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Einfahrt in den Bosporus

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CCCCLXIII. Die Inseln Procida und Ischia bei Neapel Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band (1843) von Joseph Meyer
CCCCLXIV. Der Bosporus
CCCCLXV. Stonehenge in Wiltshire (England)
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EINFAHRT IN DEN BOSPORUS
vom schwarzen Meere.

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CCCCLXIV. Der Bosporus.




Am Bosporus hält der Genius der alten Welt die Wage, in welcher der Herr des Alls ihre Geschicke nach unwandelbaren Gesetzen wägt. Hier, an dieser Pforte, wo die Kreuzwege der Völker aus einander laufen, wo von jeher der härteste Zusammenstoß der antagonistischen Kräfte geschah, welche die alte Welt erschütterten; hier, wo die Grenz- und Scheidelinien von Ost, West und Nord in einen Punkt sich vereinigen, hier, wo so viele Nationen schlummern und wo die Civilisation dreier Jahrtausende ihr Grab hat: hier ziemt es anzuhalten und einen betrachtenden Blick über die Weltverhältnisse zu werfen.

Nach Sonnenaufgang zuerst! Dort, im Orient, wo alle Geschichte anhebt und die Wiege der Sage ist, sehen wir, gleich versteinerten Wäldern der Urzeit in den Formationen der Erdrinde, noch zur Stunde jene alten Formen, die von dem Vorherrschen des Beharrungs-Prinzips Zeugniß geben. – Es sind drei Kulturen, die sich in den Osten theilen: die mohammedanische, die indische und die chinesische; allen dreien aber ist das Leben erstorben und die todte, feste Form hält die Vernichtung nur eine Zeitlang auf. Alle mohammedanischen Staaten neigen sich zum Falle, die hohe Pforte selbst ist eine Pforte des Niedergangs geworden, und die Nachäffung der europäischen Kultur beschleunigt bloß das Verderben. – Noch rascher und sichtbarer zersetzen Christenthum und englische Herrschaft das uralte Reich des indischen Glaubens; und nachdem China’s Thor der britische Dreizack aufgesprengt hat, wird auch hier, wo nirgends geistige Kräfte zum Widerstand vorhanden sind, das Werk der Zerstörung unaufhaltsam sich entwickeln. Wie die alte Kultur untergeht, so sehen wir auch den Reichthum des Ostens schwinden. Die Kunst und Maschinerie des Westens saugen das Gold aus seinem Eingeweide, die Perlen aus seinen Meeren; und wie der Wohlstand der östlichen Völker wegzieht, so wandert auch ihr Wissen aus. Es ist Thatsache, daß man in Europa schon jetzt mehr orientalische Gelehrsamkeit findet, als im Orient selber. – Welches Schicksal erwartet nun die östlichen Staaten in nächster Zukunft? Zerstörung: denn der Prozeß derselben geht vor unsern Augen vor sich. Welche Formen aber werden sich nach gänzlicher Auflösung der alten bilden? Wie weit Christenthum und europäische Civilisation den alten Glauben und die alten Kulturen assimiliren werden, kann Niemand ermessen; nur so viel wissen wir: zerfressen in seinem Innersten, von der auflösenden Gewalt des europäischen Geistes ganz durchdrungen, befindet sich ganz Asien im System der Verwandlung. Die Tage der Verheißung [118] sind den östlichen Kulturen und ihren Religionen verlaufen. Nur durch das Christenthum röthet sich ein neuer Tag hinter der verhüllten Nacht. Nicht mehr soll die Offenbarung Gottes den dortigen Völkern vorenthalten bleiben, oder verschleiert seyn durch unverständlich gewordene Symbole: eine Saat neuer Erkenntniß soll von oben herab auf die umbrochene Erde fallen. Christus soll unter die Völker des Ostens niedersteigen, er soll gleichsam wiederkehren in die Heimath, von der er ausgegangen, und mit ihm und durch ihn das neue höhere Leben des Orients beginnen. Das Unendliche wird dort auch die Verhältnisse des Endlichen wieder ordnen, die gestörte Harmonie wieder herstellen. Auf dem Grunde, den Gott in die Vesten der menschlichen Natur gelegt hat vom Aufgang bis zum Niedergang, auf diesem Fundament wird sich im Orient die Kirche des Evangeliums erheben und aus ihr das neue Leben erwachsen für die scheintodten asiatischen Nationen. Jahrhunderte mögen darüber verstreichen; aber daß solches geschehen wird, dafür bürgt die Macht, die der Kraft über die Schwäche, dem Lebendigen über das Todte gegeben ist. Es ist gewißlich wahr: die Zukunft des Ostens sproßt aus dem Stamme des Kreuzes.


