Wie Carlo starb
Uns beiden Ingenieuren, die wir den Bau der Eisenbahn leiteten, durch welche die Residenz Brolawana des indischen Rajahs Sadani mit der großen Staatsbahn verbunden werden sollte, war zu unserer Bequemlichkeit von unserer Hamburger Firma, der der überaus deutschfreundliche Fürst die Ausführung der seit langem geplanten Strecke übertragene hatte, ein kleines, auseinandernehmbares[1] Holzgebäude geliefert worden, das außer der mit allem Luxus eingerichteten Küche nur noch einen großen, uns gleichzeitig als Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer dienenden Raum enthielt. Dieses praktische Häuschen, das im Innern mit mehreren, durch Akkumulatoren in Bewegung zu setzenden Ventilatoren versehen war, ließen wir immer mit dem Vorwärtsrücken des Schienenstranges an einer uns geeignet erscheinenden Stelle aufrichten. So hatten wir stets ein gemütliches Heim, in dem wir bei unseren Zeichnungen, guter Lektüre und gelegentlichen anregenden Gesprächen gar nicht so recht merkten, daß wir uns mitten in der Wildnis der indischen Dschungel mit ihrer Fieberluft und ihren gefährlichen vierbeinigen und kriechenden Bewohnern befanden. Abends, wenn die Arbeit auf der Strecke ruhte und unsere farbigen Untergebenen in ihren Laubhütten mit dem Kochen ihrer einfachen Mahlzeit beschäftigt waren, ließen wir uns regelmäßig unsere Pferde satteln und machten kurze Ausflüge nach den nächsten Dörfern hin.
Nach einem dieser Spazierritte fiel es mir schon bei der Rückkehr auf, daß mein Freund und Fachkollege Carlo Kieselowsky merkwürdig wortkarg war und meist versonnen vor sich hinstarrte. Auch den Rest des Abends blieb er stumm, trotzdem ich mir alle Mühe gab, eine Unterhaltung in Fluß zu bringen. Am nächsten Tage mußte ich dann leider feststellen, daß aus dem sonst so lebendigen, humorvollen Carlo ein mürrischer, beinahe unliebenswürdiger Gesellschafter geworden war. Ich fürchtete schon, die ersten Anzeichen von Malaria könnten sich bei ihm in dieser Weise bemerkbar machen. Aber bald wurde ich eines Besseren belehrt. Denn als ich ihm gegen Abend vorschlug, heute einmal zur Abwechslung einen kleinen Pirschgang nach dem nahegelegenen Flüßchen zu unternehmen, wo man sicherlich bei der Tränke jagdbares Wild antreffen würde, meinte er mit schlecht verhehlter Verlegenheit:
„Laß dich nicht stören, Fritz … Ich für meine Person möchte doch lieber ein Stück reiten. Bei der drückenden Schwüle zu Fuß zu gehen, ist ein recht mäßiges Vergnügen.“
Es war dies das erstemal, daß wir uns über die Verwendung unserer freien Stunden nicht einig waren. Bisher hatte stets einer dem andern sofort nachgegeben. Mein Freund brach also wirklich allein auf, während ich mir nur meinen eingeborenen Diener Sadah Lenki als Büchsenträger mitnahm. Als ich dann gegen zehn Uhr todmüde heimkehrte – ich hatte nur zwei armselige Perlhühner geschossen –, war Carlo noch nicht zu Hause. Ich legte mich sofort in meine Hängematte, nachdem ich die Ventilatoren eingestellt und die große, in der Mitte des Daches befindliche Luke geöffnet hatte, zog das Moskitonetz über mir zusammen und versuchte einzuschlafen. Aber Stunden vergingen, und noch immer war ich wach und lauschte gespannt auf jedes Geräusch, das von draußen in unser Häuschen hineindrang. Und noch nie hatte mich das Kreischen vorüberstreichender Vögel, das dumpfe Brüllen eines beutelüsternen Leoparden und das gleichmäßige Surren der Ventilatoren so sehr gestört wie gerade heute. Auch Carlos Wolfspitz Hasso, den er sich von Europa mit herübergebracht hatte, zeigte seine Anhänglichkeit an seinen Herrn in einer Weise, die mir immer lästiger wurde. Das treue Tier kam nicht zur Ruhe, legte sich bald hier, bald dort zum Schlafe nieder, um nach kurzer Zeit wieder aufzustehen und langsam über den Linoleumfußboden mit tappenden Schritten auf- und abzuwandern. – Ja, weswegen hatte mein Freund eigentlich seinen Hund, den er wie ein menschliches Wesen liebte, zu Hause gelassen, wo Hasso doch sonst sein unzertrennlicher Begleiter war …?! Diese Frage, die ich mir nicht beantworten konnte, lenkte meine Gedanken unwillkürlich auf das ganze, so eigentümliche Verhalten Carlos über, das ich seit gestern abend leider nur zu schmerzlich bemerkt hatte. Ich grübelte und grübelte, fand aber keine Erklärung dafür, außer der, daß diese Veränderung in seinem Wesen ihren Grund einzig und allein in seinem Gesundheitszustande haben könnte.
Als unsere kleine Weckeruhr mit ihren klingenden Schlägen die [82] zwölfte Stunde verkündete, begann ich mich ernstlich um den Abwesenden zu sorgen. Auch Hasso war immer unruhiger geworden und lag jetzt leise winselnd an der Tür. Kurz entschlossen erhob ich mich, machte Licht und trat ins Freie hinaus. Der Zufall wollte es, daß ich in demselben Augenblick dumpfe Hufschläge vernahm und bald darauf auch ein Reiter vor mir auftauchte, dem der Hund freudig bellend entgegensprang.
„Du bist wohl unter die Nachtschwärmer gegangen, Carlo?“ begrüßte ich ihn scherzend.
Er antwortete nur mit einem unverständlichen Murmeln und warf dann seinem inzwischen herbeigeeilten Diener die Zügel zu.
Etwas verletzt über seine Unfreundlichkeit ging ich ihm voraus ins Zimmer und kroch wieder unter mein Moskitonetz. Carlo war mir auf dem Fuße gefolgt und hatte sich schwer in einen der um den Mitteltisch stehenden Stühle fallen lassen. Jetzt saß er unbeweglich da und starrte verträumt in das Licht der Lampe. Da erst bemerkte ich, wie hohl seine Wangen waren und welch dunkle Ringe seine Augen umgaben. Schon wollte ich ihn mit einer besorgten Frage anreden, als er plötzlich aufsprang und heiser hervorstieß:
„Fritz, du mußt mir helfen, mich retten … vor mir selbst! Wie ein wahnsinniger Rausch ist’s plötzlich über mich gekommen … Mein Blut siedet, ich fiebere am ganzen Körper. So, so, hat mich dieses Mädchen behext … mich, denselben Carlo, der bisher der treueste Verlobte gewesen ist, der allertreueste …“
Und er blieb tiefatmend vor einem Bilde stehen, das neben seiner Hängematte an der Wand hing. Das Bild stellte seine Braut dar im weißen Tenniskostüm – jene Leni Berger, der auch ich eine Zeitlang vergebens nachgeschmachtet hatte. Lange blickte er auf die Kabinettphotographie hin … Dann fuhr er sich wie erwachend mit der Hand über die Stirn.
Jetzt konnte ich doch nicht länger an mich halten.
„Du faselst, Carlo … Offenbar hast du Fieber. Da, in dem Medizinschränkchen liegt die Schachtel mit den Chininpillen. Nimm schleunigst eine und versuche dann einzuschlafen. Morgen aber bleibst du ruhig zu Hause und schonst dich. Mit einer beginnenden Malaria ist nicht zu spassen.“
Da lachte er bitter auf.
