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Kinder- und Haus-Märchen Band 1 (1840)

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Große Ausgaben der Kinder- und Hausmärchen
1. Ausgabe 1812/15: Band 1Band 2 • 2. Ausgabe 1819: Band 1Band 2 • 3. Ausgabe 1837: Band 1Band 2 • 4. Ausgabe 1840: Band 1Band 2 • 5. Ausgabe 1843: Band 1Band 2 • 6. Ausgabe 1850: Band 1Band 2 • 7. Ausgabe 1857: Band 1Band 2 • Anmerkungsband (Band 3): 2. Auflage 1822 • 3. Auflage 1856
Textdaten
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Autor: Brüder Grimm
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Titel: Kinder und Hausmärchen.
Band 1
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Herausgeber:
Auflage: 4. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1840
Verlag: Dieterichische Buchhandlung
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Erscheinungsort: Göttingen
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Quelle: HAAB Weimar und Scans auf Commons
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[I]
Kinder
und
Hausmärchen.


Gesammelt
durch
die Brüder Grimm.


Erster Band.


Grosse Ausgabe.


Mit zwei Kupfern.


Vierte vermehrte und verbesserte Auflage.


Göttingen,
Druck und Verlag der Dieterichischen Buchhandlung.
1840.

[III]
An die Frau


Bettina von Arnim.


[V] Liebe Bettine, dieses Buch kehrt abermals bei Ihnen ein, wie eine ausgeflogene Taube die Heimat wieder sucht, und sich da friedlich sonnt. Vor fünf und zwanzig Jahren hat es Ihnen Arnim zuerst, grün eingebunden mit goldenem Schnitt, unter die Weihnachtsgeschenke gelegt. Uns freute daß er es so werth hielt, und er konnte uns einen schönern Dank nicht sagen. Er war es, der uns, als er in jener Zeit einige Wochen bei uns in Cassel zubrachte, zur Herausgabe angetrieben hatte. Wie nahm er an allem Theil, was eigenthümliches Leben zeigte: auch das kleinste beachtete er, wie er ein grünes Blatt, eine Feldblume mit besonderem Geschick anzufassen und sinnvoll zu betrachten wußte. Von unsern Sammlungen gefielen ihm diese Märchen am besten. Er meinte wir sollten nicht zu lange damit zurückhalten, weil bei dem Streben nach Vollständigkeit die Sache am Ende liegen bliebe. „Es ist alles [VI] schon so reinlich und sauber geschrieben“ fügte er mit gutmüthiger Ironie hinzu, denn bei den kühnen, nicht sehr lesbaren Zügen seiner Hand schien er selbst nicht viel auf deutliche Schrift zu halten. Im Zimmer auf und abgehend las er die einzelnen Blätter, während ein zahmer Kanarienvogel, in zierlicher Bewegung mit den Flügeln sich im Gleichgewicht haltend, auf seinem Kopfe saß, in dessen vollen Locken es ihm sehr behaglich zu sein schien. Dies edle Haupt ruht nun schon seit Jahren im Grab, aber noch heute bewegt mich die Erinnerung daran, als hätte ich ihn erst gestern zum letztenmal gesehen, als stehe er noch auf grüner Erde wie ein Baum, der seine Krone in der Morgensonne schüttelt.

Ihre Kinder sind groß geworden, und bedürfen der Märchen nicht mehr: Sie selbst haben schwerlich Veranlassung sie wieder zu lesen, aber die unversiegbare Jugend Ihres Herzens nimmt doch das Geschenk treuer Freundschaft und Liebe gerne von uns an.


