Vollmondzauber/Sechstes Kapitel
Inmitten des malerisch verwilderten Parkes, in dem die Offiziere im Winter so lustig dem Eissport gefrönt hatten, befindet sich ein verfallenes Lustschlößchen mit Namen Monbijou. Es soll von einem Kavalier erbaut worden sein, der Franz Graf Sternfeld hieß. Jetzt gehört es einem dicken Breznitzer Gastwirt, der den unternehmenden Gedanken ausgeführt hat, das Schlößchen in eine Sommerrestauration zu verwandeln. Hie und da flüchten sich ein paar, nach frischer Luft lechzender Städter in diese entlegene Herberge. Den Hauptbestandteil der Kundschaft aber bildet das jeweilig in Breznitz garnisonierende Offizierscorps. Alle kleinen Sommerfeste des 32. Dragonerregiments werden in dem ehemaligen Jagdschlößchen veranstaltet.
Gegen die Mitte Mai lud der Oberst die angesehensten Familien der Umgebung zu einem großen Lawn-Tennis-Turnier. Gräfin Ronitz mit zwei sehr [139] hübschen Nichten und einem rothaarigen Neffen, Graf und Gräfin Zriny mit vier altjüngferlichen Töchtern, ein Baron Forstheim mit seiner sehr schönen Frau, Herr und Frau von Märzfeld, die sich in der Nähe angekauft hatten, natürlich auch die Zells waren gebeten worden.
Die Forstheims erschienen zuerst. Zwei hübsche Cousinen begleiteten die Baronin. Alle drei Damen waren außerordentlich hübsch gekleidet, nahmen sich gut aus, hatten sich offenbar Mühe gegeben, das Fest zu schmücken.
Die vier Zrinys waren im Gegenteil fast herausfordernd schäbig erschienen, es lohnte wirklich nicht, Staat zu machen für ein Offiziersfest in Breznitz. Diese Zriny-Komtessen waren in ganz Österreich wegen ihres Hochmutes bekannt. Es hatte eine Zeit gegeben, wo sie sich, in Wien wenigstens, nicht herabgelassen hätten, mit einem 32er Dragoner zu tanzen, der nicht mindestens ein Graf gewesen wäre, und jetzt hätten sie sich sogar entschlossen, einen zu heiraten, aber das war freilich etwas ganz andres.
Die Zells kamen spät, und zu der großen Enttäuschung des Obersten brachten sie nur eine ihrer Nichten mit, und zwar Gina; Emma war durch eine Migräne an das Haus gefesselt.
„Es ist zu schade! Emma hat so selten Migräne, kaum zweimal des Jahrs. Wenn sie aber einmal daran leidet, so ist mit ihr nichts anzufangen, da [140] kann sie weder Hand noch Fuß rühren,“ erzählte die Gräfin Ronitz, „wirklich schade!“
„Ja wahrhaftig, zu schade!“ stimmte der Oberst mit ein.
Das Wegbleiben der sommersprossigen Emma, die wenig zum Schmucke des Festes beitragen hätte, verstimmte ihn so auffällig, daß die alte Gräfin Ronitz ihrer Freundin Zell zuraunte: „Die Emma hat entschieden bei Stahl eine Eroberung gemacht, er muß Absichten haben auf sie. Freilich, er hat nichts, dem wird darum zu thun sein, Geld zu heiraten.“
Aber diesmal hatte der große Scharfsinn der Gräfin Ronitz doch nicht ausgereicht, die Situation zu überblicken. Dem Obersten war es gar nicht darum zu thun, Geld zu heiraten, er fragte sich nur ganz einfach, was diese „verrückte Gina“ aufführen würde ohne den bändigenden Zügel der Schwester, da sie doch selbst in deren Gegenwart excentrisch genug war.
Nun, anfangs benahm sie sich überraschend manierlich. Sie sah sehr exotisch und hübsch aus in einem großen, schwarzen Federhut und einem weißen Kleid, das die übermäßige Schlankheit ihrer Gestalt zu reizvoller Geltung brachte. In ihren Ohren blitzten zwei Brillantboutons, die die Größe von türkischen Haselnüssen hatten.
Die Zriny-Komtessen erklärten einstimmig, es sei [141] unschicklich für ein junges Mädchen, so kostbares Geschmeide zu tragen, und die Gräfin Ronitz behauptete schlechtweg, die zwei flammenden Steine nähmen sich neben dem blassen Gesicht aus wie zwei Wagenlaternen, aber das war Neid! Die Herren waren alle entzückt von der eigentümlichen und vornehmen Erscheinung. Einige meinten, sie erinnere an die schöne Marie Vecséra, der Rittmeister von Finke aber, der Schöngeist des Regiments, der sogar im stande war, eine Stunde mit der Eisenbahn zu fahren, um einer Vorlesung über Nietzsche beizuwohnen, und zehn Stunden, um ein neues Stück am Burgtheater aufführen zu sehen, der erklärte, die Ginori erinnere an niemand so sehr, wie an Eleonore Duse, und der fremdartige Zauber ihrer Persönlichkeit sei nur mit einem einzigen Wort zu bezeichnen. Das Wort war italienisch. Im Laufe des Nachmittags fiel’s ihm ein, es hieß: „morbidezza“.
An dem Tenniswettspiel nahm Gina nicht teil, sie saß wie geistesabwesend neben dem Schlachtfeld und zeichnete mit der Spitze ihres Sonnenschirms Figuren in den Sand.
„Sie darf sich nicht erhitzen,“ erklärte die Gräfin Zell, „’s ist ohnehin eine Eigenmächtigkeit von mir, daß ich sie hergebracht habe. Die Emma wollte nichts davon hören, daß Gina ohne sie fährt. Aber wir hatten’s uns in den Kopf gesetzt, nicht wahr, Gina?“
[142] Gina lächelte und fuhr fort, kabbalistische Zeichen in den Sand zu zeichnen.
Die andern spielten alle Lawn Tennis bis zur Bewußtlosigkeit. Dem Obersten, der von einer kleinen Estrade aus als „Unparteiischer“ das Spiel beobachtete, drehte sich bereits der Kopf vor lauter „thirty, forty, out“, die er gewissenhaft notierte.
