem er mit Bürste und Seife den soeben herausgeschnittenen „Bergkristall“ von den anhaftenden Unreinlichkeilen zu säubern begann:
„Ich glaube, wir können mit dem Resultat der Operation zufrieden sein. Unser Patient wird bei seiner robusten Gesundheit auch die Folgen bald überstanden haben.“
„Hoffentlich!“ meinte Sprengel in aufrichtigem Mitgefühl. „Ich wünsche ihm jedenfalls das Beste. Seine in jeder Beziehung vornehme Denkungsart, die aus so vielen kleinen Zügen hervorleuchtete, hat ja auch meine letzten Zweifel zerstreut, und jetzt freue ich mich ehrlich, ihn damals mit seinem mir so sonderbar erscheinenden Anliegen nicht abgewiesen zu haben.“
[107] Winter trocknete den Kristall mit einem weichen Tuche vorsichtig ab.
„Eigentlich kaum zu glauben,“ sagte er kopfschüttelnd, „daß diese fast taubeneigroße Masse die Speiseröhre so glatt passiert hat. Außerdem – sehen Sie her, Kollege – der eigentliche Stein ist von einer harten, gipsartigen Masse fast vollkommen umgeben.“
Er zerbröckelte die Umhüllung. Ich hörte, wie die Stücke zu Boden fielen. – Sie waren an das offene Fenster getreten, und jetzt, wo die Sonne den Stein traf, schossen leuchtende Strahlenbüschel aus ihm hervor, funkelte er in so intensivem Feuer, daß die beiden Ärzte einen Aufruf des Erstaunens nicht unterdrücken konnten. Wie hypnotisiert starrten sie mit vorgebeugten Köpfen auf diese Lichtgarben, die in Sprengels Hand aufflammten und auch mir auf meinem Lager beinahe die Augen blendeten.
„Ähnliches habe ich noch nie gesehen!“ rief Winter ganz begeistert. „Man möchte den Stein wirklich für einen Diamanten halten!“
Jetzt konnte ich plötzlich auch die letzten Wirkungen des Rauschzustandes mit einem Male abschütteln. Der heiße Wunsch, den Stein, dem ich jahrelang nachgejagt war, endlich als mein sicheres Eigentum in die Hand nehmen zu können, besiegte das Schwächegefühl.
„Geben Sie mir den – den Kristall!“ stieß ich vernehmlich hervor.
Die beiden Ärzte fuhren herum.
[108] „Wie – schon wach, Herr Gabler?“ rief Doktor Sprengel erfreut. „Sie müssen wirklich eine Bärennatur haben. Ein anderer hätte nach der starken Narkose noch stundenlang bewußtlos gelegen.“
Er war an mein Bett getreten und legte den Diamanten in meine matte Rechte.
Fest krampften sich meine Finger darum. – Endlich war er mein, endlich! Und doch – vergeblich wartete ich darauf, daß in meinem Herzen ein Gefühl der Freude aufkeimen sollte. Nicht an die Million, die mir mit diesem seltenen Stein jetzt gehörte, dachte ich, nicht an Ruhm und Ehren – nein, nur an all die Opfer, die das Kleinod gefordert hatte, an den Freund, der dort in der Fremde unter Palmen den letzten Schlaf schlief, an die Mutter, die einsam gestorben, einsam in die kühle Erde gebettet worden war.
Und in dem Augenblicke dämmerte mir zum ersten Male die niederdrückende Erkenntnis auf, daß ich nie mehr glücklich, nie mehr zufrieden werden würde – trotz des blauen Steines, den ich jetzt in meiner kraftlosen Hand hielt.
Fast ein Vierteljahr verging, bis ich die Wohnung des Arztes dort draußen in dem Vorort verlassen konnte. Sprengel sah mich mit ehrlichem Bedauern scheiden. Durch das tägliche Beisammensein [109] hatte sich zwischen uns eine beinahe herzliche Freundschaft entwickelt. Er ließ es sich nicht nehmen, mich auf den Bahnhof zu begleiten. Ich hatte ihm absichtlich gesagt, daß ich jetzt geschäftlich sofort nach Neuyork fahren müßte. In Wirklichkeit war mein Reiseziel ein ganz anderes. Ich wollte nur jede Spur hinter mir verwischen, um ungestört auch mein letztes Vorhaben, den Verkauf des Diamanten, bewerkstelligen zu können.
Als wir dann auf dem Fernbahnsteig des Lehrter Bahnhofs vor dem D-Zuge nach Hamburg langsam auf und ab gingen, blieb Sprengel plötzlich stehen.