Von den Ruinen Asiens wende ich den Blick nach Westen. Wie es da braust, wie die Wogen rollen auf dem Menschenmeere, wie es da die Ufer schlägt mit gewaltiger Brandung! Alle Völker sind ergriffen von einer tiefen Gährung im Geisterreiche, und obschon die Fahne des Friedens über die Länder flattert, sehe ich überall den Kampf und Stoß von Gegensätzen und die großen Elemente von Staat und Kirche mit einander im Streit begriffen. Immer mehr Kräfte werden in den Kampf gezogen, und so gewaltig die Aufregung geworden ist, so will doch die Entscheidung nicht nahe scheinen.

Ja, in einer Umwandlung ist auch der Westen begriffen, nur mit dem Unterschiede, daß, während sie der Osten von Außen leidend empfängt, sie sich in Europa selbstständig in dem freien Spiel seiner geistigen, eigenen Kräfte entwickelt. Drei große Gegensätze sind es, die in diesem Kampfspiel vorzüglich thätig werden: die Neigung zur Vergangenheit, oder die Restauration; das Streben, das Bestehende, als rechtlich begründet und angenommen, zu erhalten, die Autorität; und der Neuerungstrieb, der Trieb zu Reform und Fortschritt. Jeder dieser Gegensätze agirt in den gesellschaftlichen Fragen bejahend oder verneinend, und ihr Widerspruch eben ist es, weicher das innere Leben rüstig und wach erhält. Ehedem hielt ein viertes, stärkeres Element den Antagonismus dieser drei gefesselt; so lange nämlich der Glaube seine Banden um sie schlug, war ihrem Widerspruch wenig Raum gegeben. Aber die Kritik hat sie ihnen abgeschlagen, und die Umwandlung von Kirche und Staat im Abendlande ist nun nicht mehr zu vermeiden.

Das scharfe Scheiden und Trennen der Nationalitäten von einander und das Auftreten von Parteiungen im Schooße derselben ist eine Erscheinung, die aus dem Zwiespalte der Prinzipien nothwendig hervorgeht. In [119] allen Völkern des Westens sind sie thätig; sie sind die Priester, welche das Feuer schüren, aus dessen Asche der Phönix eines neuen gesellschaftlichen Zustandes geschaffen werden wird. Zahllos sind sie; denn jede Meinung hat ihre Vertreter am Altare; doch nicht alle schüren mit gleicher Kraft, und ihr Rang ist ungleich. –

Unter die Fahne der Aristokraten schaaren sich in den Ländern des Westens Alle, welche ausgehen von jenem patriarchalischen Verhältniß, wo der eingewanderte oder erobernde Stammesvater Besitz vom Lande genommen und es in Loosen an seine Angehörigen vertheilt hat, welche dann als Patrimonialherren ihre Hörigen zur Dienst- und wechselseitigen Schutz- und Hülfe-Leistung um sich versammelten. Die Aristokratie leitet das Maaß des Rechts und der Geltung aus dem Grundeigenthum und der Geburt ab, sie will den Staat vorzugsweise aus dem Gesichtspunkte der Bewirthschaftung des Grundgebietes betrachtet wissen. – Ihr feindlich gegenüber haben Diejenigen ihre Standarte aufgepflanzt, welche im Menschen keineswegs einen Appendix der Scholle sehen, und die das historisch-rechtliche Verhältniß des Dieners zum Herrn geradezu in Abrede stellen. Diese Partei, die vor den unzählbaren Schaaren aller Besitzlosen den Schild erhebt, betrachtet die Erde, wie die Luft, als rechtliches Besitzthum aller Menschen; denn, sagt sie, die lebendige Kraft ist höher, als die todte Scholle, welche jener dienen soll, folglich kann diese auch nimmermehr