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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
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Am Bosporus hält der Genius der alten Welt die Wage, in welcher der Herr des Alls ihre Geschicke nach unwandelbaren Gesetzen wägt. Hier, an dieser Pforte, wo die Kreuzwege der Völker aus einander laufen, wo von jeher der härteste Zusammenstoß der antagonistischen Kräfte geschah, welche die alte Welt erschütterten; hier, wo die Grenz- und Scheidelinien von Ost, West und Nord in einen Punkt sich vereinigen, hier, wo so viele Nationen schlummern und wo die Civilisation dreier Jahrtausende ihr Grab hat: hier ziemt es anzuhalten und einen betrachtenden Blick über die Weltverhältnisse zu werfen.
Nach Sonnenaufgang zuerst! Dort, im Orient, wo alle Geschichte anhebt und die Wiege der Sage ist, sehen wir, gleich versteinerten Wäldern der Urzeit in den Formationen der Erdrinde, noch zur Stunde jene alten Formen, die von dem Vorherrschen des Beharrungs-Prinzips Zeugniß geben. – Es sind drei Kulturen, die sich in den Osten theilen: die mohammedanische, die indische und die chinesische; allen dreien aber ist das Leben erstorben und die todte, feste Form hält die Vernichtung nur eine Zeitlang auf. Alle mohammedanischen Staaten neigen sich zum Falle, die hohe Pforte selbst ist eine Pforte des Niedergangs geworden, und die Nachäffung der europäischen Kultur beschleunigt bloß das Verderben. – Noch rascher und sichtbarer zersetzen Christenthum und englische Herrschaft das uralte Reich des indischen Glaubens; und nachdem China’s Thor der britische Dreizack aufgesprengt hat, wird auch hier, wo nirgends geistige Kräfte zum Widerstand vorhanden sind, das Werk der Zerstörung unaufhaltsam sich entwickeln. Wie die alte Kultur untergeht, so sehen wir auch den Reichthum des Ostens schwinden. Die Kunst und Maschinerie des Westens saugen das Gold aus seinem Eingeweide, die Perlen aus seinen Meeren; und wie der Wohlstand der östlichen Völker wegzieht, so wandert auch ihr Wissen aus. Es ist Thatsache, daß man in Europa schon jetzt mehr orientalische Gelehrsamkeit findet, als im Orient selber. – Welches Schicksal erwartet nun die östlichen Staaten in nächster Zukunft? Zerstörung: denn der Prozeß derselben geht vor unsern Augen vor sich. Welche Formen aber werden sich nach gänzlicher Auflösung der alten bilden? Wie weit Christenthum und europäische Civilisation den alten Glauben und die alten Kulturen assimiliren werden, kann Niemand ermessen; nur so viel wissen wir: zerfressen in seinem Innersten, von der auflösenden Gewalt des europäischen Geistes ganz durchdrungen, befindet sich ganz Asien im System der Verwandlung. Die Tage der Verheißung
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/205&oldid=- (Version vom 15.2.2025)