„Ich wünschte, ich hätte Malaria … Aber leider …! Das Fieber steckt bei mir im Herzen, Fritz, hier …!“ Und er schlug sich mit der Faust wie im Krampf dröhnend gegen die Brust.
Ich begann jetzt wirklich für ihn zu fürchten.
„Du phantasierst, Carlo … Sofort legst du dich nieder. Ich werde dir Chinin und dann noch ein Schlafpulver geben, damit du zur Ruhe kommst.“ –
Ich wollte meine Hängematte verlassen, aber er wehrte energisch ab. Und während er nun mit schnellen Schritten den kleinen Raum durchquerte, beichtete er mir alles, was ihn bedrückte, was ihn plötzlich so völlig verwandet hatte.
„Gestern abend waren wir doch dort drüben in dem Dorfe – Goldari heißt’s, richtig! Du besinnst dich, daß wir da eine Viertelstunde einer Fakir-Truppe zuschauten, die den armen Hindus ihre Gauklerkunststückchen vorführte. Truppe ist zuviel gesagt. Es waren nur drei Personen – zwei zerlumpte, halb verhungerte, braune Kerle und … sie … sie …“
Erstaunt richtete ich mich auf.
„Wie … diese braune Schöne hat’s dir angetan, die Enkelin des alten Fakirs, den du mit deinen spöttischen Bemerkungen über seine angeblich übernatürlichen Fähigkeiten so schwer beleidigtest?!“
Carlo war stehen geblieben.
„Laß den alten Narren und ebenso seinen Gehilfen aus dem Spiel“, sagte er geringschätzig. „Hier handelt es sich nur um das Mädchen … Und die ist eine Zauberin, Fritz, – muß es sein, muß! Denn … mich, den kaltblütigen, zielbewußten Menschen mit einem Schlage so vollkommen aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen, das geht nicht mit rechten Dingen zu.“
Die letzte Bemerkung hatte mein Freund offenbar etwas sehr voreilig hingesprochen. Im Gegenteil – meiner Ansicht nach war es sogar sehr leicht zu verstehen, daß ein Mann sich in die schlanke, phantastisch, aber peinlich sauber gekleidete, glutäugige Indierin vergaffen konnte. Hatte das Mädchen mit ihren dunklen, unergründlichen Augen, deren Ausdruck beständig von ungezügelter Wildheit bis zur weichsten Träumerei wechselte, doch auch auf mich einen eigenartigen Reiz ausgeübt, der allerdings meinen Herzschlag auch nicht für eine Sekunde beschleunigte. Dazu bin ich Frauen – selbst den schönsten – gegenüber stets zu gleichgültig und zu kritisch gewesen.
Ohne Scheu gestand Carlo mir nun ein – und fraglos erleichterte ihn diese Beichte bei seiner durch die widerstreitendsten Empfindungen hervorgerufenen Gemütsverfassung sehr -, daß ihn am vergangenen Abend sofort beim ersten Anblick des braunen Mädchens ein seltsames Gefühl von seelischer Unruhe überkommen hatte, über dessen eigentliche Bedeutung er sich zunächst selbst nicht klar zu werden vermochte. Daher auch war er so schweigsam neben mir nach Hause geritten. Und in einer schlaflos verbrachten Nacht hatte er dann erkannt, daß ihn eine unbezwingliche Sehnsucht nach der Indierin hinzog, eine Sehnsucht, die sich selbst durch die angestrengteste Tätigkeit am nächsten Tage nicht betäuben ließ und der er dann abends fast willenlos nachgab, indem er wieder nach dem Dorfe Goldari hineilte, nur um Lundja-Mana, die Enkelin des alten Fakirs, zu sehen und womöglich zu sprechen. Und das Unglück hatte es wirklich gewollt, daß er ihr bei den ersten Hütten begegnete.
Als mein armer Freund mir nichts mehr zu gestehen hatte, da überlegte ich mir erst, bevor ich ihm antwortete, wie ihm wohl am besten geholfen werden könnte. Das eine war sicher: hier mußte sofort mit einer Radikalkur eingegriffen werden, wenn man den unheilvollen Einfluß der braunen Schönen zerstören wollte. – Schießlich machte ich ihm den Vorschlag, am kommenden Morgen in aller Frühe mit der Lokomotive des Zuges, der das fertiggestellte Stück der Bahnstrecke zum Herbeischaffen des notwendigen Arbeitsmaterials des öfteren befuhr, nach der Provinzialhauptstadt Luknor hinüberzudampfen und dort einige Tage zu bleiben. Inzwischen würde dann hoffentlich die Fakirtruppe aus unserer Gegend verschwunden sein.
Carlo war mit allem einverstanden. Und mit einem wehmütigen Blick auf das Bild seiner Braut, setzte er noch hinzu:
„Um Lenis willen …!“
Einigermaßen beruhigt, versuchte ich nun endlich einzuschlafen. Aber noch lange Zeit hielten mich die Gedanken und meines Freundes fortwährende Bewegungen wach, die die leichten Decken seiner Hängematte ständig knittern und rauschen ließen. Offenbar konnte auch er keinen Schlaf finden.
Der nächste Morgen brachte mir eine herbe Enttäuschung. Carlo schien sein Versprechen, nach Luknor fahren zu wollen, völlig vergessen zu haben. Und als ich ihn vorsichtig daran erinnerte, brauchte er allerhand Ausflüchte, die mir bewiesen, daß sein Liebesabenteuer mit Lundja-Mana sicherlich eine Fortsetzung erfahren würde. – Ich muß hier einfügen: Wir kannten uns von der Schule her, hatten zusammen studiert und waren dann auch gleichzeitig bei der Aktiengesellschaft Germania als Ingenieure eingetreten, bei derselben Firma, die uns jetzt mit der Leitung des Bahnbaues nach der Residenz des Rajahs Sadani betraut hatte. Und auf Grund dieser langjährigen Freundschaft glaubte ich mir jetzt wohl das Recht herausnehmen zu dürfen, ihm ernstliche Vorhaltungen über sein energieloses Benehmen und seine grobe Pflichtverletzung seiner fernen Braut gegenüber zu machen. Doch zu meinem großen Schmerze erfuhr dieser gutgemeinte Freundesdienst von ihm eine Zurückweisung, die mich bei ihrer beinahe beleidigenden Form zu dem festen Entschlusse kommen ließ, mir fortan jede Einmischung in Carlos Privatangelegenheiten zu sparen.
Während der nächsten drei Tage geschah nichts Besonderes. Carlo und ich, die wir bisher ein Herz und eine Seele gewesen waren, gingen uns scheu aus dem Wege und sprachen nur das Notwendigste miteinander. Abends blieb ich stets allein. Mein Freund ritt immer sofort nach Arbeitsschluß davon. Wohin, wußte ich nicht. Es war mir auch gleichgültig. Meist kehrte er erst in später Nachtstunde zurück. Seinen Wolfspitz Hasso vernachlässigte er jetzt vollkommen. Der arme Hund fühlte das sehr gut und schlich beständig mit trübseligem Gesicht und hängendem Schwanz umher. Da das treue Tier mir leid tat, nahm ich es regelmäßig bei meinen abendlichen Jagdausflügen mit, wofür es mir stets auf seine Hundemanier durch freudiges Bellen und Umherspringen seine tiefe Dankbarkeit ausdrückte.