Herrschaft verleihen. Es kann aber, behauptet sie folgerecht weiter, jeder von diesem Gemeinbesitz so viel als Eigenthum zu sich nehmen, wie sein Bedürfniß fordert und er mit seiner Hände Arbeit bemeistern mag, und da nun Kräfte und Bedürfnisse ursprünglich ziemlich gleich unter alle Menschen vertheilt sind, so haben auch alle vom Ursprung her Anspruch auf ungefähr gleiche Loose bei der Vertheilung. Nichtig sind daher jene ersten Besitzergreifungen ganzer Landstriche; nichtig jene Befestigungen solches Besitzstandes durch Gesetze, nichtig und rechtlos alle aus jenem Besitzstand und diesen Gesetzen hergeleiteten Abstufungen und Zustände in der Gesellschaft. Ganz consequent verlangt diese Partei Aufhebung solcher Zustände, welche sie als Ausflüsse der Usurpation und der Tyrannei betrachtet, und dringt auf eine neue, gleiche Vertheilung der Güter der Erde als Grundlage für den Neubau der menschlichen Gesellschaft. Sie erkennt nur den freien Erwerb als rechtliches Mittel an, das Eigenthum zu vergrößern; sie hält die Arbeit, die Kraft, welche mit dem Pfluge die Scholle bezwingt, welche durch die Industrie bewegliche Güter schafft und mit dem Handel die Nationen der Erde verbindet, als der Geltung und Auszeichnung im Staate am meisten würdig. Diese Partei, zu der alle Demokraten der Arbeit, die rührigen Demagogen der Proletarier, die Communisten, kurz die Gleichmacher aller Völker gehören, fühlt sich zum Kampfe auf Leben und Tod mit allen Trägheitskräften der Usurpation berufen und spricht sich, mit logischer Consequenz, das vollkommene Recht zu, nöthigenfalls mit Gewalt jene, nach ihrer Meinung, widerrechtlichen und unnatürlichen Schranken einzureißen, welche die Wiederherstellung der ursprünglichen Gleichheit in Besitz und Eigenthum verhindern und eine hierauf zu basirende Neuconstruktion der Staatsgebäude unzulässig machen. –

[120] Zwei andere Parteien fußen auf geschichtlichem Gebiete. Beide suchen und finden die Normen des Rechts bloß in Dem, was da gewesen ist; und beide kommen dabei bis an Ziele, die sich einander so entgegen stehen, wie magnetische Pole. Der Reaktionair der Monarchie will die fürstliche Macht wieder der Stufe näher rücken, die sie im Alterthum einnahm, wo die Herrscher, mit dem Nimbus der unmittelbaren göttlichen Sendung umleuchtet, auf den Thronen saßen und nicht bloß als Könige den Völkern Gehorsam auflegten, sondern auch als Hirten die Heerden der Gläubigen weideten. Diesen Zustand sieht er als die Quelle der menschlichen Glückseligkeit an, und diesem Born des Heils durch die Reaktion wieder näher zu kommen, dünkt ihn ein würdiges Streben. – Anders Jene, welche den Urpakt der Gesellschaft aus vollkommener Gleichberechtigung der Individuen deduziren, und welche „Frei und gleich wie unsere Väter es waren“ als Motto im Schilde haben. – Die Republikaner sind insofern auch reaktionair, als sie darauf hinarbeiten, den Zustand zurückzuführen, welcher in gewissen Lebensepochen der civilisirtesten Völker fast durchgängig zu finden ist; nämlich: den der gleichen Berechtigung aller Individuen unter sich, mit der Delegation der Macht der Gesammtheit an gewählte Magistrate. – Eine fünfte Hauptpartei bewegt die Gegenwart des Westens weniger durch ihre Zahl, als durch die Hingebung, welche