Die Baronin Forstheim spielte am besten, sie wurde von den übertragenen Zriny-Komtessen ein wenig über die Achsel angesehen, weil ihre Ahnen nicht bis ins zwölfte Jahrhundert zurückreichten, und rächte sich an ihnen dadurch, daß sie ihnen den ersten Preis vor der Nase weggewann.
„Sie spielt charmant, famos, die Forstheim, ganz famos!“ erklärte die Gräfin Ronitz, die sich mit den Forstheims angefreundet hatte. „Sie spielt am besten von euch allen!“
„Sie hat’s auch nötig,“ erklärte Minny Zriny kurz, bündig und treffend mit ihrer in ganz Österreich bekannten Impertinenz. Sie war stolz auf diese Impertinenz wie auf ein Talent und kultivierte sie mit Sorgfalt. Auch mußte man gestehen, daß sie es darin zu einer anerkennenswerten Künstlerschaft gebracht hatte.
Die Gräfin Ronitz blieb die Antwort nicht schuldig: „Na ja, ihr braucht euch nicht anzustrengen, ihr ruht halt wieder einmal auf den Lorbeeren aus, die [143] eure Ahnen für euch gesammelt haben. Nehmt euch nur in acht, daß ihr die Zeit nicht darauf verschlaft. Die ‚Neuen‘ werden euch bald in etwas Wichtigerem geschlagen haben, als im Lawn Tennis!“
Die Komtessen fanden die Tante Rosin’ heute ganz besonders witzig und lachten fürchterlich.
Nach der Preisverteilung wurden Erfrischungen herumgereicht. Gäste und Offiziere versammelten sich um das kleine Zelt, in dem Zitronengefrorenes, Eiskaffee und Champagner zu gleicher Zeit mit Sandwiches und Bier den Gästen zur Erfrischung verabreicht wurden. Die Offiziere wetteiferten miteinander, die Damen zu bedienen, und zwei Dragoner spülten unermüdlich die Gläser in einem länglichen Holzschaff ab.
Die Komtessen zwitscherten herzigen Unsinn, die Offiziere lachten dazu, die Gläser klirrten, die Kaffeelöffel klapperten gegen die Eisschalen. Es war alles lustig, bunt und belebt, und nach einer Stunde spielte man weiter, aber nicht mehr mit dem früheren Eifer.
Die Komtessen behauptete, die „Jause“ habe sie faul und genußsüchtig gemacht, und trällerten Walzermotive, während sie um den Platz herumstanden. Sie fühlten sich der Anstrengung des Spiels nicht mehr gewachsen.
Swoyschin, der sich mit anerkennenswerter Selbstverleugnung dem Tennissport, dem er nicht sehr geneigt [144] war, gewidmet hatte, stand jetzt müßig zwischen den walzerträllernden Komtessen. Er konnte nicht umhin, nach Gina zu schielen, von der er sich bis dahin gänzlich fern gehalten hatte, teilweise aus Gewissenhaftigkeit, nebstbei aus Angst vor den Augen des Obersten, die sich mehr als einmal forschend und mahnend auf ihn gerichtet hatten. Bald aber sollten weder Swoyschins Gewissenhaftigkeit noch die Blicke des Obersten mehr ausreichen, den magnetischen Zauber Gina Ginoris zu bekämpfen. Sie bildete den Mittelpunkt einer Gruppe von Offizieren, der besten im Regiment, und sie schienen es sich alle recht sehr angelegen sein zu lassen, ihr Wohlgefallen zu erregen. Zu verwundern war dabei nichts, da sie wirklich verführerisch aussah.
Ganz abgesehen von ihrer Schönheit und von der exotischen Vornehmheit ihrer Toilette, war sie berückend. Es durfte sich keine der anwesenden Damen mit ihr messen, nicht einmal die allerliebste Isa Ronitz, die doch unter vielen bildhübschen Wiener Komtessen im vorigen Winter den allgemeinsten Beifall errungen hatte, und deren Bild sogar als österreichischer Schönheitstyp in ausländischen Zeitungen erschienen war, ja nicht einmal die Baronin Forstheim, welche ihrer Schönheit halber, trotz ihres Ahnenmangels, zu allen aristokratischen Wohlthätigkeitsfesten in Wien zugezogen wurde.
[145] Die Offiziere mußten ihr gerade einen lebhaften Wunsch vorbringen, einige falteten bittend die Hände. Sie lehnte ab, lächelnd, liebswürdig. Was konnten sie nur von ihr wollen? Swoyschin legte seiner Neugier die Zügel an, hielt sie so fest nieder, als er konnte. Er hatte keine Lust, Bärenburg zu erneuerten Witzen, dem Obersten zu erneuerten Moralpredigten Anlaß zu geben. Er versuchte, sich in ein Gespräch mit Isa Ronitz zu vertiefen, die ihm vom vorigen Fasching vorplapperte, von Komödiespielen, von den komischen Hemdkragen des Fritzi Z. und den noch komischeren Ballkleidern der Fredi X. und so weiter.
Als er wieder nach Gina hinsah, war diese samt dem Troß ihrer Bewunderer verschwunden. Nun nützte kein Zügel mehr, die Neugier war nicht länger zu bändigen.
Wie ihn die kleine Ronitz langweilte! – Es war recht spät geworden. Selbst die fanatischsten Tennisspieler mußten den Kampf aufgeben, die Rackets niederlegen. Eine von den Komtessen pfiff jetzt ganz stil- und regelrecht einen Walzer, die andern tanzten dazu. Isa Ronitz warf einen verlangenden Blick nach Swoyschin; der merkte es gar nicht oder hatte keine Lust zu tanzen; so faßte sie denn lustig eine der vier Zrinys um den Leib und wirbelte mit ihr fort.
Swoyschin machte sich daran, Gina zu suchen, längere Zeit vergeblich. Nach allen Seiten durchstrich er den großen, verwilderten Park, spähte dahin, dorthin.