Mit diesen Worten sendete ich Ihnen das Buch vor drei Jahren aus Göttingen, heute sende ich es [VII] Ihnen wieder aus meinem Geburtslande, wie das erstemal. Ich konnte in Göttingen aus meinem Arbeitszimmer nur ein paar über die Dächer hinausragende Linden sehen, die Heine hinter seinem Hause gepflanzt hatte, und die mit dem Ruhm der Universität aufgewachsen waren: ihre Blätter waren gelb und wollten abfallen, als ich am 3ten October 1838 meine Wohnung verließ; ich glaube nicht daß ich sie je wieder im Frühlingsschmuck erblicke. Ich mußte noch einige Wochen dort verweilen, und brachte sie in dem Hause eines Freundes zu, im Umgange mit denen, welche mir lieb geworden und lieb geblieben waren. Als ich abreiste wurde mein Wagen von einem Zug aufgehalten: es war die Universität, die einer Leiche folgte. Ich langte in der Dunkelheit hier an, und trat in dasselbe Haus, das ich vor acht Jahren in bitterer Kälte verlassen hatte: wie war ich überrascht als ich Sie, liebe Bettine, fand neben den Meinigen sitzend, Beistand und Hilfe meiner kranken Frau leistend. Seit jener verhängnisvollen Zeit, die unser ruhiges Leben zerstörte, haben Sie mit warmer Treue an unserm Geschick Theil genommen, und ich empfinde diese Theilnahme ebenso [VIII] wohlthätig, als die Wärme des blauen Himmels, der jetzt in mein Zimmer herein blickt, wo ich die Sonne wieder am Morgen aufsteigen und ihre Bahn über die Berge vollenden sehe, unter welchen der Fluß glänzend herzieht: die Düfte der Orangen und Linden dringen aus dem Park herauf, und ich fühle mich in Liebe und Haß jugendlich erfrischt. Kann ich eine bessere Zeit wünschen um mit diesen Märchen mich wieder zu beschäftigen? hatte ich doch auch im Jahr 1813 an dem zweiten Band geschrieben, als wir Geschwister von der Einquartierung bedrängt waren, und russische Soldaten neben in dem Zimmer lärmten, aber damals war das Gefühl der Befreiung der Frühlingshauch, der die Brust erweiterte, und jede Sorge aufzehrte.

Wilhelm.     


[IX]
Vorrede.

Wir finden es wohl, wenn von Sturm oder anderem Unglück, das der Himmel schickt, eine ganze Saat zu Boden geschlagen wird, daß noch bei niedrigen Hecken oder Sträuchen, die am Wege stehen, ein kleiner Platz sich gesichert hat, und einzelne Ähren aufrecht geblieben sind. Scheint dann die Sonne wieder günstig, so wachsen sie einsam und unbeachtet fort: keine frühe Sichel schneidet sie für die großen Vorratskammern, aber im Spätsommer, wenn sie reif und voll geworden, kommen arme Hände, die sie suchen, und Ähre an Ähre gelegt, sorgfältig gebunden und höher geachtet, als sonst ganze Garben, werden sie heim getragen, und winterlang sind sie Nahrung, vielleicht auch der einzige Samen für die Zukunft.

[X] So ist es uns vorgekommen, wenn wir gesehen haben wie von so vielem, was in früherer Zeit geblüht hat, nichts mehr übrig geblieben, selbst die Erinnerung daran fast ganz verloren war, als unter dem Volke Lieder, ein paar Bücher, Sagen, und diese unschuldigen Hausmärchen. Die Plätze am Ofen, der Küchenherd, Bodentreppen, Feiertage noch gefeiert, Triften und Wälder in ihrer Stille, vor allem die ungetrübte Phantasie sind die Hecken gewesen, die sie gesichert und einer Zeit aus der andern überliefert haben.

Es war vielleicht gerade Zeit, diese Märchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewahren sollen, immer seltner werden. Freilich, die sie noch wissen, wissen gemeinlich auch recht viel, weil die Menschen ihnen absterben, sie nicht den Menschen; aber die Sitte selber nimmt immer mehr ab, wie alle heimlichen Plätze in Wohnungen und Gärten, die vom Großvater bis zum Enkel fortdauerten, dem stätigen Wechsel einer leeren Prächtigkeit weichen, die dem Lächeln gleicht, womit man von diesen Hausmärchen spricht, welches vornehm aussieht, und doch wenig kostet. Wo sie noch da sind, leben sie so, daß man nicht daran denkt, ob sie gut oder schlecht sind, poetisch, [XI] oder für gescheidte Leute abgeschmackt: man weiß sie und liebt sie, weil man sie eben so empfangen hat, und freut sich daran, ohne einen Grund dafür. So herrlich ist lebendige Sitte, ja auch das hat diese Poesie mit allem unvergänglichen gemein, daß man ihr selbst gegen einen andern Willen geneigt seyn muß. Leicht wird man übrigens bemerken daß sie nur da gehaftet hat, wo überhaupt eine regere Empfänglichkeit für Poesie, oder eine noch nicht von den Verkehrtheiten des Lebens ausgelöschte Phantasie vorhanden war. Wir wollen in gleichem Sinne hier diese Märchen nicht rühmen, oder gar gegen eine entgegengesetzte Meinung vertheidigen; ihr bloßes Dasein reicht hin, sie zu schützen. Was so mannigfach und immer wieder von neuem erfreut bewegt und belehrt hat, das trägt seine Notwendigkeit in sich, und ist gewiß aus jener ewigen Quelle gekommen, die alles Leben bethaut, und wenn auch nur ein einziger Tropfen, den ein kleines, zusammenhaltendes Blatt gefaßt hat, doch in dem ersten Morgenroth schimmernd.