viele ihrer Anhänger beseelt; denn manche der begabtesten Geister sind ihr zugethan, und sie sind großer Aufopferung fähig. Diese Partei sieht in dem socialen Gebäude Europa’s nur die Ausgeburt des raffinirten Betrugs, und in dem Codex unserer Gesetze nichts als eine untergeschobene Urkunde, welche man den leichtgläubigen Völkern aufgebunden hat, um sie um ihre unveräußerlichen Rechte zu bestehlen. Dieser Betrug habe, sagen sie, Alles auf den Kopf gestellt, alle Begriffe verkehrt gemacht und die Staaten zu Narrenhäusern herabgewürdigt, wo die Wärter die Zuchtruthe führen über die Unglücklichen, weichen man die Zwangsjacke angezogen, und nur der sein ursprüngliches Recht sich vorbehalten hat, welcher allein über dem Gesetze steht. Die Monarchie und ihre Consequenzen sind ihnen eitel Teufelsspuk, und kein Pakt sey mit ihr zu schließen. Tausende sind schon gegen dieselbe ausgezogen, um sie, einen Drachen gleich, zu bekämpfen, und Viele haben ihr Leben dafür hingegeben. Es ist nicht zu leugnen, daß der Tyrannei durch die Anstrengungen dieser Enthusiasten ein großer Theil ihrer Rechte abgestritten wurde, und wo sie anscheinend erfolglos als Opfer fielen, da haben sie Gleichgesinnten ein Beispiel hinterlassen, das immer neue Streiter in den Kampf lockt. – Noch zwei Parteien recken ihre Häupter aus der Menge und man sieht sie allenthalben, von den Säulen des Herkules an bis zum Theiss, und vom Niemen bis zum Adour. Beide stehen auf dem Rechtsgebiete und gerade einander gegenüber. Die Servilen, überall fast ausschließlich aus der Masse der Bedienstigten bestehend, nämlich aller der Leute, welche aus dem Borne der Macht ihres Leibes Nahrung und Nothdurft schöpfen, lassen die Pflicht, aus der bestehenden Autorität abgeleitet, als die alleinige Norm ihrer Handlungen gelten, und sie stellen den Gehorsam, als selbstgemachten Abgott, der persönlichen Freiheit gegenüber, welche sie unbedenklich aufheben und vernichten. Die Autorität der [121] Herrscher steht ihnen als eine Thatsache da, ruhend auf sich selber und, wie der orthodoxe Glaube, alles Grübeln abweisend. In die Worte Sollen und Müssen löst sich ihre Symbolik auf. Mit jenem wollen sie durch die moralische Nöthigung die Menschen zwingen, mit diesem durch die physische, und ihre ganze Staatskunst hat kein anderes Ziel, als jedes Widerstreben, wenn nicht unmöglich, doch fügsam zu machen. Während die Aristokratie das Gewaltrecht am liebsten von der Grundherrlichkeit ableitet, so thut der Servilismus solches vorzugsweise und konsequent vom Schwerte, als dem Werkzeuge, welches die Subordination in die festesten Formen zwängt. Gehorsam allen Diktaten, welche dem Munde der Autorität entfahren, versteht diese Partei, der Macht gegenüber, nur die Bejahung zu gebrauchen, und jeder Laut, den sie von sich gibt, ist ein Echo von dem schallenden Hauche, das vom Throne ausgeht. Sie anerkennt nirgends im Individuum eine selbstständige Freiheit, ja, der Begriff von einer solchen kann ihr gar nicht innewohnen. Sie will nur Unterthanen (Hörige), keine Staatsbürger, und jede Handlung des Individuums bedarf, um zu Recht beständig zu werden, unerläßlich der höhern Ermächtigung. Der Monarch von Gottes Gnaden ist, nach ihrer Lehre, die Ursache von Allem, was im Staate geschieht, alle