Mein Vater dagegen war noch nie so liebevoll zu mir gewesen. Was er mir an den Augen absehen konnte, das tat er. Lange Morgenritte machten wir wieder zusammen, hinaus in die weite Heide, vorbei an all den stolz in sich abgeschlossenen einsamen Bauernhöfen und an manch uraltem Schloß mit festen Türmen und tiefen Gräben ringsum. Und wenn er weiter ins Land Inspektionsreisen machte – nach Minden, nach Soest, nach Paderborn –, nahm er mich mit; während er seinen Dienst erledigte, lernte ich all die Schätze alter Kunst, all die Wahrzeichen alter Geschichte kennen, an denen Westfalen so reich ist.
In der ersten Hälfte des Monats Juni fuhren wir nach Aachen, der Garnison des 53. Infanterieregiments, dessen Chef Kaiser Friedrich war. Das Wetter war so schön, die Stadt und ihre Umgebung so unerschöpflich, daß wir länger blieben, als es der Dienst meines Vaters erfordert hätte.
Um Mittag des 15. Juni 1888 – wir kehrten gerade von einem Spaziergang in unser Hotel zurück – kam ein junger Leutnant atemlos von der Kaserne und bat uns, ihm so rasch wie möglich dorthin zu folgen. Was er erzählte, war so seltsam, daß wir, wäre es nicht heller Tag gewesen, an seiner Nüchternheit hätten zweifeln dürfen. Ein Zug Soldaten habe, so berichtete er, auf dem Kasernenhof exerziert; kaum sei er abgetreten, als einem der Offiziere von seinem Fenster aus große lateinische Schriftzeichen im Sande aufgefallen seien, die offenbar von den regelmäßig sich wiederholenden Fußtritten herrühren mußten. Man habe inzwischen rasch zu einem Photographen geschickt, um das merkwürdige Phänomen
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 376. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/378&oldid=- (Version vom 31.7.2018)