Am vierten Abend nach jener Nacht, in der Carlo vor dem Bilde seiner Braut Besserung gelobte, hatte ich dann eine Begegnung, die wieder neue, noch schwerere Sorgen auf meine Seele lud. Ich war mit meiner Büchse am Ufer des nahen Flüßchens entlanggepirscht, um womöglich einen Panther, der die Hütten unserer Arbeiter häufig umschlich und schon manches Zicklein geraubt hatte, zum Schuß zu bekommen. Hasso führte ich an der Leine mit mir, da ich fürchtete, der Hund könnte beim Umherstreifen in dem dichten Unterholz von einer der hier recht zahlreichen Giftschlangen gebissen werden. Plötzlich – ich schritt gerade auf einem schmalen Pfade in dem Röhricht dahin, den wahrscheinlich Elefanten ausgetreten hatten – blieb der Wolfsspitz mit gesträubtem Rückenhaar stehen und starrte unverwandt in das undurchdringliche Gestrüpp, wobei er jene knurrenden Laute ausstieß, mit denen das gut dressierte Tier stets vor einer drohenden Gefahr zu warnen pflegte. Blitzschnell hatte ich den Kugellauf meines Gewehres entsichert und durchforschte nun aufmerksam mit den Augen jene Stelle, hinter deren grünem Blättervorhang ohne Zweifel irgendein verdächtiges Wesen lauerte. Aber vergebens suchten meine Blicke das Unterholz zu durchdringen. Schließlich hob ich die [83] Büchse an die Schulter und zielte nach jener Richtung, als ob ich aufs geradewohl eine Kugel dem unbekannten Feinde entgegensenden wollte. Das half.
„Sahib (Herr), schießt nicht!“ ertönte es jetzt mit einem Male hinter dem dichten Blätterdach in gebrochenem Englisch hervor. „Ich bin’s, Sarka-Mana, der Fakir, den Ihr im Dorfe Goldari vor sechs Tagen gesehen habt.“
Und wenige Augenblicke später stand der alte Indier vor mir auf dem engen Elefantenpfade.
„Was treibst du hier?“ fragte ich mißtrauisch und musterte die hagere, braune Gestalt nicht gerade freundlich. Auch Hasso knurrte den Indier höchst bedenklich an.
„Sahib, Ihr werdet einem alten Manne eine Frage erlauben,“ bat er unterwürfig. „Wo hat Sahib Kieselowsky meine Enkelin hingebracht? – Sie ist seit vorgestern Nacht verschwunden, und nur er kann sie mir entführt haben, mir und ihrem Verlobten Dama-Schenk, meinem Gehilfen.“
Bei dieser Nachricht fuhr ich erschreckt zusammen, faßte mich aber schnell und erwiderte möglichst ruhig:
„Ich kann nicht glauben, was du mir da eben von meinem Freunde erzählst, Sarka-Mana. Woher willst du auch wissen, daß gerade Sahib Kieselowsky das Mädchen fortgebracht hat und jetzt irgendwo verbirgt?“
„Ich weiß es, Sahib. Wir Fakire wissen mehr als andere Sterbliche, viel mehr,“ antwortete er ohne jede Prahlerei. „Und auch meine Enkelin werde ich finden, wenn nur erst der Vollmond über meinem Haupte leuchtet. – Für den Sahib-Freund aber wäre es besser, wenn er Lundja-Mana mir sofort wiedergibt – sofort!“ fügte er mit einem drohenden Aufblitzen seiner dunklen Fanatikeraugen hinzu. Darauf schlüpfte er ohne jeden weiteren Gruß in das Gestrüpp zurück.
Da mir diese Begegnung jede Freude an der Fortsetzung meines Pirschganges gründlich verdorben hatte, kehrte ich heim, allerdings mit der festen Absicht, Carlo noch heute ernstlich ins Gewissen zu reden und zu warnen, mochte daraus auch vielleicht ein völliger Bruch zwischen uns beiden entstehen.
Ich habe meinem Freunde dann auch wirklich wiederholt, was der alte Fakir gesprochen hatte, habe ihm vorgestellt, wie gefährlich es gerade hier in Indien für ihn sei, die Rache eines beleidigten Verwandten und eines betrogenen Verlobten herauszufordern.
Stumm, den Kopf in die Hand gestützt, hörte Carlo, der vor mir am Tische saß, meine Worte an. Jetzt, wo sein Gesicht von dem Schein der Lampe so scharf beleuchtet wurde, bemerkte ich erst den Zug wildester Verzweiflung um seine fest zusammengekniffenen Lippen. Und da überkam mich plötzlich ein tiefes Mitleid. Warm legte ich ihm die Hand auf die Schulter:
„Carlo, folge meinem Rat. Mach dich frei von diesem Mädchen, sobald als möglich, und fliehe irgendwohin, wo du Zerstreuung, Ablenkung findest! Glaube mir, dein Leben schwebt in Gefahr! In den unheimlichen Augen des alten Fakirs war nichts Gutes zu lesen.“
Da sagte er mit dumpfer Stimme: „Denke von mir, was du willst … ich kann von Lundja-Mana nicht lassen, werde sie später auch mit mir nach Europa nehmen. Möglich, daß ich an dieser Liebe zugrunde gehe. Aber auch das ist mir gleichgültig. Ich bin eben nicht mehr derselbe Mensch geblieben, lebe jetzt wie in einem fortwährenden Rausch, kenne mich selbst kaum noch.“ Und leise fügte er nach einer Pause hinzu: „Eigentlich bin ich ja mehr zu bedauern wie zu verdammen.“
„So raffe dich doch auf, nimm einmal all deine Energie zusammen, um von diesem Weibe loszukommen!“
„Ich kann nicht … kann nicht!“ und ein verzweifeltes Stöhnen war der Nachhall dieser trostlosen Worte.
Was jetzt vor mir am Tische saß und mit halb irren Augen nach dem Bilde Leni Bergers hinstarrte, stellte nur noch eine klägliche Ruine des einst so schaffensfrohen, frischen Mannes dar. Unendliches Erbarmen machte mir das Herz weich. Aber ich schwieg. Eins jedoch stand bei mir fest: am nächsten Morgen würde ich meinen armen Freund, und wenn es gewaltsam geschehen müßte, mit mir nach Luknor nehmen und ihn dort einem Nervenarzt übergeben. Denn daß Carlos Geist nicht mehr normal sein konnte, hatte mir diese Aussprache nur zu deutlich gezeigt.
Es sollte nicht sein. Das Schicksal wollte es anders. Um fünf Uhr früh begann mit einem Male – auf unserem verlorenen Posten eine Seltenheit – der auf einem kleinen Wandbrett angebrachte Telegraph zu klappern. Ein langer Papierstreifen, mit Punkten und Strichen bedeckt, rollte sich ab. Er brachte die überraschende Nachricht, daß am nächsten Tage Rajah Sadani mit einem zahlreichen Gefolge auf unserer Station eintreffen würde, um zu Ehren seines Gastes, des Vizekönigs von Indien, Tigerjagden in dem wildreichen Revier abzuhalten. Zu gleicher Zeit wollte der Fürst dann auch den bisher fertiggestellten Teil der Bahnstrecke besichtigen.
Unter diesen Umständen war natürlich an eine Fahrt nach Luknor gar nicht zu denken, zumal wir damit rechnen mußten, daß der Reisemarschall des Rajahs schon heute mit dem üblichen riesigen Troß anlangen würde, um das Zeltlager, besser die Zeltstadt, für seinen Gebieter mit all dem märchenhaften, farbenprächtigen Prunk aufzuschlagen, den wir schon einmal zu bewundern Gelegenheit gehabt hatten. Und wirklich – mittags tauchte aus dem westlichen Dschungel eine endlose Reihe von hochbepackten Elefanten auf, und einige Stunden später waren bereits auf dem etwa fünfhundert Meter von unserem Häuschen entfernten, langgestreckten und mit schattigen Palmen bestandenen Hügel eine Unzahl Diener mit dem Errichten der aus schwerer Seide bestehenden Zelte beschäftigt. Für uns gab es natürlich gleichfalls alle Hände voll zu tun, so daß ich nicht viel Zeit hatte, trüben Gedanken nachzuhängen. Als ich dann – mein Freund wollte inzwischen unsere Garderobe für den Empfang des Fürsten einer wahrscheinlich sehr notwendigen Prüfung unterziehen – gegen Abend in unserem kleinen, gemütlichen Heim erschien, meldete mir mein Diener, daß Sahib Kieselowsky fortgeritten sei und mir sagen ließe, ich solle mit der Abendmahlzeit nicht auf ihn warten.