Darum auch geht innerlich durch diese Dichtungen jene Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen; sie haben gleichsam dieselben blaulichweißen [XII] mackellosen glänzenden Augen[1], die nicht mehr wachsen können, während die andern Glieder noch zart, schwach, und zum Dienste der Erde ungeschickt sind. Das ist der Grund, warum wir durch unsere Sammlung nicht bloß der Geschichte der Poesie und Mythologie einen Dienst erweisen wollten, sondern es zugleich Absicht war, daß die Poesie selbst, die darin lebendig ist, wirke und erfreue, wen sie erfreuen kann, also auch, daß es als ein Erziehungsbuch diene. Wir suchen für ein solches nicht jene Reinheit, die durch ein ängstliches Ausscheiden alles dessen, was Bezug auf gewisse Zustände und Verhältnisse hat, wie sie täglich vorkommen, und auf keine Weise verborgen bleiben können, erlangt wird, und wobei man zugleich in der Täuschung ist, daß was in einem gedruckten Buche ausführbar, es auch im wirklichen Leben sei. Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit einer geraden nichts Unrechtes im Rückhalt bergenden Erzählung. Dabei haben wir jeden für das Kinderalter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage sorgfältig gelöscht. Sollte man dennoch einzuwenden haben daß [XIII] Eltern eins und das andere in Verlegenheit setze, und ihnen anstößig vorkomme, so daß sie das Buch Kindern nicht geradezu in die Hände geben wollten, so mag für einzelne Fälle die Sorge begründet sein, und sie können dann leicht eine Auswahl treffen: im Ganzen, das heißt für einen gesunden Zustand, ist sie gewiß unnöthig. Nichts besser kann uns vertheidigen als die Natur selber, welche diese Blumen und Blätter in solcher Farbe und Gestalt hat wachsen lassen; wem sie nicht zuträglich sind, nach besonderen Bedürfnissen, der kann nicht fordern daß sie deshalb anders gefärbt und geschnitten werden sollen. Oder auch, Regen und Thau fällt als eine Wohlthat für alles herab, was auf der Erde steht, wer seine Pflanzen nicht hineinzustellen getraut, weil sie zu empfindlich sind, und Schaden nehmen könnten, sondern lieber in der Stube mit abgeschrecktem Wasser begießt, wird doch nicht verlangen daß Regen und Thau darum ausbleiben sollen. Gedeihlich aber kann alles werden, was natürlich ist, und danach sollen wir trachten. Übrigens wissen wir kein gesundes und kräftiges Buch, welches das Volk erbaut hat, wenn wir die Bibel obenan stellen, wo solche Bedenklichkeiten nicht in ungleich größerm Maaß [XIV] einträten; der rechte Gebrauch aber findet nichts Böses heraus, sondern, wie ein schönes Wort sagt, ein Zeugnis unseres Herzens. Kinder deuten ohne Furcht in die Sterne, während andere, nach dem Volksglauben, die Engel damit beleidigen.

