Memoiren einer Sozialistin/Zwölftes Kapitel
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Ein Aufenthalt in Berlin galt mir immer als ein Gipfel des Vergnügens, besonders wenn Onkel Walter der Führer war. Niemand wußte wie er, in welchen Theatern man am meisten lacht, in welchem Zirkus am schneidigsten geritten wird, und wo man am besten ißt und trinkt. Die acht Tage, die ich diesmal auf der Durchreise nach Bromberg bei ihm verbrachte, waren aber mehr eine Qual als ein Genuß für mich, obwohl wir vor lauter „Amüsement“ gar nicht zu Atem kamen und meine lustige Tante sich über meine „blasierte Miene“, mit der ich wohl „die neueste Mode mitmachte“, nicht genug moquieren konnte. Wir waren bei Kroll im „Mikado“, in der Friedrich-Wilhelmstadt und bei Renz, wir saßen auf der Estrade im Wintergarten, soupierten bei Hiller und im Kaiserhof, immer in derselben Gesellschaft von Gardeleutnants und konservativen Parlamentariern, aber von dem modernen künstlerischen und literarischen Leben, dem mein ganzes Interesse galt, war nur insofern etwas zu spüren, als die einen es verhöhnten, die anderen nach dem Staatsanwalt schrieen und der Rest heimlich und voll zynischer Lüsternheit mit ihm liebäugelte, wie ein alter Roué mit der Straßendirne. Familien-, Hof-
[345] und politischer Klatsch stand im übrigen im Mittelpunkt der Unterhaltung, und dem Ärger und der Verstimmung gab man, wie gewöhnlich, wenn man unter sich war, den kräftigsten Ausdruck. Des armen kranken Kronprinzen wurde kaum mit einem Wort des Mitleids gedacht, die Empörung über den Einfluß der Kronprinzessin, über die von ihr eingefädelte Battenberg-Affäre, deren Schlußeffekt der Sturz Bismarcks hätte sein sollen, über die ganze allmählich zu Macht und Ansehen gelangende Kronprinzenpartei, die aus Juden und Judengenossen zusammen gesetzt sei, war viel zu groß.
Die von Bismarck kopulierte unnatürliche Ehe zwischen dem Nationalliberalismus und den Konservativen wurde hier, wo man sich keinerlei Zwang aufzuerlegen brauchte, drastisch genug beleuchtet.
„Hab ichs nicht immer gesagt,“ rief bei einer solchen Unterhaltung eines der ältesten Mitglieder des Herrenhauses, der Typus eines echten Feudalherrn vom guten Schlag, „daß wir uns nicht stärker blamieren konnten, als durch diese Liierung mit den Industrierittern. Nichts, gar nichts Gemeinsames haben wir mit den Kerlen. Und ’ne Ehe gibts, wie die der Bienenkönigin, die ihre werten Gatten töten läßt, wenn sie ihre Schuldigkeit getan haben. Ist irgend einer unter uns so dämlich, uns für – die Königin zu halten?!“
„Na, hören Sie mal, lieber Graf, Sie werden doch nicht behaupten wollen –“ unterbrach ihn mein Onkel.
„Gewiß behaupte ich –,“ polterte der alte Herr „laßt mal erst das Gesindel hoffähig werden – ein ‚von‘ und ein ‚Baron‘ ist heut schon eine Spielerei für den, ders Geld hat –, dann wirds bei uns wie in [346] England und in Frankreich: unsere Jungens reißen sich um ihre Mädels, und von dem ganzen guten preußischen Adel bleibt nichts übrig als der Name.“
„Nur daß die Voraussetzung für Ihre Folgerungen fehlen wird: der Kronprinz wird kaum zur Regierung kommen, und mit seinem Tod haben die Ambitionen der Herren Liberalen ihr Ende erreicht.“
Der Graf lachte und klopfte Onkel Walter freundschaftlich auf die Schulter: „Sie sind ein guter Kerl, Golzow, aber das Pulvererfinden ist ihre Sache nicht! Oder glauben Sie vielleicht, unter dem jungen Herrn würde die Geschichte erheblich anders werden?! Der ist heute konservativ – aus Opposition, natürlich! Er bleibts vielleicht auch – dem Namen nach. Aber ist er erst mal am Ruder, wird er auch mit gegebenen Größen rechnen müssen. Ich werds ja, Gott Lob, nicht erleben, aber Sie, meine Herren, werden in zwanzig Jahren mal dem alten Lehnsburg recht geben, wenn er ihnen heute sagt: bis dahin sind wir amerikanisiert, und nicht die Ehre, nicht der reinliche Stammbaum bestimmen mehr den Wert des Mannes, sondern das gute Geschäft.“
„Es würde uns heute schon nichts schaden, wenn wir geschäftskundiger wären,“ mischte sich Baron Minckwitz ins Gespräch, der wegen seiner Teilnahme an allerlei industriellen Unternehmungen schon etwas anrüchig war, „man muß mit den Wölfen heulen, will man nicht zugrunde gehen.“
Graf Lehnsburg hieb mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrten. „Ich gehe lieber zugrunde!“ brüllte er. Ein peinliches Schweigen entstand. Mir [347] gefiel die unverfälschte Echtheit des Alten. Er schien mirs an den Augen abzusehn, und reichte mir über den Tisch hinweg die Hand.
„Verzeihung, mein gnädigstes Fräulein,“ sagte er lächelnd, „ich bin wirklich ein alter Mummelgreis, daß ich in Anwesenheit junger Damen so ein Zeug schwätze! Übrigens – ich wills gleich wieder gut machen – richten Sie Ihrem Herrn Vater mein Kompliment aus. Ich traf ihn vor vier Wochen in Stettin bei Ihrer Majestät, er lief mir aber davon, ehe ich ihm selber sagen konnte, wie glänzend seine Führung im Manöver war. In der Umgebung Seiner Majestät herrschte nur eine Stimme darüber.“
Ich hatte bis dahin vom pommerschen Kaisermanöver, bei dem mein Vater das Ostkorps; den „markierten Feind“, zu kommandieren gehabt hatte, nur wenig gehört. „Der Kaiser war außerordentlich gnädig,“ hatte er mir geschrieben, „die Ernennung zum Divisionskommandeur kann jeden Tag erfolgen,“ hatte Mama hinzugefügt. Ich freute mich nun doppelt, Näheres zu erfahren. „Sie wünschen am Ende eine Kriegsberichterstattung mit allen Schikanen?“ frug Graf Lehnsburg und baute aus Brotkrümeln und Papierschnitzeln ein ganzes Schlachtfeld auf, ohne erst meine Antwort abzuwarten.
