Jahrhunderten entwöhnten Hände verdankt er dagegen der Freigebigkeit des üppigen Bodens, den Scharen der Hörigen, die ihn bebauen mußten; und die Grazie seiner gesellschaftlichen Formen, die Schönheit seiner Umgebung erinnert an die prunkvollen Höfe der Kirchenfürsten von Köln, von Paderborn, von Münster, wo seine Ahnen erzogen wurden, und an die künstlerische Kultur, die die katholische Kirche um sich verbreitete. Mit einem angeborenen Sinn für Stoffe und Farben kleiden sich seine schön gewachsenen, ein wenig steifen Frauen und Töchter mit den feinen, regelmäßigen, ein wenig leeren Gesichtern; Perlen und Edelsteine in herrlicher alter Fassung schmücken ihre vollen blonden Haare, ihre schneeweißen Nacken und Arme. Die Möbel, die Schaustücke, das reiche Silbergerät in ihren Häusern ist ererbter Familienbesitz aus den Glanzzeiten der Gotik, der Renaissance, des Rokoko; von den farbensatten Gobelins, die die Wände der Säle decken, sieht die ganze Vergangenheit herab auf das junge Geschlecht, das ihr auch geistig nicht untreu geworden ist.
Sie sind alle gläubige Katholiken; sie versäumen die Messe nicht, auch wenn sie die Nächte durchtanzen; barhäuptig, Gebetbuch und Rosenkranz in den Händen, schreiten die vornehmsten mit in der großen Prozession am Montag nach dem Reliquienfeste und am Tage Mariä Heimsuchung; die Kirche ist ihr eigentliches Vaterland; in den Jahren des Kulturkampfes behandelte der westfälische Adel die preußischen Beamtem und Offiziere wie Feinde, und eine gewisse mißtrauische Zurückhaltung zeigte sich hier und da auch jetzt. Aber sie galt weniger dem preußischen Protestanten im allgemeinen,
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 360. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/362&oldid=- (Version vom 31.7.2018)