„Da hätte ich beinahe vergessen, Sie noch etwas zu fragen, Herr Gabler! Eben fällt mir’s ein. Sagen Sie mal, – haben Sie vielleicht auf Ihren Irrfahrten durch die Welt sich im Orient die Feindschaft eines Farbigen zugezogen?“
Überrascht blickte ich auf; ich begriff zunächst nicht, was er eigentlich meinte.
„Ich will Ihnen noch schnell die Erklärung für diese Frage geben,“ fuhr er fort. „Ein paar Minuten haben wir ja noch Zeit. – Während Sie als Rekonvaleszent in meiner Wohnung weilten, bemerkte ich einige Male einen braunen Gesellen – es muß seiner Gesichtsfarbe nach ein Araber, Inder oder ein Zugehöriger der Eingeborenen-Stämme des nördlichen Afrikas gewesen sein – der auf einem fremdländischen, gitarreähnlichen Instrument auf dem Hofe unseres Hauses eigenartig wehmütige Lieder sang. Der Mann, der einen leicht [110] ergrauten Bart und auf den Wangen zwei kreisrunde, rötliche Tätowierungen hatte, fiel mir auf, weil er sich schließlich fast jede Woche einstellte, trotzdem man ihm nur höchst selten aus den Fenstern Münzen zuwarf. Zweimal klingelte er auch bei mir und bot als herumgehender Händler orientalische Decken, Pfeifen und sonstige Kleinigkeiten an. Vorgestern, als Ihr gepackter Koffer gerade im Korridor stand, war er wieder da. Und bei dieser Gelegenheit bemerkte ich, daß er Ihr Gepäck mit einem besonderen Blicke streifte und etwas wie ein befriedigtes Lächeln über sein dunkles, runzliges Gesicht flog. Erst in diesem Moment fühlte ich einen unbestimmten Argwohn gegen den Mann. Da ich aber gerade sehr beschäftigt war, vergaß ich ganz, Ihnen von meinen Beobachtungen Mitteilung zu machen.“
Der Schreck, der mich bei dieser Nachricht befiel, mußte sich recht deutlich in meinen Zügen ausprägen, denn mein junger Freund fragte ganz bestürzt:
„Habe ich das Richtige vermutet? Kann Ihnen der alte Bursche gefährlich werden, Herr Gabler.“
„Lieber Doktor, Sie machen sich unnötige Sorgen,“ meinte ich mit gutgespielter Gleichgültigkeit. „Den von Ihnen beschriebenen Orientalen habe ich noch nie gesehen. Was sollte der Mann auch von mir wollen? – Ich habe in jeder Beziehung ein reines Gewissen,“ fügte ich mit Betonung hinzu.
Der Schaffner forderte mich bereits dringend zum Einsteigen auf. Ein letzter Händedruck, und wir trennten uns. –
[111] Während der Zug durch die frühlingsfrische Landschaft jagte, tönte mir, der ich gedankenverloren in meiner Fensterecke in den Polstern saß, immer wieder aus dem Gerassel der Räder ein Name entgegen, immer wieder:
„Askari – Askari!“
Kein Zweifel – der vertraute Ratgeber des Radschas Sorahmatra, nunmehr auch der heimlich Beauftragte des Fürsten Matasana, hatte meine Fährte gefunden und war hinter mir her! – Nie hatte ich angenommen, daß mir auch jetzt noch, nachdem fast zwei Jahre seit jener Seereise auf der „Godawari“ und dem von mir so klug durchgeführten Raube des „Auges des Brahma“ verstrichen waren, irgendeine Gefahr drohe.
Ich sann und sann. – Wie sollte ich mich schützen gegen die Ränke dieses hartnäckigen Feindes, der mir durch alle Weltteile gefolgt sein mußte, der über unbegrenzte Geldmittel und damit über die Macht verfügte, mich schließlich doch in eine Falle zu locken, um mir den Diamanten wieder abzunehmen? Daß Radscha Matasana zu diesem Zwecke nicht die Hilfe der Behörden in Anspruch nehmen würde, dessen war ich freilich sicher. Sonst hätte er es längst getan. Auf andere Weise würde er sein Ziel zu erreichen suchen – aber auf welche?
Ich grübelte, schmiedete allerlei Pläne, um wieder spurlos irgendwohin zu verschwinden. Den Gedanken, nach Amsterdam zu gehen und dort den Stein zu verkaufen, wie dies meine Absicht gewesen war, mußte ich zunächst aufgeben.
