Kinder- und Haus-Märchen Band 1 (1819)
Große Ausgaben der Kinder- und Hausmärchen
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1. Ausgabe 1812/15: Band 1 • Band 2 • 2. Ausgabe 1819: Band 1 • Band 2 • 3. Ausgabe 1837: Band 1 • Band 2 • 4. Ausgabe 1840: Band 1 • Band 2 • 5. Ausgabe 1843: Band 1 • Band 2 • 6. Ausgabe 1850: Band 1 • Band 2 • 7. Ausgabe 1857: Band 1 • Band 2 • Anmerkungsband (Band 3): 2. Auflage 1822 • 3. Auflage 1856 |
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und
Haus-Märchen
durch
die Brüder Grimm.
Gedruckt und verlegt
bei G. Reimer.
die Frau
Elisabeth von Arnim
für den kleinen
Johannes Freimund.
Wir finden es wohl, wenn Sturm oder anderes Unglück, das der Himmel schickt, eine ganze Saat zu Boden geschlagen, daß noch bei niedrigen Hecken oder Sträuchen, die am Wege stehen, ein kleiner Platz sich gesichert, und einzelne Aehren aufrecht geblieben sind. Scheint dann die Sonne wieder günstig, so wachsen sie einsam und unbeachtet fort; keine frühe Sichel schneidet sie für die großen Vorrathskammern, aber im Spätsommer, wenn sie reif und voll geworden, kommen arme, fromme Hände, die sie suchen; und Aehre an Aehre gelegt, sorgfältig gebunden und höher geachtet, als sonst ganze Garben, werden sie heim getragen, und Winterlang sind sie Nahrung, vielleicht auch der einzige Samen für die Zukunft.
[VI] So ist es uns vorgekommen, wenn wir gesehen, wie von so vielem, was in früherer Zeit geblüht hatte, nichts mehr übrig geblieben, selbst die Erinnerung daran fast ganz verloren war, als bei dem Volk Lieder, ein paar Bücher, Sagen und diese unschuldigen Hausmärchen. Die Plätze am Ofen, der Küchenheerd, Bodentreppen, Feiertage noch gefeiert, Triften und Wälder in ihrer Stille, vor allem die ungetrübte Phantasie sind die Hecken gewesen, die sie gesichert und einer Zeit aus der andern überliefert haben.
Es war vielleicht gerade Zeit, diese Mährchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewahren sollen, immer seltner werden. Freilich, die sie noch wissen, wissen gemeinlich auch recht viel, weil die Menschen ihnen absterben, sie nicht den Menschen; aber die Sitte nimmt selber immer mehr ab, wie alle heimliche Plätze in Wohnungen und Gärten, die vom Großvater bis zum Enkel fortdauerten, dem stätigen Wechsel einer leeren Prächtigkeit weichen, die dem Lächeln gleicht, womit man von diesen Hausmärchen spricht, welches vornehm aussieht und doch so wenig kostet. Wo sie noch da sind, leben sie so, daß man nicht daran denkt, ob sie gut oder schlecht sind, poetisch, oder für gescheidte Leute abgeschmackt, man weiß sie und liebt sie, [VII] weil man sie eben so empfangen hat, und freut sich daran, ohne einen Grund dafür. So herrlich ist lebendige Sitte, ja auch das hat diese Poesie mit allem unvergänglichen gemein, daß man ihr selbst gegen einen andern Willen geneigt seyn muß. Leicht wird man übrigens bemerken, daß sie nur da gehaftet, wo überhaupt eine regere Empfänglichkeit für Poesie oder eine noch nicht von den Verkehrtheiten des Lebens ausgelöschte Phantasie vorhanden war. Wir wollen in gleichem Sinne hier diese Märchen nicht rühmen, oder gar gegen eine entgegengesetzte Meinung vertheidigen; ihr bloßes Daseyn reicht hin, sie zu schützen. Was so mannigfach und immer wieder von neuem erfreut, bewegt und belehrt hat, das trägt seine Nothwendigkeit in sich, und ist gewiß aus jener ewigen Quelle gekommen, die alles Leben bethaut, und wenn auch nur ein einziger Tropfen, den ein kleines, zusammenhaltendes Blatt gefaßt, doch in dem ersten Morgenroth schimmernd.
Darum auch geht innerlich durch diese Dichtungen jene Reinheit, um deretwillen uns Kinder so wunderbar und seelig erscheinen; sie haben gleichsam dieselben blaulich-weißen, mackellosen glänzenden Augen[1], die nicht mehr [VIII] wachsen können, während die andern Glieder noch zart, schwach, und zum Dienste der Erde ungeschickt sind. Das ist der Grund, warum wir durch unsere Sammlung nicht bloß der Geschichte der Poesie einen Dienst erweisen wollten, sondern es zugleich Absicht war, daß die Poesie selbst, die darin lebendig ist, wirke und erfreue, wen sie erfreuen kann, also auch, daß es ein eigentliches Erziehungsbuch werde. Wir suchen für ein solches nicht jene Reinheit, die durch ein ängstliches Ausscheiden alles dessen, was Bezug auf gewisse Zustände und Verhältnisse hat, wie sie täglich vorkommen, und auf keine Weise unverborgen bleiben können und sollen, erlangt wird, und wobei man in der Täuschung ist, daß, was in einem gedruckten Buche ausführbar, es auch im wirklichen Leben sey. Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit, und geraden nichts Unrechtes im Rückhalt bergenden Erzählung. Dabei haben wir jeden für das Kinderalter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage sorgfältig gelöscht. Sollte man dennoch einzuwenden haben, daß Eltern eins und das andere in Verlegenheit setze, und ihnen anstößig vorkomme, so daß sie das Buch Kindern nicht geradezu in die Hände geben wollten, so mag für einzelne Fälle die Sorge recht seyn, und dann von ihnen leicht ausgewählt werden; im Ganzen, [IX] das heißt, für einen gesunden Zustand, ist sie gewiß unnöthig. Nichts besser kann uns vertheidigen, als die Natur selber, welche gerade diese Blumen und Blätter in dieser Farbe und Gestalt hat wachsen lassen; wem sie nicht zuträglich sind, nach besondere Bedürfnissen, wovon jene nichts weiß, der kann nicht fordern, daß sie darnach anders gefärbt und geschnitten werden sollen. Oder auch Regen und Thau, fällt als eine Wohlthat für alles herab, was auf der Erde steht, wer seine Pflanzen nicht hineinzustellen getraut, weil sie zu empfindlich sind, und Schaden nehmen könnten, sondern lieber in der Stube mit abgeschrecktem Wasser begießt, wird doch nicht verlangen, daß Regen und Thau darum ausbleiben sollen. Gedeihlich aber kann alles werden, was natürlich ist, und darnach sollen wir trachten. Uebrigens wissen wir kein gesundes und kräftiges Buch, welches das Volk erbaut hat, wenn wir die Bibel obenan stellen, wo solche Bedenklichkeiten nicht in ungleich größerm Maaß einträten; der rechte Gebrauch aber findet nichts Böses heraus, sondern wie ein schönes Wort sagt: ein Zeugniß unseres Herzens. Kinder deuten ohne Furcht in die Sterne, während andere, nach dem Volksglauben, die Engel damit beleidigen.
[X] Gesammelt haben wir an diesen Märchen seit etwa dreizehn Jahren, der erste Band, welcher im Jahr 1812 erschien, enthielt meist, was wir nach und nach in Hessen, in den Main- und Kinziggegenden der Grafschaft Hanau, wo wir her sind, von mündlichen Ueberlieferungen aufgefaßt hatten. Der zweite Band wurde im Jahr 1814 beendigt, und kam schneller zu Stande, theils weil das Buch selbst sich Freunde verschafft, die es nun, wo sie bestimmt sahen, was und wie es gemeint wäre, unterstützten, theils weil uns das Glück begünstigte, das Zufall scheint, aber gewöhnlich beharrlichen und fleißigen Sammlern beisteht. Ist man erst gewöhnt, auf dergleichen zu achten, so begegnet es doch häufiger, als man sonst glaubt, und das ist überhaupt mit Sitten, Eigenthümlichkeiten, Sprüchen und Scherzen des Volkes der Fall. Die schönen plattdeutschen Märchen aus dem Fürstenthum Münster und Paderborn, verdanken wir besonderer Güte und Freundschaft, das Zutrauliche der Mundart bei der innern Vollständigkeit, zeigt sich hier besonders günstig. Dort, in den altberühmten Gegenden deutscher Freiheit, haben sich an manchen Orten die Sagen und Märchen als eine fast regelmäßige Vergnügung der Feiertage erhalten, und das Land ist noch reich an ererbten Gebräuchen und Liedern. Da, wo die [XI] Schrift theils noch nicht durch Einführung des Fremden stört, oder durch Ueberladung abstumpft, theils, weil sie sichert, dem Gedächtniß noch nicht nachlässig zu werden gestattet, überhaupt bei Völkern, deren Literatur unbedeutend ist, pflegt sich als Ersatz die Ueberlieferung stärker, und ungetrübter zu zeigen. So scheint auch Niedersachsen mehr als andere Gegenden behalten zu haben. Was für eine viel vollständigere und innerlich reichere Sammlung wäre im 15ten Jahrhundert, oder auch noch im 16. zu Hans Sachsens und Fischarts Zeiten in Deutschland möglich gewesen.[2]
Einer jener guten Zufälle aber war es, daß wir aus dem bei Cassel gelegenen Dorfe Nieder-Zwehrn eine Bäuerin kennen lernten, die uns die meisten und schönsten Märchen des zweiten Bandes erzählte. Diese Frau, Namens [XII] Viehmännin, war noch rüstig, und nicht viel über fünfzig Jahre alt. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Festes, Verständiges und Angenehmes, und aus großen Augen blickte sie hell und scharf.[3] Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedächtniß, eine Gabe, die, wie sie wohl sagte, nicht jedem verliehen sey, und mancher gar nichts im Zusammenhange behalten könne. Dabei erzählte sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Uebung nachschreiben konnte. Manches ist auf diese Weise wörtlich beibehalten, und wird in seiner Wahrheit nicht zu verkennen seyn. Wer an leichte Verfälschung der Ueberlieferung, Nachlässigkeit bei Aufbewahrung, und daher an Unmöglichkeit langer Dauer als Regel glaubt, der hätte hören müssen, wie genau sie immer bei der Erzählung blieb, [XIII] und auf ihre Richtigkeit eifrig war; sie änderte niemals bei einer Wiederholung etwas in der Sache ab, und besserte ein Versehen, sobald sie es bemerkte, mitten in der Rede gleich selber. Die Anhänglichkeit an das Ueberlieferte ist bei Menschen, die in gleicher Lebensart unabänderlich fortgefahren, stärker, als wir, zur Veränderung geneigt, begreifen. Eben darum hat es, so vielfach bewährt, eine gewisse eindringliche Nähe und innere Tüchtigkeit zu der anderes, das äußerlich viel glänzender erscheinen kann, nicht so leicht gelangt. Der epische Grund der Volksdichtung, gleicht dem durch die ganze Natur in mannigfachen Abstufungen verbreitete Grün, das sättigt und sänftigt, ohne je zu ermüden.
