weihrauchgeschwängerten Dämmerdunkel des Doms. Unter diesem scheinbaren Widerspruch habe ich gelitten, bis mir klar wurde, daß es gar keiner ist: alle Seiten unserer Natur bedürfen der Nahrung, und die Kunst ist die Nahrung der Sinne. Religion aber ist im Grunde nichts als Kunst und gestaltende Phantasie. Mir war der Protestantismus nie sympathisch; daß er im Grunde nicht nur eine Vergewaltigung deutschen Geistes und Wesens, sondern ausgesprochen areligiös ist, wurde mir von diesem Standpunkt aus erst völlig klar.
Leider muß ich mir zum Denken und Lernen jede Stunde erkämpfen. Vor Räumen, Toilettenkrimskrams, Leute einarbeiten, Besuche machen und empfangen komme ich am Tage kaum zu mir selbst. Dabei haben sich wieder ein paar landläufige Weisheitssprüche als fadenscheiniger Plunder erwiesen: ‚Nach getaner Arbeit ist gut ruhn,‘ – ‚Gut Gewissen, sanftes Ruhekissen‘ – ‚Pflichterfüllung beglückt‘, – lauter faustdicke Lügen, die man uns wie Binden um die Augen legt, damit wir die Wahrheit nicht mehr sehen können, – die Wahrheit, die uns zeigt: Tue Deine Arbeit, dann erst findest Du Befriedigung, – erfülle Deine Bestimmung, dann erst wirst Du glücklich sein.“
Mit steigender Virtuosität führte ich ein Doppelleben: ich vergrub mich stundenweise in meine Bücher, ich lebte mit meinen Gedanken in ihnen, während ich Hüte garnierte, schneiderte, oder mit den Vorbereitungen zu den immer zahlreicheren Gesellschaften, Diners und Bällen beschäftigt war. Aber mit dem Augenblick, wo ich im Festkleid in den Wagen stieg oder die ersten Gäste bei uns erschienen, zog ich den Schlüssel zu dem Geheimfach
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 358. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/360&oldid=- (Version vom 31.7.2018)