[112] In Hamburg angelangt, stieg ich in einem Hotel dicht am Bahnhofe ab. Ich war völlig erschöpft. Erst nachdem ich eine warme Mahlzeit zu mir genommen hatte, beruhigten sich meine Nerven etwas. Die Tür hielt ich stets verschlossen, und in der Tasche meines Beinkleides steckte der scharfgeladene Revolver. Ich wollte gegen jede Überraschung gerüstet sein.
Wieder begann ich allerhand Pläne zu entwerfen. Ich mußte, koste es, was es wolle, meine Verfolger abschütteln. Denn daß Askari mir nicht als einziger auf den Fersen war, sondern über Helfershelfer verfügte, erschien mir ganz sicher.
So verging eine weitere halbe Stunde. Ich fand keinen Ausweg aus dieser verzweifelten Lage. Unbekannte Gefahren umdrohten mich, gegen die ich mich kaum zu schützen vermochte. – Wieder kroch mir das atembeklemmende Angstgefühl zum Herzen.
Und dann klopfte es plötzlich an meine Tür.
Ich fuhr vom Schreiblisch auf. Jeder Tropfen Blut wich mir aus dem Gesicht, große Schweißperlen traten mir auf die Stirn. Ich ahnte, daß die Entscheidung da war.
Sollte ich öffnen? – Vielleicht war’s auch nur der Kellner, der das Geschirr forträumen wollte – vielleicht!
Mit der rechten Hand den Revolvergriff in der Tasche umspannend, näherte ich mich der Tür.
„Wer ist dort? Ich kleide mich gerade um,“ rief ich mit seltsam hohlklingender Stimme.
[113] „Laßt mich ruhig ein, Sahib. – Ich bin’s, Askari. Euch wird nichts geschehen.“ Der Mund, der diese englischen Worte formte, mußte sich ganz dicht an die Türfüllung pressen.
Wie so oft im Leben, wenn wir uns nach anfänglichem Zittern und Zagen dem entscheidenden Moment gegenübersehen, war auch jetzt urplötzlich jede Angst von mir gewichen. Von dem kalten Eisen der Waffe schien mit einem Male ein Strom wohltuender Ruhe und Zuversicht in meine Adern überzufließen.
Ich schob den Riegel zurück, öffnete jedoch nur einen Spalt breit und schaute hinaus.
Askari war allein. In seiner eleganten, europäischen Kleidung erkannte ich ihn kaum wieder.
Ich ließ ihn eintreten, riegelte hinter ihm zu und lehnte mich gegen die Tür.
Bedächtig hatte er in dem Schreibsessel Platz genommen. Lange schaute er mich unverwandt an, bevor er zu sprechen begann.
„Sahib,“ sagte er leise, „legt den Revolver nur beiseite. Ich komme in friedlicher Absicht.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Die indische Hinterlist kenne ich noch zu gut, Askari. Was Ihr mir zu sagen habt, werden wir auch erledigen können, während ich die Waffe in der Hand behalte.“
Und ich zog den Revolver aus der Tasche und richtete den Lauf auf meinen gefährlichen Besucher.
Der alte Brahmane lächelte. Es war ein mitleidiges [114] Lächeln und doch auch etwas wie verstehendes Verzeihen darin.
„Wieviel verlangt Ihr für den Stein, Sahib?“ fragte er dann gelassen.
Ich glaubte nicht recht gehört zu haben.
Da wiederholte der Alte nochmals:
„Nennt mir den Preis, Sahib. Mein Herr will Euch für den Diamanten bezahlen, was Ihr verlangt.“
Ich begriff noch immer nicht. Darauf war ich nicht vorbereitet. Nie und nimmer hatte ich auf diesen Ausgang gehofft. – Trotzdem blieb mein Mißtrauen wach.