Wir erhielten außer den Märchen des zweiten Bandes auch reichliche Nachträge zu dem ersten und bessere Erzählungen vieler dort gelieferten, gleichfalls aus jener, oder andern ähnlichen Quellen. Hessen hat als ein bergichtes, von großen Heerstraßen abseits liegendes, und zumeist mit dem Ackerbau beschäftigtes Land den Vortheil, daß es alte Sitten und Ueberlieferungen besser aufbewahren kann. Ein gewisser Ernst, eine gesunde, tüchtige und tapfere Gesinnung, die von der Geschichte nicht wird unbeachtet [XIV] bleiben, selbst die große und schöne Gestalt der Männer in den Gegenden, wo der eigentliche Sitz der Chatten war, haben sich auf diese Art erhalten, und lassen den Mangel an dem Bequemen und Zierlichen, den man im Gegensatz zu andern Ländern, etwa aus Sachsen kommend, leicht bemerkt, eher als einen Gewinn betrachten. Dann empfindet man auch, daß die zwar rauheren aber oft ausgezeichnet herrlichen Gegenden, eine gewisse Strenge und Dürftigkeit der Lebensweise, zu dem Ganzen gehören, Ueberhaupt müssen die Hessen zu den Völkern unseres Vaterlandes gezählt werden, die am meisten, wie die alten Wohnsitze, so auch die Eigenthümlichkeit ihres Wesens, durch die Veränderungen der Zeit festgehalten haben.
Was wir nun bisher für unsere Sammlung gewonnen, wollten wir bei dieser zweiten Auflage dem Buch einverleiben. Daher ist der erste Band fast ganz umgearbeitet, das Unvollständige ergänzt, manches einfacher und reiner erzählt, und nicht viel Stücke werden sich finden, die nicht gewonnen hätten. Es ist noch einmal geprüft, was verdächtig schien, d. h. was etwa hätte fremden Ursprungs oder durch Zusätze verfälscht seyn können, und dann alles ausgeschieden. Dafür sind die neuen Stücke, die wir seit [XV] dem erhalten, und worunter wir auch Beiträge aus Oestreich und Deutschböhmen zählen, eingerückt, so daß manches bisher ganz Unbekannte begegnen wird. Für die Anmerkungen war uns früher nur ein enger Raum gegeben, da durch die Umarbeitung das Buch anwuchs, so konnten wir für jene nun einen eigenen dritten Band bestimmen. Hierdurch ist es möglich geworden, nicht nur das, was wir früher ungern zurück behielten, mitzutheilen, sondern auch neue, hierher gehörige Abschnitte zu liefern, die, wie wir hoffen, den wissenschaftlichen Werth dieser Ueberlieferungen noch deutlicher machen werden.
Was die Weise betrifft in der wir gesammelt, so ist es uns zuerst auf Treue und Wahrheit angekommen. Wir haben nämlich aus eigenen Mitteln nichts hinzugesetzt, keinen Umstand und Zug der Sage selbst verschönert, sondern ihren Inhalt so wiedergegeben, wie wir ihn empfangen; daß der Ausdruck großentheils von uns herrührt, versteht sich von selbst, doch haben wir jede Eigenthümlichkeit, die wir bemerkten, zu erhalten gesucht, um auch in dieser Hinsicht der Sammlung die Mannigfaltigkeit der Natur zu lassen. Jeder, der sich mit ähnlicher Arbeit befaßt, wird es übrigens begreifen, daß dies kein sorgloses und unachtsames [XVI] Auffassen kann genannt werden, im Gegentheil ist Aufmerksamkeit und ein Takt nöthig, der sich erst mit der Zeit erwirbt, um das Einfachere, Reinere, und doch in sich Vollkommnere, von dem Verfälschten zu unterscheiden. Verschiedene Erzählungen haben wir, sobald sie sich ergänzten, und zu ihrer Vereinigung keine Widersprüche wegzuschneiden waren, als eine mitgetheilt, wenn sie aber abwichen, wo dann jede gewöhnlich ihre eigenthümlichen Züge hatte, der besten den Vorzug gegeben, und die andern für die Anmerkungen aufbewahrt. Diese Abweichungen nämlich erscheinen uns merkwürdiger, als denen, welche darin bloß Abänderungen und Entstellungen eines einmal dagewesenen Urbildes sehen, da es im Gegentheil vielleicht nur Versuche sind, einem im Geist bloß Vorhandenen, Unerschöpflichen, auf mannigfachen Wegen sich zu nähern. Wiederholungen einzelner Sätze, Züge und Einleitungen, sind wie epische Zeilen zu betrachten, die, sobald der Ton sich rührt, der sie anschlägt, immer wiederkehren, und in einem andern Sinne eigentlich nicht zu verstehen.
Eine entschiedene Mundart haben wir gern beibehalten. Hätte es überall geschehen können, so würde die Erzählung ohne Zweifel gewonnen haben. Es ist hier ein [XVII] Fall, wo die erlangte Bildung, Feinheit, und Kunst der Sprache zu Schanden wird und man fühlt, daß eine geläuterte Schriftsprache, so gewandt sie in allem übrigen seyn mag, heller und durchsichtiger, aber auch schmackloser geworden, und nicht mehr so fest an den Kern sich schließe. Schade, daß die niederhessische Mundart in der Nähe von Cassel, als in den Gränzpunkten des alten sächsischen und fränkischen Hessengaues, eine unbestimmte und nicht reinlich aufzufassende Mischung von niedersächsischem und hochdeutschem ist.
In diesem Sinne gibt es unseres Wissens sonst keine Sammlung von Märchen in Deutschland. Entweder waren es nur ein paar zufällig erhaltene, die man mittheilte, oder man betrachtete sie als bloßen, rohen Stoff, um größere Erzählungen daraus zu bilden. Gegen solche Bearbeitungen erklären wir uns geradezu. Zwar ist es unbezweifelt, daß in allem lebendigen Gefühl für eine Dichtung ein poetisches Bilden und Fortbilden liegt, ohne welches auch eine Ueberlieferung etwas Unfruchtbares und Abgestorbenes wäre, ja eben dies ist mit Ursache, warum jede Gegend nach ihrer Eigenthümlichkeit, jeder Mund anders erzählt. Aber es ist doch ein großer Unterschied, zwischen [XVIII] jenem halb unbewußten, dem stillen Forttreiben der Pflanzen ähnlichen, und von der unmittelbaren Lebensquelle getränkten Entfalten und einer absichtlichen, alles nach Willkür zusammenknüpfenden und auch wohl leimenden Umänderung; diese aber ist es, welche wir nicht billigen können. Die einzige Richtschnur, wäre dann die von seiner Bildung abhängende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, während bei jenem natürlichen Fortbilden der Geist des Volkes in dem Einzelnen waltet, und einem besonderm Gelüsten vorzudringen nicht erlaubt. Räumt man den Ueberlieferungen wissenschaftlichen Werth ein, das heißt: gibt man zu, daß sich in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst, daß dieser Werth durch solche Bearbeitungen fast immer zu Grunde gerichtet wird. Allein auch die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn, wo lebt sie wirklich, als da, wo sie die Seele trifft, wo sie in der That kühlt und erfrischt, oder wärmt und stärkt? Aber jede Bearbeitung dieser Sagen, welche ihre Einfachheit, Unschuld, und prunklose Reinheit wegnimmt, reißt sie aus dem Kreis, welchem sie angehören, und wo sie ohne Ueberdruß, immer wieder begehrt werden. Es kann seyn, und dies ist der beste Fall, daß man Feinheit, Geist, besonders Witz, der die Lächerlichkeit der Zeit [XIX] mit hineinzieht; ein zartes Ausmahlen des Gefühls, wie es einer von der Poesie aller Völker genährten Bildung nicht allzu schwer fällt, dafür gibt; aber diese Gabe hat doch mehr Schimmer als Nutzen: sie denkt an das einmalige Anhören oder Lesen, an das sich unsere Zeit gewöhnt hat, und sammelt und spitzt dafür die Reize. Doch in der Wiederholung ermüdet uns der Witz, und das Dauernde ist etwas Ruhiges, Stilles und Reines. Die geübte Hand solcher Bearbeitungen gleicht doch jener unglücklich begabten, die alles, was sie anrührte, auch die Speisen, in Gold verwandelte, und kann uns mitten im Reichthum nicht sättigen und tränken. Gar, wo aus bloßer Einbildungskraft die Mythologie mit ihren Bildern soll angeschafft werden, wie kahl, innerlich leer, und gestaltlos sieht dann trotz den besten und stärksten Worten alles aus! Uebrigens ist dies nur gegen sogenannte Bearbeitungen gesagt, welche die Märchen bloß zu verschönern und poetischer auszustatten vorhaben, nicht gegen ein freies Auffassen derselben zu eigenen, ganz der Zeit angehörenden Dichtungen; denn wer hätte Lust, der Poesie Gränzen abzustecken?
Wir übergeben dies Buch wohlwollenden Händen, dabei [XX] denken wir an die segnende Kraft, die in diesen liegt und wünschen, daß denen, welche solche Brosamen der Poesie Armen und Genügsamen nicht gönnen, es gänzlich verborgen bleiben möge.
Cassel am 3. Julius 1819.
[XXI]
Kindermärchen werden erzählt, damit in ihrem reinen und milden Lichte die ersten Gedanken und Kräfte des Herzens aufwachen und wachsen; weil aber einen jeden ihre einfache Poesie erfreuen und ihre Wahrheit belehren kann, und weil sie beim Haus bleiben und forterben, werden sie auch Hausmärchen genannt[4]. Die geschichtliche Sage fügt meist etwas Ungewöhnliches und Ueberraschendes, selbst das Uebersinnliche, geradezu und ernsthaft an das Gewöhnliche, Wohlbekannte und Gegenwärtige, weshalb sie oft eckig, scharf und seltsam erscheint, das Märchen aber steht abseits der Welt in einem umfriedeten, ungestörten Platz, über welchen es hinaus in jene nicht weiter schaut. Darum kennt es weder Namen und Orte, noch eine bestimmte Heimath, und es ist etwas dem ganzen Vaterland gemeinsames.