[146] Es war ein wunderschöner Frühlingsabend. Anstatt des eintönigen Grüns, das sich später im Sommer über alles Laub ausbreitet, prangte jeder Busch und Baum noch in einer andern Farbe; der eine war grün, der andre fast rosa, der dritte gelbbraun; dazwischen ragte der dunkle Ernst einer Fichte oder Tanne, deren breite, flache, sich schwer über dem Boden zuneigenden Äste der Frühling mit hellgrünen Spitzen verziert hatte. Zwischen ein paar schlanken, silbernen Birkenstämmen, die sich anmutig in ihre hellen Laubgewänder hüllten, sah man die düstere Glut des Sonnenunterganges in einem aufsteigenden Gewitter versinken.
Zu den Füßen der Birken, aus dem noch nicht hinweggefegten dürren Herbstlaub steckten einige Maiglöckchen ihre neugierigen Köpfchen über die sie umschließenden grünen Blätterdüten heraus. Ihr holder Duft mische sich mit dem Geruch des vorjährigen Herbstmoders, aber über das alles hinaus schwebte noch ein andrer Duft, der immer stärker, berauschender, betäubender wurde, etwas bezwingend Süßes, in das sich eine unheimliche Unlauterkeit mischte.
Aus einem Gewirr von metallisch-braun glänzenden Ahornsträuchen ragte, ganz mit weißen Blüten bedeckt, ein ungeheurer Faulbaum auf. Er schien dem jungen Mann zuzunicken, zu winken. Swoyschin ging auf ihn zu. Ja dort …! Zu seinen Füßen breitete [147] sich ein dunkelgrüner Weiher aus, an seinen Rändern von bühenden, weißen und gelben Wasserlilien umkränzt.
Es war derselbe Weiher, worin die arme, junge Frau den Tod gefunden hatte. Ein Schauder durchfuhr Swoyschin, etwas stieß ihn zurück, er wollte fort. Aber … unter dem Faulbaum auf einer Bank von roh zusammengezimmerten Ästen saß Gina Ginori. Sie hatte ihren Hut abgelegt und sich eine Krone von Faulbaumzweigen auf den Kopf gesteckt. Die großen, weißen Blütentrauben, kaum merklich mit blaßgrünen Blättchen vermischt, schmiegten sich zärtlich in das bauschige, dunkle Haar. Ihre jungen Anbeter waren um sie versammelt, sie hielt eine alte Guitarre im Arm und sang.
Swoyschin kannte die alte Guitarre, sie gehörte dem Wirt, der aus Schloß Monbijou eine Herberge gemacht. Er hatte seinerzeit als Junggeselle unter den Fenstern seiner jetzigen Frau Ständchen darauf geklimpert. Jetzt veranlaßten ihn die Offiziere noch manchmal, darauf herumzuzupfen, wenn er betrunken war und sie selber sich in erhöhter Stimmung befanden. Er sang dazu, er hatte noch ein ganzes Repertoire von halbvergessenen Liedern, die er alle untereinander mischte.
Die Musik, die Gina Ginori auf dem alten Instrument machte, glich keineswegs den Vorträgen des Gastwirts von Monbijou. Ihre schlanken weißen Hände berührten die Saiten kaum, man hörte nur [148] ein geisterhaftes Huschen und Rauschen, etwas, das an das leise Eintauchen eines Ruders erinnerte und an das Flüstern des Windes in jungen Frühlingslaub.
Ihre Stimme, leicht umflort und keineswegs stark, war dennoch von demselben geheimnisvollen Zauber durchdrungen, der ihre ganze Erscheinung und Persönlichkeit auszeichnete.
Swoyschin vergaß alles, blieb wie verzaubert stehen und horchte. Sie sang ein Lied, das er an schönen Mondscheinnächten öfters von jenen venetianischen Volkssängern gehört hatte, die man, ich weiß nicht recht warum, „pittori“ nennt.
Ein Lied von Tosti: „Penso“. Es fing mit den Worten an:
„Penso a la prima volta, che tu volgesti
Il sguardo tuo dolcissimo su me.“
Die rings um sie gelagerten jungen Leute brachen, als sie geendet hatte, in heftigen Beifall aus. Ohne sich auch nur um dieselben zu bekümmern, richtete sie den Blick auf Zdenko.
„Nicht wahr,“ sagte sie mit ihrer langsamen, verträumten Aussprache, „Sie finden es sonderbar, Graf Swoyschin, daß ich hier zur Erbauung des halben Offizierscorps die Bänkelsängerin abgebe. Aber was wollen Sie, man ist doch manchmal gutmütig. Rittmeister von Fink hatte es den andern Herren verraten, daß ich ein wenig singe, und da war auch schon die [149] Guitarre bei der Hand, und wie ich mich auch wehrte, ich mußte diesen musikalischen Herren den Willen thun!“
„Ich bin sehr froh, daß Sie sich dazu herbeigelassen haben, Gräfin,“ erwiderte Swoyschin, „ich habe, wenngleich zu spät, doch noch etwas von Ihrer Freundlichkeit profitiert!“
„Nur das letzte Lied haben Sie gehört?“ fragte Gina.
„Leider – nur das letzte!“ bestätigte er.
„’s ist ein alter, abgedroschener Gassenhauer,“ sagte sie wegwerfend, worauf er erwiderte: „Von Ihnen gesungen, war’s ein wunderschönes, neues Lied, Gräfin.“
„Soll ich weiter singen?“ fragte sie.
„Ja, ja, Gräfin, wir bitten, wir beschwören Sie!“ Die jungen Offiziere riefen’s einmütig.
Sie aber hatte nur noch Augen für Swoyschin. Sollte sie singen? Seine Lippen bewegten sich nicht, aber seine Augen sagten ja.