„Sehen Sie hier der Teller, das ist Stettin; die Papierschnitzel davor, das ist das Dorf Brunn, und hier die Semmeln, das sind die Höhen, die der General von Kleve bereits im ersten Morgengrauen des 14. September besetzt hielt. Er gehört noch zu der alten Sorte, wissen Sie, die von Anno 70 her weiß, [348] daß der, der am frühsten aufsteht, dem Siege am nächsten ist. Dort drüben von der Ostsee her – der Rotweinklexs reicht gerade für den Tümpel – kommt das feindliche Korps auf Stettin zu marschiert, das es, nach dem Ratschluß der obersten Götter, erobern soll. Der Kleve war ja eigentlich nur dazu da, um totgeschossen zu werden und den Ruhm des Gegners zu erhöhen. Natürlich war dieser Gegner – wie das die Götter mit ihren Lieblingen so zu machen pflegen – noch mal so stark als er und hatte überdies in seiner Mitte so was wie einen Schutzheiligen, der, wenn alle Stricke reißen, immer noch seine Gläubigen heraushaut.“ Er legte dabei ein dickes Stück Schwarzbrot in die Mitte der feindlichen Papierschnitzel. Die Anwesenden horchten auf, lachten und rückten näher zusammen. „Nun war aber ein Hundewetter an dem Tag, es regnete Bauernjungens, darum entdeckte das Westkorps den General, der schon eine ganze Weile mit allem nötigen Klimbim auf seinen sieben Hügeln thronte, erst nach einigem unruhigen Hin- und Herfackeln. Nachdem es die Situation glücklich erfaßt hatte, ging es marsch, marsch im Sturm voran. Prinz Wilhelm – der Schutzheilige, wissen Sie! – führte dabei das Pommersche Grenadierregiment, und ich glaube, jeder einzelne Kerl darin hatte schon nach dem Kopf gegriffen, der bekanntlich den Lorbeer zu tragen bestimmt ist, als er morgens in die Stiebeln kroch. Aber Ihr Herr Vater hält offenbar nichts von Heiligen, – er ist ein ausgemachter Ketzer, für den schon irgendwo die Dienstbeflissenen den Scheiterhaufen zusammentragen, – er empfing den Feind mit einem mörderischen Feuer, und was von ihm nicht am Platze [349] blieb, das hätte er, weiß Gott, noch gefangen genommen, wenn nicht ein weiser Hoherpriester ihm beizeiten davon abgeraten hätte. Der hat freilich zum Dank dafür ein paar faustdicke Grobheiten einstecken müssen! Es gab dann noch eine formidable Reiterattacke – ein théâtre paré für die Fremden! –, wobei ein paar tausend arme Gäule sich einbilden sollten, das Vaterland retten zu müssen; aber auch die Vierfüßler im Ostkorps zeigen sich als die stärkeren. Ein schauerliches Abschlachten wärs im Ernstfall gewesen. Sie sehen, Stettin konnte ruhig sein, – und der alte Herr hat in der Kritik den General von Kleve über den grünen Klee gelobt. Trotzdem wars eine hanebüchene Dummheit, wie sie den Tapfersten immer zustößt, daß er – hm! – daß er den – den Schutzheiligen nicht besser respektierte.“
Mein Onkel, der schon die ganze Zeit ungeduldig mit den Fingern auf der Stuhllehne getrommelt hatte, schien für den Humor der Sache keinen Sinn zu haben. „Schon Wochen vorher habe ich meinen Schwager gewarnt,“ sagte er, „wer den Prinzen kennt, weiß, daß er alles kann, nur nicht vergessen.“
Angriffe auf meinen Vater konnte ich nie vertragen. Mir stieg auch jetzt das Blut zu Kopf, und meine Verteidigung fiel heftiger aus, als es nötig gewesen wäre.
„Ich finde, eine Rücksicht, wie du sie verlangtest, wäre eine Pflichtverletzung gewesen. Wenn der Prinz, der noch nie eine Kugel hat pfeifen hören, mit lauter servilen Leuten zu tun bekäme, so würde es Deutschland mal büßen müssen.“
[350] „Bravo!“ sagte Graf Lehnsburg. „Großspuriges Geschwätz!“ brummte der Onkel.
Am frühen Morgen des nächsten Tages kam ein Telegramm: „Division in Münster.“ Mit beiden Füßen zugleich sprang ich aus dem Bett. Westfalen: Das nordische Rom – die Wiedertäufer – Annette Droste – der Westfälische Friede – die Hermannsschlacht, – es war eine verwirrende Vielheit bunter Bilder, die bei diesem Namen vor mir aufstiegen. Ich fuhr noch am Nachmittag nach Bromberg. Merkwürdig ernst empfing mich mein Vater. Kaum daß ich eine Frage an ihn zu richten wagte. Und auch zu Hause blieb er still, während mein Schwesterchen voll Freude über den Wechsel im Zimmer umhersprang und Mama die nächsten Pläne erwog. Erst spät am Abend, als er seine gewohnte Patience gelegt hatte und sich befriedigt, weil sie mit Mamas Hilfe richtig aufgegangen war, in den Stuhl zurücklehnte, fing er an, sich über die Zukunft auszusprechen. Wir orientierten uns mit Hilfe der Rangliste über die Verhältnisse seiner Division; bis nach Aachen und Paderborn dehnte sie sich aus; lauter Städte voll historischer Bedeutung gehörten zu ihren Garnisonen. In Münster erwartete uns eine geräumige Dienstwohnung, eine glänzende Geselligkeit; der Kommandierende war meinem Vater als liebenswürdiger Vorgesetzter bekannt.
„Und trotzdem –?“ Ich stockte vor dem finsteren Blick, der mich traf. Gleich darauf lächelte er ein wenig gezwungen und strich sich halb nachdenklich, halb verlegen den Bart. „Ihr merkt eben nichts, gar nichts,“ sagte er, „mit der Nase muß man euch darauf stoßen;“ damit wies er mit dem Finger in die Rangliste: „Die [351] 13. Division“ stand dort, fett gedruckt. Die 13 aber war rot unterstrichen.
Mein Vater verließ die Gesellschaft, wenn dreizehn bei Tische waren, er drehte um, wenn eine Katze ihm über den Weg lief, und machte drei Kreuze, wenn ihm beim Morgenritt als Erste ein altes Weib begegnete. Ich lächelte leise und drückte schmeichelnd meine Wange an die seine. „Den Spuk werden wir bannen, Papachen – auf immer.“
„Glaubst du?!“ meinte er zweifelnd und starrte mit großen Augen an mir vorbei ins Leere.
Wir blieben nur noch wenige Tage. Der alte Packer aus Berlin, der jedes Stück unserer Einrichtung kannte und seine Kisten stets so wiederfand, wie er sie beim letzten Umzug verlassen hatte, pflegte uns, wenn er kam, ebenso entschieden wie freundlich hinaus zu komplimentieren. „For ne Exzellenz is der Dreck nu jar nischt,“ sagte er diesmal, als er mit seinem Zeitungspaket unter dem Arme eintrat. In Berlin hielten wir uns noch auf der Durchreise auf. Während Papa sich meldete, machten wir Besorgungen. Die Größe der künftigen Wohnung hatte eine erhebliche Vermehrung unserer Einrichtung notwendig erscheinen lassen, und die alten Möbel waren schon lange eines neuen Gewandes bedürftig. Auch an Toiletten für den nächsten Karneval fehlte es uns. Unter dem Eindruck, nun nicht mehr mit jedem Groschen rechnen, nicht mehr an allen verlockenden Auslagen als bloße Zuschauerin vorbeigehen zu müssen, verjüngte sich meine Mutter förmlich; ich entdeckte zum erstenmal und nicht ohne Beschämung, daß sie mit ihren dreiundvierzig Jahren noch immer [352] eine schöne Frau war, und eine Ahnung davon durchzuckte mich, daß sie im Grunde ein ärmliches Leben geführt hatte und noch Ansprüche daran zu stellen berechtigt war.
Es war ein Spätherbstabend, als wir uns Münster näherten; ein Wald von Türmen stand schwarz am dunkelvioletten Himmel. Durch dämmernde Straßen, über die nur hie und da graue Gestalten huschten, erreichten wir den Gasthof mit seiner gewölbten Eingangshalle und den von jahrhundertelangen Tritten ausgehöhlten Steinstufen der Treppe.
Früh am Morgen weckte mich ein tiefer Ton, wie fernes Donnerrollen; allmählich schwoll er stärker und stärker an, und ein Chor heller Stimmen mischte sich hinein: die Glocken Münsters, die zur Frühmesse riefen. Noch lange, nachdem sie verhallt waren, schien die ganze Luft in geheimnisvoll klingende Schwingung versetzt.