[XXII] Die meisten der hier geschilderten Zustände des Lebens sind so einfach, daß viele sie wohl im eigenen gefunden, aber sie sind, wie alle wahrhaftigen, doch immer wieder neu und ergreifend. Die Eltern haben kein Brot mehr und müssen in dieser Noth die Kinder im Walde zurück lassen, oder eine harte Stiefmutter läßt sie darben und leiden und möchte sie gar verderben[5], aber Gott sendet seine Hilfe, er schickt die Tauben, damit sie Nahrung bringen oder dem armen Kinde die Erbsen aus der Asche lesen. Dann sind die Geschwister in des Waldes Einsamkeit verlassen, der Wind erschreckt sie, Furcht vor den wilden Thieren, aber sie stehen sich in allen Treuen bei; das Brüderchen weiß den Weg nach Haus wieder zu finden oder das Schwesterchen leitet es, wann es die Hexe in ein Rehkälbchen verwandelt, sucht ihm Kräuter und Moos zum Lager; und welch ein Reiz liegt in diesem heimlichen Waldleben, nach welchem sich jeder natürliche Mensch gewiß einmal gesehnt hat! Oder es sitzt Jahre lang schweigend und emsig arbeitend, um ein Hemd zu nähen, das den Zauber vernichtet. [XXIII] Der Umkreis dieser Welt ist bestimmt abgeschlossen; Könige und Königskinder, treue Diener und ehrliche Handwerker, nachdem der Erzähler sie kennt, Fischer, Müller, Köhler und Hirten, die der Natur am nächsten bleiben, erscheinen darin; was sich sonst hervorgethan, ist ihr unbekannt. Auch, wie in einer goldenen Zeit, ist noch alles belebt: Sonne, Mond und Sterne sind zugänglich und geben Geschenke; in den Bergen arbeiten Zwerge nach dem Erz, in dem Wasser schlafen Nixen, die Thiere, Vögel (Tauben sind die geliebtesten und hilfreichsten), Pflanzen, Steine reden und wissen ihr Mitgefühl auszudrücken; das Blut ruft und spricht, und so übt diese Poesie schon Rechte, wornach die spätere nur in Gleichnissen strebt. Dieses Zusammenleben der ganzen Natur und diese unschuldige Vertraulichkeit des Größten und Kleinsten, hat eine unbeschreibliche Lieblichkeit in sich und wir möchten lieber dem Gespräch der Sterne mit einem armen, verlassenen Kinde, als dem Klang der Sphären zuhören. Das Unglück ist eine finstere Gewalt, ein ungeheurer menschenfressender Riese, der doch besiegt wird, da eine gute Frau oder Tochter zur Seite steht und der nur die Freude am Glück erhöht, das sich dann endlos aufthut. Das Böse ist nicht ein Kleines, Nahstehendes und das Schlechteste, weil man sich daran gewöhnen könnte, sondern etwas Entsetzliches, streng Geschiedenes, dem man sich nicht nähern darf. Eben so furchtbar auch die Strafe: Schlangen und giftige Würmer verzehren ihre Opfer oder in glühenden Eisenschuhen muß es sich zu todt tanzen. Das alles redet unmittelbar zum Herzen und bedarf keiner Erklärung, aber bald ergiebt sich noch eine tiefere [XXIV] Bedeutung: die Mutter wird in dem Augenblick ihr rechtes Kind wieder im Arme haben, wo sie den Wechselbalg, den ihr die Hausgeister dafür gegeben, zum Lachen bringen kann, denn in dem Lächeln fängt das Leben des Kindes an, und währt in der Freude fort, und darum reden beim Lächeln im Schlaf die Engel mit ihm. Eine Viertelstunde täglich ist über der Macht des Zaubers, wo die menschliche Gestalt frei hervortritt, weil keine Gewalt uns ganz einhüllen kann und jeder Tag Augenblicke gewährt, wo der Mensch alles Falsche abschüttelt und frei und ungebunden aus sich selbst herausblicken kann. Dagegen wird der Zauber auch nicht ganz gelöset, ein Fehler wird begangen und ein Schwanenflügel bleibt statt des Arms, oder weil eine Thräne gefallen, ist ein Auge mit ihr verloren. Durch den Dummling wird die weltliche Klugheit gedemüthigt, denn er, weil er reines Herzens ist, gewinnt allein das Glück. Jede wahre Poesie ist der mannigfaltigsten Auslegung fähig, denn da sie aus dem Leben aufgestiegen ist, kehrt sie auch immer wieder zu ihm zurück; sie trifft uns wie das Sonnenlicht, wo wir auch stehen; darin ist es gegründet, wenn sich so leicht aus diesen Märchen eine gute Lehre, eine Anwendung für die Gegenwart ergiebt; es war weder ihr Zweck, noch sind sie, wenige ausgenommen, deshalb entstanden, aber es erwächst daraus, wie eine gute Frucht aus einer gesunden Blüte, ohne Zuthun der Menschen[6].
[XXV] Nicht zu verkennen ist ein gewisser Humor, der durch viele hingeht, wenn er sich manchmal auch nur leise äußert, und den man mit der eingelegten Ironie moderner Erzähler nicht verwechseln muß. In einigen wird er besonders und anmuthig ausgebildet, wie in der klugen Else, dem Schneider im Himmel und dem Jungen, der auszog, das Fürchten zu lernen, und der durch nichts Schreckhaftes, zuletzt aber durch ein natürliches Mittel zur Erkenntniß gelangt. Das ungeschlachte Wesen des jungen Riesen erhält eben so durch seinen Humor ein Gleichgewicht, als Siegfried in den Nibelungen durch seine Scherze das strenge Heldenwesen mildert. Der phantastische Igel-Hans erhebt sich dagegen durch den Humor aus dem Wilden und Thierischen, und der Bruder Lustig aus seiner Sünde. Dieser Zug ist eigenthümlich deutsch und wird sich auf diese Weise in den Märchen anderer Völker nicht leicht wiederfinden.
Die Darstellung kann in sofern mitunter lückenhaft heißen, als sie wohl einen Theil des Inhalts nur kurz erzählt oder andeutet, um bei einem andern länger zu verweilen; auch läßt sie ganz etwas fallen, ohne doch den Faden zu zerreißen, der nur anderswo angeknüpft wird; dagegen lenkt sie manchmal in eine andere Sage ein und nimmt ein Stück davon auf. Sie gleicht einer Pflanze, deren Sprossen und Zweige jedes Frühjahr in einer andern Richtung hervorwachsen, und die doch Gestalt, Blüte und Frucht darum niemals verändert; oder es ist der lebendige Odem, der über diese Poesie hingeht und ihre Wellen auf und ab treibt und bewegt. Zuweilen scheint der Schluß unbefriedigend, weil [XXVI] das Ganze nicht darauf angelegt wird, sondern das Einzelne sich seines Zusammenhangs mit dem andern bewußt ist; alles Epische steht in einem sichern Kreis, dessen deutliche Bezeichnung eben deshalb nicht immer nöthig war.
So könnte man von dem Wesen der Märchen reden, wenn man sie bloß als etwas in der Gegenwart einmal Vorhandenes betrachten wollte. Fragt man aber nach ihrer Herkunft, so weiß niemand von einem Dichter und Erfinder derselben; sie erscheinen aller Orten als Ueberlieferungen und als solche in mehr als einer Hinsicht merkwürdig. Erstlich ist es unwidersprechlich, daß sie schon seit Jahrhunderten auf diese Weise unter uns fortgelebt, zwar mannigfach im Aeußern sich umwandelnd, aber doch bei ihrem eigentlichen Inhalte beharrend. Wollte man annehmen, daß sie von irgend einem Punkt in Deutschland anfänglich ausgegangen wären, so steht ihre Verbreitung durch so viele ganz von einander getrennte Gegenden und Landschaften, und die fast jedesmal eigenthümliche und unabhängige Bildung entgegen; sie müßten an jedem Orte wieder neu umgedichtet worden seyn. Eben darum ist auch eine Mittheilung durch Schrift, die ohnehin bei dem Volk kaum vorkommt, nicht denkbar. Aber nicht bloß in den verschiedensten Gegenden, wo deutsch gesprochen wird, sondern auch bei den stammverwandten Nordländern und Engländern finden wir sie wieder; noch weiter, bei den wälschen und selbst bei den slavischen [XXVII] Völkern in verschiedenen, nähern und entferntern Graden der Verwandtschaft. Besonders auffallend ist die Uebereinstimmung mit den serbischen Märchen, denn es wird wohl niemand darauf verfallen, daß die Erzählungen in einem einsamen hessischen Dorfe durch Serbier könnten dahin verpflanzt seyn, so wenig als auf das Gegentheil. Endlich finden sich sowohl in einzelnen Zügen und Wendungen als im Zusammenhang des Ganzen Uebereinstimmungen mit morgenländischen, persischen und indischen Märchen. Die Verwandtschaft also, welche in der Sprache aller dieser Völker durchbricht und welche noch neuerdings Rask scharfsinnig bewiesen hat, offenbart sich gerade so in ihrer überlieferten Poesie, welche ja auch nur eine höhere und freiere Sprache des Menschen
Nicht anders als dort deutet dieses Verhältniß auf eine, den Trennungen der Völker vorangegangene gemeinsame Zeit; sucht man aber nach diesem Ursprunge hin, so weicht er immer wieder in die Ferne zurück und bleibt wie etwas Unerforschliches und darum Geheimnißreiches in der Dunkelheit zurück.
Was den Inhalt selbst betrifft, so zeigt er bei näherer Betrachtung nicht ein bloßes Gewebe phantastischer Willkür, welche nach der Lust oder dem Bedürfniß des Augenblicks die Fäden bunt in einander schlägt, sondern es läßt sich darin ein Grund, eine Bedeutung, ein Kern gar wohl erkennen. Es sind hier Gedanken über das Göttliche und Geistige im Leben aufbewahrt: alter Glaube und Glaubenslehre in das epische Element, das sich mit der Geschichte eines Volkes entwickelt, getaucht und leiblich gestaltet. Doch Absicht und [XXVIII] Bewußtseyn haben dabei nicht gewirkt, sondern es hat sich also von selbst und aus dem Wesen der Ueberlieferung ergeben, daher sich auch die natürliche Neigung äußert, das von ihr einmal Empfangene, aber halb Unverständliche, nach der Weise der Gegenwart zu erklären und deutlich zu machen. Je mehr das Epische Ueberhand gewinnt, desto mehr wird das Bedeutende verhüllt.
Beweise für die obigen Sätze sind vielfach in den Anmerkungen, in welchen wir überhaupt, was darauf Bezug hat, so gut wir konnten, zusammengestellt, enthalten, und es wird darnach niemand mehr die Behauptung auffallen, daß hier alte, verloren geglaubte, in dieser Gestalt aber noch fortdauernde deutsche Mythen anzuerkennen sind. Wem die Natur der Mythen nicht fremd ist, der weiß, daß sie bei allen Völkern so häufig als Märchen dargestellt wurden, oft nach dem Geist gewisser Zeitalter nicht anders erfaßt werden konnten[7].
[XXIX]
Die beständige Umwandlung hat natürlich viel neues beigemischt, auf der andern Seite mußte der zu Grund liegende alte Glaube, eben weil er fremd und unverständlich ward, allmählig verschwinden, gleichsam abdorren. Der poetische Trieb bildete daraus etwas sinnlich Verständliches und Ansprechendes, aus welchem aber die Bedeutung nur hier und da dunkel, fast wider Willen, hervor leuchtete, oder, um es bildlich auszudrücken: das Sonnenauge des Geistes wurde auf den farbigen Pfauenspiegel der Dichtung vertheilt. Dennoch läßt sich schon im voraus vermuthen, daß was zurückgedrängt wurde, nicht ganz verloren ging, und ist es hier leichter, etwas mit Wahrscheinlichkeit zu vermuthen, als mit Gewißheit darzuthun, so zeigt doch die nähere Betrachtung noch kenntliche Spuren der frühsten Zeit. Freilich auch nur einzelne, da das zwischengewachsene epische Grün längst den Zusammenhang verdeckt oder zerstört hat.