Sie that ein paar Griffe auf der Guitarre, dann klang weich und leise, leidenschaftlich anschwellend und wieder müde verhallend, von ihren Lippen ein Lied, das Swoyschin nie früher gehört hatte und auch nie mehr hören sollte, ein Lied, das in ihrem leidenschaftlichen Herzen erwacht war und in ihrem Herzen sterben mußte. Nicht, daß sie es ganz selbständig komponiert hätte, aber jedenfalls hatte sie’s zurecht gemacht. [150] Es war stellenweise keck, banal und einschmeichelnd, wie ein neapolitanischer Gassenhauer, dann wieder tief und geheimnisvoll aufreizend, wie ein Wagnerisches Leitmotiv, dann plötzlich ganz leise in einem magischen mezzo voce kam die seltsame musikalische Phrase mit der chromatischen Figur. Diesmal begleitete sie die Phrase mit Worten:
„Un quarto d’oro potrei mi amar!“
Der Sonnenuntergang war verglommen. Wie ein finsterer Wall türmten sich die Gewitterwolken an der Stelle, wo das Gestirn versunken war. Um die Ufer des Weihers, dort, wo die Wasserlilien aufhörten, zog sich ein breiter Silberrand. Der Silberrand wurde schmäler, die weißen Blüten des Faulbaums wurden grau unter den langsam herabsinkenden Schleiern der Dämmerung.
Ein letztes Mal hinsterbend, halb erstickt, zitterte, schmachtete es in den Faulbaumduft hinein, den süßen Duft, in den sich eine heimliche Unlauterkeit mischt.
„Un quarto d’oro potrei mi amar!“ dann war alles still.
Es blieb auch still, der Beifall regte sich nicht. Die Kühnsten unter den Zuhörern fühlten sich erschreckt, fast verletzt, wie wohlerzogene Menschen immer, wenn plötzlich ein wilder Naturlaut in die zahme Civilisation hineindringt.
[151] „Meine Herrschaften, Sie werden vermißt. Ich glaube, es ist Zeit, sich zum Souper herzurichten,“ rief jetzt unzufrieden, fast mürrisch der Oberst, der unbemerkt hinzugetreten war.
„Ja, es ist Zeit,“ wiederholte Gina, und ihre Stimme klang plötzlich rauh, hölzern, trotzig und gelangweilt, eine Stimme, der kein Mensch mehr Talent zu sinnbethörenden Liebesliedern zugemutet hätte. Sie rieb sich die Augen, wie um sich aus einer großen Schläfrigkeit wachzurütteln, reichte Swoyschin, der an sie herantrat, die Guitarre und ging, gleichgültig von alltäglichen Dingen redend, an der Seite des Obersten auf das Gasthaus zu, in dem für die Damen Zimmer vorbereitet worden waren, damit sie sich für das Souper und den darauf folgen sollenden Tanz entsprechend umkleiden könnten.
Der Oberst fing an, sich zu fragen, ob sie mit dem letzten Lied wirklich ein Stück ihres innersten Empfindens rücksichtslos preisgegeben oder ob sie ihre Zuhörer einfach zum besten gehabt habe.
Die Damen erschienen vollzählig beim Souper: die, die sich aus der Nachbarschaft eingefunden hatten, und die Damen des Regiments. Eine nach der andern fanden sie sich ein, in dem langen, offenbar aus zwei Zimmern zusammengestückelten Raum, in dem ein [152] Klavier stand, und der an den Speisesaal stieß. Sie sahen alle hübsch und belebt aus, als ob sie sich auf einen vergnügten Abend gefaßt machten. Gina Ginori erschien etwas später als die andern, in einem frischen, weißen Kleid und mit einem Kranz auf dem Kopfe. Es war nicht mehr derselbe Kranz, den sie draußen bei dem Weiher getragen hatte, nicht ausschließlich aus Faulbaumzweigen zusammengefügt, nein, alles, was der Frühling zum Schmuck der Erde darbringt, mischte sich hinein, Maiglöckchen, Anemonen und ein paar goldenen Himmelsschlüsselchen, und das duftete, duftete.
Die Komtessen, die nicht daran gedacht hatten, sich auf ähnliche Weise zu schmücken, fanden, daß es eine Pose sei, mit solch phantastischem Kopfputz bei einer so anspruchslosen Gelegenheit zu erscheinen. Aber das war Ansichtssache.
Kurz nach Ginas Erscheinen setzte man sich zu Tisch.
Der Speisesaal war das letzte Überbleibsel der vergangenen Glanzperiode von Monbijou: ein mit verblaßten Fresken geschmückter Raum, von dessen hoher Kuppel ein aus geschliffenen Glastropfen zusammengefügter venetianischer Kronleuchter herabhing. Im Hintergrund befanden sich drei tiefe Nischen, in die große, alte Spiegel eingelassen waren, an der gegenüberliegenden Wandseite drei Glasthüren, die [153] in den Park hinausführten. Spiegel und Glasthüren waren von geschnitzter Eichenvertäfelung umrahmt.
Nicht ohne Staunen betrachteten die eintretenden Offiziere den Saal als etwas ganz Neues, ihnen Unbekanntes. Was war es denn, das ihn heute zu so märchenhaft vornehmer Geltung brachte? Anstatt der Petroleumwandlampen, die sonst rücksichtslos die Fresken verunstalteten, ging die Beleuchtung von dem Kronleuchter aus, der mit zahllosen Wachslichtern besteckt war; das aber war nicht das einzig Merkwürdige.
Geradezu überraschend wirkte auf die Herren der Anblick der in Hufeisenform gedeckten Tafel.
Großer Luxus wird bei österreichischen Offiziersfesten nicht getrieben. Die Vornehmsten im Offizierscorps waren es gewöhnt, die Tische bei diesen Gelegenheiten mit derbem Linnen, mit schwerfälligem weißen Porzellan und mit eisernen Bestecken in schwarzen Holzgriffen besetzt zu sehen. Und gegen das alles hatten auch die Geschmackvollsten unter ihnen nie etwas einzuwenden gehabt. Diese altgewohnte Schlichtheit heimelte sie an. Eigentlich konnten sie sich ein Fest bei einem in einem kleinen Landstädtchen garnisonierenden Kavallerieoffizierscorps nicht recht vorstellen ohne eiserne Bestecke mit schwarzen Holzgriffen. Was aber jeder von ihnen stets gern hätte missen mögen, das waren die Golddrahtkörbe voll [154] verstaubter künstlicher Blumen, mit denen der Wirt bei festlichen Gelegenheiten die Tafeln zu verunstalten liebte. Dennoch hatte noch keiner daran gedacht, diese Körbe zu beseitigen. Erstens wollte man den Wirt nicht kränken, und dann war man zu faul, es war nicht wichtig.