Es fiel mir bei dieser Nachricht wirklich schwer, meine Enttäuschung zu verbergen. Denn wohin Carlo seinen flinken Braunen gelenkt hatte, wußte ich genau – eben dorthin, wo er Lundja-Mana verborgen hielt. Er hatte also der Versuchung trotz der gestrigen Aussprache nicht widerstehen können.
So aß ich denn allein und mit recht schlechtem Appetit. Die meisten Stücke des vortrefflichen Brathuhnes bekam Hasso, der bei all seinen Seelenschmerzen um die verlorene Zuneigung seines Herrn wie immer einen recht anständigen Hunger entwickelte. Ich hatte die Tür des Häuschens offen gelassen und konnte daher von meinem Platze aus einen großen Teil der Gegend, durch die sich der frisch aufgeschüttete Eisenbahndamm wie ein graugelber Streifen hindurchzog, bequem überblicken. Wie ich noch so in Gedanken versunken in das abwechslungsreiche Landschaftsbild hinausschaute, erschienen plötzlich in der Tür zwei lange, hagere Gestalten, die nach bescheidenem Gruß draußen stehen blieben. Es waren Sarka-Mana der Fakir, und sein Gehilfe Dama-Schenk.
„Sahib, verzeiht die Störung,“ begann der Alte, „Wir möchten Euern Sahib-Freund sprechen.“
„Mein Freund ist ausgeritten,“ entgegnete ich der Wahrheit gemäß und streichelte gleichzeitig beruhigend den wütenden Hasso, der sich schon zum Sprunge zusammengeduckt hatte. Fraglos waren die beiden Indier dem klugen Tiere äußerst unsympathisch.
Sarka-Manas Augen glitten inzwischen blitzschnell und seltsam prüfend über die Einrichtung unseres Häuschens hin.
„Sahib,“ bat er dann in demselben unterwürfigen Tone, „ich möchte Euch allein etwas sagen, Euch allein.“ Und dabei schaute er bezeichnend nach meinem Diener hin, der eben die Teller wegräumte. Nachdem dieser von mir hinausgeschickt war, fuhr der alte Fakir mit leiser, eindringlicher Stimme fort:
„Sahib, Lundja-Mana, meine Enkelin, ist noch immer nicht zu uns zurückgekehrt. Aber in der ersten Vollmondnacht gehört sie wieder uns, nur uns! – Mag Sahib Kieselowsky dem Mädchen das bestellen von mir, ihrem Großvater.“
„Und weiter wünscht Ihr nichts?“ fragte ich kurz, um die braunen, unbequemen Gesellen endlich loszuwerden.
„Nichts, Sahib … Nur vergeßt nicht: In der ersten Vollmondnacht kehrt Lundja-Mana für immer zurück!“
Als ich allein war, grübelte ich doch unwillkürlich über des Alten rätselhafte Worte nach. Schließlich zog ich meinen Taschenbuchkalender hervor, um nachzusehen, an welchem Tage wir die volle Mondscheibe zu erwarten hatten. Am Freitag, und heute war Mittwoch. Also noch zwei Tage … Sie vergingen infolge der Abwechslung, die der Besuch des Rajahs mit sich brachte, wie im Fluge. Mein Freund aber fand immer noch Zeit, mehrere Stunden der Nacht seinen geheimnisvollen Ausflügen zu opfern, deren Ziel mir auch jetzt noch unbekannt war. Gewiß, ich hatte Carlo den Auftrag des alten Fakirs getreulich ausgerichtet, jedoch nicht das Geringste damit erreicht. Als einzige Antwort bekam ich von ihm zu hören:
„Mag Sarka-Mana seine Enkelin nur suchen! Im übrigen, Fritz, überlasse mich nur meinem Schicksal. Mir ist doch nicht mehr zu helfen.“
Für den Freitag hatten wir eine Einladung des Rajahs zur Mittagstafel erhalten. Diese fanden wir in dem großen Wohnzelte aufs prunkvollste gedeckt und mit einer schier erdrückenden Menge silberner und goldener Tafelgeräte bestellt. Der Fürst, ein noch junger Mann mit fast europäischem Gesichtsschnitt und ganz heller Hautfarbe, behandelte uns mit großer Liebenswürdigkeit und [84] unterhielt sich besonders eifrig mit meinem Freunde, dessen echt germanische Erscheinung – Carlo war ein wahrer blonder Hüne – ihm offenbar sehr gefiel. – Nach Tisch wurden die elfenbeinverzierten Ebenholzstühle, auf denen der Rajah und sein vornehmster Gast, der Vizekönig von Indien, gesessen hatten, vor das Zelt unter den baldachinartigen Vorbau getragen, während für uns und das fürstliche Gefolge elegante Feldstühle in einem Halbkreise schon bereit standen. Der Boden war weithin mit schweren Teppichen belegt, und auf dieser Bühne begannen jetzt eine Schar von phantastisch aufgeputzten Tänzerinnen unter den Klängen einer indischen Nationalkapelle, deren meist gitarrenähnliche Instrumente seltsam weiche, einschmeichelnde Töne hervorbrachten, ihre sinnverwirrenden, von Leidenschaften durchglühten Reigen vorzuführen. Inzwischen reichten Diener Mokka, Zigarren, Zigaretten und die feinsten Liköre herum, und ebenso konnte man auf Wunsch auch weiter eisgekühlte Getränke aller Art erhalten.
Nachdem die Tänzerinnen, denen der Rajah als Zeichen seines Beifalls eine Handvoll Goldmünzen zugeworfen hatte, verschwunden waren, erschienen in dem von den Zuschauern gebildeten Kreise zu meinem nicht gerade freudigen Erstaunen plötzlich Sarka-Mana, der Fakir, und sein Gehilfe Dama-Schenk, beide heute in ihrem Äußeren so vollständig verwandelt, daß ich sie erst bei genauerem Hinsehen wiedererkannte. Ihre zerrissenen, beschmutzten Lumpen hatten sie mit hellen, mit Seidentroddeln reich verzierten, hellen Mänteln vertauscht, die ihre schlanken Gestalten sehr vorteilhaft kleideten. Das Handwerkszeug zu ihren Kunststücken wurde ihnen von zwei Dienern in einem großen, viereckigen Weidenkorbe nachgetragen. In der Mitte des Kreises machten sie halt und verbeugten sich mit über der Brust gekreuzten Armen tief vor dem Fürsten.
Der Rajah wandte sich jetzt an meinen Freund, der einige Schritte von ihm entfernt neben mir saß:
„Ich hoffe, Ihnen heute etwas ganz Besonderes darbieten zu können. Gewöhnlich zeigt Sarka-Mana, der zu den berühmtesten Mitgliedern der Fakir-Sekte gehört, der großen Menge nur jene alltäglichen Gauklerstückchen, wie Sie und Ihr Freund sie wohl schon in Ihrem Vaterlande gesehen haben werden, allerdings dort nur von Leuten, die sich zu Unrecht indische Fakire nennen. Denn ein richtiges Mitglied der Fakir-Sekte darf nach seinen Ordensregeln seine Heimat nie verlassen.“
„Wir sind Hoheit zu größtem Dank für die Einladung zu dieser Vorführung verpflichtet,“ erwiderte Carlo mit höflicher Verbeugung. „Ganz besonders deswegen, weil ich noch nie – auch hier in Indien nicht – einen Fakir gefunden habe, dessen Leistungen nicht ein mittelmäßiger, europäischer Taschenspieler übertroffen hätte. – Jedenfalls vermochte ich bisher nicht zu begreifen, wie selbst aufgeklärte Männer der Wissenschaft daran glauben konnten, daß die Fakire über übernatürliche Fähigkeiten verfügen.“
Des Rajahs Gesicht war plötzlich merkwürdig ernst geworden.