Schon die Belebung der ganzen Natur kann man als eine fortdauernde Ueberlieferung aus jener Zeit betrachten[8]. Uns ist diese Ansicht nicht befremdend, da wir wissen, daß das Heidenthum [XXX] überall davon ausgegangen (Juppiter est quodcunque vides, quocunque moveris drückt sie Lucan aus); für das Volk würde sie es gewiß seyn, wenn sie ihm erst sollte gegeben werden. Der Sonne, dem Mond, den Sternen wohnt vor allem eine geistige Natur bei und wenn sie zu den Bedrängten reden, ihnen Geschenke geben, die sie erretten, so erscheinen sie als angebetete, göttliche Wesen (quorum opibus aperte juvantur. Caesar de B. G. 10.), wie sie es in den alten Zeiten den Deutschen wirklich waren. Auch die Bäume und Quellen, deren Verehrung sich lange fort erhielt, sind hier beseelt. Der Machandelbaum, d. h. der Leben verleihende, verjüngende Baum (juniperus), ist sichtbar ein guter Geist, seine Früchte erfüllen den Wunsch der Mutter nach einem Kinde; die gesammelten Knochen des Gemordeten werden unter seinen Aesten, die sich gleich den Armen eines Menschen bewegen und sie umfassen, wieder belebt, und die von ihm aufgenommene Seele steigt aus den leuchtenden aber nicht brennenden Flammen der Zweige in der Gestalt eines Vögleins hervor. Es ist nur anders ausgedrückt, wenn das in den Fluß geworfene Kind oder die weiße Braut gleichfalls in dem Bild eines Vogels sich wieder erhebt; der Fluß ist da ein belebter Geist. Anderwärts fangen die Zweige an sich zu erweichen und umfassen mit ihren Armen die in Trauer an dem Stamm Ruhende. Auch dem Grabe der Mutter entspringt ein Bäumchen, zu dem sich Aschenbrödel in der Noth wendet und das ihm Geschenke herab wirft. Oder aus dem vergrabenen Eingeweide (dem Herzen) eines geliebten Thiers wächst ein Baum mit goldenen [XXXI] Aepfeln, der nur dem, wem er mit Recht angehört, gehorcht und folgt. Die Quelle aber, die glänzend über die Steine springt (wie heiliges Wasser in der Edda von den Bergen herabrinnt), ruft den Kindern zu, nicht aus ihr zu trinken, weil sie sonst verwandelt würden. – Weiter reicht schon die höhere Natur, die den Thieren beigelegt wird. Das Pferd Fallada spricht (wie Mimers Haupt), nach dem Tode noch zu seiner Gebieterin. Die Raben weissagen, sie wissen, gleich Odins Raben Huginn und Muninn (d. h. die mit Verstand und Gedächtniß begabten), was in der Welt geschieht. Ueberhaupt aber werden häufig die Vögel als Geister betrachtet. Die Tauben kommen und lesen dem armen Kinde die Erbsen aus der Asche, hacken aber den bösen Schwestern das Aug aus; ein Vöglein wirft dem Vater eine goldene Kette um den Hals, der gottlosen Stiefmutter einen Mühlstein auf den Kopf. Wer das Herz, die Leber, eines Vogels ißt, erhält übernatürliche Kräfte. – Eine der ältesten Spuren der heidnisch-symbolischen Vermischung des Thierischen und Menschlichen, sind die Schwanen-Jungfrauen, welche hier ganz in der Gestalt und Art vorkommen, wie sie von dem alteddischen Wölundslied und den Nibelungen dargestellt werden[9].
[XXXII] Mit dieser Ansicht von einer allbelebten Natur hängt auch das Uebergehen in eine andere Gestalt zusammen, und die hier verwandelten Steine, Bäume, Pflanzen, sind eigentlich geistig belebte. So schwört auch in der Edda dem Baldur die ganze Natur, nicht bloß Vögel und Thiere, sondern auch Feuer, Wasser, Eisen, Erz, Steine und Bäume Sicherheit vor aller Gefahr und hernach beweinen sie seinen Tod. Selbst die Zauberei, deren Macht sich hier so oft wirksam zeigt, beruht auf diesem Glauben, von einem allen Dingen inwohnenden Geist, über welchen man Herrschaft erlangen und ausüben kann.
Der Gegensatz des Guten und Bösen ist häufig durch schwarz und weiß, Licht und Finsterniß ausgedrückt. Die guten, Hilfe bringenden Geister sind fast immer weiße Vögel, und werden sie genannt: die reinen, gallenlosen Tauben; die bösen aber und Unheil verkündenden, sind schwarze Raben. Es sind die schwarzen und weißen Alfen der nordischen Mythologie, welche die höchsten Götter eben so unterscheiden mochte, da Heindal der Weltbestrahler[10] der weiße Ase ausdrücklich heißt, und Balder lichtbestrahlend ist. Aber auch bei Menschen wird auf diese Weise der Gegensatz bezeichnet. Das fromme Mädchen wird weiß wie der Tag, das gottlose schwarz wie die Sünde (Nacht). So kennt die Edda Söhne des Tags Dags-synir, megir und die Tochter der Nacht. (Sigurdrifa’s Lied Nr. 4. und grönl. Atli’slieder Nr. 61.) und [XXXIII] der eddische Name Dagr, welcher an unserm Dagobert, Tagglänzend noch verstärkt erscheint, mag auf gleicher Idee beruhen. In jenem Schlosse ist alles schwarz und die drei schlafenden (zum Tod erstarrten) Königstöchter haben durch die Hoffnung zur Erlösung, denn der Zauber ist eine schwarze Kunst, nur erst ein wenig weiß (Leben) im Antlitz. Eine andere kehrt stufenweis zu der Farbe des Lichts zurück, am ersten Tage werden die Füße, am andern der Leib bis zu den Händen, am dritten endlich auch das Gesicht wieder rein und weiß, und dann erst ist die finstere Macht ganz bezwungen. Der Königssohn, der bei Tag schläft, nur in der Nacht wacht, und den, wenn er nicht unglücklich werden soll, kein Lichtstrahl berühren darf, ist gleichfalls ein schwarzer Alfe; auch diese flohen das Licht und wurden, von der Sonne getroffen, zu Stein. Daher die Sonne: der Jammer, die Klage der Alfen heißt (gräti älfa. Hamdismal Str. I.) Auch das Märchen von der Gänsemagd und der schwarzen und weißen Braut gehört hierher; es ist eigentlich die alte Mythe von der wahren und falschen Bertha. Schon dieser Name sagt die glänzende aus, sie kämmt darum ihre goldstrahlenden Haare, weil sie, wie jene Königstochter, die ohne Kleidung sich bloß in den Mantel ihrer goldenen Haare hüllt, eine strahlende Sonne[11], eine leuchtende Licht-Elfin, oder was dasselbe: eine weiße Schwanen-Jungfrau ist. Eine solche scheint auch ursprünglich Schneeweißchen gewesen zu seyn, das selbst im [XXXIV] Tode noch weiß und schön bleibt und von den guten (weißen) Zwergen verehrt und gehütet wird. Dabei darf man wohl an die zwei Welten der nordischen Mythologie, die eine des Lichts und der Seligkeit (Muspelheim) und die andere der Nacht und Finsterniß (Nifelheim) erinnern.
Das Gute wird von dem Herrn belohnt, das Böse bestraft; er kommt herab auf die Erde und besucht den Reichen und Armen, jenen findet er verdorben, diesen fromm und nach seinen Gesetzen lebend. Er vertheilt darnach seine Gaben, die jenem zum Verderben, diesem zum Heil ausschlagen. Oder, indem er wandelt, begegnet er einer guten und einer bösen Schwester, jener gewährt er die himmlische Schönheit, diese straft er mit Häßlichkeit. Eigenthümlich ist der Gegensatz ausgedrückt, wenn der Teufel, als ein Gegengewaltiger, sein eigenes Gethier sich erschafft, seine Geise aber alle fruchtbare Bäume benagen, die edlen Reben schädigen und die zarten Pflanzen verderben, so daß sie der Herr von seinen Wölfen muß zerreißen lassen. Er ist der Schwarze, der nordische Surtur, der gegen die lichtstrahenden, milden Götter (in suasu god) streitet (s. Vafthrudnismäl 17. 18.).
Ueberhaupt die Weise, wie Gott, der Tod und der Teufel leiblich auftreten, hat nicht selten einen ganz heidnischen Anstrich. Gott zieht umher, wie Odin, in Menschengestalt und wird scheinbar getäuscht, ja der Spielhans fängt zuletzt, wie ein Jöte oder Titan, Krieg gegen den Himmel an, und will sich mit Gewalt den Zugang eröffnen. Auch die Fahrt in die [XXXV] Hölle (die Unterwelt, die nordische Hel) wird von dem, der in einer Glückshaut geboren ist, unternommen und ihm gelingt es, die drei goldenen Haare des Teufels (den geraubten Hort) herauf zu holen. Dieser hat hier in einem andern Märchen, wo er von drei Soldaten, denen er Räthsel vorlegt, ganz das Wesen eines naturstarken, in Felsenhöhlen wohnenden Jöten, den das kleine aber edlere Geschlecht, von seiner eigenen Tochter, Frau oder Mutter, unterstützt, überlistet; nicht anders als wie Thor den Kessel des Hymer (Weltbecher, aus welchem die Götter trinken wollen) holt. Die Strafe des Bösen: in eine Tonne unter Nattern geworfen zu werden, erinnert nicht bloß an die Schlangenhöhlen der Sagen, sondern noch bestimmter an Náströnd, den Aufenthalt der Gottlosen; denn er ist, nach der Edda, mit Schlangen gedeckt, deren Köpfe einwärts gekehrt, Ströme von Gift herabspeien. So auch ist über Loke’s, des bösen Geistes Antlitz, eine Schlange befestigt, damit ihr Gift auf ihn herabtröpfle.