Gesammelt haben wir an diesen Märchen seit etwa dreizehn Jahren, der erste Band, welcher im Jahr 1812 erschien, enthielt meist was wir nach und nach in Hessen, in den Main- und Kinziggegenden der Grafschaft Hanau, wo wir her sind, von mündlichen Überlieferungen aufgefaßt hatten. Der zweite Band wurde im Jahr 1814 beendigt, und kam schneller zu Stande, theils weil das Buch selbst sich Freunde verschafft hatte, die es nun, wo sie bestimmt sahen was und wie es gemeint wäre, unterstützten, theils weil uns das Glück begünstigte, das Zufall scheint, aber gewöhnlich beharrlichen und fleißigen Sammlern beisteht. Ist man erst gewöhnt auf dergleichen zu achten, so begegnet es doch häufiger als man sonst glaubt, und das ist überhaupt mit Sitten und Eigenthümlichkeiten Sprüchen und Scherzen des Volkes der Fall. Die schönen plattdeutschen Märchen aus dem Fürstenthum Münster und Paderborn verdanken wir besonderer Güte [XV] und Freundschaft: das Zutrauliche der Mundart bei der innern Vollständigkeit zeigt sich hier besonders günstig. Dort, in den altberühmten Gegenden deutscher Freiheit, haben sich an manchen Orten die Sagen und Märchen als eine fast regelmäßige Vergnügung der Feiertage erhalten, und das Land ist noch reich an ererbten Gebräuchen und Liedern. Da, wo die Schrift theils noch nicht durch Entführung des Fremden stört, oder durch Überladung abstumpft, theils, weil sie sichert, dem Gedächtnis noch nicht nachlässig zu werden gestattet, überhaupt bei Völkern, deren Literatur unbedeutend ist, pflegt sich als Ersatz die Überlieferung stärker und ungetrübter zu zeigen. So scheint auch Niedersachsen mehr als andere Gegenden behalten zu haben. Was für eine viel vollständigere und innerlich reichere Sammlung wäre im 15ten Jahrhundert, oder auch noch im 16ten zu Hans Sachsens und Fischarts Zeiten in Deutschland möglich gewesen[2].

[XVI] Einer jener guten Zufälle aber war es, daß wir aus dem bei Cassel gelegenen Dorfe Niederzwehrn eine Bäuerin kennen lernten, die uns die meisten und schönsten Märchen des zweiten Bandes erzählte. Die Frau Viehmännin war noch rüstig, und nicht viel über fünfzig Jahre alt. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Festes, Verständiges und Angenehmes, und aus großen Augen blickte sie hell und scharf[3]. Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedächtnis, und sagte wohl selbst daß diese Gabe nicht jedem verliehen sei, und mancher gar nichts im Zusammenhange [XVII] behalten könne. Dabei erzählte sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig, mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Übung nachschreiben konnte. Manches ist auf diese Weise wörtlich beibehalten, und wird in seiner Wahrheit nicht zu verkennen sein. Wer an leichte Verfälschung der Überlieferung, Nachlässigkeit bei Aufbewahrung, und daher an Unmöglichkeit langer Dauer als Regel glaubt, der hätte hören müssen, wie genau sie immer bei der Erzählung blieb, und auf ihre Richtigkeit eifrig war; sie änderte niemals bei einer Wiederholung etwas in der Sache ab, und besserte ein Versehen, sobald sie es bemerkte, mitten in der Rede gleich selber. Die Anhänglichkeit an das Überlieferte ist bei Menschen, die in gleicher Lebensart unabänderlich fortfahren, stärker als wir, zur Veränderung geneigt, begreifen. Eben darum hat es, so vielfach bewährt, eine gewisse eindringliche Nähe und innere Tüchtigkeit, zu der anderes, das äußerlich viel glänzender erscheinen kann, nicht so leicht gelangt. Der epische Grund der Volksdichtung gleicht dem durch die ganze Natur in mannigfachen Abstufungen verbreitete Grün, das sättigt und sänftigt, ohne je zu ermüden.

[XVIII] Wir erhielten außer den Märchen des zweiten Bandes auch reichliche Nachträge zu dem ersten, und bessere Erzählungen vieler dort gelieferten gleichfalls aus jener oder andern ähnlichen Quellen. Hessen hat als ein bergichtes, von großen Heerstraßen abseits liegendes, und zumeist mit dem Ackerbau beschäftigtes Land den Vortheil, daß es alte Sitten und Überlieferungen besser aufbewahren kann. Ein gewisser Ernst, eine gesunde, tüchtige und tapfere Gesinnung, die von der Geschichte nicht wird unbeachtet bleiben, selbst die große und schöne Gestalt der Männer in den Gegenden, wo der eigentliche Sitz der Chatten war, haben sich auf diese Art erhalten, und lassen den Mangel an dem Bequemen und Zierlichen, den man im Gegensatz zu andern Ländern, etwa aus Sachsen kommend, leicht bemerkt, eher als einen Gewinn betrachten. Dann empfindet man auch daß die zwar rauheren aber oft ausgezeichnet herrlichen Gegenden, wie eine gewisse Strenge und Dürftigkeit der Lebensweise, zu dem Ganzen gehören. Überhaupt müssen die Hessen zu den Völkern unseres Vaterlandes gezählt werden, die am meisten wie die alten Wohnsitze so auch die Eigentümlichkeit ihres Wesens durch die Veränderungen der Zeit festgehalten haben.