Ich lugte neugierig zum schmalen Erkerfenster hinaus. Eine breite Straße sah ich, eingefaßt von hochgegiebelten Häusern mit reichen Zieraten, Erkern, Blätterwerk und Zinkenkronen; jedes in sich abgeschlossen, die Trennung vom Nachbarn durch die ragende Spitze betonend; unten aber verbanden gewölbte Arkaden, deren breite Bogen auf trutzig-kräftigen Pfeilern ruhten, alle Gebäude miteinander. Mir war, als sei mir durch einen Blick der tiefe Sinn alten deutschen Bürgertums aufgegangen: wie es auf breitem Boden der Gemeinsamkeit und des gegenseitigen Schutzes festbegründet ruhte und die Einheit und Selbständigkeit der Familie klar und scharf sich [353] daraus emporhob. Wie reich war doch jenes viel gelästerte „finstere“ Mittelalter gewesen, das für Inhalt und Bedeutung des Lebens so wundervoll-harmonische Ausdrucksformen fand!
Eine Kirche, über die der ganze glaubensselige Reichtum der Gotik ausgegossen schien, schloß mit schlankem Turm, durch dessen Maßwerk hoch oben des Himmels lichte Bläue strahlte, und kraftvoll aufwärts wachsenden Strebepfeilern die Straße gen Norden ab. Mußten sich nun nicht rings die Tore öffnen, um fromme Beter zur Frühmesse zu entlassen, – Frauen in langen, reichen Gewändern, mit perlengestickten Gürteln, das Haupt züchtig umhüllt, das Gebetbuch mit kunstvoll-geschmiedeter Silberschließe in den Händen, – Männer mit bunten geschlitzten Wämsen und der nickenden Feder auf dem Barett? Ich wartete vergebens. Nur ein paar Weiber in jenen tonlosen Kleidern, die das Ende des neunzehnten Jahrhunderts, passend zum monotonen Stil seiner Kasernenstädte, erfunden hat, verschwanden hinter den Kirchentüren. Schon wollte ich mich, unmutig über den zerstörten Zauber zurück ins Zimmer wenden, als mein Blick noch einmal gefesselt ward: aus der engen Gasse gegenüber wand sich lautlos ein Zug grauer Nonnen; die Zipfel ihrer Hauben wehten im Morgenwind, eng aneinander gedrückt, bewegten sie sich unhörbaren Schrittes vorwärts, – eine Kette verflogener Nachtvögel, die lichtscheu über den Boden strich, bis sie das dunkle Kirchentor jenseits verschlang. Und einsam wie vorher lag nun die Straße.
Unser erster Gang an demselben Morgen galt unserem [354] künftigen Heim: dem ehemaligen Kloster der Augustinerinnen, das fast vierhundert Jahre lang dem strengen Orden der büßenden Nonnen gehört hatte, ehe es der pietätlosen, säbelrasselnden Preußenpolitik zum Opfer fiel. Vor dem langgestreckten grauen Haus mit seinen dicken Mauern und kleinen Fenstern stand hinter ein paar mächtigen Linden halb versteckt die uralte dunkle Servatiikirche; die hohen Gartenmauern des Erbdrostenhofes – eines jener zahlreichen prunkvollen Stadtschlösser westfälischer Adelsgeschlechter – umschlossen hinter ihr den engen Platz. Nur zögernd betrat ich den breiten, fliesengedeckten Flur unseres Hauses; die laute erklärende Stimme des Intendanturbeamten, der uns führte, machte mir denselben schmerzhaften Eindruck wie die Stimmen all jener Kirchen-, Gallerie- und Schloßdiener, die eigens dazu berufen zu sein scheinen, den Besucher vor der Tiefe irgend eines Eindrucks zu bewahren. Ich ließ ihn vorangehen und blieb allein. Es war ein heller Herbsttag draußen, die Sonne überflutete das große Treppenhaus, aber in die Zimmer hinein drang sie nicht; hier wehte jene schwere kühle Luft der Grüfte, die nie ein Sonnenstrahl berührt. Alle Wohnräume lagen nach Norden, – kein warmer Gruß lockenden Lebens durfte die Nonnen berühren, deren Zellen hier gewesen waren. Eine davon mochte wohl den frömmsten zur Wohnung gedient haben: auf einen winzigen Hof sah sie hinaus; gerade gegenüber, zum Greifen nah, fiel der Blick auf das hohe gotische Fenster der Klosterkapelle, aus dessen zerbrochenem Glasgemälde die schmerzverzerrten Züge eines heiligen Märtyrers noch zu erkennen waren. „Hier ist der Zugang zur Kapelle vermauert,“ hatte ich von [355] ferne den Beamten sagen hören; „die Leute erzählen sich noch immer, daß die Nonnen nächtlicherweile hier umgehen und klagend an den Wänden kratzen, weil ihnen der Weg versperrt wurde.“
Unten im Garten trafen wir uns wieder. Das Wahrzeichen Münsters – die Linde – schmückte auch ihn, aber jetzt, da sie kahl war, verstärkte sie nur den Eindruck lebloser Stille, den die Mauern ringsum hervorriefen: die der Kürassierkaserne auf der einen, die des Proviantmagazins, in das ein Flügel des Klosters umgewandelt worden war, auf der anderen Seite.
„Hier war der Kirchhof des Klosters,“ sagte unser Führer. „Als vor ein paar Jahren Exzellenz Melchior durch das Tor dort hereinfuhr, senkte sich der Boden, und die Räder wühlten vermorschte Särge auf.“ – „Eine gemütliche Dienstwohnung, – das muß ich sagen,“ versuchte mein Vater zu scherzen. Ich fühlte, daß es auch ihm schwer wie ein Alb auf der Seele lag. „Mir gefällt sie ausnehmend,“ sagte meine Mutter lächelnd, „die armen Toten schrecken mich nicht, und die Wohnung ist prachtvoll.“
Die Handwerker brachten von nun an Lärm und Leben hinein. Wir blieben noch ein paar Wochen im Hotel, und ich benutzte die Zeit, um in allen Gassen und Kirchen umherzustreichen. Nie hatte ich solch eine Stadt gesehen: in Augsburg, in Nürnberg hatte die neue Zeit unter der Führung der rücksichtslosen Eroberer Industrie und Technik die alte mehr und mehr zurückgedrängt, überflutet, vernichtet, – hier stand das Leben still, kein Fabrikschlot erhob sich mit all seiner barbarischen Protzenhaftigkeit neben den Kirchentürmen; hinter hohen Eisengittern, [356] in vornehmer Zurückgezogenheit prangten die Renaissance- und Rokokoschlösser der Ketteler, der Heereman, der Droste-Vischering, der Romberg, der Zwickel, der Bevernförde, der Schmising, der Galen, der Fürstenberg; zwischen hundertjährigen Linden standen Kirchen und Kapellen, erfüllt von der Pracht und Schönheit romanischer und gotischer Kunst; in abgelegenen Winkeln tauchten alte Klöster auf, deren grasüberwucherte Höfe von Kreuzgängen wie von schützenden Armen umgeben waren; manch alte Festungsmauer lugte draußen vor der Stadt zwischen dickem Efeu und dichtem Gebüsch hervor, und heimlich verträumte Plätzchen gab es neben plätschernden Brunnen, unter Weinlaub umsponnenen Bogen, wohin kein anderer Laut des Lebens drang.
Daß die blaue Blume der Romantik hier Wurzel gefaßt hatte, als draußen in der Welt die Aufklärung umging und sie mit Stumpf und Stiel auszurotten trachtete, daß Freiheitsschwärmer, wie die Brüder Stolberg, sich hier zu Füßen der Fürstin Galitzin in die Fesseln der katholischen Kirche schlagen ließen und Hamann, der Magus des Nordens, hier seinen frommen Phantasien lebte, – wer verstünde es nicht, dem Münster seinen Zauber enthüllte?