Diesmal aber waren die Körbe verschwunden, und statt ihrer dufteten frische Frühlingsblumen aus Krügen und Vasen. Wie es sich herausstellte, hatte Gina Ginori das so hergerichtet.
Der Oberst war der Einzige, dem dieser Umstand die Freude an dem Tafelschmuck verdarb; er war schlechter Laune, der Oberst, und sah danach aus.
Er hatte die Gräfin Zell zu Tisch geführt, zu seiner Linken saß die Gräfin Ronitz. Die Gräfin Zell lobte alles, fand den Speisesaal süperb, das Souper magnifique, wunderte sich darüber, daß man im stande war, eine so famose Bewirtung in Breznitz herzustellen, und gratulierte dem Obersten zu der Liebenswürdigkeit seines Offizierscorps.
Die Gräfin Ronitz klagte darüber, daß sie sich an der Zähigkeit des Filets fast einen Zahn ausgebrochen hätte, und unterzog die ganze Veranstaltung den kritischen Betrachtungen; besonders die eisernen Bestecke waren gar nicht nach ihrem Geschmack.
Der Oberst ersuchte sie höflichst, sich, wenn sie dem Offizierscorps wieder einmal die Ehre geben [155] würde, ihre eigenen Bestecke mitzubringen oder vorauszuschicken. Momentan hatte er sich wahrlich über etwas andres zu ärgern als über eiserne Bestecke.
Mit großer Vorsicht hatte er die Tafelordnung so eingerichtet, daß Swoyschin möglichst weit von Gina Ginori zu sitzen kommen sollte. Aber, l’homme propose – femme dispose! Beim Niedersetzen war eine Konfusion entstanden, und das Ende davon war gewesen, daß die Ginori doch neben Swoyschin zu sitzen kam.
Der Oberst war nicht der Einzige, der beobachtende Blicke auf die beiden warf. Sie aßen beängstigend wenig und plauderten sehr viel, das heißt, sie plauderte, er hörte zu, und es war zu merken, daß es ihr gelungen war, in seinem Innern Saiten zu berühren, die noch nie berührt worden waren, die noch nie geklungen hatten.
Der Oberst wendete den Kopf ab, wozu sich abquälen mit Dingen, die nicht zu ändern waren. „Arme Annie!“
Ja fürwahr, arme Annie!
Die drei auf den Park hinausmündenden Thüren des ebenerdigen Saales standen offen. Die Musikanten spielten draußen beim Licht ihrer kleinen Lämpchen, die sie auf einen weiß lackierten Tisch unter einen von hochragenden Blütendolden ganz bedeckten Kastanienbaum hingestellt hatten. Wie sie spielten! Der Atem des Frühlings trug die Töne in den Saal herein, die ganze Musik duftete nach Frühling.
[156] Der Champagner perlte in den Gläsern; in den Spiegeln, die an den Wänden hingen, wiederholte sich das Bild. Die vielen hellblauen Uniformen, dazwischen die jungen Mädchen mit vor Lebensfreudigkeit funkelnden Augen.
Die Musikanten spielten weiter, weiter … Die Gläser klirrten aneinander, leises Mädchenlachen girrte dazwischen, und der Frühling duftete.
Als endlich die Tafel aufgehoben war, schob man die Tische in das Nebenzimmer und fing an zu tanzen. Man tanzte wie verrückt, alles tanzte, selbst die Gräfin Ronitz tanzte, freilich nur einmal, herum, dann sank sie atemlos zwischen zwei Lieutenants zusammen, vor denen sie sich in heftigen Klagen ausließ über die Schäden des Parketts.
Gina Ginori hatte sich erst ausschließen wollen vom Tanz. Aber bald schwebte sie mit den andern unter dem leise klirrenden Kronleuchter dahin. Ihre Art zu tanzen, war seltsam. Sie tanzte vorzüglich. Mit denen, die ihr gleichgültig waren, tanzte sie leicht wie eine Feder, den Oberkörper stark zurückgebogen, fast wie in einer Art Abwehr.
Von Swoyschin ließ sie sich geradezu tragen. Sie hielt das Köpfchen zur Seite geneigt und die Augen fest geschlossen. In wonnige Träume versunken, überließ sie sich ganz seiner Führung. Er war sonst kein eifriger Tänzer. Diesmal aber ruhte er keinen Augenblick [157] Er tanzte mit allen, unermüdlich, damit es nicht auffallen möge, wie oft er mit Gina Ginori tanzte.
Endlich kam der Kotillon, den tanzte er natürlich mir ihr.
Es war schwül geworden in dem Saal. Der Rittmeister von Fink, der den Kotillon führte, lockte die Gesellschaft gleich nach der ersten Tour in den Park hinaus. Der Mond stand voll am Himmel und goß sein Licht über den alten, verwilderten Park, über die hochragenden Blütenkerzen der Kastanien, über die silberigen, grün umschleierten Birken, über die schwarzen Tannen und die großen, glasigen Teiche, in deren dunklen Flächen sich der Zauber der Landschaft widerspiegelte.
Der Frühling duftete, und die Musikanten spielten weiter, weiter. Sie spielten wie im Traum, mit starren, nach innen blickenden Augen. Sie waren die einzigen Schläfrigen unter den Anwesenden. In allen andern pochte eine wilde, sinnverwirrende, nach Leben dürstende Freudenlust.
Ein leiser, schwüler Lufthauch regte sich, das junge Laub koste und flüsterte, dazwischen mischte sich ein scharfer Laut, das Knistern der dürren Blätter, die an den Eichen vom Vorjahre noch hängen geblieben waren.