[XIX] Was wir nun bisher für unsere Sammlung gewonnen hatten, wollten wir bei dieser zweiten Auflage dem Buch einverleiben. Daher ist der erste Band fast ganz umgearbeitet das Unvollständige ergänzt, manches einfacher und reiner erzählt, und nicht viel Stücke werden sich finden, die nicht in besserer Gestalt erscheinen. Es ist noch einmal geprüft, was verdächtig schien, d. h. was etwa hätte fremden Ursprungs oder durch Zusätze verfälscht sein können, und dann alles ausgeschieden. Dafür sind die neuen Stücke, worunter wir auch Beiträge aus Östreich und Deutschböhmen zählen, eingerückt, so daß man manches bisher ganz Unbekannte finden wird. Für die Anmerkungen war uns früher nur ein enger Raum gegeben bei dem erweiterten Umfange des Buchs konnten wir für jene nun einen eigenen dritten Band bestimmen. Hierdurch ist es möglich geworden, nicht nur das, was wir früher ungern zurück behielten, mitzutheilen, sondern auch neue, hierher gehörige Abschnitte zu liefern, die, wie wir hoffen, den wissenschaftlichen Werth dieser Überlieferungen noch deutlicher machen werden.

Was die Weise betrifft, in der wir gesammelt haben, so ist es uns zuerst auf Treue und Wahrheit angekommen. [XX] Wir haben nämlich aus eigenen Mitteln nichts hinzugesetzt, keinen Umstand und Zug der Sage selbst verschönert, sondern ihren Inhalt so wiedergegeben, wie wir ihn empfangen hatten; daß der Ausdruck und die Ausführung der Einzelnen großentheils von uns herrührt versteht sich von selbst, doch haben wir jede Eigenthümlichkeit, die wir bemerkten, zu erhalten gesucht, um auch in dieser Hinsicht der Sammlung die Mannigfaltigkeit der Natur zu lassen. Jeder, der sich mit ähnlicher Arbeit befaßt, wird es übrigens begreifen, daß dies kein sorgloses und unachtsames Auffassen kann genannt werden, im Gegentheil ist Aufmerksamkeit und ein Takt nöthig, der sich erst mit der Zeit erwirbt um das Einfachere, Reinere, und doch in sich Vollkommnere, von dem Verfälschten zu unterscheiden. Verschiedene Erzählungen haben wir, sobald sie sich ergänzten, und zu ihrer Vereinigung keine Widersprüche wegzuschneiden waren, als Eine mitgetheilt, wenn sie aber abwichen, wo dann jede gewöhnlich ihre eigentümlichen Züge hatte, der besten den Vorzug gegeben, und die andern für die Anmerkungen aufbewahrt. Diese Abweichungen nämlich erscheinen uns merkwürdiger, als denen, welche darin bloß [XXI] Abänderungen und Entstellungen eines einmal dagewesenen Urbildes sehen, da es im Gegentheil vielleicht nur Versuche sind, einem im Geist bloß vorhandenen, unerschöpflichen, auf mannigfachen Wegen sich zu nähern. Wiederholungen einzelner Sätze, Züge und Einleitungen, sind wie epische Zeilen zu betrachten, die, sobald der Ton sich rührt, der sie anschlägt, immer wiederkehren, und in einem andern Sinne eigentlich nicht zu verstehen.

Eine entschiedene Mundart haben wir gerne beibehalten. Hätte es überall geschehen können, so würde die Erzählung ohne Zweifel gewonnen haben. Es ist hier ein Fall wo die erlangte Bildung, Feinheit und Kunst der Sprache zu Schanden wird, und man fühlt daß eine geläuterte Schriftsprache, so gewandt sie in allem übrigen sein mag, heller und durchsichtiger aber auch schmackloser geworden ist, und nicht mehr so fest dem Kerne sich anschließe. Schade, daß die niederhessische Mundart in der Nähe von Cassel, als in den Gränzpunkten des alten sächsischen und fränkischen Hessengaues, eine unbestimmte und nicht reinlich aufzufassende Mischung von niedersächsischem und hochdeutschem ist.