Heidnisch in seinem Ursprunge ist der Gedanke von einem auf Erden vorhandenen, alle Seligkeit in sich fassenden Schatz, welchen zu erwerben Glücklichen und vom Schicksal Begünstigten möglich ist; denn wer zu der Quelle aller irdischen Herrlichkeit dringt, den läßt das Heidenthum des höchsten Lebens Meister und Herr seyn. Dies ist die Idee, der in verschiedener Gestalt, als Hut, Tuch, Tisch u. s. w. vorkommenden Wünscheldinge, welche jeden Gedanken befriedigen, Unsichtbarkeit verleihen, keines Raumes achten, kurz alle irdischen Schranken übersteigen. In [XXXVI] dem Hort der Nibelungen liegt daher die Wünschelruthe, der Zauberstab, bedeutungsvoll verschlossen und zeigt, daß Kampf um den Besitz des höchsten Guts der eigentliche Inhalt der alten Sage ist. Im Titurel Str. 4751. steht die merkwürdige Stelle: „wande sich der gral gelichtet dem paradis mit siner wunschelruoten[12].“ Die weiße, d. h. die glänzende, auf dem Gold ruhende Schlange (Fafner) womit die Unke, die eine Krone trägt und die kostbarsten Schätze gesammelt hat, übereinstimmt, ist gleichfalls ein Symbol jenes Horts; darum erwirbt, wer von ihr ißt, d. h. ihres Wesens theilhaftig wird[13], die höhere Einsicht in die Natur der Dinge, versteht die Sprache der Vögel und hat das Glück an sich gebannt. Ferner das Herz des auf Goldeiern brütenden, selbst goldgefiederten Vogels, ist wieder nichts anders, als jenes Schlangenherz und wenn dem, der es genossen, das Gold im Schlaf unter dem Haupt wächst, so ist das ein bezeichnendes Bild von der unbewußt in ihm wirkenden Kraft. Hierher gehört auch die unter den [XXXVII] Wurzeln eines Eichbaums sitzende, also in der Erde verborgene, Goldgans, die dem, welchem es gelingt sie hervor zu heben, Glück und Segen verschafft, was episch lebendig dadurch ausgedrückt wird, daß ein jedes sie nur berührende Ding, wie an einem Magnet, fest an ihr hangen bleibt. – Ein anderes Bild ist der Baum, an welchem die Aepfel des Lebens wachsen, in der nordischen Mythologie so gut als in der griechischen bekannt; ohne sie veraltert und welkt alles Leben und sie vermögen das halb erstorbene wieder zu erfrischen und zu verjüngen. Dasselbe bedeutet die Quelle, an welcher das Wasser des Lebens geschöpft wird, nach ihm sehnt sich der kranke König, weil es ihn allein heilen kann; es schließt Wunden zu und giebt den Menschen, welche Zauberei in Steine verwandelte, ihre Gestalt zurück.
Verschiedentlich wird die Geschichte von einem König erzählt, der drei Söhne hinterläßt und nicht weiß, welchem er Reich und Krone nach seinem Tode überlassen soll. Er macht daher eine Aufgabe, es sey nun etwas schweres zu vollbringen, etwas seltenes und kostbares zu holen oder eine große Kunst zu erlernen; wer sie löst, der soll der Erbe seyn. Sie ziehen aus und jeder versucht sein Glück. Daß gewöhnlich der jüngste, anscheinend der am geringsten begabte, den Sieg davon trägt, ist in einer sittlichen Idee begründet, über die nachher noch etwas wird angemerkt werden. Herodot (IV. c. 5.) erzählt ein ganz ähnliches Märchen der Skythen über ihre Abkunft, welches, da auf die Verwandtschaft des germanischen mit dem skythischen [XXXVIII] überhaupt Rücksicht zu nehmen ist, mit jenen zusammengehalten zu werden verdient. Targitaus, vom höchsten Gott erzeugt, sey der erste Mensch in Skythien gewesen und habe drei Söhne hinterlassen. Während diese geherrscht, seyen einmal goldene Werkzeuge vom Himmel gefallen, nämlich: ein Pflug, ein Joch, eine zweischneidige Streitaxt (σάγαρις) und eine Schaale (φιάλη). Als der älteste der drei Brüder sie aufheben wollen, sey das Gold glühend gewesen, darauf der zweite gekommen, aber auch diesen habe es gebrannt. Nachdem nun beide von der Glut abgewiesen worden, sey der jüngste hinzugetreten, der das Gold ausgelöscht gefunden und daher die Werkzeuge habe heimtragen können. Worauf die beiden andern diesem allein das Reich überlassen. – Die flache Schaale ist wohl ein Bild des Landes selbst, Pflug und Joch bezeichnet den ackerbauenden, das Schwert den Stand des Kriegers; es sind also die Symbole der Herrschaft über dieses Reich, welche der Himmel einem der drei Brüder zuweisen wollte. Auch in der Völuspà (Str. 7.) schneiden ja die Asen selbst bei der Welteinrichtung Gold, bilden Zangen und verfertigen Werkzeuge. Das Glühen der Geräthschaften deutet auf einen germanischen Glauben, welcher der Probe des glühenden Eisens zu Grund liegt, denn dieses kann nur von dem der Recht hat, dem ganz schuldlosen, ohne Gefahr angerührt werden. – Die drei Söhne aber sind in den Märchen nichts anders als die Trimurti, in welche sich der höchste Gott bei der Bildung der endlichen Welt zertheilt, dem einen von den dreien wird aber die Oberherrschaft wieder verliehen, damit die Idee des alleinigen [XXXIX] Gottes nicht verschwinde. Jener skythische Targitaus ist kein anderer, als der Mannus des Tacitus (Germ. 3.) der Sohn des Gottes Thuisko, nach dessen drei Söhnen Deutschland dreifach benannt oder eingetheilt wurde; in der nordischen Mythologie aber der zuerst erschaffene Bure, dessen drei Söhne, Odin, Bile und Be (Har, Jafuhar und Thridi, oder nach der Völuspá, Odin, Häner und Loder[14]) die Welt ordnen und bevölkern. Odin hat hernach die Oberherrschaft erlangt.
Der goldene, der gläserne, d. h. der glänzende Berg, wohin der Zugang so schwer und erst mit Beihilfe der Sonne, des Mondes und der Sterne oder anderer übernatürlichen Kräfte zu finden ist, welchen unten angefesselte wilde Ungeheuer bewachen und wo die Wunschdinge bewahrt werden, scheint ein Götterberg alter Mythen zu seyn. Es ist derselbe auf welchem die zwölf Riesen (Götter) den Nibelungenhort hüten oder auch das nordische Flammenschloß der Brunhilde, deren Isenburg im deutschen Gedicht nichts anders als Eis-Glasburg aussagt. Im Norden finden wir Asgard, als Mitte der Welt mit goldenen Schildern gedeckt und die Art, wie im Marienkind der Himmel mit seinen zwölf Thüren und der dreizehnten verbotenen beschrieben wird, als ein prachtvolles Goldhaus, erinnert noch bestimmter an das goldglänzende Gladsheim mit seinen zwölf Sitzen für [XL] die Asen und dem Thron für Odin. Ferner ist Gimli zu vergleichen, heller als die Sonne, nach dem Weltende, als die Wohnung der Guten noch fortbestehend; auch das Goldhaus Sindri auf dem Idagebürge und jenes, welches nach der deutschen Sage (B. II. St. 447.) dem heidnischen Friesenherzog Radbot gezeigt ward. Endlich scheint der nordische Gläsisvöllr, welcher als das vorodinische Paradies betrachtet wird und worin der Acker der Unsterblichkeit (udainsakur) lag, hierher zu gehören. Heilige-Himmels-Berge kommen dem Namen nach so gut bei uns als in den altnordischen Dichtungen vor, wenn gleich manchmal nur in der bloß sinnlichen Bedeutung von hohen[15].
Die Frau Holle oder Hulda hat auch noch aber schwerlich in andern Ländern Deutschlands als in Hessen, Thüringen und Franken, den Namen aus der Vorzeit behalten. Sie ist eine gnädige und freundliche, aber auch furchtbare und entsetzliche Göttin; sie wohnt in den Tiefen und auf den Höhen, in den Seen und auf den Bergen, theilt Unglück oder Segen und Fruchtbarkeit aus, jenachdem sie urtheilt, daß es die Menschen verdient haben. Sie umspannt die ganze Erde, und wann sie ihr Bett macht, daß die Federn fliegen, dann schneit es bei den Menschen. Aehnlich träufelt Thau und Regen herab und befruchtet das Land, [XLI] wenn die Wolkenpferde der Wahlküren sich schütteln. Sie läßt sich die Haare kämmen (strehlen), das heißt: sie theilt die Sonnenstrahlen über die Erde aus, denn auch die nordische Erdgöttin Sif hatte ein herrliches, von den Zwergen gewirktes Goldhaar. Um Weihnachten, wann die Sonne wieder steigt, zieht sie durch die Welt, belohnt und straft, sie führt besondere Aufsicht über die Spinnerinnen, welche, wie sich gleich zeigen wird, die das Schicksal spinnenden Elfen-Jungfrauen sind. Ueberhaupt ist sie die große Mutter vom Berge, eine Erdgöttin, wie es die auf Rügen verehrte Hertha und die Ceres der Griechen war. Mehr von ihr zu sagen, wird sich am besten bei der Erläuterung der Sagen von ihr (B. I. S. 6–10.) schicken, hier erscheint sie in ihrer zweifachen Natur, schrecklich anzusehen und doch mild und wohlgesinnt gegen das fromme Kind.
Altheidnischen Glauben enthält auch das Märchen von den drei spinnenden Weibern; diese nämlich spinnen den goldenen Faden des Schicksals, gleich den Nornen, Wahlküren und Parzen [16]. In ihnen sind leicht die halb-überirdischen Schwanen-Jungfrauen, als welche auch die Wahlküren geschildert werden, zu erkennen: sie haben noch den Platschfuß oder den breiten Daumen und die Schnabellippen. Rastlos spinnen sie Tag und Nacht, ohne Ende quillt der Faden hervor, aber auch [XLII] die Edda sagt von den Wahlküren, daß sie ohne Ruhe gewesen, immer (nach ihrer Arbeit, das Schicksal zu treiben, weben, orlog drygia) sich gesehnt[17], und in dem Wölundslied wird gerade erzählt, wie sie am Seestrand sich niedersenken, das Federgewand ablegen und köstlichen Flachs spinnen. Das ist nämlich der epische, sinnliche, aber bedeutungslos erscheinende Ausdruck für den alten tiefsinnigen: das Schicksal spinnen, weben. Auch die goldspinnenden Königstöchter in den Märchen sind nichts anders, als Glück und Reichthum spinnende, schaffende Schwanen-Jungfrauen. Und da die Spindel, das Rad, kreist, so fällt mit diesem Bild ein anderes, gleichfalls uraltes, in dem eddischen Mühlenlied schon ausgebildetes, zusammen, von einem Mühlenrad des Schicksals, welches alles, was der Wunsch verlangt (daher auch ein Wünschelrad) mahlt: Gold, Frieden und Krieg. Und so werden wir auf die noch fortdauernde Idee eines das Entgegengesetzte herumtreibenden Glücksrades, (wie es im Wigalois der König besitzt) geführt. Fast immer sind die goldspinnenden auch Hirtinnen, sie hüten Gänse, Schwäne, d. h. die Geister, was wiederum nur ein anderer Ausdruck für das Lenken, Bewachen des Schicksals ist.
Gleichfalls der Däumling (pollux) ist eine aus der Vorzeit übrige Götteridee. Er ist der die Heimath schützende, seine Geschwister aus der Noth rettende, immer wohl leitende und ohne Zweifel mit den Kabiren und Penaten verwandt, die ja [XLIII] auch in kleiner, zwerghafter Gestalt gedacht wurden. In eine Reihe mit ihm gehören die Wichtel-, Haulemänner, Kobolde und Zwerge. Sie sind gleichfalls die Alfen der nordischen Mythologie und eben so beides: gut und wohlwollend oder bös und schadenfroh. Sie bewohnen nicht bloß die Oberwelt, sie heißen auch die unterirdischen und durchdringen die verborgene und heimliche Erde, wo die herrlichsten Häuser für sie bereit stehen; sie sind der in die feinsten Adern der Welt vertheilte, treibende Lebensgeist.