„Sie werden anders denken lernen, noch heute, seien Sie überzeugt! Mein Leibarzt Dr. Schusterius gehörte auch zu den Zweiflern. Vielleicht sprechen Sie einmal mit ihm über das Thema, wenn Sie Sarka-Mana angestaunt haben, denn das werden Sie sicher tun.“
Dann winkte der Fürst dem alten Fakir, der anscheinend völlig teilnahmslos dagestanden hatte, mit der Hand zu.
[89] Bevor ich nun völlig wahrheitsgetreu schildere, was wir an jenem Freitag an unerklärlichen Rätseln zu sehen bekamen, möchte ich noch bemerken, daß sich alles dicht vor unseren Augen bei hellstem Tageslicht abspielte, während Sarka-Mana und sein Gehilfe von einem dichten Ringe von Zuschauern eingeschlossen waren, also unter Bedingungen, wie sie zur Vorführung von bloßen Taschenspielerkunststückchen gar nicht ungünstiger sein konnten.
Der alte Fakir begann sein Programm sofort mit einem Experiment, das meine Zweifelsucht sehr stark ins Wanken brachte. Er entnahm dem Weidenkorbe einen langen, buntfarbigen Seidenschleier, schwenkte ihn einige Male in der Luft hin und her und wirbelte ihn dann um einen, vielleicht einen Meter langen dünnen Ast, an dem sich noch frische, grüne Blätter befanden. Den so vollkommen eingehüllten Zweig legte er dicht vor den Füßen des Vizekönigs nieder und trat dann zurück – alles, ohne nur ein einziges Wort zu sprechen. Hierauf reichte ihm sein Gehilfe Dama-Schenk eine Flöte, auf der er eine für meine Ohren äußerst unmelodische Tanzweise zu spielen begann. Plötzlich fing der in dem Seidenschleier eingewickelte Zweig an sich zu bewegen, erst wenig, dann immer heftiger, bis sich das Seidenbündel mit einem Male kerzengrade aufrichtete und aus den Falten des herabsinkenden Schleiers sich der glatte Kopf und der halbe Leib einer Kobra, einer der gefährlichsten Giftschlangen Indiens, herausschälte. Manchem der Anwesenden blieb sicher bei diesem Anblick das Herz vor Schrecken einen Moment stehen. Denn die Gefahr für den Vizekönig und den Fürsten, vor denen das Reptil sich jetzt hochaufgerichtet hin und herwand, war zweifellos keine geringe. Und ich sah es dem ersteren auch an, welche Überwindung es ihn kostete, weiter in seiner verderbenbringenden Nachbarschaft auszuharren.
Sarka-Manas Flötenspiel ging jetzt in ein immer schnelleres Tempo über. Und wie magnetisch von den Tönen angezogen, bewegte sich die Kobra nun langsam auf den alten Fakir zu, der sich inzwischen mit untergeschlagenen Beinen auf dem kostbaren, dicken Perserteppich niedergelassen hatte. Immer näher schlängelte sich das gefährliche Reptil, immer näher, bis es so dicht vor dem Flötenspieler lag, daß er es bequem mit der Hand erreichen konnte. Was nun folgte, geschah so blitzschnell, daß ich die Einzelheiten des Vorgangs nicht klar zu übersehen vermochte. Jedenfalls griff Sarka-Mana plötzlich mit der Rechten nach der Kobra und schwenkte schon im nächsten Augenblick denselben belaubten Zweig in der Hand, den er vorhin in den seidenen Schleier eingehüllt hatte. Die Schlange aber war spurlos verschwunden.
Keine Beifallsäußerung wurde laut. Gegenüber dieser verblüffenden Darbietung blieb ein jeder stumm, schaute nur mit staunender Bewunderung auf Sarka-Mana, der mit kühler Gelassenheit bereits die Vorbereitung zu der zweiten Nummer seines Programmes traf. Dama-Schenk mußte ihm jetzt den rechten, völlig entblößten Arm bis hinauf zur Achsel mit großen Stücken einer trockenen Moosart umwickeln, die wegen ihres starken Harzgehaltes sehr gut brennt und die wir beim Bahnbau ebenfalls regelmäßig zum Anheizen unserer eisernen Öfen benutzten, in denen die Schienenbolzen ausgeglüht werden. Nachdem der Arm dicht mit diesem Brennmaterial umgeben worden war, ließ Sarka-Mana sich abermals auf dem Teppich nieder und streckte den eingehüllten Arm über ein eisernes Becken aus, in dem ein kleines Häufchen Holzkohlen schwelte. Mit einem Male brannte die Moosbandage lichterloh, und es vergingen gut drei Minuten, bis die letzten Stückchen des verkohlten Mooses in das Becken hinabfielen. Dann erhob sich der alte Indier, kam geradewegs auf uns zu und blieb vor Carlo stehen, dem er nun seinen völlig unversehrten Arm entgegenstreckte.
„Mag einer der Zauberer Eurer Heimat, Sahib, mir das nachmachen“, meinte er stolz und kehrte dann wieder in die Mitte des Kreises zurück.
Carlo sagte nichts, schaute mit gefurchter Stirn vor sich hin, als ob er darüber nachgrübelte, auf welche Weise der Fakir wohl seinen Arm zu solcher Unverwundbarkeit hatte präparieren können. Und doch fühlte ich, daß seine nachdenkliche Ruhe nichts als eine Maske war, hinter der er sein hier durchaus gerechtfertigtes Staunen zu verbergen suchte. Schon wollte ich leise eine Frage an ihn richten, als Sarka-Manas Stimme mich davon abbrachte.
„Erhabener Fürst,“ ließ sich der Alte vernehmen, „in längst entschwundenen Zeiten, als noch die Götter auf Erden wandelten, gaben sie einem meiner Ahnen die Macht, Böse zu strafen und Gute zu belohnen. Und diese Macht ist auch auf mich übergegangen, auf Sarka-Mana, den letzten meines Geschlechts. Hier, diesen Pfeil werde ich nachher in die Luft versenden, und derselbe Pfeil wird aus den Wolken herabfallend den treffen, der sich nicht scheut, im [90] reinen Lichte des Vollmondes mit schwer belastetem Gewissen einherzuwandeln. Wann dieser strafende Pfeil einen für das Strafgericht der Götter Gezeichneten erreichen wird, ich weiß es nicht. Sicherlich aber geschieht es nur, wenn das leuchtende Gestirn der Nacht uns sein volles Antlitz zeigt. Darum, wer sich schuldig fühlt, der mache gut, was er begangen. Noch ist es Zeit! Zum Mond hinauf steigt mein Geschoß, und der Mond versendet es wieder. Eine reine Seele schützt allein vor ihm … Haltet eure Seelen rein!“
„Unsinniges Gewäsche“, meinte Carlo, ironisch die Achseln zuckend, als Sarka-Mana jetzt schwieg. Mir aber waren plötzlich die geheimnisvollen Worte eingefallen, die der alte Indier zweimal zu mir gesprochen hatte – auf dem engen Elefantenpfade im Dschungel und dann vor der Tür unseres Häuschens. Und beim letzten Male hatte er, wie ich mich nur zu gut besann, wörtlich gesagt: „In der ersten Vollmondnacht kehrt Lundja-Mana für immer zu uns zurück.“ Und jetzt spielte der Vollmond in seiner rätselhaften Ansprache ebenfalls eine so wichtige Rolle!