[3] Emma Ginori lag in Zdibitz in ihrem Bett, ein kühlendes nasses Tuch um die Stirne. Heute morgen gleich beim Aufwachen hatte sie es gemerkt, daß ihr eine Migräne drohe. Dennoch war sie aufgestanden, hatte sich bemüht, mit Hilfe von großen Dosen Antipyrin das Leiden zu bekämpfen, es zum wenigsten für einen Tag hinauszuschieben.
Gina wollte sie ohne ihren bevormundenden Schutz das Fest in Monbijou nicht besuchen lassen, ihr die Freude zu verderben, widerstrebte ihr ebenfalls; denn sie liebte Gina zärtlich und war stolz auf ihre Schönheit und Begabung, wenn auch mancherlei in ihrem Wesen sie beunruhigte und bereits viele Verwickelungen in ihr Leben hineingebracht hatte. Gottlob, seit einiger Zeit ging es ruhiger zu, und vielleicht, wenn man’s recht geschickt anfing, steuerte man jetzt einer günstigen Wendung der Dinge entgegen.
Es galt, vorsichtig zu sein, sie mußte trachten, [4] sich heute auf das Fest zu schleppen. Im Laufe des Vormittags fühlte sie eine leichte Besserung; gegen zwölf Uhr aber stellte sich das Leiden mit verdoppelter Gewalt ein, so daß sie den Kampf aufgeben mußte. Vollständig von ihrer Migräne besiegt, taumelte sie auf ihr Bett nieder, ohne daß ihr irgend ein andres Bewußtsein übrig geblieben wäre, als das ihrer Schmerzen.
Es war eine gräßliche Migräne diesmal, eine von jenen Migränen, die einem langsam alle Glieder lähmend den Rücken hinaufschleicht und sich triumphierend mit den tückischten Martern im Kopf festnistet, so daß dieser sich nicht anders fühlt, als ein riesiger hohler Zahn, in dem tausend Kobolde mit glühenden Eisen herumstechen, ein Zustand, in dem jeder Gedanke Wahnsinn, jede Bewegung tödliche Übligkeit zur Folge hat.
Emma Ginori hatte aufgehört, zu denken, und versuchte nicht mehr, sich zu bewegen. Sie lag auf ihrem Bett wie erschlagen und merkte es kaum, wenn die Kammerjungfer das nasse Tuch auf ihrer Stirn wechselte.
Nach und nach verfiel sie in eine Art dumpfen Schlaf, einen Schlaf, der keine Erquickung brachte, sondern in dem ihre Schmerzen deutlich fortfuhren, sie zu peinigen; sie schlief fester, immer fester, aber böse Träume plagten sie. Immer wieder verfolgte [5] sich heute auf das Fest zu schleppen. Im Laufe des Vormittags fühlte sie eine leichte Besserung; gegen zwölf Uhr aber stellte sich das Leiden mit verdoppelter Gewalt ein, so daß sie den Kampf aufgeben mußte. Vollständig von ihrer Migräne besiegt, taumelte sie auf ihr Bett nieder, ohne daß ihr irgend ein andres Bewußtsein übrig geblieben wäre, als das ihrer Schmerzen.
Es war eine gräßliche Migräne diesmal, eine von jenen Migränen, die einem langsam alle Glieder lähmend den Rücken hinaufschleicht und sich triumphierend mit den tückischten Martern im Kopf festnistet, so daß dieser sich nicht anders fühlt, als ein riesiger hohler Zahn, in dem tausend Kobolde mit glühenden Eisen herumstechen, ein Zustand, in dem jeder Gedanke Wahnsinn, jede Bewegung tödliche Übligkeit zur Folge hat.
Emma Ginori hatte aufgehört, zu denken, und versuchte nicht mehr, sich zu bewegen. Sie lag auf ihrem Bett wie erschlagen und merkte es kaum, wenn die Kammerjungfer das nasse Tuch auf ihrer Stirn wechselte.
Nach und nach verfiel sie in eine Art dumpfen Schlaf, einen Schlaf, der keine Erquickung brachte, sondern in dem ihre Schmerzen deutlich fortfuhren, sie zu peinigen; sie schlief fester, immer fester, aber böse Träume plagten sie. Immer wieder verfolgte [6] sie das Gefühl, daß sie etwas verloren habe und es suchen müsse, das Gefühl, daß sie versprochen hatte, irgendwo pünktlich anzukommen, wo sie nicht mehr ankommen konnte, und dabei eilte etwas Schwarzes, Undeutliches vor ihr hin, und etwas schwül Atmendes, Unheimliches jagte hinter ihr drein, und sie hatte die Glieder wie zerbrochen und konnte nicht vom Fleck.
Plötzlich erwachte sie. Das scharfe Rollen eines Wagens, der in die Durchfahrt des Schlosses einmündete, hatte sie aufgeschreckt.
Sie setzte sich halb auf in ihrem Bett. Ein heller Mondstrahl, der durch die Jalousieen ihres Fensters brach, malte weißliche Striche auf dem dunklen Fußboden. Müde legte sie die Hand auf die Stirn und wollte nachdenken. Was war denn eigentlich geschehen?
Ja, Gina hatte zu dem Tennismatch fahren wollen nach Monbijou, und sie, Emma, hatte mitfahren wollen, und dann, wie die Kopfschmerzen ärger geworden waren, dann hatte ihr Gina versprechen sollen, daß sie das Fest nicht besuchen würde … Hatte Gina versprochen? … Emma konnte sich nicht entsinnen, von Mittag ab erinnerte sie sich an nichts mehr, als an den heftigen Schmerz, der mit einer verworrenen Angst verbunden war.
Was bedeutete der Wagen mitten in der Nacht? War die Tante nach Breznitz gefahren, hatte Gina [7] sie mitgenommen? Oder hatte jemand den Arzt gebraucht?
Emma langte nach dem Knopf der elektrischen Klingel und drückte darauf.
Die Kammerjungfer erschien.
„Was wünscht die Komtesse, ist Komtesse besser?“ fragte die Zofe.
Aber Emma antwortete gar nicht auf die Frage in betreff ihres Befindens.