Als ich noch immer nicht antwortete, begann der Brahmane von neuem:
„Sahib, damit Ihr versteht, weswegen meinem Herrn, dem Radscha von Sadani, soviel an dem blauen Stein gelegen ist, hört eine kurze Geschichte mit an. – – Das Fürstengeschlecht der Tuma-Lenk, dessen Oberhaupt der jetzt regierende Radscha Matasana ist, bestand noch im siebzehnten Jahrhundert aus zwei Linien, von denen die eine in Indien, die andere auf Ceylon herrschte. Einem Fürsten des auf Ceylon regierenden Zweiges wurde nun zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts ein blauer Diamant gestohlen, der nach einer Prophezeiung eines Heiligen dem Geschlechte der Tuma-Lenk verhängnisvoll werden würde, falls er in fremde Hände überginge. Daher ist dieses Kleinod auch stets aufs sorgfältigste bewacht worden. Nur dem Verrat zweier fürstlicher Diener war es zuzuschreiben, daß es einem [115] holländischen Schiffskapitän gelang, das Juwel zu stehlen und ungehindert nach Europa zu bringen, wo der Edelstein dann vorläufig spurlos verschwand. Mit dem Augenblick, als der weit und breit unter dem Namen ‚Auge des Brahma’ berühmte Diamant nicht mehr in der Schatzkammer jenes Radscha ruhte, brach auch das Unglück über das fürstliche Geschlecht herein. Die Engländer besiegten den Fürsten und entrissen ihm seinen Besitz auf Ceylon, so daß er zu seinen Verwandten nach Sadani flüchten mußte. Noch weiter verfolgte das Schicksal die Tuma-Lenk mit den härtesten Schlägen. In der Blüte der Jahre starben seine Angehörigen dahin, bald durch Krankheit, bald durch die merkwürdigsten Unfälle. Dies änderte sich erst, als der Radscha Sorahmatra Eurem Vater, o Sahib, den Stein wieder abnahm. Der Unstern, der bis dahin über den Tuma-Lenk gewaltet hatte, verschwand. – Sorahmatra, mein früherer Herr und Gebieter, glaubte damals kein Unrecht zu begehen, als er Euren Vater um den Diamanten betrog, den er als den Glückstein seines Geschlechts nach wie vor als sein Eigentum betrachtete. Dann kamt Ihr nach Sadani, der Sohn jenes deutschen Kaufmannes, und Eurer List gelang es, das Kleinod aufs neue zu entführen. Inzwischen hat nun mein jetziger Herr, der Radscha Matasana, nachdem die Nachforschungen nach dem Verbleib des Steines – denn eine Zeitlang hatten wir Eure Spur tatsächlich verloren – monatelang vergeblich waren, sich dazu entschlossen, den Diamanten auf rechtmäßige Weise wieder in seinen Besitz [116] zu bringen, damit nicht die Prophezeiung jenes Heiligen auch an ihm und seiner Familie wahr werde. Nennt mir den Preis – Ihr sollt Ihn noch heute ausgezahlt erhalten.“
„Eine Million Mark,“ sagte ich ohne langes Überlegen.
„Gut. Ihr sollt sie haben. Kommt mit mir zur Hamburger Bank, deren Kassierer angewiesen ist, auf mich zu warten, denn die Geschäftszeit ist bereits vorüber,“ erwiderte Askari gleichmütig.
Ich zögerte noch. Wieder erwachte das Mißtrauen in mir.
Der Brahmane hatte sich erhoben. Er mochte merken, was in mir vorging.
„Gut denn, wenn Ihr wollt, Sahib, wartet auch hier auf mich.“
Und mit bedächtigen Schritten verließ er das Zimmer. – – – – – –
Eine Million. Eine Riesensumme! Und doch waren’s nur zwei verhältnismäßig kleine Häuflein Banknoten, die Askari mir eine Stunde später auf den Tisch hinzählte.
Jetzt, nachdem ich die Scheine sorgsam im Schreibtisch verschlossen hatte, – den Revolver ließ ich noch immer nicht aus der Hand – zog ich das kleine Ledertäschchen heraus, das, an einer Schnur um den Hals befestigt, mir auf der nackten Brust lag, entnahm ihm den Brillanten und reichte ihn Askari hin, der ihn schnell in seiner Tasche verbarg.
„Lebt wohl, Sahib!“ meinte er dann freundlich. „Im Namen meines Herrn sage ich Euch [117] Dank für Eure Bereitwilligkeit. Es war das Klügste, was Ihr tun konntet. Denn wisset: – Euer Leben wäre nicht einen Augenblick mehr sicher gewesen, hättet Ihr Euch geweigert, auf den Handel einzugehen.“
So schieden wir.
Ich hatte erreicht, wonach ich jahrelang gestrebt: ich war reich – reich! – Und doch weder glücklich noch zufrieden.
Und so wird es bleiben bis an mein Lebensende. Ich bin ein müder, kranker Mann. Wenn ich am Fenster meines Häuschens stehe und über die fruchtbare Rheinebene und den wie ein Silberband glitzernden Strom hinwegschaue, wenn das Abendrot die Weinberge mit ihrer Traubenlast in goldene Farben taucht, fühle ich nur eines: die Einsamkeit, die mich umgibt! – Zu starke, zu nachhaltige Eindrücke von rätselhaften und furchtbaren Geschehnissen hat meine Seele empfangen. Ich kann mich nicht losmachen von all den Erinnerungen, die noch heute ebenso wach in mir leben, als liege meine indische Fahrt, die Jagd nach dem „Auge des Brahma“, erst wenige Tage zurück. Das eitle Gold vermag mir das nicht wiederzugeben, was ich verlor: die Mutter, den Freund und … die Kraft und Frische meines Leibes, den die Folgen der Operation langsam weiter zermürben.