Ein unbehagliches Gefühl beschlich mich da plötzlich, etwas wie aufsteigende Angst, die mein Herz unruhig klopfen ließ. Und doch konnte ich mir keine Rechenschaft darüber geben, welchen Einflüssen diese Furchtempfindung zuzuschreiben war.
Indessen hatte der Fakir dem Rajah[2] den Pfeil mit der Bitte überreicht, auf eins der weißen an dem Schaft befestigten Bänder einige Zeichen zu machen. Als zweiter schrieb dann der Vizekönig mit einem Bleistift einige Worte auf eins der schmalen Zeugstreifen. Jetzt kam Sarka-Mana mit dem auf diese Weise gekennzeichneten Geschoß zu uns herüber und hielt es meinem Freunde hin. Dabei bückte er sich tief zu dessen Ohr hinab und flüsterte ganz leise, so daß nur ich, der neben Carlo saß, ihn gleichzeitig verstehen konnte:
„Sahib, wenn Lundja-Mana nicht bis Mitternacht bei uns ist, dann habt Ihr die Strafe der Götter zu fürchten.“
Carlo lachte dazu nur höhnisch auf und antwortete mit einem englischen Schimpfwort, das man am besten mit „Alter Halunke“ übersetzt. Dann zog er einen Bleistift hervor, breitete eins der Bänder des Pfeiles über das Knie und schrieb trotzig mit großen Buchstaben darauf „Lundja-Mana“.
Schweigend ging der Fakir in die Mitte des Kreises zurück, legte den Pfeil auf die Bogensehne und schoß ihn senkrecht in die klare, sonnendurchstrahlte Luft hinaus. Und der Pfeil stieg höher und höher, während seine weißen Bänder hin- und herflatterten, wurde immer kleiner, bis er schließlich im Äther verschwand … Aber vergebens warteten wir darauf, daß das Geschoß, dem Gesetze der Schwere folgend, wieder zur Erde herabsinken würde. So viele Augen auch nach ihm ausspähten, niemand erblickte es, wenigstens vorläufig nicht!
Unwillkürlich schaute ich in diesem Moment zu dem Rajah hinüber. Und da bemerkte ich deutlich in dem bronzefarbenen Gesicht des jungen Fürsten ein eigentümliches Lächeln, das fraglos meinem Freund allein galt, dessen Mienen jetzt nichts mehr von jener spöttischen Überlegenheit verrieten, mit der er vorher die indischen Fakire auf eine Stufe mit den europäischen Zauberkünstlern gestellt hatte. Im Gegenteil – Carlos Antlitz war mit einem Male aschfahl geworden, und als ich die Richtung seiner Blicke verfolgte, merkte ich, daß sich die seinen mit denen Dama-Schenks wie Degenklingen in tödlichem Hasse kreuzten.
Da rief auch schon der Rajah zu uns herüber:
„Nun, Master Kieselowsky, was sagen Sie jetzt?“
Carlo faßte sich schnell. Zu meinem großen Befremden antwortete er offenbar gegen seine bessere Überzeugung:
„Ich bewundere ehrlich den hohen Grad von Vollkommenheit der Taschenspielerkunststücke Sarka-Manas, Hoheit. Etwas Außergewöhnliches kann ich aber auch jetzt nicht dabei finden.“
Der Fürst schüttelte leicht, wie ungeduldig, den Kopf.
„Ich stelle Ihnen gern meine gesamte Dienerschaft zur Verfügung. Lassen Sie die Umgebung aufs sorgfältigste nach dem Pfeil absuchen, niemand wird ihn entdecken, niemand! – Ich sehe dieses Experiment nicht zum erstenmal von dem Fakir, weiß auch, wie es gewöhnlich endet“, fügte er plötzlich sehr ernst hinzu.
„Hoheit würden mich sehr zu Dank verpflichten, wenn ich über diesen Ausgang des angeblichen Strafgerichts Näheres erfahren könnte“, meinte Carlo jetzt mit wirklichem Interesse.
Doch Rajah Sadani ließ sich zu weiteren Erklärungen nicht herbei: „Sie würden meinen Worten ja doch nicht glauben, wo nicht einmal der Augenschein Sie von den unerklärlichen Fähigkeiten Sarka-Manas hat überzeugen können“, meinte er bestimmt und gab dann dem Fakir ein Zeichen, mit seinen Vorführungen fortzufahren.
Dama-Schenk entleerte nun den großen mit einem Deckel versehenen Weidenkorb, in dem die verschiedenartigen Requisiten des Fakirs lagen, seines Inhaltes, zeigte, daß der Korb tatsächlich auch nicht die geringste Kleinigkeit mehr enthielt und breitete dann wieder den flachen Deckel darüber.
So blieb der Korb eine ganze Weile auf dem dicken Teppich unberührt stehen, während Sarka-Mana und Dama-Schenk einige Meter davon bewegungslos wie Statuen in aufrechter Haltung verharrten. Dann flog plötzlich der Deckel zur Seite, und in dem nunmehr offenen Korbe richtete sich langsam eine weibliche, mit bunten Seidengewändern bekleidete, schlanke Gestalt auf – eine Gestalt, die vollkommen Lundja-Mana, der Enkelin des alten Fakirs, glich. Ich erkannte sie sofort wieder. Eine Täuschung war hier gänzlich ausgeschlossen. Und niemals werde ich das todestraurige Lächeln vergessen, mit dem die schöne Indierin jetzt meinen Freund anschaute.
Carlo saß, schwer atmend, fast keuchend, neben mir, den Oberkörper weit nach vorn gebeugt, und seine stieren Blicke verfolgten jede Bewegung der – sagen wir – der Erscheinung, während sein Gesicht sich nun langsam mit einer grünlichen Blässe überzog. – Die Szene in der Mitte des Zuschauerkreises hatte sich inzwischen völlig verändert. Sarka-Mana stand in einer Entfernung von vielleicht sieben Schritt vor Dama-Schenk, der einen mittelgroßen Kürbis in der ausgestreckten Rechten hielt. In des Fakirs Hand aber blinkten zwei lange, spitze Messer, von denen er das eine jetzt prüfend wog und es dann blitzschnell nach dem Kürbis hinschleuderte. Und bis zum Heft fuhr es in die gelbe Frucht hinein.
Hierauf kam das Entsetzliche, das meine gewiß nicht verweichlichten Nerven bis zum Reißen spannte und meine Seele mit Schauern des Grauens erfüllte.
Blitzschnell hatte der alte Indier das zweite Messer dem ersten folgen lassen, aber sich dabei ein anderes Ziel erwählt – Lundja-Manas Herz, in dem die blitzende Stahlklinge vollständig verschwunden war. Und allmählich sank nun die Gestalt des braunen Mädchens zusammen, verschwand langsam wieder im Innern des aus Weiden geflochtenen Behälters. Die dunklen Augen aber ruhten, bis der Rand des Korbes sie verdeckte, noch immer mit dem gleichen, unendlich wehmütigen Ausdruck auf meinem Freunde, der zitternd wie Espenlaub, einer Ohnmacht nahe, in seinem Stuhle lehnte. Minuten vergingen. Die beiden Indier standen jetzt wieder wie die Bildsäulen mit über der Brust gekreuzten Armen da. Es war, als ob sie durch ihre völlige Bewegungslosigkeit den erschütternden Eindruck dieses furchtbaren Schauspiels noch erhöhen wollten. Und auch all die, die Zeugen dieses für das menschliche Begriffsvermögen gänzlich unerklärlichen Vorganges gewesen waren, befanden sich in einer Art schwerer Erstarrung, blieben regungslos, stumm, richteten ihre Blicke wie gebannt auf den Weidenkorb, als müßte aus dem hellen Geflecht jeden Moment das rote Blut der Indierin hervorsickern.