Gewalt ist nur von ihm hergeleitet, folglich ruht auch die gesetzgebende Macht nur in ihm. Er selbst ist über dem Gesetze, weil er nicht Herr und Diener zugleich im Staate seyn kann. Da nun, nach der Lehre der Servilen, kein Untergeordnetes seine abgeleitete Autorität gegen ihre Quelle richten kann, so kann auch keine sogenannte Volksvertretung der Majestät eine Grenze setzen. Die öffentliche Meinung verdammt sie als eine frevelhafte Phantasmagorie, und den Geist des Fortschritts als einen verbrecherischen Geist des Widerspruchs, den man durch alle Mittel niederhalten und niedertreten müsse. Constitutionen sind ihr ein Greuel, oder ein Tand, welchen man den Völkern zu Zeiten, wie ungezogenen Kindern, zur Beschwichtigung reicht, die Zurücknahme aber sich jeder Zeit vorbehält; sie macht die Wiederabschaffung verliehener Verfassungen bei gelegener Stunde zur erhabenen Fürstenpflicht. Wer aber constitutionelle Rechte zur Wahrheit machen und sie gebrauchen will, der ist ein Rebell, und jede Verfolgung, jede Schändlichkeit gegen ihn stempelt die Servilität zu einem Akt der Gerechtigkeit. Allwärts ist diese Partei stark an Zahl, an Intelligenz und noch stärker an Macht; denn vom Minister bis zum Gassenvogt und vom Feldherrn bis zum Trommelschläger hat die Hauptmasse der Bedienstigten ihrer Fahne zugeschworen. Sie steht eng zusammen, wohlgerüstet, wie ein compakter Phalanx gegen die anderen Parteien. Sie hat auch das Waffenrecht mit Schwert und Rede sich fast überall allein zugesprochen, und fälscht die öffentliche Meinung nach ihrem Wohlgefallen. Jeder Fürstenhandlung kommt sie mit unbedingter Bewunderung, jedem Machtgebot mit freiwilligem, gläubigem, ehrfurchtsvollem Gehorsam entgegen, ein starkes Band der Gemeinschaft hält sie umschlungen, und ihre Glieder sind jeder Zeit bereit, sich wechselseitig zu schützen und zu stützen.

[122] Den Servilen gegenüber haben die Liberalen ihr Feldlager aufgeschlagen. „Thoren ihr,“ rufen diese jenen höhnend entgegen, „glaubt ihr denn, ihr könnt den Staat zu einem Zuchthause machen, und wenn ihr’s könntet, wir ließen euch gewähren? Euer Wille ist wohl arg, aber die Kraft ist ihm nicht gewachsen. Die Zeiten sind vorüber, wo religiöser Aberglaube und die Unwissenheit das böse Spiel euch möglich machen und die Völker sich einhegen und scheeren ließen in euern Schäfereien, ohne nur Papp zu sagen. Der Sand eurer guten Stunde ist längst abgelaufen, die Macht hat ihren Nimbus verloren, sie muß auf Dornen statt auf Lotterkissen sitzen, daß Schwert der Gewalt ist stumpf und hat keine Schrecken für unsere Reihen. Alle eure Pläne macht die unaufhaltsam fortschreitende Intelligenz der Völker zu Schanden, alle eure Anstrengung ist verlorene Mühe, jeder Schwertschlag, den ihr thut, führt eine Niederlage für euch herbei, jede Bewegung, die ihr macht, gibt Terrain verloren. Vergleicht einmal, damit euch der Muth entsinke, Jetzt und Sonst! Was ist aus der Majestät im europäischen Abendlande seit 5 Dezennien geworden? Fühlt ihr nicht den Boden wanken unter euern Füßen? Und seht, dies, Veränderung ist hauptsächlich unser Werk. Wir haben die Despotie von den Thronen gestürzt und durch die Verfassungen den Mißbrauch der Gewalt unmöglich gemacht. Mit jeder Constitution, welche wir