[118] Ich weiß nicht, wie lange es mir noch vergönnt ist, hier auf Erden zu weilen. Ich bin auf alles vorbereitet. Mein Testament wird vielen Armen und Kranken Genesung bringen, wird auch Sprengel überraschen, der meinen wahren Namen noch immer nicht kennt. – – – – – –
Gestern empfing ich einen Brief von Doktor Schusterius, der nach wie vor seinem Herrn, dem gütigen Radscha Artasa von Brolawana, in Treue weiter dient. Ihm habe ich auch eine letzte Nachricht über Sarka-Mana und Dama-Schenk, die beiden Fakire, zu verdanken. Ich lasse den betreffenden Teil jenes Briefes hier wörtlich folgen, bei dessen Lektüre ich kopfschüttelnd dachte, daß dieses Riesenreich dem nüchternen Europäer doch stets aufs neue die grauenvollsten Geheimnisse darbietet.
„– – – – Und nun, lieber Herr Sander, muß ich Ihnen noch über ein Erlebnis berichten, das auch Sie stark interessieren dürfte. Dieses Abenteuer hat eine kleine Vorgeschichte, die ich des besseren Verständnisses halber hier einfügen will. Sie wissen, wie schwer es den Engländern geworden ist, in ihrem unermeßlich großen indischen Kolonialbesitz mit seinen 300 Millionen Einwohnern all die Jahrhunderte alten Sitten und Gebräuche auszurotten, die dem verfeinerten Kulturempfinden des Europäers als blutige Greuel erschienen. Eine dieser nur schwer zu beseitigenden Einrichtungen war ja z. B. die der Witwenverbrennung, die trotz der schweren Strafandrohungen [119] hier noch immer vorgenommen wird, wie ich, der ich noch vor einem Jahr heimlicher Zeuge eines solchen freiwilligen Todes auf dem Scheiterhaufen war, wohl mit Recht behaupten darf.
Im März dieses Jahres hörte nun der englische Resident Kelburne in Jaipur, einer am Rande der großen Thar-Wüste in nächster Nähe von Brolawana liegenden Stadt, von einem zum Christentum übergetretenen Brahmanen zum erstenmal etwas von einem sogenannten ‚Jenseits auf Erden‘[WS 3], einer bis dahin unbekannten, wahrhaft teuflischen religiösen Einrichtung des Brahmanismus. Der Betreffende erzählte, daß es inmitten der Thar-Wüste einen Gebirgszug von geringer Ausdehnung, aber desto gewaltigerer Höhe gäbe, in dessen Mitte sich eine unzugängliche Schlucht befinde, die allen den Brahmanen zum Aufenthalt diene, die einmal nach längerem Scheintode wieder zum Leben erwacht seien. Dorthin würden aus ganz Indien die Unglücklichen gebracht, die nach Auffassung der brahmanischen Religion im Zustande des Scheintodes bereits einen Blick in das Jenseits getan und daher das Anrecht auf eine Fortexistenz hier auf Erden verwirkt hätten. Willenlos sollten die Betreffenden sich von fanatischen Priestern fortführen lassen und geduldig die Strapazen einer oft wochenlangen Reise nach jenem versteckten Orte auf sich nehmen, alles in der Hoffnung, dadurch später besondere Bevorzugung in Brahmas Himmel zu genieße. – [120] Weiteres vermochte der abtrünnige Brahmane nicht anzugeben, da er das ‚Tal der Toten‘ selbst noch nicht gesehen hatte und Leute, die in jene Schlucht verbannt würden, lebend niemals wiederkehrten.