Ueberhaupt aber das, die Naturkräfte in dem Gegensatz ihrer wilden und stillen Wirkungen darstellende Riesen- und Zwerg-Wesen lebt hier noch in den Formen und Bildern fort, in welchen es die alten ursprünglich deutschen Gedichte darstellen, das Uebermächtige und doch Ungeschlachte jener ist in ähnlichen naiven, höchst bezeichnenden Zügen dargestellt, so wie die Schlauheit, List und wiederum das Zuthätige und Bereitwillige der Kleinen aus Elberichs Reich, welche durch ihre wunderbaren und geheimen Kräfte immer auch das Geistermäßige ihrer Natur erkennen lassen.
Legen wir diese einzelnen Körner zusammen, so scheint von dem alten Glauben noch durchzublicken: Belebung der ganzen Natur, Pantheismus, ein Fatum, das gute und böse Princip, die Trimurti, große, höhere Götter, mit ihrem Götterberg, so wie Verehrung kleiner besonderer Gottheiten.
[XLIV]Die epische Mannigfaltigkeit dieser Märchen ist dagegen groß, jedes Einzelne hat seinen besonderen Inhalt, und über die Verwandtschaft und Einstimmung mit andern ist in den jedesmaligen Anmerkungen das Nöthige enthalten. Dennoch läßt sich das Ganze in gewisse Massen eintheilen und darnach übersehen.
Erstlich wird der Kampf des Guten und Bösen, von dessen eigenthümlichem Ausdruck vorhin die Rede war, in vielfachen Verschlingungen und Wendungen dargestellt; häufig in den kindlichen Verhältnissen der Geschwister. Der Bruder ist in die Gewalt böser Mächte gefallen, die Schwester hört es und sucht ihn nun, durch Wälder und Einöden wandernd, scheut keine Gefahr, vollbringt die schwersten Aufgaben und erlöst ihn endlich, denn das Gute und Reine taucht doch am Ende, als das allein Wahre und Bestehende hervor und besiegt das Böse. Und in wie viel schönen Zügen ist dabei das Menschliche eingeflochten! Nicht immer gelingt es, den Zauber ganz aufzuheben, die Warnungen der wohlwollenden Geister werden vergessen und die Arbeit muß von neuem angefangen werden.
Die reinen Geister, indem sie das Gute befördern, begleiten sichtbar den Menschen auf seinen Wegen. Daher überhaupt Mythen und Sagen von jenen höheren Menschen, mit denen die Götter selbst Umgang gepflogen, und daran schließen sich die Märchen von jenen besonders begabten, mit ungewöhnlichen Vorzügen ausgestatteten. Jener kommt schon in einer Glückshaut [XLV] auf die Welt, ihm schlägt alles Widerwärtige zum Vortheil aus, er geht selbst in die Hölle, dem Teufel seine Geheimnisse abzulocken. Den beiden Brüdern wächst das Gold im Schlaf unter dem Kopfkissen, kein Schuß versagt, die Thiere kommen herbeigelaufen um ihnen zu dienen, und Zauberei vermag nichts gegen sie. Sneewittchen, Aschenputtel und das mit seinem Liebsten Roland entfliehende Mädchen, stehen unter einem besonderen Schutze.
In seiner Idee immer dasselbe wird ein Märchen vier bis fünfmal jedesmal unter andern Verhältnissen und Umständen erzählt, so daß es äußerlich als ein anderes kann betrachtet werden. Die gute und unschuldige, gewöhnlich die jüngste Tochter, wird von dem Vater in der Noth einem Ungeheuer zugesagt oder sie giebt sich selbst in seine Gewalt. Geduldig trägt sie ihr Schicksal, manchmal wird sie gestört von menschlichen Schwachheiten und muß diese schwer abbüßen, doch endlich empfindet sie Liebe zu ihm, und in dem Augenblick wirft es auch die häßliche Gestalt eines Igels, eines Löwen, eines Frosches ab und erscheint in gereinigter, jugendlicher Schönheit. Diese Sage, welche auch bei den Indiern einheimisch ist und mit der römischen von Amor und Psyche, der altfranzösischen von Parthenopex und Meliure sichtbar zusammenhängt, deutet die Bannung in das Irdische und die Erlösung durch Liebe an. Stufenweis arbeitet sich das Reine hervor, wird die Entwicklung gestört, so stürzt Elend und Schwere der Welt herein und nur von der Berührung der Seelen, vor der Erkenntniß in Liebe, fällt das Irdische ab.
[XLVI] Es ist schon vorhin bemerkt, daß diese Poesie es ihrer innern Lebendigkeit überläßt die gute Lehre zu geben; an sich ist es nicht ihr Zweck, am wenigsten ist sie ausgedacht, um irgend eine gefundene moralische Wahrheit aus einander zu setzen. Dagegen sind einige Märchen deutlich auf eine Lehre gerichtet, doch nur indem sie mit dem bestehenden Volksglauben zusammenhängt und daraus die Sage sich gebildet, nicht aber soll sie durch den ersonnenen Gang einer Geschichte, wobei zuletzt eine Erklärung nöthig wird, herausgekünstelt werden. Dahin das Märchen von dem Mütterchen, welches über Gottes Fügungen trauert und in einem nächtlichen Bilde die traurigen Schicksale schaut, die von ihr abgewendet worden; das Märchen von dem Kind, das der gestohlene Heller nicht im Grabe ruhen läßt; das die Hand aus dem Grabe streckt; von der Brautschau, den Schlickerlingen, wodurch Fleiß und Häuslichkeit empfohlen werden; von dem Großvater und Enkel; dem undankbaren Sohn; von der Sonne, die allem Heimlichen zusieht und es an den Tag bringt.
Mehrere sind ganz christlichen Inhalts und unterscheiden sich durch Reichthum und Mannigfaltigkeit von den einförmigen Legenden. Vor allen ist das Marienkind zu nennen: erst lebt es mit den Engeln in reiner Unschuld, dann, durch die Neugierde zur Sünde verleitet, wird es aus dem Himmel verstoßen. Nun muß es den Schmerz der Erde erfahren, so lang es in der Sünde beharrt, aber in dem Augenblick, wo sich das Herz zu Gott bekehrt, zeigt er sich auch wieder gnädig und alle Noth hört auf. In dem Märchen von dem Mädchen ohne Hände ist es [XLVII] so schön ausgedrückt, daß vor der Reinheit alle List des Bösen zu Schanden wird, und wie Gott darum die abgehauenen Glieder aufs neue wachsen läßt, so verleiht er dem Frommen, der unter einem Galgen sitzt, aber unter einem Kreuz zu sitzen glaubt, und zu ihm betet, durch einen reinen Thau die Augen wieder. In dem Märchen von der Nelke speisen Gottes Thiere, wie jenen Propheten, die unschuldig eingekerkerte Königin, die darum auch, als sie befreit worden, weil sie himmlische genossen, keine irdische Nahrung mehr anrührt und stirbt. Der Knabe, der im Vertrauen auf Gottes Wort immer fort geht, um das Himmelreich zu finden, deutet an, daß der feste Glaube auch bei einem äußern Mißverständniß, zur Seeligkeit führe. Einige märchenhaft ausgebildete Legenden sind am Ende zugefügt.
Der Zusammenhang einer besondern Reihe mit der deutschen Heldensage ist in den Anmerkungen bis ins Einzelne nachgewiesen und hier nur im Allgemeinen etwas darüber zu erinnern. Die Sage pflegt in der Ueberlieferung vorzugsweise entweder ihren geschichtlichen Inhalt oder die innere Gesinnung der darin handelnden Menschen fest zu halten; jenachdem sie das eine für das wichtigste ansieht, vernachlässigt sie das andere. In dem vollkommenen und blühenden Zustand einer epischen Zeit ist freilich beides gleich mächtig und bedingt sich gegenseitig; späterhin aber herrscht eine Richtung vor. Gewöhnlich pflegt die sogenannte Kunstpoesie die Fabel zurückzusetzen, um die Gesinnung auszubilden, während die Volksdichtung jene vor allem zu erhalten sucht. In unsern Märchen ist zwar die Uebereinstimmung in der [XLVIII] Fabel selbst das überwiegende, doch haben sich auch Charaktere fort erhalten, namentlich erscheint Siegfried öfter am kenntlichsten in dem jungen Riesen, an jener eigenthümlichen Mischung eines tapfern und reinen Herzens und einer gutmüthigen und scherzhaften Laune, in welcher ihn das Nibelungenlied darstellt. Siegfried handelt unbewußt, aber in sicherm Gefühl von der Herrlichkeit seiner Natur und Lebenskraft. Was den Zusammenhang mit der Fabel betrifft, so wäre er zu eng angegeben, wenn man voraussetzte, anfänglich sey völlige Uebereinstimmung gewesen, und nur durch Ausfüllung der Lücken, mit Hilfe der Einbildungskraft das Abweichende entstanden; dagegen, wollte man behaupten, die Uebereinstimmung, wie sie sich findet, sey bloß zufällig oder hätte ihren Grund in dem auf gleiche oder verwandte Gedanken von selbst zurückkehrenden Geist, so wäre dies noch unrichtiger. Sie ist zu merkwürdig und geht in zu viele einzelne Züge, als daß an einen solchen Zufall könnte gedacht werden. Freilich ist die deutsche Sage im Ganzen und Großen aus dem Wesen des deutschen Geistes entsprungen, und es ist ihre Aufgabe ihn darzustellen; aber eben in dem Ineinandergreifen des Nothwendigen der Ueberlieferung und des Freien der poetisch-bildenden Kraft besteht ihr Leben, und eine solche Mischung müssen wir auch hier annehmen. Daß sich noch ein Zusammenklang mit der nordischen Sage, am deutlichsten in Beziehung auf Aslaug erhalten, der in andern Denkmälern nicht mehr vernommen wird, ist um so wichtiger, als es zeigt, daß das Ganze nur in dem Bewußtsein des Volks vollständig vorhanden war und dasjenige, was in den einzelnen Gedichten hervortrat und ausgebildet wurde, immer nur als Bruchstück, [XLIX] wenn auch organisches, darf betrachtet werden. Bei dem Volk hat noch fortgedauert, was in den durch die Schrift auf uns gekommenen Dichtungen so gut spurlos untergegangen ist, als jene gleichfalls hierher gehörigen Lieder von Saurle und Hamder, deren Daseyn doch ausdrückliche Zeugnisse beweisen. Auch hierin gleicht die Sage der Sprache, die eben so nur in dem Bewußtseyn des ganzen Volks vollständig lebt.