In diesem Sinne gibt es unseres Wissens sonst keine [XXII] Sammlungen von Märchen in Deutschland. Entweder waren es nur ein paar zufällig erhaltene, die man mittheilte, oder man betrachtete sie bloß als rohen Stoff, um größere Erzählungen daraus zu bilden. Gegen solche Bearbeitungen erklären wir uns geradezu. Zwar ist es unbezweifelt, daß in allem lebendigen Gefühl für eine Dichtung ein poetisches Bilden und Fortbilden liegt, ohne welches auch eine Überlieferung etwas Unfruchtbares und Abgestorbenes wäre, ja eben dies ist mit Ursache, warum jede Gegend nach ihrer Eigentümlichkeit, jeder Mund anders erzählt. Aber es ist doch ein großer Unterschied zwischen jenem halb unbewußten, dem stillen Forttreiben der Pflanzen ähnlichen, und von der unmittelbaren Lebensquelle getränkten Entfalten, und einer absichtlichen, alles nach Willkür zusammenknüpfenden und auch wohl leimenden Umänderung; diese aber ist es, welche wir nicht billigen können. Die einzige Richtschnur wäre dann die von seiner Bildung abhängende, gerade vorherrschende Ansicht des Dichters, während bei jenem natürlichen Fortbilden der Geist des Volkes in dem einzelnen waltet, und einem besondern Gelüsten vorzudringen nicht erlaubt. Räumt man den Überlieferungen wissenschaftlichen [XXIII] Werth ein, das heißt gibt man zu daß sich in ihnen Anschauungen und Bildungen der Vorzeit erhalten, so versteht sich von selbst daß dieser Werth durch solche Bearbeitungen fast immer zu Grunde gerichtet wird. Allein auch die Poesie gewinnt nicht dadurch, denn wo lebt sie wirklich als da, wo sie die Seele trifft, wo sie in der That kühlt und erfrischt, oder wärmt und stärkt? Aber jede Bearbeitung dieser Sagen, welche ihre Einfachheit Unschuld und prunklose Reinheit wegnimmt, reißt sie aus dem Kreiße, welchem sie angehören, und wo sie ohne Überdruß immer wieder begehrt werden. Es kann sein, und dies ist der beste Fall, daß man Feinheit, Geist, besonders Witz, der die Lächerlichkeit der Zeit mit hineinzieht, ein zartes Ausmahlen des Gefühls, wie es einer von der Poesie aller Völker genährten Bildung nicht allzuschwer fällt, dafür gibt; aber diese Gabe hat doch mehr Schimmer als Nutzen: sie denkt an das einmalige Anhören oder Lesen, an das sich unsere Zeit gewöhnt hat, und sammelt und spitzt dafür die Reize. Doch in der Wiederholung ermüdet uns der Witz, und das Dauernde ist etwas[WS 1] Ruhiges Stilles und Reines. Die geübte Hand solcher Bearbeitungen gleicht doch jener unglücklich [XXIV] begabten, die alles, was sie anrührte auch die Speisen in Gold verwandelte, und kann uns mitten im Reichthum nicht sättigen und tränken. Gar, wo aus bloßer Einbildungskraft die Mythologie mit ihren Bildern soll angeschafft werden, wie kahl, innerlich leer und gestaltlos sieht dann trotz den besten und stärksten Worten alles aus! Übrigens ist dies nur gegen sogenannte Bearbeitungen gesagt, welche die Märchen bloß zu verschönern und poetischer auszustatten vorhaben, nicht gegen ein freies Auffassen derselben zu eigenen, ganz der Zeit angehörenden Dichtungen; denn wer hätte Lust der Poesie Gränzen abzustecken?

Wir übergeben dies Buch wohlwollenden Händen, dabei denken wir an die segnende Kraft, die in diesen liegt, und wünschen daß denen, welche solche Brosamen der Poesie Armen und Genügsamen nicht gönnen, es gänzlich verborgen bleiben möge.

Cassel am 3. Julius 1819.


Durch eine Anzahl neuer, dem zweiten Theile zugefügter Märchen, unter welchen einige in schweizerischer [XXV] Mundart sich auszeichnen, ist unsere Sammlung in gegenwärtiger dritten Auflage wiederum gewachsen, und der Vollständigkeit, soweit sie möglich ist, näher gerückt. Außerdem sind viele der frühern Stücke abermals umgearbeitet und durch Zusätze und einzelne, aus mündlichen Erzählungen gewonnene Züge ergänzt und bereichert.