Mit der Fertigstellung unserer Wohnung hatte die genußvolle Zeit täglicher Entdeckungsreisen ein Ende. Die häuslichen und außerhäuslichen Pflichten nahmen mich wieder in Anspruch. „Wir feierten den gestrigen Einzug in unser Kloster mit dem ersten Besuch der Garnisonkirche und hörten in einem kahlen, kalten, nüchternen Raum eine ebensolche Predigt,“ schrieb ich an meine Kusine. „Dann kamen Besuche über Besuche, [357] – leider nur solche, bei denen es einem geht, wie dem erwachsenen Menschen vor dem Marionettentheater: alles Interesse hört auf, sobald der Unternehmer die Puppen wieder in den Kasten legt. Am liebsten möchte ich jetzt still in der Fensternische meiner Zelle sitzen und lesen, lesen, lesen. Ich habe eine Bibliothek entdeckt – im Verein für Wissenschaft und Kunst –, die mir um so mehr zur Verfügung steht, als sie niemand sonst zu benutzen scheint. Ein junger Beamter mit einem strengen Asketengesicht, der mich zuerst sehr abweisend behandelte, ist jetzt mein bester Berater. Du hättest sehen sollen, wie seine sonst halb geschlossenen Augen aufleuchteten, als ich die Schönheit Münsters pries! ‚Wenn Sie erst ganz Westfalen kennen würden!‘ meinte er, und dabei huschte ein heller Schein kindlicher Schwärmerei ihm über die Züge. Er gab mir Stöße von Büchern mit, aus denen ich Natur und Kunst seiner geliebten roten Erde kennen lernen soll. Was mich aber noch weit mehr anzieht, sind die zahlreichen Werke allgemeinen kulturgeschichtlichen Inhalts, die der Katalog der Bibliothek aufweist. Mein Berater erklärte freilich mit aller Bestimmtheit, das wäre nichts für mich, es seien Bücher darunter, die die Ruhe der Seele gefährdeten; er wurde blaß und rot, als ich ihm versicherte, daß mir nichts wünschenswerter sei; und als ich von dem alten Bibliotheksdiener Leckys Geschichte der Aufklärung und Tylors Anfänge der Kultur verlangte, starrte er mich an wie eine Erscheinung und stotterte schließlich: „Aber – aber es sind nicht einmal Bilder drin!“ Nächtlicherweile habe ich sie verschlungen, mein Verstand hat zu ihnen ja und zehnmal ja gesagt; – meine Sinne aber schwelgten im [358] weihrauchgeschwängerten Dämmerdunkel des Doms. Unter diesem scheinbaren Widerspruch habe ich gelitten, bis mir klar wurde, daß es gar keiner ist: alle Seiten unserer Natur bedürfen der Nahrung, und die Kunst ist die Nahrung der Sinne. Religion aber ist im Grunde nichts als Kunst und gestaltende Phantasie. Mir war der Protestantismus nie sympathisch; daß er im Grunde nicht nur eine Vergewaltigung deutschen Geistes und Wesens, sondern ausgesprochen areligiös ist, wurde mir von diesem Standpunkt aus erst völlig klar.
Leider muß ich mir zum Denken und Lernen jede Stunde erkämpfen. Vor Räumen, Toilettenkrimskrams, Leute einarbeiten, Besuche machen und empfangen komme ich am Tage kaum zu mir selbst. Dabei haben sich wieder ein paar landläufige Weisheitssprüche als fadenscheiniger Plunder erwiesen: ‚Nach getaner Arbeit ist gut ruhn,‘ – ‚Gut Gewissen, sanftes Ruhekissen‘ – ‚Pflichterfüllung beglückt‘, – lauter faustdicke Lügen, die man uns wie Binden um die Augen legt, damit wir die Wahrheit nicht mehr sehen können, – die Wahrheit, die uns zeigt: Tue Deine Arbeit, dann erst findest Du Befriedigung, – erfülle Deine Bestimmung, dann erst wirst Du glücklich sein.“
Mit steigender Virtuosität führte ich ein Doppelleben: ich vergrub mich stundenweise in meine Bücher, ich lebte mit meinen Gedanken in ihnen, während ich Hüte garnierte, schneiderte, oder mit den Vorbereitungen zu den immer zahlreicheren Gesellschaften, Diners und Bällen beschäftigt war. Aber mit dem Augenblick, wo ich im Festkleid in den Wagen stieg oder die ersten Gäste bei uns erschienen, zog ich den Schlüssel zu dem Geheimfach [359] meines Innern ab, und nichts blieb von mir übrig als die Salondame.
Pünktlich mit dem Dreikönigstag öffneten sich die Adelshöfe Münsters. Der Karneval zog ein. Keiner von denen, die weise Maß halten und Hygiene und Moral zu Hofmarschällen ernennen, damit die braven Menschenkinder sich auch den Magen nicht verderben – sondern ein ungestümer, ein wilder, zügelloser, der jung und alt in seine Dienste zwingt, der uns überkommt wie ein Rausch und uns selig-müde zurück läßt.
Eine alte Legende, die im Volke Westfalens noch immer lebendig ist, erzählt, daß der Teufel einmal die Junker der ganzen Welt in seinen Sack gesteckt habe, um sie der Hölle zu überliefern. Als er just über Westfalen flog, zerriß der Sack, und es regnete Ritter. Darum gibt es noch heut auf der roten Erde eine so große Menge von ihnen, und kein Königshof könnte eine vornehmere Gesellschaft um sich versammeln als Münster zur Karnevalszeit. Was aber ihrem alten Adel, dessen Ursprung sich oft bis in die dunkeln Zeiten Wittekinds des Sachsenherzogs verliert, den Glanz verleiht, ist der gesicherte Reichtum vieler Generationen. Der preußische, der schlesische, der märkische Edelmann mit seinen großen Händen, seiner breiten Statur, seinem dicken Schädel verrät noch oft, daß sein Vorfahr wie ein Bauer arbeiten und leben mußte, und sein derber Witz, seine Verständnislosigkeit für die feineren künstlerischen Reize des Lebens lassen nicht vergessen, daß neben Axt und Pflug sein einziges Handwerkszeug das Schwert gewesen ist. Seines westfälischen Standesgenossen rassige Schlankheit, seine der harten Arbeit seit [360] Jahrhunderten entwöhnten Hände verdankt er dagegen der Freigebigkeit des üppigen Bodens, den Scharen der Hörigen, die ihn bebauen mußten; und die Grazie seiner gesellschaftlichen Formen, die Schönheit seiner Umgebung erinnert an die prunkvollen Höfe der Kirchenfürsten von Köln, von Paderborn, von Münster, wo seine Ahnen erzogen wurden, und an die künstlerische Kultur, die die katholische Kirche um sich verbreitete. Mit einem angeborenen Sinn für Stoffe und Farben kleiden sich seine schön gewachsenen, ein wenig steifen Frauen und Töchter mit den feinen, regelmäßigen, ein wenig leeren Gesichtern; Perlen und Edelsteine in herrlicher alter Fassung schmücken ihre vollen blonden Haare, ihre schneeweißen Nacken und Arme. Die Möbel, die Schaustücke, das reiche Silbergerät in ihren Häusern ist ererbter Familienbesitz aus den Glanzzeiten der Gotik, der Renaissance, des Rokoko; von den farbensatten Gobelins, die die Wände der Säle decken, sieht die ganze Vergangenheit herab auf das junge Geschlecht, das ihr auch geistig nicht untreu geworden ist.