Kelburne, ein intimer Freund meines Herrn, schenkte diesem Bericht zunächst wenig Glauben, erstattete aber doch an seine vorgesetzte Behörde nach Kalkutta eine eingehende Meldung. Daraufhin wurden ganz im geheimen weitere Nachforschungen angestellt. Aber alle Versuche, Näheres über das ‚Tal der Toten‘ zu erfahren, scheiterten an der Verschwiegenheit der Eingeweihten. Zwei Monate später fand man dann eines Morgens in Jaipur vor dem Palaste des Residenten jenen Brahmanen erdrosselt auf. Der oder die Mörder wurden nie entdeckt. Trotzdem ahnte der Resident, daß hier nur ein Racheakt der Brahmanen-Sekte vorliegen könne, die inzwischen von dem Verrat ihres Genossen Kenntnis erhalten haben mußte. Mit allem Eifer setzte er nun seine Nachforschungen weiter fort, wobei er keine Gelegenheit vorübergehen ließ, um über die diesem Gerücht fraglos zugrunde liegenden Tatsachen Aufschluß zu erhalten. Unter anderem sicherte er auch einem älteren Brahmanen, der wegen eines Mordes zum Tode verurteilt worden war, Begnadigung zu, falls dieser über das ‚Jenseits auf Erden‘ genaue Auskunft geben würde. Der Brahmane blieb zunächst standhaft. Am Morgen des für die Hinrichtung bestimmten Tages ließ er jedoch den Residenten [121] in das Gefängnis rufen und hatte eine lange Unterredung unter vier Augen mit ihm. Daraufhin wurde der Verurteilte noch an demselben Tage heimlich nach der Küste geschafft, damit er auf einem englischen Dampfer Indien für immer verlassen konnte. Über die weiteren Schicksale dieses Brahmanen ist nichts bekannt geworden. Der Resident aber gab seiner Polizeitruppe auf Grund der von dem Brahmanen erhaltenen Fingerzeige besondere Anweisungen.
In diesem Sommer wütete nun in ganz Indien die Cholera wieder in furchtbarster Weise. In Jaipur, das eine ähnlich gesunde Lage wie Brolawana hat, waren jedoch bisher nur wenige Fälle dieser mörderischen Seuche vorgekommen. Da meldete einer der Polizeibeamten eines Tages dem Residenten. daß in einem der benachbarten Dörfer ein von der Cholera befallener Brahmane nach mehrtägigem Starrkrampf wieder zum Leben erwacht sei und sich offenbar auf dem Wege zur Besserung befinde. Kelburne ließ nun dessen Hütte Tag und Nacht unauffällig bewachen. Bald erschienen in dem Dorfe zwei fremde Brahmanen, die sich aber möglichst verborgen hielten. Nach zwei Tagen verließen sie den Ort wieder in Gesellschaft jenes inzwischen völlig von der Cholera Genesenen. Darauf hatte der Resident nur gewartet. Unter allen möglichen Vorsichtsmaßregeln nahm er in Begleitung von einigen gut bewaffneten Beamten die Verfolgung der drei Männer [122] auf. Radscha Artasa, den er schon vorher verständigt hatte, und ich waren mit von der Partie.
Die Thar-Wüste gehört, wie Ihnen bekannt sein dürfte, noch heute zu jenen Landstrichen, die nur selten der Fuß eines Europäers durchquert. Es ist eine schaurige Einöde, in der dem von Felsgruppen durchzogenen Sande nur verkrüppelte, niedrige Sträucher und spärliches Gras entsprießen. – Nach achttägigem Ritt, der, hauptsächlich infolge des steten Wassermangels, mit den größten Strapazen und Entbehrungen verbunden war, näherten wir uns einem Gebirgsstock, der aus der Ebene wie ein enormes Steinbauwerk herauswuchs. Bisher war es uns gelungen, uns vor den drei Verfolgten so vollkommen zu verbergen, daß diese keine Ahnung von der Anwesenheit des Reitertrupps in ihrem Rücken hatten. Als wir jetzt dem Gebirgszuge ganz nahe gekommen waren, hielt der Resident es für angebracht, die Entfernung zwischen den drei Männern und unserer kleinen Schar zu verringern, damit jene ihm in den wildzerklüfteten Bergen nicht noch im letzten Augenblick entkämen. Die Brahmanen, die sich völlig sicher wähnten, umwanderten den Gebirgsstock, indem sie sich stets an den letzten Höhenausläufern hielten, und bogen erst nach mehrstündigem Marsch in eine Schlucht ein, die scheinbar keinen zweiten Ausgang hatte. Darin lagerten sie und verbrachten die erste Hälfte der Nacht an einem hellodernden Feuer, das offenbar als Signal angezündet worden war.