Der dritte Theil, dessen Inhalt sich lediglich auf den wissenschaftlichen Gebrauch der Sammlung bezieht, und daher nur in einem viel engern Kreiß Eingang finden konnte, ist diesmal nicht mit abgedruckt, weil davon noch Exemplare in der Reimerschen Buchhandlung zu Berlin vorräthig sind. In der Folge soll dieser dritte Theil als ein für sich bestehendes Werk erscheinen, in welchem auch die in der vorigen Ausgabe vorangesetzten Einleitungen von dem Wesen der Märchen und von Kindersitten einen Platz finden werden.

Die treue Auffassung der Überlieferung, der ungesuchte Ausdruck und, wenn es nicht unbescheiden klingt, der Reichthum und die Mannigfaltigkeit der Sammlung haben ihr fortdauernde Theilnahme unter uns, und Beachtung im Auslande verschafft. Unter den verschiedenen Übersetzungen verdient die englische als die vollständigste, [XXVI] und weil die verwandte Sprache sich am genausten anschließt, den Vorzug[4]. Eine Auswahl, als kleinere Ausgabe in einem Bändchen, wobei zugleich die Bedenklichkeit derer berücksichtigt ist, welche nicht jedes Stück der größeren Sammlung für Kinder angemessen halten, veranstalteten wir zuerst 1825, sie ist 1833 und 1836 wieder aufgelegt worden.

Der wissenschaftliche Werth dieser Überlieferungen hat sich in mancher überraschenden Verwandtschaft mit [XXVII] alten Göttersagen bewährt, und die deutsche Mythologie nicht selten Gelegenheit gehabt darauf zurückzukommen, ja sie hat in der Übereinstimmung mit nordischen Mythen einen Beweis des ursprünglichen Zusammenhangs gefunden.

Wenn die Gunst für dieses Buch fortdauert, so soll es an weiterer Pflege von unserer Seite nicht fehlen.

Göttingen am 15. Mai 1837.


Es freut uns, daß unter den neuen Stücken, womit die Sammlung abermals ist vermehrt worden, sich auch eins wieder aus unserer Heimat befindet. Das schöne Märchen von der Lebenszeit (Nr. 176) erzählte ein Bauer aus Zwehrn einem meiner Freunde, mit dem er auf dem freien Feld eine Unterredung angeknüpft hatte; man sieht daß die Weisheit auf der Gasse noch nicht ganz untergegangen ist.

Cassel am 17. September 1840.

[XXIX]
Inhalt.


1. Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich Seite     1
2. Katze und Maus in Gesellschaft 7
3. Marienkind 11
4. Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen 18
5. Der Wolf und die sieben jungen Geislein 31
6. Der treue Johannes 35
7. Der gute Handel 46
8. Der wunderliche Spielmann 52
9. Die zwölf Brüder 56
10. Das Lumpengesindel 64
11. Brüderchen und Schwesterchen 67
12. Rapunzel 76
13. Die drei Männlein im Walde 81
14. Die drei Spinnerinnen 89
15. Hänsel und Grethel 93
16. Die drei Schlangenblätter 102
17. Die weiße Schlange 108

[XXX]

18. Strohhalm, Kohle und Bohne Seite     114
19. Van den Fischer und siine Fru 117
20. Das tapfere Schneiderlein 125
21. Aschenputtel 137
22. Das Räthsel 147
23. Von dem Mäuschen, Vögelchen und der Bratwurst 151
24. Frau Holle 154
25. Die sieben Raben 159
26. Rothkäppchen 163
27. Die Bremer Stadtmusikanten 168
28. Der singende Knochen 173
29. Der Teufel mit den drei goldenen Haaren 176
30. Läuschen und Flöhchen 186
31. Das Mädchen ohne Hände 189
32. Der gescheidte Hans 198
33. Die drei Sprachen 202
34. Die kluge Else 206
35. Der Schneider im Himmel 211
36. Tischchen deck dich, Goldesel, und Knüppel aus dem Sack 214
37. Daumesdick 228
38. Die Hochzeit der Frau Füchsin 236
39. Die Wichtelmänner 241
40. Der Räuberbräutigam 246
41. Herr Korbes 252
42. Der Herr Gevatter 254
43. Frau Trude 257
44. Der Gevatter Tod 259
45. Daumerlings Wanderschaft 264
46. Fitchers Vogel 270