euch, welche wir der Monarchie abgerungen, ist auch das Prinzip des socialen Urvertrags unzertrennlich verbunden, und obgleich ihr es mit tausend und abertausend Klauseln und Vorbehalten verhülltet, oder zu entkräften suchtet: immer scheint es durch und bringt sich in günstigen Augenblicken zur höhern Geltung. Auch die schlechtesten Verfassungen geben den Staatsangehörigen gewisse Rechte und ziehen um den Willen der Alleinherrschaft gewisse Schranken. Was wir bis jetzt errungen haben, ist schon so viel, daß es uns die Gewährschaft künftiger vollständiger Siege gibt.“ – Mit solchen Reden treten die Liberalen gegen die Servilen auf, ja sie spielen gegenwärtig im europäischen Abendlande überall ihr Spiel mit aufgelegten Karten. Offen verkündigen sie, der Socialpakt müsse überall eine Wahrheit werden und seine Interpretation dürfte darum nicht mehr einseitig den Fürsten zustehen. Dem Volke deduziren sie dazu das Recht aus der Theorie des Urvertrags, und indem sie den Satz vertheidigen, daß einer Nation, als einer zum Staatszweck vereinigten Vielheit von Individuen, die Souverainität ausschließlich inhärire, welche nichts anders sey, als der Ausdruck des nationalen Gesammtwillens, so sprechen sie dem Volke auch die höchste Funktion der Souverainität, die Gesetzgebung, allein zu. Nur dem gesetzgebenden Volke, sagen sie, schulde das Volk Gehorsam. Die liberale Partei anerkennt nirgends im Gebieter eine dynamisch innewohnende Kraft, aus höherer Wurzel hervorgegangen und mit göttlicher Vollmacht ausgerüstet: sondern nur die Summe von der Einzelmacht und den Einzelrechten der Staatsglieder; ein Kapital gleichsam, aus dem Scherflein vieler Einzelner erwachsen. Der Fürst ist also, dieser Lehre nach, ein Ausfluß des Volks, nicht das Volk ein Appendix des Fürsten, wie es die Servilen wollen. Zwischen dem Volke, das gebietet, und dem, das gehorcht, stellen die Liberalen die Regierung als Mittelmacht, theilnehmend [123] gleichsam an der Natur des Thätigen und des Leidenden. Sie ist ihnen die Kraft, welche die Beschlüsse des Gesammtwillens in Vollzug setzt, und ihre Kraft und Macht fließt aus dem Brunnen aller Autorität, der Volkssouverinität, allein. Im Staate der Liberalen ist die Staatsform Nebensache, und je nachdem die Mission des Vollzugs der Akte der Volkssouverainität an eine Person, oder an eine Minderzahl, oder an eine Mehrzahl von Personen, gestellt ist, wird von ihnen der Staat monarchisch, aristokratisch, oder demokratisch geheißen werden.

Es kann nicht geleugnet werden, daß unter allen Parteien, welche die Völker des Westens bewegen, die liberale diejenige ist, welche täglich ihre Macht erweitert und Siege gewinnt. Ihr gehört die Zukunft vorzugsweise an; sie ist die eheliche Geburt der Zeit, folglich ihr rechter Erbe. In den Völkern des Westens liegt eine unverwüstliche, sich immer neu gebärende Richtung zur Demokratie, und dahin drängt auch, Vielen bewußtlos, vorzugsweise das Streben der Liberalen. Das Christenthum selbst enthält so viel demokratischen Gährungsstoff, daß es jeder Zeit jenen Bestrebungen mit zur Unterlage dienen kann, und es ist daher nicht zu verwundern, daß auch in der Kirche die Meinung Platz zu greifen anfängt, Christenthum und Demokratie könnten sich einander heben und unterstützen.