[123] Der Resident hatte sich, bewaffnet mit einem guten Nachtglase, in Begleitung des Radschas dicht herangeschlichen und konnte ihr Tun und Treiben genau beobachten. Gegen Mitternacht tauchten aus dem hinteren Teile der Schlucht zwei Gestalten auf, die sich zu den drei Brahmanen gesellten und sehr bald unter Mitnahme des aus dem Starrkrampfe Wiedererwachten nach dorthin verschwanden, woher sie gekommen waren. Kelburne ließ noch eine Viertelstunde verstreichen und bemächtigte sich dann der beiden in der Schlucht zurückgebliebenen Brahmanen, was ohne viel Lärm geschah. Hierauf begann beim Lichte des inzwischen aufgegangenen Mondes möglichst geräuschlos die Verfolgung der drei anderen. Nach längerem Suchen entdeckten wir einen Pfad, der sich um einen Bergrücken in die Höhe wand. Doch schon nach kurzer Zeit endete er auf einem Geröllfelde. Wir mußten daher die weiteren Nachforschungen bis zum Morgen verschieben. Als es genügend hell geworden war, suchten wir nach etwaigen Spuren, die auch wirklich trotz des steinigen Bodens gefunden wurden. Der Weg führte durch Bergtäler und über Abgründe, die man überspringen mußte, drei Stunden lang immer weiter in das Innere des Gebirgsmassivs hinein und endete am Rande eines schroffen Abgrundes, von wo aus man in einen kreisrunden Talkessel von fast einem Kilometer Durchmesser hinabblickte. Die glatten Felswände dieses Kessels waren durchschnittlich 40 Meter hoch und hingen so weit über, [124] daß ein Entrinnen aus diesem gewaltigen Felsengrabe völlig unmöglich war. Auf dem Grunde dieses enormen Felsloches, das eine Laune des Schöpfers zu einem festen Gefängnis ausgestaltet hatte, bemerkten wir sehr bald eine Anzahl von Hütten, vor denen halbnackte Menschen, mager wie lebende Gerippe, sich hin und her bewegten. Das ‚Jenseits auf Erden‘ war endlich entdeckt.
Als der Resident durch seine Leute die Umgebung des Tales absuchen ließ, wurden in einer einigermaßen wohnlich eingerichteten Höhle auch jene beiden Brahmanen aufgestöbert, die das neue Opfer eines wahnwitzigen religiösen Brauches den Überbringern abgenommen und an diesen Ort des Schreckens befördert hatten[4]. Denn dies war das ‚Tal der Toten‘ in der Tat, wie unsere näheren Untersuchungen zeigten. Nicht weniger als 115 Personen, Männer, Weiber und Kinder, fanden wir in dem Talkessel eingesperrt. Sie lebten wie Tiere zusammen. Ihre Nahrung bestand aus den wenigen Feldfrüchten, die in einer Ecke des Tales gediehen, und aus einer Kaninchenart, die sie in Ställen züchteten. Wasser spendete ihnen ebenso unzureichend ein tiefes Felsloch, in dem sich der Regen wie in einer natürlichen Zisterne ansammelte. Die armen Wesen, vertiert, stumpf, dem Wahnsinn nahe, starrten vor Schmutz. Ihre fast unbekleideten Körper waren mit Geschwüren bedeckt. Starb einer dieser lebendig Begrabenen, so scharrten seine Gefährten den Leichnam oberflächlich in dem harten Geröllboden ein, von [125] wo die zahlreichen Aasgeier, die auf den nahen Höhen nisteten, ihn jedoch sehr bald wieder herauszerrten und als ekle Mahlzeit verspeisten. Eine furchtbare Luft, Verwesungsgeruch und andere üble Düfte erfüllten den Talkessel, in den man nur mit Hilfe eines langen Hanffaserstrickes gelangen konnte. Auf dieselbe Weise wurden auch stets die neuen Ankömmlinge hinabgelassen.
Der Resident ließ sofort die unglücklichen Bewohner dieser grauenvollen Stätte einzeln heraufholen. Wir standen dicht dabei, als diese bemitleidenswerten Geschöpfe an dem endlosen Tau heraufgezogen wurden. Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich nun in einem dieser lebenden Skelette denselben Fakir Sarka-Mana vor mir sah, der bei uns in Brolawana so oft seine Künste gezeigt hatte und dann nach dem geheimnisvollen Tode Ihres Freundes samt seinem Gehilfen spurlos verschwunden war. Auch Radscha Artasa hatte den Fakir sofort erkannt, was er mir durch einen kurzen Zuruf bestätigte. Später wurde dann auch Dama-Schenk, der Gehilfe Sarka-Manas, emporgefördert. – Sie werden es verstehen, lieber Herr Sander, daß ich nun nichts Eiligeres zu tun hatte, als die beiden Fakire, die leider so entkräftet waren, daß sie sich kaum auf den Beinen halten konnten, mir vorzunehmen und sie einem eingehenden Verhör zu unterwerfen, um mir endlich von ihnen das Rätsel lösen zu lassen, das den Tod Ihres Freundes umschwebt. Auch der Fürst und der Resident Kelburne wohnten diesem Verhör [126] bei. Wir ließen nichts unversucht, um eine Antwort von den Fakiren zu bekommen. Alles umsonst. Eher hätte man einen Stein zum Reden bringen können. Schließlich gaben wir die Sache auf. Und das Geheimnis jener Mondscheinnacht wird nun menschlicher Berechnung nach nie mehr aufgeklärt werden. Denn Sarka-Mana und Dama-Schenk starben wenige Tage später vor Erschöpfung auf dem Rückwege durch die Thar-Wüste. – – – – – –
Nur sechzig von den lebenden Skeletten des ‚Tales der Toten‘ brachten wir mit nach Jaipur. Die anderen verschieden wie die beiden Fakire vor Entkräftung. Die englische Regierung leitete eine strenge Untersuchung ein. Doch irgendwelche Schuldigen, die man bestrafen konnte, gab es nicht. Die Leute waren ja freiwillig in die gräßliche Verbannung gezogen. – Das ‚Tal der Toten‘ hatte, wie sich jetzt herausstellte, schon Jahrhunderte lang als eigenartige Einrichtung des brahmanischen Kultus bestanden, und man konnte daher nur durch strenge Strafandrohungen für die Folgezeit ähnliche Vorkommnisse zu verhindern suchen.“
So lautete der Brief des fürstlichen Leibarztes.
