Sie sprachen rücksichtslos und griffen mitten ins Leben, und eine Wirkung ging von ihnen aus, die nicht nur in dem wachsenden Andrang zu ihren Beichtstühlen zum Ausdruck kam, sondern auch in den Handlungen der Einwohner Münsters. Wir hörten häufig, daß gestohlenes Gut zurückgegeben wurde, Verleumder den Verleumdeten um Verzeihung baten, Treulose zu den verführten Mädchen zurückkehrten. „Es geht ein Zug nach Wahrheit und Befreiung durch die Welt, dem, ihrer selbst nicht bewußt, auch die asketischen Diener der Kirche folgen müssen. Zuweilen, wenn sie mit überwältigender Kraft das Elend armer Arbeiter schilderten, und den Reichen, die nicht sehen und hören wollen, mit den Schrecken auch der irdischen Sorgen drohten, schien es wirklich Christi lebendiger Atem zu sein, der sie beseelte. Mir träumte dabei von einer fernen Zukunft, wo in heiligen Hallen, wie diese, Missionsprediger der Freiheit zu den Tausenden sprechen werden.“ So schrieb ich an Mathilde. In Münster aber verstand man meine häufigen Kirchenbesuche anders. Zufall – Absicht? – führten mich mit katholischen Priestern zusammen, und ich merkte bald, welch lebhaftes Interesse sie an mir nahmen. Sie boten sich mir zu Führern in Kirchen und Kapellen an und verwickelten mich, wenn ich kam, in religiöse Gespräche. Aus meiner Stellung zum Protestantismus machte ich kein Hehl, und als ich einmal freimütig erklärte, daß der Katholizismus mir weit anziehender sei, meinte mein Begleiter vorsichtig: „Sie sollten sich mit unserer Kirche näher vertraut machen, wenn sie Ihnen, wie es den Anschein hat, die Idee des Christentums deutlicher repräsentiert.“ – „Die Idee des Christentums?!“
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 364. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/366&oldid=- (Version vom 31.7.2018)