Sie sind alle gläubige Katholiken; sie versäumen die Messe nicht, auch wenn sie die Nächte durchtanzen; barhäuptig, Gebetbuch und Rosenkranz in den Händen, schreiten die vornehmsten mit in der großen Prozession am Montag nach dem Reliquienfeste und am Tage Mariä Heimsuchung; die Kirche ist ihr eigentliches Vaterland; in den Jahren des Kulturkampfes behandelte der westfälische Adel die preußischen Beamtem und Offiziere wie Feinde, und eine gewisse mißtrauische Zurückhaltung zeigte sich hier und da auch jetzt. Aber sie galt weniger dem preußischen Protestanten im allgemeinen, [361] als dem einzelnen, der mit taktloser Großspurigkeit auftrat, oder – dessen Adelsdiplom nicht ganz reinlich erschien. Hier herrschte noch vollkommenste Exklusivität, – ein Bürgerlicher, ein Neugeadelter war nicht gesellschaftsfähig, und dies ungeschriebene Gesetz wurde den Einheimischen gegenüber am strengsten gehandhabt. Eine Organisation westfälischer Damen, die angesichts des Gleichheitstaumels der französischen Revolutionsepoche gegründet worden war, konnte über Sein und Nichtsein entscheiden. Ihre Feste waren unter dem Namen der Bälle des Damenklubs weit und breit berühmt und – gefürchtet. Wer dazu nicht geladen wurde, war ein- für allemal boykottiert; rückhaltlos gesellschaftlich anerkannt war nur, wer auch bei den intimen Veranstaltungen nicht fehlte. Der Klub hatte die Macht, Mitglieder des westfälischen Adels, die sich irgend etwas hatten zuschulden kommen lassen, durch geheime Abstimmung auf Monate oder Jahre von allem Verkehr mit seinen Standesgenossen auszuschließen.
Die Rücksicht auf diese tiefwurzelnden Auffassungen – spukte nicht hier sogar die Erinnerung an die Vehme? – führte zu merkwürdigen Konsequenzen: man hatte zwar durchgesetzt, daß auch die nicht adeligen Offiziere nicht völlig von der Geselligkeit ausgeschlossen wurden, aber sie wurden nur zu großen Bällen gebeten und hätten es auch dort kaum wagen dürfen, eine westfälische Dame zum Tanz zu führen. Die vierten Kürassiere und die sogenannten Papst-Husaren aus Paderborn, – Regimenter, so vornehm wie nur irgend eins der Garde, in die nicht einmal ein unadliger Einjähriger Aufnahme fand, – waren die allein ‚hoffähigen‘. Und so war es [362] denn auch nicht die Stellung meines Vaters, sondern sein Name und der Stammbaum meiner Mutter, die uns rasch alle Türen öffneten. Geistige Ansprüche an unsere Gesellschaft zu stellen, hatte ich aufgegeben; die Alix Kleve, die mit heißen Wangen und brennender Lebenslust zum Klang süßer Walzerweisen von einem Arm in den anderen flog, war nicht dieselbe, die daheim mit klopfendem Herzen und unstillbarem Geistesdurst über den Büchern saß.
Die Atmosphäre der Vornehmheit und des Reichtums, die Eleganz der Tänzer, die Schönheit der Menschen und der Räume befriedigte meine Sinne; es gab Tage und Stunden, wo die prickelnde, fiebernde Lust des Karnevals mich ganz und gar gefangen nahm, wo eine Tanzmelodie mich wie ein elektrischer Schlag bis in die Fußspitzen durchzuckte und alle übrigen Lebenstöne erschlug. Wir tanzten täglich; in den Fastnachtstagen fielen sogar die Schranken zwischen den Gesellschaftsklassen und unter Papierschlangengeschossen und Konfettiregen wagten wir uns unter die maskierte Menge der Straße. Alle Höfe und Häuser standen offen; überall konnten die Masken sich selbst zu Gaste laden, und doch artete die sprudelnde Lustigkeit nie in rohe Späße aus.
Am Fastnachtsdienstag gab es ein Frühstück im Kürassierkasino, wo die Sektpfropfen knatterten wie Salven, und darauf einen ausgelassenen Tanz im Sande der Reitbahn, wo die Herren um die Wette über Hürden und Gräben sprangen. Abends war der letzte Ball des Damenklubs; noch einmal wurde getanzt wie rasend, alte Graubärte machten den Jüngsten den Rang dabei streitig, und die Fülle der Blumen, die uns gespendet wurden, ließ sich kaum [363] fassen. Mir stoben Funken vor den Augen, und ich fühlte nichts mehr als die wiegende, schleifende Bewegung und den heißen, keuchenden Atem meiner Tänzer. Plötzlich, mitten im wilden Abschiedsgalopp, stand alles still, wie von einem Zauber gebannt, die Musik brach ab, mit kurzem Gruß huschten die Damen hinaus, rasch warfen die Herren den Mantel über die Schultern – zwölf schlug die tiefe Glocke vom Domturm, Aschermittwoch klingelte das schrille Glöcklein von der Liebfrauenkirche.
Mit einem Schlag schien das Leben erloschen. Still, mit verhängten Fenstern lagen von nun an wieder die Adelshöfe. Nur drüben im Erbdrostenhof regte sichs noch: gestern hatte die schlanke Tochter des Hauses mit uns getanzt, heute nahm sie im Kloster der Ursulinerinnen den Schleier. Wie eine glückliche Braut ward sie von all den Ihren geleitet, und sie selbst lächelte wie eine solche. Mit einem Glanz verklärter Freude auf den Zügen leisteten ihre Brüder – die übermütigsten Tänzer sonst – die Ministrantendienste bei der heiligen Handlung. Und doch wußten alle, daß es ein Abschied für immer war, denn in strenger Klausur verbringen die Ursulinerinnen ihr nur dem Gebet und der Buße geweihtes Leben.
Während der Fastenzeit kamen Kapuzinermönche nach Münster, die besten Kirchenredner ihres Ordens. Sie sprachen von vier Kanzeln dreimal des Tags, und Kopf an Kopf drängte sich jedesmal die Menge und hielt geduldig stundenlang stehend aus. Ich ging wiederholt in den Dom; die fanatische Beredsamkeit dieser blassen Männer in ihren braunen Kutten war überwältigend. [364] Sie sprachen rücksichtslos und griffen mitten ins Leben, und eine Wirkung ging von ihnen aus, die nicht nur in dem wachsenden Andrang zu ihren Beichtstühlen zum Ausdruck kam, sondern auch in den Handlungen der Einwohner Münsters. Wir hörten häufig, daß gestohlenes Gut zurückgegeben wurde, Verleumder den Verleumdeten um Verzeihung baten, Treulose zu den verführten Mädchen zurückkehrten. „Es geht ein Zug nach Wahrheit und Befreiung durch die Welt, dem, ihrer selbst nicht bewußt, auch die asketischen Diener der Kirche folgen müssen. Zuweilen, wenn sie mit überwältigender Kraft das Elend armer Arbeiter schilderten, und den Reichen, die nicht sehen und hören wollen, mit den Schrecken auch der irdischen Sorgen drohten, schien es wirklich Christi lebendiger Atem zu sein, der sie beseelte. Mir träumte dabei von einer fernen Zukunft, wo in heiligen Hallen, wie diese, Missionsprediger der Freiheit zu den Tausenden sprechen werden.“ So schrieb ich an Mathilde. In Münster aber verstand man meine häufigen Kirchenbesuche anders. Zufall – Absicht? – führten mich mit katholischen Priestern zusammen, und ich merkte bald, welch lebhaftes Interesse sie an mir nahmen. Sie boten sich mir zu Führern in Kirchen und Kapellen an und verwickelten mich, wenn ich kam, in religiöse Gespräche. Aus meiner Stellung zum Protestantismus machte ich kein Hehl, und als ich einmal freimütig erklärte, daß der Katholizismus mir weit anziehender sei, meinte mein Begleiter vorsichtig: „Sie sollten sich mit unserer Kirche näher vertraut machen, wenn sie Ihnen, wie es den Anschein hat, die Idee des Christentums deutlicher repräsentiert.“ – „Die Idee des Christentums?!“ [365] erwiderte ich lächelnd. „Nein, Hochwürden, mit ihr hat die katholische Kirche nichts zu tun! Und gerade das ist es, was ich an ihr liebe und bewundere.“ Sprachlos starrte der Priester mich an. „Ich begreife nicht –“ brachte er schließlich hervor. „Darf ich es Ihnen erklären?“ Er nickte zustimmend.