Im Frühjahr 1906 las ich in einer der angesehensten deutschen Zeitungen folgende Notiz:
„Das britische Thronfolgerpaar, das bekanntlich am 19. Oktober vorigen Jahres seine Reise nach [127] Indien antrat, ist nach dem Besuch mehrerer Küstenstädte nun auch in Delhi, der Hauptstadt des indischen Kaiserreiches, unter Entfaltung eines nur im Orient möglichen, geradezu märchenhaften Pomps eingezogen. Vor dem Tore der Stadt wurden der künftige Beherrscher des englischen Weltreichs und seine Gemahlin von dem Vizekönig von Indien, Earl of Minto, und einigen hundert eingeborenen Fürsten empfangen und dann durch die festlich geschmückten Straßen bis zum Palaste des Vizekönigs geleitet. Am Abend fand ein Bankett statt, zu dem die eingeborenen Fürsten in ihren edelsteinüberladenen Nationaltrachten erschienen waren. Diese Tischgesellschaft bot ein die Augen blendendes, zauberhaftes Bild dar. Buntschillernde, seidene Gewänder, aus denen die kostbarsten Brillanten wie zuckende Flämmchen leuchteten, goldgestickte Uniformen mit blinkenden Ordenssternen, dazwischen die Galaroben der Damen und die feenhafte Beleuchtung des nur in Weiß und Gold gehaltenen Saales – das alles wirkte zusammen wie ein Märchen aus Tausend und einer Nacht. In dieser illustren Menge soll einer der indischen Fürsten immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt haben: Matasana, der Radscha von Sadani, der an einer mit Brillanten dicht besetzen Kette als Medaillon einen großen, blauen Diamanten trug, vor dessen Feuer alle übrigen Steine zu erblassen schienen. Diesen Diamanten, den Kenner für jenen unter dem Namen ,Auge des Brahma‘ berühmten und vor einem Jahrhundert aus dem französischen Kronschatz verschwundenen [128] Edelstein halten, soll der Radscha vor nicht langer Zeit von einem europäischen Hochstapler, der ihn mit größtem Raffinement zu stehlen wußte, für die ungeheure Summe von einer Million Mark zurückgekauft haben!“ – – – – – –
Von einem europäischen Hochstapler!
Ich lächelte bitter, als ich das las. Ich kann die Welt eines Besseren belehren.
Fußnoten
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Von Walther Kabel erschien 1912 im Illustrierten Sonntagsblatt die Erzählung Wie Carlo starb, welche hier stark gekürzt und der Geschichte angepaßt als Kapitel 4–6 eingearbeitet wurde.
- ↑ Von Walther Kabel erschien 1914 in der Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens hierzu auch der Beitrag Die Katastrophe von Para-Dschala, den er im folgenden Abschnitt teilweise wörtlich übernommen hat.
- ↑ Von Walther Kabel erschien 1912 in der Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens hierzu auch der Beitrag Ein Jenseits auf Erden, den er im folgenden Abschnitt teilweise wörtlich übernommen hat.
Errata (Wikisource)
- ↑ Vorlage: der
- ↑ Vorlage: Unterr
- ↑ Vorlage: den
- ↑ Vorlage: die als neue Opfer eines wahnwitzigen religiösen Brauches den Überbringern abgenommen und an diesen Ort des Schreckens befördert worden waren. Siehe: Ein Jenseits auf Erden, Seite 215 – Es ergibt sich nämlich sonst ein völlig anderer Sinn, da es sich um ein Opfer und zwei Brahmanen handelt und nicht um zwei Opfer.