[XXXI]

47. Van den Machandelboom Seite     275
48. Der alte Sultan 287
49. Die sechs Schwäne 291
50. Dornröschen 298
51. Fundevogel 303
52. König Drosselbart 307
53. Sneewittchen 313
54. Der Ranzen, das Hütlein und das Hörnlein 325
55. Rumpelstilzchen 333
56. Der Liebste Roland 337
57. Der goldene Vogel 343
58. Der Hund und der Sperling 354
59. Der Frieder und das Catherlieschen 359
60. Die zwei Brüder 368
61. Das Bürle 397
62. Die Bienenkönigin 404
63. Die drei Federn 407
64. Die goldene Gans 411
65. Allerleirauh 417
66. Häsichenbraut 425
67. Die zwölf Jäger 427
68. De Gaudeif und sien Meester 431
69. Jorinde und Joringel 434
70. Die drei Glückskinder 438
71. Sechse kommen durch die ganze Welt 442
72. Der Wolf und der Mensch 450
73. Der Wolf und der Fuchs 452
74. Der Fuchs und die Frau Gevatterin 455
75. Der Fuchs und die Katze 457
76. Die Nelke 459

[XXXII]

77. Das kluge Grethel Seite     466
78. Der alte Großvater und der Enkel 470
79. Der Wassernix 472
80. Von dem Tode des Hühnchens 474
81. Bruder Lustig 477
82. De Spielhansl 492
83. Hans im Glück 496
84. Hans heirathet 504
85. Die Goldkinder 506
86. Der Fuchs und die Gänse 513

  1. in die sich Kinder selbst so gern greifen (Fischarts Gargantua 129 b. 131 b.), und die sie sich holen möchten.
  2. Merkwürdig ist daß bei den Galliern nicht erlaubt war die überlieferten Gesänge aufzuschreiben, während man sich der Schrift in allen übrigen Angelegenheiten bediente. Cäsar, der dies anmerkt (de B. G. VI. 4.), glaubt daß man damit [XVI] habe verhüten wollen, im Vertrauen auf die Schrift, leichtsinnig im Erlernen und Behalten der Lieder zu werden. Auch Thamus hält dem Theuth (im Phädrus des Plato) bei Erfindung der Buchstaben den Nachtheil vor, den die Schrift auf die Ausbildung des Gedächtnisses haben würde.
  3. Unser Bruder Ludwig Grimm hat eine recht ähnliche und natürliche Zeichnung von ihr radiert, die man in der Sammlung seiner Blätter (bei Weigel in Leipzig) findet. Einen zwar verkleinerten doch wohlgeratenen Nachstich davon liefert hier das Titelkupfer vor dem zweiten Band. Durch den Krieg gerieth die gute Frau in Elend und Unglück, das wohlthätige Menschen lindern aber nicht heben konnten. Der Vater ihrer zahlreichen Enkel starb am Nervenfieber, die Waisen brachten Krankheit und die höchste Noth in ihre schon arme Hütte. Sie wurde siech, und starb am 17. Nov. 1816.
  4. Nachdem Francis Cohen im Quarterly Review (1819 Mai) die ältere Ausgabe ausführlich angezeigt hatte, erschien nach der zweiten eine Übersetzung von Eduard Taylor in zwei Theilen mit geistreichen Kupfern von Cruikshank (German popular stories. London 1823 und 1826), welche nochmals aufgelegt wurde. Eine holländische (Sprookjes-boek voor Kinderen. Amsterdam 1820) enthielt einen Auszug, wie eine dänische von Hegermann-Lindencrone (Börne Eventyr. Kopenh. 1820 oder 21); einzelne Stücke hat Molbech (Julegave for Börn 1835 und 1836) übersetzt, andere Öhlenschläger. Das Journal des Débats vom 4ten August 1832 enthält sinnreiche Äußerungen über das Buch, und als Probe eine Übersetzung des Märchens von dem eisernen Heinrich: ferner das Blatt vom 1. Jan. 1834 ein Bruchstück aus dem Machandelboom; späterhin (Paris 1836) erschienen Contes choisis de Grimm traduits par F. C. Gérard mit Kupfern.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ewas