„Meiner Ansicht nach ist die ursprüngliche Lehre Christi mit ihrem Asketismus, ihrer Verachtung des Lebens, der Freude, der Schönheit, ihrer Menschenfeindschaft, – bei aller Betonung der Menschenliebe, – der Natur der abendländischen Völker so widersprechend, daß sie sich in ihrer Reinheit gar nicht durchsetzen konnte. Wir sind Heiden, sind Sonnenanbeter; mit den Geschöpfen unserer Träume beleben wir Feld und Wald, Berg und Tal. Karl der Große hat das rasch begriffen, und seine Missionare mit ihm. Sie hatten häufig genug selbst Sachsenblut in den Adern. Darum bauten sie an Stelle der Heiligtümer Wotans, Donars, Baldurs und Freyas die Tempel Ihrer vielen Heiligen; darum erhoben sie nicht den Gekreuzigten, sondern die Mutter Gottes, das Symbol schaffenden Lebens, auf den Thron des Himmels. Darum schmücken die Diener des Mannes, der nichts hatte, da er sein Haupt hätte hinlegen können, ihre Gewänder, ihre Altäre und ihre Kirchen mit Gold und Edelsteinen und zogen die Kunst in ihren Dienst. Vom Standpunkt Christi aus hatten Ihre Wiedertäufer Recht, die die Bilder zerstörten, aber die lebensstarke Natur ihrer Volksgenossen hat sie ins Unrecht gesetzt. Und wissen Sie, was mich in meiner Auffassung vom heidnischen Charakter des Katholizismus und seiner Lebensfähigkeit infolgedessen bestärkte: der eben verflossene [366] Karneval! In keinem protestantischen Lande ist dergleichen möglich, auch wenn es auf denselben Breitengraden liegt, wie Münster, wie Köln, wie Düsseldorf, wie München. Vor lauter Verständigkeit und Nüchternheit haben wir die Freude verlernt, die ein Bestandteil heidnischer Religiosität ist.“
Jetzt war die Reihe an meinem Begleiter, überlegen zu lächeln.
„Ob Sie, infolge irgend welcher verwirrender Lehren sogenannter wissenschaftlicher Aufklärung, Heidentum nennen, was christ-katholisch ist, das dürfte zunächst von geringem Belang sein, sofern Sie nur an die Lehren der Kirche glauben. Wir verlangen von den Novizen nicht die Gedanken- und Gefühlstiefe des erprobten Bekenners.“
„Aber ich glaube ja an Ihre Heiligen nicht, wenn ich ihre Existenz auch verstehe!“ Der Priester schüttelte den grauen Kopf. „Wir werden einander nie näher kommen, Hochwürden. Wo Sie Religion sehen, sehe ich Kunst, und Ihr Gott und Ihre Heiligen sind für mich nicht überirdische Wesen, die ich anbeten muß, sondern Gebilde, die unsere Phantasie erschuf, wie die Hand des Malers die heilige Jungfrau drüben. Daß Ihre Kirche diese Schöpferkraft nicht unterband, sondern schützte, nährte, anfeuerte, ist ein Verdienst, das sie mir ehrwürdig macht. Sie werden aber nun selbst einsehen, daß sich aus solchem Material keine Proselyten machen lassen.“
Man schien mich trotz alledem nicht aufzugeben. Ich wurde in der Gesellschaft Westfalens mit mehr Interesse und Aufmerksamkeit behandelt als sonst ein junges Mädchen und war viel zu eitel, um die Vorteile dieser Ausnahmestellung [367] nicht angenehm zu empfinden. Daß ich mich im stillen immer weiter aus dem geistigen Bannkreis meiner Umgebung entfernte, bemerkte niemand. Mit wem hätte ich mich auch ehrlich aussprechen können? Mein Vater war in seinen kirchlich und politisch konservativen Anschauungen immer schroffer geworden, und je höher die Stellung war, die er einnahm, je mehr er nichts anderes um sich hatte als Untergebene, desto selbstherrlicher wurde er, desto weniger duldete er Widerspruch. Meine Mutter wurde von steigender Antipathie gegen meine Studien beherrscht, jeden Büchertitel musterte sie mit größtem Mißtrauen, und ich konnte sicher sein, mit irgend einer „wichtigen“ häuslichen Aufgabe, wie Wäsche sticken, Staub wischen oder dergleichen, immer dann betraut zu werden, wenn ich am meisten gefesselt war. Unter unseren vielen Bekannten war niemand, den ich für würdig und fähig gehalten hätte, an meinen Interessen teil zu nehmen. Es gab schon verblüffte Gesichter genug um mich her, wenn ich etwa über politische Tagesereignisse mitzureden den Mut faßte.
So wurde ich denn immer launischer, reizbarer und hochmütiger. Nichts als meine pessimistischen Ansichten über die Menschen hatte ich ausgesprochen, wenn ich auf einem Maskenfest des letzten Winters an die Rosen, die ich verteilte, statt der Dornen Verse wie diese geheftet hatte:
Die Menschen tragen im Leben
Eine Maske vor dem Gesicht;
Wünsch’ nicht, sie zu demaskieren,
Denn, wisse, es lohnt sich nicht!
* * *
Und fürchtest du die Rose,
Weil stets ihr Dorn dich sticht, –
So pflücke dir Gänseblümchen,
Die, Teuerster, stechen nicht!
* * *
Du träumst vom Feuer der Liebe,
Das hoch ein jeder preist?
Wisse, in unserm Jahrhundert
Ist es ein Irrlicht meist.
* * *
Traue keinem hier von allen,
Dann erst recht nicht, wenn die Maske fiel;
Niemals wird die zweite Maske fallen,
Und was Wahrheit scheint, ist Narrenspiel.
* * *
„Im Münster ist’s finster,“
Wer wüßte das nicht?
Doch sag mir, wo in der Welt
Ist es licht?
Licht war für mich nur die Welt der Bücher; Erkenntnisse, die ich gewann, erfüllten mich mit tiefer heißer Freude, und die Sehnsucht wuchs hinaus aus der Enge des Lebens; von der Phantasie nahm sie die leuchtendsten Farben, um Menschen zu malen, die von Idealen erfüllt, mit den reichsten Waffen des Geistes ausgestattet, eine dunkel geahnte andere Welt zu erobern ausgingen. Mein Tagebuch und die Briefe an Mathilde waren die Vertrauten meines eigentlichen, verborgenen Lebens.