Während so die Ideen sich bekämpfen und auf dem Schlachtfelde der Meinungen sich Siege und Niederlagen folgen, treten die praktischen Fragen der Zeit entschiedener in den Vorgrund und werden zum Tummelplatz streitender Kräfte. Die Richtung der Massen ist mehr als jemals eine weltliche geworden und zielt auf eine gänzliche Umgestaltung der Verhältnisse hin. Nachdem in den meisten Staaten des Westens die reicheren und höheren Klassen durch die Verfassungen die Freiheit errungen, oder unter den monarchischen Formen zur Herrschaft gelangt sind, sieht man diese mit den Bedürfnissen des Volks in einen bedenklichen Zwiespalt gerathen. Die niedern und ärmern Klassen fangen an, sich zu constituiren und zu organisiren; die Phalangen des Communismus stellen sich den geschlossenen Reihen des Reichthums und der Geburt drohend gegenüber. Es lassen sich die Fragen über das Wohl und Wehe der untern Klassen nicht mehr durch Concessionen gegen die demokratischen Ideen, durch Sophistereien und Deklamationen beschwichtigen. Die Quantität des Unterrichts, welche man da und dort den Massen hingegeben hat, sie reichte gerade aus, sie zum Bewußtseyn ihrer Lage und zum Nachdenken über die Ursachen derselben und über die Mittel zur Abhülfe zu bringen. Seufzend unter dem Drucke raffinirter Abgaben-Systeme, die gerade in den entwickeltsten Ländern und Völkern die untern Klassen am härtesten und so treffen, daß sie sich nie aus der Dürftigkeit erheben können, verlangen sie fest, beharrlich, drohend gründliche Abhülfe ihrer Beschwerden und Leiden. Die Umgestaltung der Gewerbe, welche sich dem persönlichen Geschick des selbstständigen Arbeiters mehr und mehr entfremden und in den Dienst des Kapitals und der Maschinen treten, und die überall steigende Bevölkerung mehren die Noth, nähren die Unzufriedenheit, und drängen immer stärker zu Katastrophen und Umwälzungen.

[124] Nach Norden wollen wir nun schauen! Dort ist Rußland, Rußland, der gewaltige Drache, der seinen Leib über drei Welttheile hinstreckt und unter jeder Schuppe ein anderes Volk verbirgt. Wie jenes Ungeheuer der Sage, das, aus dem Nilschlamm geboren, mit der hintern Hälfte noch in der Wandlung begriffen war, während die vordere schon vollendet von der Erde sich erhob, wächst und gestaltet sich der russische Staat und er wird immer größer, indem er neue Barbarenstamme in den Kreis seiner Kultur zieht. Jahrhunderte lang ein Schauplatz der scheußlichsten Tyrannei, welche seine Geschichte mit den furchtbarsten Greueln bedeckt hat, ist dort dem herabgewürdigten Volke der Despotismus eine Wohlthat, und eine andere Gewalt, als die der Alleinherrschaft, undenkbar. In Rußland ist nichts von den Elementen zu finden, welche die Faktoren in der Geschichte der abendländischen Völker machen. An seinem Adel ist nichts zu sehen von jenem ritterlichen Geiste, der mit kühnem Stolze sich unterordnet und mit dem Herzen sich unterwirft; nichts von jener romantischen abenteuerlichen Stimmung, welche zu hochsinnigen Thaten treibt und auch nichts von jener höhern Liebe, welche das Leben veredelt. An seiner Kirche sind keine lebendigen, treibendem Kräfte zu finden; Alles stehend und erstarrt, ohne eigentliches Lebensprinzip, nur im Festhalten an ihrer dunkeln Symbolik Fortdauer suchend, erscheint bei ihr das lebendige Christenthum wie eine Pflanze, die erstarrt ist unter einem rauhen Himmel. Die russische Kirche bietet keinerlei Unterricht dem Volke, und in gänzlicher Abhängigkeit vom Staate lebend, dessen Selbstherrscher die kirchliche Obergewalt an die weltliche knüpft, ist sie dem Staate leibeigen, wie der Bauer seinem Gutsherrn. Das Volk Rußlands ist Sklave durch Gesetz, Gewohnheit und Erziehung. Nichts sein Eigen nennend, dem Grundherrn hörig wie ein bloßes Hausthier, ohne Stolz, ohne Selbstgefühl, ohne Gemeingeist, aber dennoch im Besitz