Plötzlich wurde jedoch die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf etwas anderes übergelenkt. Mein Freund hatte sich, noch bevor ich ihn daran zu hindern vermochte, erhoben und war taumelnd wie ein Trunkener, vorwärts geschritten. Vor dem Korbe machte er halt, stieß einen markerschütternden Schrei aus und stürzte vornüber zu Boden, wobei er den Korb im Fallen mit umriß. Und jetzt sah man – woran ich niemals gezweifelt hatte –, daß dieser wie vorher vollständig leer war.
Eben hatte die Weckeruhr elf geschlagen. In unserem kleinen Häuschen saß neben dem Lager Carlos, das wir aus Decken auf dem Fußboden zurecht gemacht hatten, Dr. Schusterius, der Leibarzt des Fürsten, und prüfte eben den Pulsschlag des Kranken, der jetzt in vollkommener Apathie dalag, nachdem es uns erst nach stundenlangen Bemühungen gelungen war, ihn aus der tiefen Ohnmacht zu wecken. Ich selbst hatte meinen Platz an dem Mitteltische gewählt und schrieb beim Scheine der halbverhüllten Lampe einen ausführlichen Bericht an den Filialleiter unserer Firma nach Kalkutta, der mir umgehend einen anderen Ingenieur für meinen sicher für längere Zeit arbeitsunfähigen Freund herausschicken sollte.
Dr. Schusterius, ein geborener Rheinländer, der nach mannigfachen Schicksalen diese glänzende Stellung bei dem Rajah gefunden hatte, verließ jetzt leise seinen Platz und winkte mir dabei verstohlen zu, ihn mit hinauszubegleiten.
„Mit Ihrem Kollegen steht’s schlecht,“ sagte er draußen zu mir, „das Herz setzt alle Augenblicke aus, und diese plötzlich eingetretene Herzschwäche ist mehr als bedenklich.“
Ich hatte mich bisher gescheut, dem Landsmann etwas von dem traurigen Herzensroman Carlos mitzuteilen und ihn bei dem Glauben gelassen, daß mein Freund lediglich infolge der heutigen aufregenden Vorstellung des Fakirs von diesem schweren Nervenanfall heimgesucht worden sei. Jetzt hielt ich es aber doch für geraten, dem Arzte die volle Wahrheit einzugestehen. Aufmerksam hörte Dr. Schusterius mir zu.
„Also so liegt die Sache!“ meinte er dann sehr ernst. „Nun begreife ich ja erst, wie Ihren Kollegen dieses letzte Experiment so [91] furchtbar angreifen konnte. Für mich unterliegt es hiernach auch keinem Zweifel mehr, daß Sarka-Mana mit voller Absicht gerade dieses Gauklerkunststück in sein Programm aufgenommen hat. Ihm war es fraglos darum zu tun, den weißen Sahib, der ihm seine Enkelin entführt hat, einzuschüchtern. Schade nur, daß wir nicht wissen, wo Ihr Freund Lundja-Mana verborgen hält. Sonst würde ich doch dafür sein, das Mädchen schleunigst herbeiholen zu lassen, um eben allen weiteren unangenehmen Folgen vorzubeugen.“
„Sie meinen also, meinem Kollegen droht Gefahr?“ fragte ich schnell.
Dr. Schusterius umging eine direkte Antwort.
„Auch ich will jetzt ganz offen zu Ihnen sein. Als ich vor fünf Jahren – ich war bis dahin Schiffsarzt der Hamburg-Amerika-Linie gewesen – meine Stellung bei dem Rajah antrat, da habe ich in der ersten Zeit ebenfalls immer spöttisch gelächelt, wenn Fakire im fürstlichen Palast in der Residenz Brolawana ihre Vorstellungen gaben. Als gebildeter Mensch war es mir unmöglich, an übernatürliche Dinge bei diesen Vorführungen zu glauben. Ja, ich habe sogar mit kühler Ruhe versucht, Erklärungen für all die geheimnisvollen Vorgänge zu finden, habe damit auch verschiedentlich Erfolg gehabt. Und doch blieb trotz alledem immer noch ein Rest von ungelösten Rätseln zurück. Ich will Ihnen nur einen dieser Fälle kurz schildern. Es ist derselbe, auf den der Fürst vorhin anspielte. Eines Tages im vorigen Frühjahr war Sarka-Mana bei uns im Palast erschienen und hatte sich erboten, eine Vorstellung zu geben. Da bei dem Rajah gerade mehrere Mitglieder der englischen Aristokratie als Gäste weilten, wurde der Fakir für den nächsten Nachmittag bestellt. Unter anderen Kunststücken zeigte er damals nun auch dasselbe Experiment, welches wir heute sahen. Er schoß einen vorher gekennzeichneten Pfeil in die Luft, nachdem er fast genau dieselben Worte von der jedem Übeltäter drohenden Strafe der Götter gesprochen hatte. Ich muß noch bemerken, daß kurz vorher einer der Diener des Fürsten im Schloßgarten von einem unbekannten Täter erstochen und beraubt worden war. – Am nächsten Morgen fand man nun in einem Hause eines der verrufensten Stadtteile der Residenz einen übel beleumundeten Menschen auf, dem der Pfeil des Fakirs mitten im Herzen saß. Und das Merkwürdigste: das Geschoß hatte tatsächlich den Richtigen getroffen. Denn bei dem Toten entdeckte man später die Uhr und die Börse des ermordeten fürstlichen Dieners. – Hätte man mir diese mysteriöse Geschichte nur erzählt, ich würde ihr nie irgendwelche Wichtigkeit beigemessen haben. Aber ich habe eben alles miterlebt, alles sorgfältig nachgeprüft. Tatsache ist, daß damals Vollmond war und daß Sarka-Mana, sein Gehilfe Dama-Schenk und seine Enkelin schon am Abend Brolawana verlassen und die Nacht in einem entfernten Dorfe zugebracht hatten. – Nach diesem Erlebnis gab ich es auf, mich mit den geheimnisvollen Eigenschaften der indischen Fakire kritisch zu beschäftigen, womit ich allerdings nicht sagen will, daß ich ihnen übernatürliche Fähigkeiten zutraue. Für mich steht nur fest, daß es Leute sind, die mit überaus großer Schlauheit und bester Ausnutzung der gegebenen Umstände arbeiten und außerdem noch über ein ganzes Heer von unbekannten Helfershelfern verfügen, mit deren Unterstützung es ihnen allein gelingt, ihre Künste mit einem so undurchdringlichen Schleier zu umhüllen. – Doch, jetzt kommen Sie, ich möchte Ihrem Freunde noch ein anderes Medikament geben.“
Gern hätte ich den Landsmann noch mehr gefragt. Aber mir schien es, als ob er ein längeres Gespräch über die Fakir-Sekte vermeiden wollte. So folgte ich ihm denn langsam in das Haus.
Nachdem unser Patient willig die Arznei genommen hatte, verabschiedete sich Dr. Schusterius.