„Ich bin in meinem Studium der Kulturgeschichte beim fünften großen Werke angelangt,“ schrieb ich damals, [369] „mein Interesse dafür ist immer im Wachsen, und immer wieder finde ich, was mich fast von Kindheit an – damals noch wie eine Ahnung – erfüllte: daß wir uns trotz allem, was den Blick momentan verdunkeln mag, unaufhaltsam vorwärts bewegen. Wehe denen, die hemmen wollen, sei es in der Kunst, der Wissenschaft, der Religion, oder der Politik! – Nur eins schmerzt mich oft bis zur Verzweiflung: daß ich nur Zuschauer bin und weder beim Niederreißen des Alten, noch beim Aufbauen des Neuen tatkräftig eingreifen kann.“
An anderer Stelle heißt es: „Auf dem Wege meiner stillen Studien bin ich zu der Erkenntnis gelangt, daß unsere Entwicklung wie auf einer Wendeltreppe vorwärts schreitet. Zuerst lernt man mechanisch, ohne zu verstehen, dann lernt man verstehen; aus beiden folgt das eigene Denken, und erst auf diesen drei Stufen erhebt sich der persönliche Mensch und fängt nun scheinbar von vorn an: er lernt, er versteht, er denkt – oder er entzündet das trocken aufgehäufte Pulver des Verstandes mit dem elektrischen Funken seines eigenen Geistes und sprengt damit die starren Formelmauern, um nun selbst Licht und Wärme zu verbreiten. Auf jeder Stufe bleiben viele Menschen stehen; darum wird man mit dem Vorwärtsschreiten immer einsamer und läßt viele hinter sich zurück, die nicht gleichen Schritt mit uns hielten.“
Soweit meine Kusine sich auf Diskussionen einließ, trat sie mir entgegen. Sie verteidigte z. B. die Heroengeschichte gegenüber der Kulturgeschichte; sie suchte mir zu beweisen, daß die Könige, Staatsmänner und Feldherrn die Geschichte „machen,“ während ich erklärte, [370] „daß der einzige dauernde gesunde Fortschritt aus dem Volk herauswächst und die Großen der Erde oft nichts sind als Marionetten in der Hand der ungeheuern namenlosen Masse.“ Ich hatte viel zu sehr das Bedürfnis, mich irgend jemandem gegenüber auszusprechen, und ihr Urteil war mir überdies viel zu wenig maßgebend, als daß ich mich von ihren Gegengründen hätte abschrecken lassen. „Meine letzte Entdeckung muß ich Dir mitteilen, obwohl ich von vornherein weiß, daß Du über meine ‚umstürzlerischen‘ Ansichten wieder empört sein wirst. Je mehr ich die Geschichte der Völker studiere, desto klarer wird mir, daß der große, viel zu wenig anerkannte Fortschritt unserer Zeit in der völlig veränderten Wertung der Arbeit besteht. Kein Volk der Vergangenheit hat die Arbeit an sich als etwas Ehrenvolles betrachtet. Im Gegenteil: nur der Sklave, der Kriegsgefangene, kurz, der Entrechtete, Ehrlose arbeitete. Die Arbeit war eines freien Mannes unwürdig. Das war die durchgängige Ansicht der antiken Völker, das war auch die der Germanen. Und zu jenen Ehrlosen, die zur Arbeit gewissermaßen verdammt waren, gehörten charakteristischerweise nicht nur die Unfreien unter den Frauen, sondern ihr ganzes Geschlecht. Die Arbeit eine Ehre – das Nichtstun ein Laster, – dahin fangen wir erst an, uns zu entwickeln, und zu ihrer vollen Bedeutung wird diese Erkenntnis erst in später Zukunft gelangen. – Für mich persönlich ist sie nicht eine bloße verstandsmäßige Einsicht, sondern ein Ereignis, das mich erschütterte. Wird der Wert des Menschen an seiner Leistung gemessen, – wie bestehe ich vor dieser Prüfung?! Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, gesund an [371] Geist und Körper, leistungsfähiger vielleicht als viele, und ich arbeite nicht nur nichts, ich lebe nicht einmal, sondern werde gelebt!“
Wie sich der Heißhungrige über jeden Bissen stürzt, so warf ich mich über jede Möglichkeit des Erlebens und der Arbeit.
Zu jener Zeit starb der alte Kaiser, und im Märtyrerschicksal seines Nachfolgers begann der Tragödie letzter Akt. Mit jener steigenden Erregbarkeit meiner Nerven, die auch die Ereignisse außerhalb des eigenen Schicksals zum persönlichen Erlebnis werden ließ, verfolgte ich die Berichte der Presse, dachte des „neuen Herrn,“ der nun kam, dessen verkümmerter Arm mich vor Jahrzehnten schreckte, und der, seit jenem Gespräch mit Graf Lehnsburg, seltsam drohend sich meinem Vater entgegenzustrecken schien. Die alte Welt versank, – der Todeskampf Friedrichs III. war auch der ihre. Und mit wilder Zerstörungslust schienen die Elemente ihn zu begleiten. Unaufhörlich strömte der Regen, aus ihren Ufern traten die Flüsse, die Dämme brachen – tausende stiller Heimstätten wurden vernichtet, Hunderttausenden armer Menschen drohte Hunger und Elend. Und ich saß hier im gesicherten Schutz unseres Hauses mit gebundenen Händen! – In fieberhaftem Eifer schrieb ich die Märchen nieder, die ich meinem Schwesterchen im Laufe der Jahre erzählt hatte. Ich schickte sie aufs geratewohl einem Königsberger Verleger, mit der Bestimmung, den etwaigen Erlös den Überschwemmten zuzuführen. „Veröffentlichungen dieser Art liegen außerhalb unseres Gebiets,“ schrieb er, und rasch entmutigt warf ich sie ins Feuer. Kurz darauf wurde ein Dilettantenkonzert zum Besten [372] der Notleidenden arrangiert, und ich, deren Karnevalsverse in Erinnerung geblieben waren, sollte einen Prolog dazu verfassen und vortragen. Es wurde mir nicht schwer, ich brauchte nur auszusprechen, was ich empfand, und als ich am Tage der Aufführung im schwarzem Trauerkleid auf hohem Podium stand, eine stumme dunkle Menge vor mir, und fühlte, wie meine Stimme den Saal erfüllte, – da war mirs, als sprengte mein eigenes klopfendes Herz die Eisenreifen, die es umschnürt hatten. Von der tiefen Glocke in meiner Brust sprach man mir, nachdem die einen mir stumm die Hand geschüttelt, die anderen, voll Enthusiasmus, mir gedankt hatten. Besaß ich die Macht, die Menschen zu erschüttern, sie zum Großen und Guten aus ihrer Stumpfheit aufzurütteln? Eröffnete sich hier irgend ein Weg für mich, auf dem ich endlich, endlich dem nutzlosen Leben entfliehen konnte? „O daß ich die Kräfte, die ich besitze, in einer jener Pionierarbeiten einsetzen dürfte, die durch die Wüste der Welt neue Wege bahnen!“ schrieb ich noch in der Nacht darnach an meine Kusine.
Mein Prolog wurde gedruckt und in ein paar tausend Exemplaren verkauft. Aber dem Hochgefühl folgte bald die Ernüchterung. Ein Tropfen auf den heißen Stein war, was ich für die Überschwemmten erreicht hatte; in die Alltagsstimmung fielen die Begeisterten rasch zurück; in das Alltagsleben mußte ich aufs neue. Ich befand mich in einer förmlichen Krisis, die mich schüttelte wie ein Fieber, mir allen Schlaf und alle Selbstbeherrschung raubte. Als mein Vater mich daher eines Abends frug, warum ich so stumm und stocksteif dasäße, antwortete ich mit einer Leidenschaft, die sich nicht mehr zurückdämmen [373] ließ: „Weil das Leben mir zum Ekel wurde – weil ich mich selbst nicht länger ertragen kann. –“
„Ja um Himmels willen, was ist denn geschehen? Wieder so ’ne verdammte Liebesgeschichte?“ Papa schwollen vor Schreck die Adern auf der Stirn. Mama dagegen sah mich flüchtig forschend an und lächelte dann ihr feines malitiöses Lächeln.