von Tugenden, die am lautesten gegen seine Unterdrücker zeugen, ist es ein stets williges Werkzeug der obersten Macht. Auf solchen Elementen nun hat die Autokratie sich mit nordischer Härte ihren Thron gebaut, auf dem seit mehren Menschenaltern begabte Geister sitzen, welche mit starker und gewandter Hand die Geschicke ihres ungeheuern Reiches zügeln und nach großen Zielen lenken. Während die russische Autokratie auf der einen Seite die allmählige Emanzipation der Leibeigenen einleitet und den Bauer gegen die Gutsherren in Schutz nimmt, während sie jedes Gelüste des Adels, aus seiner erniedrigenden Stellung, dem Throne gegenüber, herauszutreten, mit unerbittlicher Strenge zu Boden schlägt und den höchsten Ständen die Sklavenkette am härtesten fühlen läßt, verfolgt sie mit eiserner Consequenz den Plan, alle ihrem Scepter unterworfenen andern Völker dem einen großen Russenvolke in Glauben, Sprache, Art und Denkweise vollständig zu assimiliren, und die großartige, historische Bahn zu verfolgen, für welche Peter, der Gigant, die ersten Züge entworfen hat. Rußlands ungeheuerer Leib drückt mit gleichem Gewicht auf Ost und West, und mit superkluger Arglist sieht man es überall hin geschäftig, seine Macht zu mehren und sich für die Gelegenheit zu rüsten, in dem europäischen Rathe die Diktatur zu erlangen und zugleich bei’m Absterben der orientalischen Reiche dort der Schwert-Erbe zu werden. Zwar wird die Politik nicht unterlassen, den nahenden Sturm [125] durch Zuspruch noch ferner zu beschwören, wie sie bisher gethan hat; ist aber das russische Schwert in dieser Sache einmal gezogen: so ist keines Menschen Geist fähig, das Ende dieses Streits zu ermessen. Europa würde dann wieder zum Feldlager werden und die Fürsten zu Kriegsobersten. An Rüstzeug zu einem solchen Kriege hat der Friede es nirgends fehlen lassen. An Flinten, Bajonetten und Kanonen ist kein Mangel irgendwo, und es harren die Gewappneten des innern Unfriedens nur des Steins, geschleudert auf Schicksals Ruf, um sich wechselsweise zu erwürgen. Rußland kann ihn jeden Tag schleudern, und es wird ihn schleudern, sobald es den Assimilationsprozeß mit den ihm hörig gewordenen Völkern vollendet hat und es ihm gelungen ist, den polnischen Wurm, der ihm am Herzen nagt, vollends zu zerdrücken, und den Heldenmuth der kaukasischen Völker im Kosakenblut zu ersäufen.


Das ist in wenigen Zügen die Perspektive der West- und Ostwelt, wie sie ein Blick an ihrer Pforte gewährt. Aber – ich sehe auch einen ernsten, strengen Geist auf dem Stuhle mitten in diesem chaotischen Treiben sitzen, einen Geist, auf dem mein Auge mit Vertrauen ruht. Es ist der Geist, der seit Anbeginn der Welt jedem Vergehen seinen Tag gesetzt, der mit jedem Frevler zu Gericht gegangen, der jedes Unmaaß in seine Schranken zurückgewiesen und jeden argen Willen rechtzeitig gebrochen hat. Vor ihm vergehen Die, welche sich ihrer Listen freuen, kommt der Hochmuth zu Fall, zerrinnt die ungerechte Gewalt, wenn ihre Stunde gekommen ist, und findet alle Unbill und alles Unrecht sein Maaß der Vergeltung. Nichts ist je vor ihm bestanden, denn die Wahrheit, das Recht, die Billigkeit und das sittliche, rechte Maaß. Mögen anarchische Gelüste unter jeglichem Vorwande auf’s Neue versuchen, die Welt zu verwirren; mögen despotische Instinkte in der Finsterniß Werke des Trugs und der Arglist, der Gewalt und des Unrechts verüben: jener Geist, der in unsern Tagen schon einmal so wunderbar und herrlich Urtheil gesprochen und das aus allen Fugen getretene Gebäude neu geordnet hat, er wird auch jetzt und künftig neue Kräfte erwecken, welche die dämonischen Mächte niederwerfen, ehe ihre Pläne zur Ausführung gekommen. Er wird dem Kriegsgott die Hände gebunden halten, und eine friedliche Lösung der Fragen, welche die Well beunruhigen, wird ihm keine Unmöglichkeit seyn.