Die Thiermärchen öffnen eine andere Welt. Das heimliche Treiben der Thiere in den Wäldern, Triften und Feldern hat etwas sehr bedeutendes. Es herrscht unter ihnen eine bestimmte Ordnung, in dem Bau ihrer Wohnung, in dem Ausflug, der Heimkehr, dem Füttern der Jungen, der Vorsorge für den Winter; ihr Gedächtniß scheint groß, sie machen sich einander verständlich, und ihre Sprache ist wohl nicht mannigfaltig, aber mächtig und eindringlich. Sie vereinigen sich in Schaaren, ziehen aus, haben Anführer und bekriegen einander. Dabei ist nichts natürlicher, als ihnen ein sittlich geordnetes, menschliches Leben und Weben zuzuschreiben, das sie nur unsern Blicken zu verbergen scheinen. Das Auge der Dichtung aber sieht alles Geheime und Verborgene, sie offenbart diesen innern Haushalt der Thiere, und da sie ihnen zugleich die menschliche Sprache beilegt, wodurch sie allein schon vieler menschlichen Gedanken theilhaftig werden, so sind sie uns noch näher gerückt. Außerdem entsteht durch die beständige Vermischung des Thierischen und Menschlichen, ein besonderer Reiz: man denkt, es wären wirklich Menschen, die Gefallen daran hätten, sich einmal in dieser Gestalt zu belustigen. Natürlich, daß bei dieser Vereinigung Sagen herüber [L] und hinüber gegangen sind; manchmal wird das ganz Unbelebte mit hineingezogen, selbst Strohhalm, Kohle und Bohne machen eine Reise zusammen. Das Böse in List und Verschlagenheit ist der Fuchs, dessen Verwandtschaft mit dem ungetreuen Sibich der deutschen Heldensage an einem andern Ort gezeigt worden; in Gewalt und Plumpheit ist es der Wolf. Die schwachen Thiere, zumeist die Vögel sind die gutgesinnten, welchen von jenen nachgestellt wird. Auch stehen sich beide wieder entgegen, wie anderwärts Zwerge und Riesen: so ist in dem Märchen von dem Bär und Zaunkönig der Sieg der Kleinen über die Großen und Unbeholfenen beschrieben, und der Wolf, der das Rothkäppchen und die jungen Ziegen berückt, stellt den Menschenfresser vor, der endlich doch durch seine Plumpheit überwältigt wird. Manches gehört in den Fabelkreis vom Reinhart Fuchs, und wird dort besser sich erklären lassen. Wo die Menschen mit den Thieren zusammenkommen, sind jene gewöhnlich hart und ungerecht, werden aber dafür bestraft, wie z. B. in dem Märchen von dem Hund und Sperling.
Die Eigenthümlichkeiten eines ganzen Volkes pflegt die Poesie um Einzelne zu versammeln, so daß, was in der Menge zerstückt, schwach oder unbestimmt sich zeigt, gesteigert und zu einem Ganzen vereinigt wird: man könnte sagen, sie ließ uns nur vollständige und in Farben ausgemahlte Exemplare sehen. Stellt ein solcher Charakter zwar das Gemeinsame dar, so tritt er doch zugleich als eine scharf gezeichnete, für sich in ihrer Besonderheit lebende Gestalt auf; [LI] vorzüglich erscheinen im Komischen, weil es so viel Eckiges und Hervorspringendes hat, gleich feststehende Masken. Ueberhaupt aber, jemehr solche Charaktere auf die Natur eines Volks, seine Tugenden und Schwächen sich gründen, desto bleibender und unvergänglicher werden sie auch seyn, und nach allen äußerlichen Veränderungen jedesmal frisch sich herausbilden. Welches Epos hätte nicht als Helden einen Achill und Ulysses, im Humor und Scherz seinen Lalenbürger und Eulenspiegel. Es sind die natürlichen Formen und Gränzen der Poesie, innerhalb welchen sie sich mit aller Freiheit und Mannigfaltigkeit bewegen kann. Von Siegfrieds eigenthümlichem, die deutsche Natur vorzugsweise bezeichnenden Charakter, war vorhin die Rede; dieser hat aber schon einen gewissen Anklang von einem andern, der hier oft vorkommt und der Dummling genannt wird. In der Jugend zurückgesetzt, zu allen Dingen, wozu Witz und Gefügsamkeit gehören, ungeschickt, muß er gemeine Arbeiten verrichten (wie Siegfried das Schmiedehandwerk treibt) und Spott erdulden; er ist das Aschenkind, das am Heerde oder unter der Treppe seine Schlafstätte hat; aber es leuchtet dabei eine innere Freudigkeit und eine höhere Kraft durch; schön wird er im Parcifal der Dummeklare genannt[18]. Kommt es dann zur lebendigen That, so erhebt er sich schnell, wie eine lange keimende, endlich vom Sonnenlicht berührte Pflanze, und dann vermag er allein unter vielen das Ziel zu erreichen. Er ist hier unter verschiedenen Verhältnissen dargestellt, gewöhnlich der jüngste von dreien Brüdern, stehen ihm die beiden [LII] andern in Stolz und Hochmuth entgegen; wenn sie zusammen ausgeschickt werden, um eine Aufgabe zu lösen, wornach der Vorzug unter ihnen bestimmt werden soll, verlachen ihn jene und sehen ihn mit Verachtung an. Der Dummling aber zieht in kindlichem Vertrauen aus, und wenn er sich ganz verlassen glaubt, hilft eine höhere Macht und giebt ihm den Sieg über die andern. Ein andermal hat er weltliches Wissen hintangesetzt und nur die Sprache der Natur gelernt, darum wird er verstoßen, aber jene Erkenntniß erhebt ihn bald über alle andere. Unterliegt er der Mißgunst und wird ermordet, so verkündigt doch lange nachher der weißgebleichte, hervorgespülte Knochen die Unthat, damit sie nicht unbestraft bleibe
Der Dummling ist der verachtete, geringe, der kleine und nur von Riesen aufgesäugt, wird er stark; so nähert er sich dem Däumling. Dieser ist bei seiner Geburt nur so groß als ein Daumen und wächst auch nicht weiter. Bei ihm aber ist alles in Klugheit ausgeschlagen, er ist aller List und Behendigkeit voll, so daß er sich aus jedem Unfall, in den ihn seine kleine Gestalt so oft bringt, jedesmal zu helfen, selbst noch Vortheil daraus für sich zu ziehen weiß. Jedermann äfft er und zeigt eine Lust an gutmüthiger Neckerei, überhaupt die Natur der Zwerge; auch mögen alte Sagen von diesen hier noch fortdauern. Manchmal ist er als ein kluges Schneiderlein dargestellt, das mit seinem feinen und schnellen Verstand die Riesen schreckt, die Ungeheuer tödtet und die Königstochter erwirbt; er allein kann die vorgelegten Räthsel lösen.
Das Bauerlein, das ein hölzernes Kalb auf die Weide schickt, aber hernach durch allerlei listige Streiche sich Reichthum zu verschaffen [LIII] weiß, steht zwischen dem Däumling und dem Lalenbürger. Dieser kommt aber hier in verschiedenen Abstufungen vor, am deutlichsten in den Narrheiten des Catherlieschen und der klugen Else, die Albernheit wird unter dem Anschein eines breiten Verstandes und mit eigenem Wohlgefallen manchmal mit einem leisen Bewußtseyn betrieben; dann gehören die sieben Schwaben hierher, die alle an einem Spieß auf Abentheuer ausziehen, einen Hasen als ein Ungeheuer aufjagen, und von einem Frosch ums Leben gebracht werden. Eigene Mischungen sind, wo die Dummheit zum Vortheil ausschlägt, wie beim Doctor Allwissend, und bei der Hochzeit des gescheidten Hans, oder umgekehrt, die Weißheit immer übel angewendet wird, wie bei dem Jungen, der auf Reisen gehen wollte.
Ein vierter Charakter ist der Bruder Lustig. Er bekümmert sich um nichts, als ein fröhliches Leben, weiß nicht, war gut und was bös ist, und ihm wird darum nichts zugerechnet. Als der Herr kommt, bei ihm zu herbergen, ist er bereit, das Letzte mit ihm zu theilen, doch verthut er gleich im Spiel den Groschen, wofür er einen Trunk zu der Speise holen soll. Dem Apostel Petrus, der in der Gestalt eines Armen um ein Allmosen ihn anspricht, gibt er seinen letzten Heller, und als dieser, im Glauben einen Frommen gefunden zu haben, mit ihm zieht, betrügt er ihn alsbald um das Herz des gebratenen Lämmchens und ist ärgerlich, das der mächtige Apostel nicht mehr Geld zusammen bringt. Als Bärenhäuter dient er dem Teufel, wird aber aus der Hölle wieder fortgeschickt. Den Tod hat er lange zum Narren, endlich [LIV] muß er ihm folgen, aber nun will ihn weder der Himmel noch die Hölle einlassen, bis er durch einen guten Einfall in jenen sich Eingang verschafft. Gewißermaßen macht der Schneider, welcher, als er aus Gnaden in den Himmel aufgenommen worden, dort Richter über die Sünden seyn will, und wieder ausgestoßen wird, das Gegenstück zu ihm. In der Legende ist der heil. Christoph, der sich einen Herrn sucht, dem Teufel dient, und mit Verachtung ihn verläßt, weil er vor dem Christkind erschrickt, nach diesen Sagen gebildet.
Endlich der Aufschneider; in ihm gibt sich die reine und weil sie unverholen ist, schuldlose Lust an der Lüge kund. Die menschliche Einbildungskraft hat das natürliche Verlangen, einmal die Arme, so weit sie kann, auszustrecken, und ungestört das große Messer, das alle Schranken zerschneidet zu handhaben. In diesem Sinne ist das Märchen von dem aus dem Himmel geholten Dreschflegel gedacht; nur ein Schritt weiter, ist dann das Zusammenstellen des völligen Widerspruchs und Vereinigung des Entgegengesetzten, wie im Märchen vom Schlaraffenland. Doch mögen auch in jenen wunderbaren Künsten der sechs Diener alte Riesensagen fortdauern, die nur, nachdem aller Glaube daran sich verloren hatte, in einer solchen humoristischen Weise noch dargestellt werden konnten. Wenigstens wird das Riesenwesen, ihre Sprünge, ihr Schießen und Kugelwerfen, die sprengende Kraft ihrer Augen, ihr ungeheures Essen und Verschlingen, in den alten Sagen und Liedern ganz ähnlich, und in allem Ernst beschrieben.