„Das Gegenteil dürfte richtig sein, – ihr fehlt momentan die Liebesgeschichte,“ sagte sie, und sekundenlang fuhr es mir blitzartig durchs Gehirn, ob sie am Ende recht haben könnte. Dann aber antwortete ich rasch, um den Gedanken in mir selbst zu erlöschen:
„Arbeiten möcht ich, – irgend etwas leisten, das mich ganz und gar in Anspruch nimmt. Ich beneide den Steinklopfer an der Straße, der abends wenigstens arbeitgesättigt totmüde auf seinen Strohsack sinkt.“
„Du hast doch genug zu tun, wie ich bemerke,“ meinte Papa nach einem kleinen zögernden Nachdenken, „du liest, du malst, du schneiderst, du beschäftigst dich mit deiner Schwester, du bist der unersetzliche Arrangeur unserer Feste –“
Mama unterbrach ihn: „Das genügt natürlich Alix’ Ehrgeiz nicht. Häusliche Pflichten sind ein überwundner Standpunkt. Aber du hast ja Auswahl genug, wenn du ihrer überdrüssig wurdest,“ damit wandte sie sich an mich; ihr ganzes Gesicht war rot, und ihre schmalen Lippen bebten, „du kannst Gesellschafterin – Gouvernante – Hofdame werden. Sieh dann selber zu, wie das harte Brod der Fremde schmeckt!“
Mir stürzten die Tränen aus den Augen. Mir ahnte längst, daß mir kein Ausweg blieb, und doch erschütterte [374] mich die trockne Aufzählung dieser einzigen Möglichkeiten, die für mich Unmöglichkeiten waren. Mein Vater konnte niemanden weinen sehen, am wenigsten seine Töchter. Er sprang auf und zog mich in die Arme, mir mit einem leisen: „Armes Kind, armes Kind!“ die Wangen streichelnd. Es blieb dann eine Weile ganz still zwischen uns. Und dann sprach er mit derselben weichen Stimme auf mich ein, wie auf eine Kranke, – mit langen Pausen dazwischen, als wollte er mir zum Antworten Zeit lassen. „Sei still, mein Kind – bitte weine nicht mehr. – Wie ein Vorwurf ist das für mich – daß ich nicht besser für dich sorgte! Wärst du ein Mann, so hätte ich dich schon auf Wege geführt, die einen Lebensinhalt gewährleisten, aber so – – du bist nur ein Mädchen – nur für einen einzigen Beruf bestimmt, – alle anderen wären doch nichts als traurige Lückenbüßer. Du sollst diesem einzigen nicht so krampfhaft – oder leichtsinnig – aus dem Wege gehen! Ich bin ein alter Mann und werde nicht ruhig sterben können, wenn ich dich nicht im Hafen weiß!“
„Papa – lieber Papa!“ schluchzte ich auf; dann lief ich hinaus und schloß mein Schlafzimmer hinter mir zu und saß auf dem Bett stundenlang mit brennenden Augen und wundem Herzen. Nun hatte ich ein Buch nach dem anderen heißhungrig verschlungen, und dunkel und leer gähnte mein Inneres mich trotzdem an, – hatte Erkenntnisse gewonnen, die mich berauschten, und wenn ich zum nüchternen Tageslicht erwachte, war ich elender als zuvor. So ist das Glück geistigen Werdens und Wachsens denn auch nichts weiter als Betäubung? Ist wirklich das Schicksal des Weibes nur der Mann? [375] Und hat es kein Recht auf ein eigenes Leben? – Der Mann! Ich dachte derer, die mir im letzten Winter gehuldigt hatten, – gute Tänzer, lustige Kurmacher, zu einem flüchtigen Flirt wie geschaffen – aber an sie gekettet, ihnen unterworfen sein – ein ganzes Leben lang – entsetzlich! Plötzlich aber fühlte ich mich wie eingehüllt von einem Feuerstrom, so daß im ersten Schreck das Herz mir stockte: ein Kind! ein Kind! – das war des Lebens Zweck und Inhalt. Ein Kind wollt ich haben, gleichgültig von wem, ein lebendiges Teil meiner Selbst, einen Sohn, – das Geschöpf meines Körpers und meines Geistes –, der meine Träume erfüllen, der werden sollte, was ich zu werden vergebens hoffte! Was galt mir der Mann: mochte er sein, was er wollte, – nur den Vater meines Sohnes brauchte ich!
Und als wir am nächsten Abend wieder um den runden Tisch zusammen saßen, sagte ich: „Du sollst dich nicht weiter um mich grämen, Papachen, – paß auf, über kurz oder lang hast du einen Schwiegersohn und bist die böse Tochter los!“ Worauf ich lachend einen zärtlichen Kuß bekam. Mama nahm keine Notiz von meiner Bemerkung; erst am folgenden Tag kam sie darauf zurück. „Ich habe dir niemals zur Ehe zugeredet,“ sagte sie, „und hüte mich auch jetzt davor. Das Glück, das ein Mädchen von ihr erwartet, findet sie nie.“ – „Ich will auch kein Glück – eine Lebensaufgabe will ich – ein Kind,“ stieß ich widerwillig hervor, denn mich meiner Mutter anzuvertrauen, kostete mir die größte Überwindung. „Ein Kind?!“ wiederholte sie, „um dich vollends mit Sorgen zu beladen?!“
Sie hatte mich offenbar nie so wenig verstanden wie heute.
[376] Mein Vater dagegen war noch nie so liebevoll zu mir gewesen. Was er mir an den Augen absehen konnte, das tat er. Lange Morgenritte machten wir wieder zusammen, hinaus in die weite Heide, vorbei an all den stolz in sich abgeschlossenen einsamen Bauernhöfen und an manch uraltem Schloß mit festen Türmen und tiefen Gräben ringsum. Und wenn er weiter ins Land Inspektionsreisen machte – nach Minden, nach Soest, nach Paderborn –, nahm er mich mit; während er seinen Dienst erledigte, lernte ich all die Schätze alter Kunst, all die Wahrzeichen alter Geschichte kennen, an denen Westfalen so reich ist.
In der ersten Hälfte des Monats Juni fuhren wir nach Aachen, der Garnison des 53. Infanterieregiments, dessen Chef Kaiser Friedrich war. Das Wetter war so schön, die Stadt und ihre Umgebung so unerschöpflich, daß wir länger blieben, als es der Dienst meines Vaters erfordert hätte.
Um Mittag des 15. Juni 1888 – wir kehrten gerade von einem Spaziergang in unser Hotel zurück – kam ein junger Leutnant atemlos von der Kaserne und bat uns, ihm so rasch wie möglich dorthin zu folgen. Was er erzählte, war so seltsam, daß wir, wäre es nicht heller Tag gewesen, an seiner Nüchternheit hätten zweifeln dürfen. Ein Zug Soldaten habe, so berichtete er, auf dem Kasernenhof exerziert; kaum sei er abgetreten, als einem der Offiziere von seinem Fenster aus große lateinische Schriftzeichen im Sande aufgefallen seien, die offenbar von den regelmäßig sich wiederholenden Fußtritten herrühren mußten. Man habe inzwischen rasch zu einem Photographen geschickt, um das merkwürdige Phänomen [377] auf der Platte festzuhalten, und „Exzellenz müssen es unbedingt auch in Augenschein nehmen –“ fügte er eifrig hinzu. „Zum Donnerwetter, was ist es denn?“ sauste mein Vater ihn an. „Es heißt für jeden deutlich –.“
„Extrablatt! Extrablatt!“ unterbrachen den ängstlich stotternden Leutnant in diesem Augenblick viele Stimmen. „Heute Morgen elf Uhr ist Kaiser Friedrich gestorben!“
Der junge Offizier wurde leichenblaß. „Elf Uhr?!“ wiederholte er langsam. „Um diese Stunde entstand die Schrift!“
Wir traten in den Kasernenhof. Das ganze Regiment schien versammelt und starrte wie gebannt auf den regenfeuchten Platz. Mitten darauf stand in riesigen Lettern:
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