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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
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Den Servilen gegenüber haben die Liberalen ihr Feldlager aufgeschlagen. „Thoren ihr,“ rufen diese jenen höhnend entgegen, „glaubt ihr denn, ihr könnt den Staat zu einem Zuchthause machen, und wenn ihr’s könntet, wir ließen euch gewähren? Euer Wille ist wohl arg, aber die Kraft ist ihm nicht gewachsen. Die Zeiten sind vorüber, wo religiöser Aberglaube und die Unwissenheit das böse Spiel euch möglich machen und die Völker sich einhegen und scheeren ließen in euern Schäfereien, ohne nur Papp zu sagen. Der Sand eurer guten Stunde ist längst abgelaufen, die Macht hat ihren Nimbus verloren, sie muß auf Dornen statt auf Lotterkissen sitzen, daß Schwert der Gewalt ist stumpf und hat keine Schrecken für unsere Reihen. Alle eure Pläne macht die unaufhaltsam fortschreitende Intelligenz der Völker zu Schanden, alle eure Anstrengung ist verlorene Mühe, jeder Schwertschlag, den ihr thut, führt eine Niederlage für euch herbei, jede Bewegung, die ihr macht, gibt Terrain verloren. Vergleicht einmal, damit euch der Muth entsinke, Jetzt und Sonst! Was ist aus der Majestät im europäischen Abendlande seit 5 Dezennien geworden? Fühlt ihr nicht den Boden wanken unter euern Füßen? Und seht, dies, Veränderung ist hauptsächlich unser Werk. Wir haben die Despotie von den Thronen gestürzt und durch die Verfassungen den Mißbrauch der Gewalt unmöglich gemacht. Mit jeder Constitution, welche wir euch, welche wir der Monarchie abgerungen, ist auch das Prinzip des socialen Urvertrags unzertrennlich verbunden, und obgleich ihr es mit tausend und abertausend Klauseln und Vorbehalten verhülltet, oder zu entkräften suchtet: immer scheint es durch und bringt sich in günstigen Augenblicken zur höhern Geltung. Auch die schlechtesten Verfassungen geben den Staatsangehörigen gewisse Rechte und ziehen um den Willen der Alleinherrschaft gewisse Schranken. Was wir bis jetzt errungen haben, ist schon so viel, daß es uns die Gewährschaft künftiger vollständiger Siege gibt.“ – Mit solchen Reden treten die Liberalen gegen die Servilen auf, ja sie spielen gegenwärtig im europäischen Abendlande überall ihr Spiel mit aufgelegten Karten. Offen verkündigen sie, der Socialpakt müsse überall eine Wahrheit werden und seine Interpretation dürfte darum nicht mehr einseitig den Fürsten zustehen. Dem Volke deduziren sie dazu das Recht aus der Theorie des Urvertrags, und indem sie den Satz vertheidigen, daß einer Nation, als einer zum Staatszweck vereinigten Vielheit von Individuen, die Souverainität ausschließlich inhärire, welche nichts anders sey, als der Ausdruck des nationalen Gesammtwillens, so sprechen sie dem Volke auch die höchste Funktion der Souverainität, die Gesetzgebung, allein zu. Nur dem gesetzgebenden Volke, sagen sie, schulde das Volk Gehorsam. Die liberale Partei anerkennt nirgends im Gebieter eine dynamisch innewohnende Kraft, aus höherer Wurzel hervorgegangen und mit göttlicher Vollmacht ausgerüstet: sondern nur die Summe von der Einzelmacht und den Einzelrechten der Staatsglieder; ein Kapital gleichsam, aus dem Scherflein vieler Einzelner erwachsen. Der Fürst ist also, dieser Lehre nach, ein Ausfluß des Volks, nicht das Volk ein Appendix des Fürsten, wie es die Servilen wollen. Zwischen dem Volke, das gebietet, und dem, das gehorcht, stellen die Liberalen die Regierung als Mittelmacht, theilnehmend
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/210&oldid=- (Version vom 15.2.2025)