[LV]Seite. | ||
1. | Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich | 1 |
2. | Katz und Maus in Gesellschaft | 5 |
3. | Marienkind | 8 |
4. | Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen | 14 |
5. | Der Wolf und die sieben jungen Geislein | 25 |
6. | Der getreue Johannes | 29 |
7. | Der gute Handel | 39 |
8. | Der wunderliche Spielmann | 44 |
9. | Die zwölf Brüder | 48 |
10. | Das Lumpengesindel | 55 |
11. | Brüderchen und Schwesterchen | 57 |
12. | Rapunzel | 66 |
13. | Die Männlein im Walde | 69 |
14. | Die drei Spinnerinnen | 77 |
15. | Hänsel und Grethel | 80 |
16. | Die drei Schlangenblätter | 88 |
17. | Die weiße Schlange | 92 |
18. | Strohhalm, Kohle und Bohne auf der Reise | 96 |
19. | Von dem Fischer und siine Fru | 97 |
20. | Das tapfere Schneiderlein | 104 |
21. | Aschenputtel | 114 |
22. | Das Räthsel | 123 |
23. | Von dem Mäuschen, Vögelchen und der Bratwurst | 126 |
24. | Frau Holle | 129 |
25. | Die sieben Raben | 133 |
26. | Rothkäppchen | 136 |
27. | Die Bremer Stadtmusikanten | 141 |
28. | Der singende Knochen | 145 |
29. | Der Teufel mit den drei goldnen Haaren | 148 |
30. | Läuschen und Flöhchen | 156 |
31. | Das Mädchen ohne Hände | 158 |
32. | Der gescheidte Hans | 166 |
33. | Die drei Sprachen | 169 |
34. | Die kluge Else | 173 |
35. | Der Schneider im Himmel | 177 |
36. | Tischchen deck dich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack | 179 |
37. | Daumesdick | 191 |
38. | Von der Frau Füchsin | 198 |
39. | Die Wichtelmänner | 202 |
I. Von einem Schuster, dem sie die Arbeit gemacht | 202 | |
II.) Von einem Dienstmädchen, das Gevatter bei ihnen gestanden | 204 | |
III.) Von einer Frau, der sie das Kind vertauscht haben | 205 |
[LVI]
Seite. | ||
40. | Der Räuberbräutigam | 206 |
41. | Herr Korbes | 210 |
42. | Der Herr Gevatter | 212 |
43. | Die wunderliche Gasterei | 213 |
44. | Der Gevatter Tod | 215 |
45. | Des Schneiders Daumerling Wanderschaft | 219 |
46. | Fitchers Vogel | 224 |
47. | Van den Machandel-Boom | 228 |
48. | Der alte Sultan | 240 |
49. | Die sechs Schwäne | 243 |
50. | Dornröschen | 249 |
51. | Fundevogel | 253 |
52. | König Droßelbart | 257 |
53. | Sneewittchen | 262 |
54. | Der Ranzen, das Hütlein und das Hörnlein | 274 |
55. | Rumpelstilzchen | 280 |
56. | Der liebste Roland | 283 |
57. | Vom goldnen Vogel | 288 |
58. | Der Hund und der Sperling | 297 |
59. | Der Frieder und das Catherlieschen | 301 |
60. | Die zwei Brüder | 310 |
61. | Das Bürle | 337 |
62. | Die Bienenkönigin | 344 |
63. | Die drei Federn | 347 |
64. | Die goldene Gans | 350 |
65. | Allerlei-Rauh | 356 |
66. | Häsichen Braut | 363 |
67. | Die zwölf Jäger | 365 |
68. | Der Gaudeif un sien Meester | 369 |
69. | Jorinde und Joringel | 371 |
70. | Die drei Glückskinder | 375 |
71. | Sechse kommen durch die ganze Welt | 378 |
72. | Der Wolf und der Mensch | 385 |
73. | Der Wolf und der Fuchs | 387 |
74. | Der Fuchs und die Frau Gevatterin | 389 |
75. | Der Fuchs und die Katze | 391 |
76. | Die Nelke | 392 |
77. | Das kluge Grethel | 398 |
78. | Der alte Großvater und der Enkel | 401 |
79. | Die Wassernix | 402 |
80. | Von dem Tod des Hühnchens | 403 |
81. | Bruder Lustig | 405 |
82. | De Spielhansl | 419 |
83. | Hans im Glück | 423 |
84. | Hans heirathet | 430 |
85. | Die Goldkinder | 432 |
86. | Der Fuchs und die Gänse | 438 |
- ↑ In die sich Kinder selbst so gern greifen, (Fischarts Gargantua 129 b 131 b) und die sie sich holen möchten.
- ↑ Merkwürdig ist, daß es bei den Galliern nicht erlaubt war, die überlieferten Gesänge aufzuschreiben, während man sich der Schrift in allen übrigen Angelegenheiten bediente. Cäsar, der dies anmerkt (de B. G. VI. 4.) glaubt, daß man damit habe verhüten wollen, im Vertrauen auf die Schrift, leichtsinnig im Erlernen, und Behalten der Lieder zu werden. Auch Thamus hält dem Theuth (im Phädrus des Plato) bei Erfindung der Buchstaben den Nachtheil vor, den die Schrift auf die Ausbildung des Gedächtnisses haben würde. – Ueber die ursprüngliche Sitte der Deutschen und Franken bei der Ueberlieferung ihrer Lieder, vergl. Altd. Wälder I. 232-34 und Anm. 4.
- ↑ Unser Bruder, Ludwig Grimm, hat eine recht ähnliche und natürliche Zeichnung von ihr radirt, sie wird einmal in der Sammlung seiner Blätter, wovon bei Artaria ein Heft erschienen ist, zu haben sein. Einen zwar verkleinerten doch wohlgerathenen Nachstich davon liefert das Titelkupfer vor dem zweiten Band. Durch den Krieg gerieth die gute Frau in Elend und Unglück, das wohlthätige Menschen lindern aber nicht heben konnten. Der Vater ihrer zahlreichen Enkel starb am Nervenfieber, die Waisen brachten Krankheit und die höchste Noth in ihre schon arme Hütte. Sie wurde siech und starb am 17. Nov. 1816.
- ↑ Hausmärlein bei Rollenhagen; Abendmärlein, s. Oberlin v. Belzen und das Gedicht von dem Häselin B. 7. – Rockenmärlein, bei Aventin, bair. Chr. 169 a 406 a.
- ↑ Dieses Verhältniß kommt hier oft vor, und ist wohl die erste Wolke, die in dem Himmel eines Kindes aufsteigt und die ersten Thränen erpreßt welche die Menschen nicht sehen, aber die Engel zählen. Ein schönes dänisches Volkslied erzählt, wie die Mutter im Grabe das Schreien ihrer von der Stiefmutter verlassenen Kinder hört, Gott bittet aufstehen zu dürfen, und wie sie in der Nacht hingeht und sie pflegt und das kleine tränkt. Selbst Blumen haben davon ihren Namen erhalten: die Viola tricolor heißt Stiefmütterchen, weil jedes der gelben Blätter unter sich ein schmales, grünes Blättchen hat, wovon es gehalten wird, das sind die Stühle, welche die Mutter ihren rechten, lustigen Kindern gegeben; oben müssen die zwei Stiefkinder, in dunkelviolett trauernd, stehen und haben keine Stühle.
- ↑ „Die wahre Darstellung hat keinen didactischen Zweck. Sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern sie entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge, und dadurch erleuchtet u. belehrt sie.“ Göthes Leben III. 350.
- ↑ Wie gleicht, um aus vielen nur ein Beispiel anzuführen, die so bedeutende Mythe des unter den Sternbildern selbst glänzenden Perseus völlig einem unserer Märchen. Auch wäre es nicht schwer, in ihm einen Wiederschein von unserm Siegfried zu zeigen. Wie dieser, ist er bei seiner Geburt in einem Kästchen aufs Meer ausgesetzt. Bald unternimmt er, von listiger Falschheit angetrieben, jenes Wagniß mit dem Haupt der Gorgo, wie Siegfried mit Fafner. Er bedarf dazu den unsichtbaren Helm des Aïdes, welcher dem nordischen Aegirshelm und der Nebelkappe, und die demantne Sichel des Hermes, welche Siegfrieds Balmungen entspricht. Die Wirkungen des Medusenhaupts lassen sich jenen des Hornleibs vergleichen: kein Feind kann fortan vor dem Helden bestehen. Die goldenen Aepfel, welche Perseus in dem Garten des Atlas bricht, sind die Schätze des Horts, die Siegfried sich erwirbt. Andromeda aber, von dem Ungeheuer auf einem Felsen gehalten, von ihm befreit, erscheint als Chriemhilde, [XXVIX] durch Siegfried von dem Drachenstein erlöst. So unendlich ist die Wiedergeburt lebendiger Ideen.
- ↑ In der deutschen und nordischen Sprache ist sie merkwürdig ausgedrückt in dem Wort Wicht, Vättur, welches erstlich jedes Wesen, die Natur, alles Erschaffene; sodann einen Geist, das Göttliche; endlich auch: kein Ding, Nichts, bezeichnet.
- ↑ Eine Stelle des Gregor von Tours hist. franc. II. 10. verdient zu dem Ganzen hier angeführt zu werden. Sed haec generatio fanaticis semper cultibus visa est obsequium praebuisse nec prorsus agnovere deum; sibique silvarum arque aquarum, avium bestiarumque et aliorum quoque elementorum finxere formas, ipsasque ut deum colere eisque sacrificia delibare consueti.
- ↑ Vergl. gloss. edd. I. 553.
- ↑ Sonnenglänzende, solbiört, heißt die Wahlküre Sigrun im zweiten Helgelied, Str. 44.
- ↑ Es verdient angemerkt zu werden, daß Valhaull (der selige Aufenthalt der im Kampf Gebliebenen) in der Atlaquida (Str. 2. 14) bloß die herrliche, die Wunschhalle heißt; Wunsch hier, wie überhaupt bei den Wünscheldingen in dem alten Sinne als Inbegriff alles Wünschenswerthen genommen. Daselbst wird auch (Str. 30.) der in den wallenden Rhein zu versenkende Hort val. baugar genannt, zunächst herrliche, ausgewählte Ringe; weil aber der, welcher die Wahl hat, seine Wünsche befriedigen kann, auch Wunschringe. – Sonst kommt die Sache in der Edda noch unter anderm Namen vor: Gamban-trinn, Wünschelruthe (Skirnisf. 32.) und Gamban-sumi Wunschtafel (Aegisdr. 8.).
- ↑ So erhält Loke erst seine böse Natur, nachdem er das gebratene Herz eines bösen Weibes gegessen. Hyndluliod Str. 37.
- ↑ Schering, in den Schriften der skand. Lit. Gesellsch. 1810., vermuthet nicht ohne Wahrscheinlichkeit, daß Loder mit Loke eins sey. Wenigstens ist aus Lokasenna Str. 9. gewiß, daß Loke mit Odin früher in genauer Bekanntschaft und Brüderschaft gelebt.
- ↑ S. die Anmerkung zu dem ersten Helgelied S. 37. in unserer Ausgabe. – In Schottland sieht man noch jetzt auf den Spitzen hoher Berge Ruinen von wirklichen Glasburgen (vitrified forts) deren Mauern nämlich mit Glas künstlich überzogen waren. Sie sind vom höchsten Alter. Vergl. gloss eddicum II. p. 879. Note. Im Wigalois Mauern wie Glas glänzend und ein Haus von hellen Kristallen gebaut. 4594 – 4606.
- ↑ Auch die Edda (im ersten Helgelied Str. 3.) bedient sich des Ausdrucks: Schicksals-Fäden (aurlaug thättir) und goldene Fäden (gullin simar); die Nornen befestigen sie unter dem Mondsaal, d. h. am Himmel.
- ↑ Thrada, desiderio teneri, ist der Ausdruck, Völundarquida Str. 3. Thravalkyrior sagt der dunkle Hrafnagalldr am Eingang.
- ↑ Vergl. Altdeutsche Wälder I.