„Falls Sie mich brauchen, lassen Sie mich nur sofort holen. Ihr Diener weiß ja, wo mein Wohnzelt steht“, sagte er noch, drückte mir die Hand und schritt dann durch die fast taghelle Nacht dem Jagdlager des Rajahs oben auf dem Palmenhügel zu. – Ich war mit Carlo allein, der regungslos auf seinem Lager ruhte. Der Mond, der senkrecht über unserem Häuschen stand, schien durch die offene, nur mit einem feinen Gazenetz überspannte Dachluke in das Zimmer und zeichnete auf dem Fußboden ein helles Viereck. Leise surrten die Ventilatoren, und ein erfrischender Luftzug durchwehte ununterbrochen den kleinen Raum. Hasso, der Wolfsspitz, lag zu meinen Füßen, den Kopf nach seinem Herrn hingerichtet, und schlief. Und im Traum winselte der Hund bisweilen leise auf, als ob ihn irgend etwas ängstigte. Ich hatte mir ein Buch vorgenommen und las. Denn schlafen konnte ich nach dem Tage mit all seinen Aufregungen doch nicht.
Die Weckeruhr schlug dreiviertel zwölf. Mit einem Male bewegte der Kranke sich. Als ich hinsah, hatte er den Kopf in die Hand gestützt und starrte nach oben, wo der Mond durch das Gazenetz der Dachluke wie ein gelblicher, verschwommener Kreis sichtbar war.
„Kann ich dir irgend etwas reichen, Carlo?“ fragte ich fürsorglich.
Er antwortete nicht, trotzdem er die Augen weit geöffnet hatte. Nochmals fragte ich. Er blieb stumm.
Auch Hasso war wach geworden. Langsam ging er jetzt auf das Lager seines Herrn zu und wedelte bittend mit dem Schwanz … Er wurde ebensowenig beachtet … Da kam das treue Tier zurückgeschlichen und streckte sich wieder unter meinem Stuhle hin.
Von fern her schallte das Kreischen einer aufgescheuchten Affenherde herüber, gleich darauf das langgezogene, schauerliche Geheul des Panthers.
Ich fühlte, wie mein Herz schneller und schneller schlug, wie mich plötzlich eine unerklärliche Angst überfiel. Das Alleinsein mit dem Kranken, der noch immer, als ob sein Geist schon völlig umnachtet war, zum Himmel emporstierte, wirkte auf meine überreizten Nerven immer peinigender. Vergebens zwang ich mich zum Weiterlesen. Meine Gedanken schweiften fortwährend ab. Ich überflog die Seiten und wußte nichts von ihrem Inhalt. Große Schweißtropfen standen mir auf der Stirn, und meine Hände waren kalt und feucht.
Da begann die Uhr zwölf zu schlagen.
Wie eine Erlösung erschienen mir die hellklingenden Töne in diesem bedrückenden Schweigen.
Der letzte Schlag war eben verhallt, als mein Freund plötzlich aufschrie. Der Schrei hatte nichts Menschliches an sich. Hasso und ich fuhren gleichzeitig entsetzt empor. Mit zwei Schritten befand ich mich an der Lagerstatt des Kranken, der jetzt mit weitaufgerissenen Augen auf dem Rücken lag.
Ich taumelte fast zurück, schaute nochmals hin, beugte mich vor, um genauer sehen zu können – kein Zweifel – was dort aus Carlos Brust genau an der Stelle, wo sich das Herz befinden mußte, herausragte, war ein Pfeil – derselbe Pfeil mit den hellen Bändern am Schaft, den Sarka-Manas Bogen heute in den unermeßlichen Äther hinausgeschickt hatte. Und langsam färbte sich jetzt auch meines Freundes weißes Nachtgewand auf der Brust dunkelrot.
Noch stand ich halbgelähmt, unfähig, das Schreckliche zu fassen, da, als Carlo keuchend und kaum verständlich hervorstieß:
„Fritz … Fritz … rette … Lundja-Mana … Insel im Fluß, wo … Arbeitsmaterial …“
Dann stöhnte er noch einmal tief auf, seine Arme zuckten wie im Krampf, und alles war vorüber.
Eine Viertelstunde später kam Dr. Schusterius, den ich durch meinen Diener hatte rufen lassen, notdürftig bekleidet, ganz atemlos angerannt. Er konnte nur noch den bereits eingetretenen Tod feststellen. – Nachdem ich ihm erzählt hatte, was seit seinem Fortgange geschehen war, wies er mit der Hand nach oben, wo in dem straff gespannten Gazenetz der Dachluke ein zackiger Riß klaffte.
„Dort ist der Pfeil hindurchgefahren,“ sagte er leise, damit ihn die draußen die Tür umdrängende Menge der Diener und Arbeiter nicht verstehen sollte. „Woher das Geschoß aber gekommen, die Frage wird Ihnen niemand beantworten können, niemand!“
Am nächsten Vormittag machte ich mich in Begleitung des Doktors nach der kleinen Insel auf, die mitten in dem nur zwei Meilen entfernten Flusse lag und auf der wir in einer Wellblechbude das Material für den Brückenbau vorläufig untergebracht hatten, weil die Insel von den Eingeborenen wegen der im Flusse zahlreich vorkommenden Krokodile möglichst gemieden wurde. Uns stand ein großes, flaches Boot zum Übersetzen zur Verfügung, so daß wir auch unsere Pferde mitnehmen konnten. Wir fanden das langgestreckte, niedrige Wellblechgebäude unversehrt vor. Die Tür war mit einem Vorhängeschloß fest verschlossen. Schon wollte ich es mit dem Schlüssel öffnen, damit wir das Innere durchsuchen konnten, als Hasso, den ich heute mitgenommen hatte, an der anderen Seite der Insel plötzlich in ein klägliches, ganz eigentümlich klingendes Geheul ausbrach, das gar nicht verstummen wollte.
„Kommen Sie,“ sagte da mein Gefährte kurz, „ich kenne diese Art von Hundegeheul. Hasso hat fraglos eine menschliche Leiche gefunden.“
Durch dichtes Gestüpp mußten wir uns den Weg bis zu jener Stelle bahnen, zu der uns des Tieres langgezogene, jämmerliche Töne hinführten. Und Dr. Schusterius hatte das Richtige vermutet: Die Arme unterm Kopfe verschränkt, mit friedlichem Lächeln, als wenn sie schliefe, lag dort Lundja-Mana, die Enkelin des alten Fakirs. In ihrem Herzen aber steckte, bis zum Heft hineingetrieben, ein langes Messer.
Erschüttert standen wir eine Weile wortlos vor diesem rührenden Bilde. Dann sagte mein Landsmann trübe vor sich hinnickend:
„Also auch sie hat so bitter büßen müssen … Armes, braunes Kind … Deine Liebe zu dem weißen Sahib ist dir wirklich teuer zu stehen gekommen. – Und Sie, lieber Freund, verstehen Sie [92] jetzt die volle Bedeutung all der rätselhaften Warnungen Sarka-Manas?! Bis zur ersten Vollmondnacht sollte Lundja-Mana zu ihrem Großvater zurückkehren, sonst …! Und dieses ‚sonst!‘ ist pünktlich eingetreten. Morgen werden wir zwei Körper nebeneinander in die Erde betten …“
Rajah Sadani hat damals vergebens all seine Macht aufgeboten, um des Fakirs und dessen Gehilfen Dama-Schenks habhaft zu werden. Die beiden waren wie vom Erdboden verschwunden, und ich habe auch nie wieder etwas von ihnen gehört, trotzdem ich noch beinahe zwei Jahre in Indien blieb. – In meinem Arbeitszimmer aber hängt mitten unter einer reichhaltigen Sammlung ausländischer Waffen ein langer Pfeil mit eiserner Spitze, an dessen Schaft verschiedene helle Bänder befestigt sind. Eines von diesen Bändern, dessen Ende fast schwarz von Blut ist, trägt in großen Buchstaben die Aufschrift von der Hand meines toten Freundes „Lundja-Mana“.