„Wen hat der Wagen gebracht?“
„Die Herrschaften sind aus Breznitz zurückgekommen.“
„Ah!“ Emma runzelte die Stirn. „Wollen Sie meiner Schwester melden, ich lasse sie bitten, sich sofort zu mir zu bemühen.“
„Die Komtesse Gina ist nicht mitgekommen, die Komtesse Gina ist in Monbijou geblieben.“
„Meine Schwester in Monbijou geblieben? Ohne meine Tante! Haben Sie den Verstand verloren?“
„Ich habe gar nichts verloren,“ erwiderte empfindlich die Zofe, „ich weiß nur, daß Komtesse Gina nicht mit der Frau Gräfin und dem Herrn Grafen zurückgekommen ist.“
Emma blieb starr. „Wollen Sie also meiner Tante sagen, ich ließe sie bitten, sich zu mir zu bemühen, ich ließe sie dringend bitten,“ rief sie hastig.
Als um weniges später die Gräfin Zell zu ihr [8] trat, saß Emma bereits halb angekleidet auf ihrem Bett, offenbar eine heftige Übligkeit bekämpfend.
„Na, wie geht’s dir denn, meine Alte, ein wenig besser?“ fragte die Gräfin, indem sie etwas aufgeregt, in dem Bewußtsein einer ihr drohenden Strafpredigt, auf die Nichte zutrippelte.
„Wo ist Gina?“ fragte Emma, die indessen fortfuhr, sich anzukleiden.
„Gina … ach Gina! … Aber was fällt dir denn ein, aufzustehen! Es ist elf Uhr in der Nacht, wir haben bereits in Monbijou soupiert, wir setzen uns nicht mehr zu Tisch,“ schwätzte die alte Gräfin. „Ich denke, das beste ist, du hungerst dich aus. Aber wenn du wirklich Appetit hast, so könnte man dir vielleicht etwas auf dein Zimmer …“
„Tante! Um Gottes willen, wo ist Gina?“ schrie jetzt Emma Ginori ganz außer sich.
„Gina? – Nun, Gina ist noch in Monbijou geblieben, sie befindet sich sehr wohl,“ erklärte die alte Gräfin, in der sich eine gelinde Opposition gegen die Nichte zu regen begann. Es war doch wirklich zu lächerlich, dieses ewige Gethue mit Gina und ihrer Gesundheit, diese ewige, die jüngere Schwester an aller Freiheit hindernde Bevormundung. „Sie wollte noch nicht nach Hause, und da die Märzfeld mir versprach, sie zu chaperonnieren und nach Zdibitz zurückzubringen, so ließ ich sie dort. Ich war schläfrig, [9] mein Mann auch; in unserm Alter ist es eine Zumutung, wegen so einem Tanzerl bis zum Morgengrauen aufzubleiben. Aber bei der Gina ist es was andres … sie hat einen succès … die Herren sind wie verrückt, besonders der junge Swoyschin! Es wäre eine ganz passende Partie für Gina. Es war sehr hübsch, sehr nett, ganz nette Leute, die Offiziere, und die Märzfeld ist auch gar nicht so arg, wenn man sie näher kennen lernt. Nur ein bißl geziert. Anfangs machte ich mir Skrupel, ihr die Gina anzuvertrauen. Ich konnte das doch nicht thun, ohne sie aufzufordern, uns zu besuchen! Aber schau, daß du dich wieder niederlegst, die Gina kommt vor sechs Uhr früh nicht nach Hause, die Nacht ist zauberisch, sie tanzen im Freien, es ist Vollmond heute.“
„Vollmond!“ wiederholte Emma.
Sie trat an das Fenster, rieß es weit auf und blickte hinaus. Der Mond stand hoch am Himmel, sein Licht fiel auf die bleichen Leichensteine und schwarzen Kreuze des Kirchhofs, der unten am Fuß des Parks aus der Wiese emporragte.
Die Gräfin Zell wendete sich zum Gehen, an der Thür holte Emma sie ein und faßte sie beim Handgelenk. Die Gräfin sah auf und erschrak vor dem Gesicht ihrer Nichte. Ein solches Entsetzen stand auf den Zügen des sonst ruhigen Mädchens zu lesen.
[10] „Sie darf nicht länger dort bleiben, sie muß nach Hause!“
„Bist du verrückt? Gina ist ganz gut aufgehoben, schau, daß du dich niederlegst!“ Mit diesen Worten und einem verdrießlichen Gesichtsausdruck verließ die Gräfin das Zimmer.
Einen Augenblick stand Emma wie angewurzelt, sich beide Hände an die von den vielen Umschlägen noch nassen Schläfen haltend. Durch die stille Sommernacht hörte man die dröhnenden Schläge der Turmuhr … elf … dann eine Pause, noch ein Schlag. Ein Viertel auf Zwölf! Es ist zu spät … zu spät … aber wer weiß, vielleicht!
Ohne weiter zu überlegen, eilte sie aus ihrem Zimmer, dann die Treppe hinab.
Zehn Minuten später rollte der Wagen den Schloßberg hinunter. „Was ist denn das, wer fährt da?“ fragte die alte Gräfin Zell die Kammerjungfer, die ihr beim Auskleiden behilflich war.
Die Kammerjungfer trat ans Fenster. „Ich bitte, gräfliche Gnaden, es ist der Alois, er hat den Landauer eingespannt, die Pferde laufen, als säße der Teufel auf dem Bock!“
„Na, da sitzt gewiß die tolle Emma in dem Wagen,“ dachte die Gräfin, und dann setzte sie noch hinzu: „Es heißt immer, Gina ist überspannt! Ja wahrhaftig, die Verrücktere von beiden ist Emma! [11] Nein, wie die Pferde rasen, und noch obendrein den Berg hinab! Wenn nur mein Mann nichts davon erfährt!“
Ja, die Pferde rasten, als säße der Teufel auf dem Bock. Über die im hellen Mondlicht grell weiß schimmernden Wände an der einen Seite der stillen Straße in dem schlafenden Städtchen glitt der Schatten der Pferde und des großen dunklen Wagengehäuses in rasch hinhuschenden schwarzen Umrissen.
