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Seite:Meyers Universum 10. Band 1843.djvu/212

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Nach Norden wollen wir nun schauen! Dort ist Rußland, Rußland, der gewaltige Drache, der seinen Leib über drei Welttheile hinstreckt und unter jeder Schuppe ein anderes Volk verbirgt. Wie jenes Ungeheuer der Sage, das, aus dem Nilschlamm geboren, mit der hintern Hälfte noch in der Wandlung begriffen war, während die vordere schon vollendet von der Erde sich erhob, wächst und gestaltet sich der russische Staat und er wird immer größer, indem er neue Barbarenstamme in den Kreis seiner Kultur zieht. Jahrhunderte lang ein Schauplatz der scheußlichsten Tyrannei, welche seine Geschichte mit den furchtbarsten Greueln bedeckt hat, ist dort dem herabgewürdigten Volke der Despotismus eine Wohlthat, und eine andere Gewalt, als die der Alleinherrschaft, undenkbar. In Rußland ist nichts von den Elementen zu finden, welche die Faktoren in der Geschichte der abendländischen Völker machen. An seinem Adel ist nichts zu sehen von jenem ritterlichen Geiste, der mit kühnem Stolze sich unterordnet und mit dem Herzen sich unterwirft; nichts von jener romantischen abenteuerlichen Stimmung, welche zu hochsinnigen Thaten treibt und auch nichts von jener höhern Liebe, welche das Leben veredelt. An seiner Kirche sind keine lebendigen, treibendem Kräfte zu finden; Alles stehend und erstarrt, ohne eigentliches Lebensprinzip, nur im Festhalten an ihrer dunkeln Symbolik Fortdauer suchend, erscheint bei ihr das lebendige Christenthum wie eine Pflanze, die erstarrt ist unter einem rauhen Himmel. Die russische Kirche bietet keinerlei Unterricht dem Volke, und in gänzlicher Abhängigkeit vom Staate lebend, dessen Selbstherrscher die kirchliche Obergewalt an die weltliche knüpft, ist sie dem Staate leibeigen, wie der Bauer seinem Gutsherrn. Das Volk Rußlands ist Sklave durch Gesetz, Gewohnheit und Erziehung. Nichts sein Eigen nennend, dem Grundherrn hörig wie ein bloßes Hausthier, ohne Stolz, ohne Selbstgefühl, ohne Gemeingeist, aber dennoch im Besitz von Tugenden, die am lautesten gegen seine Unterdrücker zeugen, ist es ein stets williges Werkzeug der obersten Macht. Auf solchen Elementen nun hat die Autokratie sich mit nordischer Härte ihren Thron gebaut, auf dem seit mehren Menschenaltern begabte Geister sitzen, welche mit starker und gewandter Hand die Geschicke ihres ungeheuern Reiches zügeln und nach großen Zielen lenken. Während die russische Autokratie auf der einen Seite die allmählige Emanzipation der Leibeigenen einleitet und den Bauer gegen die Gutsherren in Schutz nimmt, während sie jedes Gelüste des Adels, aus seiner erniedrigenden Stellung, dem Throne gegenüber, herauszutreten, mit unerbittlicher Strenge zu Boden schlägt und den höchsten Ständen die Sklavenkette am härtesten fühlen läßt, verfolgt sie mit eiserner Consequenz den Plan, alle ihrem Scepter unterworfenen andern Völker dem einen großen Russenvolke in Glauben, Sprache, Art und Denkweise vollständig zu assimiliren, und die großartige, historische Bahn zu verfolgen, für welche Peter, der Gigant, die ersten Züge entworfen hat. Rußlands ungeheuerer Leib drückt mit gleichem Gewicht auf Ost und West, und mit superkluger Arglist sieht man es überall hin geschäftig, seine Macht zu mehren und sich für die Gelegenheit zu rüsten, in dem europäischen Rathe die Diktatur zu erlangen und zugleich bei’m Absterben der orientalischen Reiche dort der Schwert-Erbe zu werden. Zwar wird die Politik nicht unterlassen, den nahenden Sturm