daraus emporhob. Wie reich war doch jenes viel gelästerte „finstere“ Mittelalter gewesen, das für Inhalt und Bedeutung des Lebens so wundervoll-harmonische Ausdrucksformen fand!
Eine Kirche, über die der ganze glaubensselige Reichtum der Gotik ausgegossen schien, schloß mit schlankem Turm, durch dessen Maßwerk hoch oben des Himmels lichte Bläue strahlte, und kraftvoll aufwärts wachsenden Strebepfeilern die Straße gen Norden ab. Mußten sich nun nicht rings die Tore öffnen, um fromme Beter zur Frühmesse zu entlassen, – Frauen in langen, reichen Gewändern, mit perlengestickten Gürteln, das Haupt züchtig umhüllt, das Gebetbuch mit kunstvoll-geschmiedeter Silberschließe in den Händen, – Männer mit bunten geschlitzten Wämsen und der nickenden Feder auf dem Barett? Ich wartete vergebens. Nur ein paar Weiber in jenen tonlosen Kleidern, die das Ende des neunzehnten Jahrhunderts, passend zum monotonen Stil seiner Kasernenstädte, erfunden hat, verschwanden hinter den Kirchentüren. Schon wollte ich mich, unmutig über den zerstörten Zauber zurück ins Zimmer wenden, als mein Blick noch einmal gefesselt ward: aus der engen Gasse gegenüber wand sich lautlos ein Zug grauer Nonnen; die Zipfel ihrer Hauben wehten im Morgenwind, eng aneinander gedrückt, bewegten sie sich unhörbaren Schrittes vorwärts, – eine Kette verflogener Nachtvögel, die lichtscheu über den Boden strich, bis sie das dunkle Kirchentor jenseits verschlang. Und einsam wie vorher lag nun die Straße.
Unser erster Gang an demselben Morgen galt unserem
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 353. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/355&oldid=- (Version vom 31.7.2018)