Der Wagen war geschlossen. Angstvoll strebten die Blicke Emma Ginoris aus dem Fenster hinaus. Neben der Straße zogen sich die flachen, grünen Felder, auf denen sich die Schatten der Obstbäume abzeichnete.
Vorwärts eilte der Wagen an einer Mariensäule vorbei, die weiß zwischen schwarzen Linden aufleuchtete, dann hinein in die endlosen Breznitzer Wälder.
Wieder schlägt eine Turmuhr … drei Viertel auf Zwölf!
„Gott im Himmel! … es ist zu spät!“
In Monbijou tanzt man noch immer, alles tanzt, niemand denkt an Müdigkeit, niemand denkt an irgend etwas. Man tanzt, man genießt, man lebt. Man hört den Donner nicht, der in der Ferne grollt, man hört nur die süße Musik.
[12] Er ging gerade auf den Faulbaum zu, unter dem er sie heute schon einmal gesehen. Unheimlich bleich hob er sich ab gegen die dichter und dichter am Himmel aufsteigenden, schiefergrauen Gewitterwolken. Mit zerstückelten, verzerrten Umrissen breitete sich sein Spiegelbild über die dunkle Oberfläche des Teiches, der im Sturm Wellen trieb.
Ja, sie waren dort … beide … Swoyschin und sie.
Das, was der Oberst gefürchtet hatte, war gekommen, Swoyschin hatte gänzlich den Kopf verloren.
Er hielt ihre Hände in den seinen und sprach innig in sie hinein. Jetzt zog er sie an seine Brust. Ihr Kopf sank auf seine Schulter, ihre beiden Arme schlangen sich um seinen Hals.
Plötzlich, durch das Schauern und Seufzen des Laubes, hörte man zwölf dröhnende Schläge. Mitternacht! Und da ereignete sich etwas ganz Unglaubliches … Der Oberst traute seinen Augen kaum: Swoyschin, der zartfühlende, gutmütige Swoyschin, riß mit einer heftigen, geradezu rohen Bewegung die Arme von seinem Hals herunter und stieß das Mädchen von sich.
Sie ging ein paar Schritte rücklings, mit weit vorgestreckten, leidenschaftlich verlangenden Armen. Ihr Gesicht konnte der Oberst nicht wahrnehmen, da sie mit dem Rücken gegen ihn stand. Er sah nur [13] das Gesicht des jungen Mannes, er sah, daß dieses Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verstört war, und sah, daß Swoyschin, der schneidigste Offizier im Regiment, am ganzen Körper zitterte.
Dann, ehe der Oberst wußte, wie es geschah, mit einer Behendigkeit, die man der ruhigen Emma gar nicht zugemutet hätte, sprang diese auf die Schwester los, schlang ihr den weißen Rock ihres Kleides über den Kopf, nahm sie in ihre Arme und verschwand mit ihr.
Der Oberst war mit seinem Adjutanten allein.
„Swoyschin!“ rief der Oberst, und eine unverhüllte Verachtung sprach aus der Art, wie er das Wort betonte.
„Herr Oberst! … jetzt nicht, Herr Oberst!“ murmelte er tonlos. „Ein andermal werd’ ich mit Ihnen darüber reden, aber jetzt …“
„Was ist da noch zu reden!“ fuhr der Oberst ihn an. „Wenn das Pflichtgefühl sich so spät einstellt, so muß es einer neueren, dringenderen Pflicht weichen. Nachdem Sie so weit gegangen sind, bleibt Ihnen doch nichts übrig, als das Mädchen zu heiraten!“
Zdenko richtete sich aus seiner in sich versunkenen Haltung auf. Sein Gesicht wurde noch fahler, aber in seine Augen trat ein wilder, drohender Ausdruck. „Heiraten, die …“ sagte er langsam, „nun, ich kann Ihnen nur das eine versichern, Herr Oberst, [14] lieber als Gina Ginori zu heiraten, erschieß’ ich mich auf der Stelle!“
Ein roter Blitz durchzuckte den Park. Darauf folgte ein lauter, polternder Donnerschlag. Große Tropfen, in die sich Hagelkörner mischten, prasselten nieder, stärker, immer stärker. Die Eisstücke flogen den beiden Männern um die Ohren. Dem Obersten verging Hören und Sehen, so daß ihm keine Zeit mehr blieb, sich mit dem sonderbaren Gina-Ginori-Problem abzugeben. Er strebte auf die Waldherberge zu, wo jetzt in- und auswendig ein großer Wirrwarr tobte. Die Damen hatten sich alle vor dem Unwetter unter Dach gerettet, nahmen sich vor, das Ärgste abzuwarten und dann schleunigst nach Hause zu fahren. Einige der Wagen rollten voreilig vor das Portal; Kutscher und Diener in steifen Kautschukmänteln, von deren Kragen das Wasser herunterrieselte, sahen sich nach den Herrschaften um, wurden zurückgewinkt, kreuzten sich mit andern, ebenfalls voreiligen Kutschern.
Der dicke Major schlug einen Glühwein vor, um die Damen zur Reise zu stärken und zu erwärmen.
Die Komtessen lachten und klatschten in die Hände, Frau von Märzfeld lächelte wohlerzogen und war bei allem dabei.
„Wo ist Gina Ginori?“ fragte sie plötzlich. Aber kein Mensch konnte ihr etwas darüber sagen. [15] Ringsherum krümmten sich die Mundwinkel spöttisch, und die Augen richteten sich nach dem Plafond. Frau Märzfeld wurde immer besorgter. Die Gräfin Zell hatte ihr Gina anvertraut, sie mußte Gina zurückbringen.
Gina war nicht zu finden. Aber plötzlich erschien Emma, ganz von Regen übergossen. „Einen Mantel, irgend etwas Warmes für meine Schwester,“ bat sie.
Bärenburg nahm den Offizierspaletot, den er sich umgehängt hatte, um eine Dame hinauszugeleiten, von seinen Schultern und legte ihr ihn um. Er wollte noch etwas suchen für Gina, aber kaum daß er sich weggewendet hatte, war Emma fort.