Literaturbriefe an eine Dame/XVII
Unter den literarischen Erzeugnissen, die sich in Ihr einsames Schloß verlieren, verehrte Freundin, werden Sie auch viele dichterische Uebersetzungen finden. Diese Aneignung des Fremden ist nicht ein Zeichen der Ohnmacht des deutschen Geistes, sondern der glänzenden Vielseitigkeit, mit welcher er die poetischen Stimmen der Völker dem Chore der nationalen Sänger einreiht. Freilich, ein Ueberwuchern des Fremden würde die Selbstständigkeit deutscher Dichtung gefährden, eine Gefahr, die für unsere Bühne ohne Frage bereits vorhanden ist. Unsere Theaterdirectionen wallfahren nach Paris wie die frommen Genossen des Grafen Stolberg nach der heiligen Grotte von Lourdes und bezahlen wie die kostbarste Reliquie, mit Summen, welche für deutsche Dramatiker märchenhaft klingen, irgend ein Stück Holz von dem Kreuze, an welches der jüngere Alexander Dumas seine dramatischen Märtyrerinnen nagelt, oder irgend ein Schweißtuch, in welches die Leichen seiner demi-monde-Damen eingehüllt sind.
Doch ich spreche nur von poetischen Uebersetzungen. Und wie hat durch diese Kunst der Aneignung fremdländischer Dichtung unsere deutsche Sprache selbst an Reichthum und Biegsamkeit gewonnen! Der wackere Voß spannte vor ihren Siegeswagen das Sechsgespann des homerischen Hexameters und tummelte es mit Lust, daß die Funken stoben. Johann Heinrich Voß brachte uns die plauderhaften Makamen, die Gaselen des Ostens mit den wiederkehrenden Reimen, in deren Netz sich sinnige Gedanken flochten; die ottave rime der italienischen Epiker fanden in Gries ihren Meister, die Trochäen des spanischen Dramas in West; unsere Balladen- und Liederdichter eigneten uns die Volkspoesie aller Zeiten an, und aus überströmendem Füllhorne wurden die Blumen der Weltlyrik auf unserem Parnaß ausgeschüttet.
Wir haben in jüngster Zeit poetische Uebersetzer von seltenem Tacte und Talente aufzuweisen. Sie lieben, verehrte Freundin, mit Recht die Gildemeister’sche Uebersetzung der Byron’schen Dichtungen. Wie trefflich sind die Aneignungen der skandinavischen Muse, die uns Oscar von Leinburg gegeben hat, und mit welcher Kunst hat Bodenstedt russische Dichter, besonders Puschkin, den slavischen Lord Byron, übersetzt und dem oft kunterbunten Schwulst der Diction, der in den altenglischen Dramen herrscht, eine gefällige und maßvolle Form gegeben!
Mit jenem deutschen Dichter, den sie vor kurzem in Cannstatt begruben, ist auch ein Meister deutscher Uebersetzungskunst zu Grabe getragen worden. Ferdinand Freiligrath’s Schriften bestehen zur Hälfte aus dichterischen Uebersetzungen, und den französischen und englischen Originalen, die der junge Kaufmann auf seinem Comptoir las, verdankt seine Muse bei aller Eigenart doch viel von ihrem fremdartigen und glänzenden Colorit. Die Dichter der Seeschule, Walter Scott, dessen Dichtungen im schottischen Nationalcostüm, gleichsam mit dem bunten Plaid der Hochlandssöhne geschmückt, einherschreiten, vor Allen aber Victor Hugo und die Sangesgenossen der französischen Romantik mit dem mächtigen Pomp ihrer glühenden Phantasie waren zugleich Vorbilder für die eigenen Dichtungen des Detmolder Sängers, wie er sie auch in höchst formgewandten Uebersetzungen nachbildete.
Ich weiß nicht, verehrte Freundin, ob Sie einmal von den englischen Dichtern der Seeschule gehört haben. Sie sind in England selbst fast verschollen, und obgleich viele, wie z. B. Southey, die umfangreichsten Dichtungen geschaffen haben, so fristen sie ihr Leben jetzt nur noch in den Anthologien, in welchen einzelne kleine Gedichte von ihnen aufgenommen sind. Der junge Titane Lord Byron wälzte seine poetischen Berge über diese friedlichen Seen, in denen die Dichter von Westmoreland sich mit selbstgefälliger Eitelkeit spiegelten; er war ein fanatischer Gegner dieser Poesie, welcher die wilde Originalität seines Genius fehlte, und verfolgte die Southey, die Wordsworth mit unermüdlichem Spott. Sie rächten sich dafür, indem sie ihn als den Meister einer satanischen Schule hinstellten, doch diese Schule rückte lange Zeit die „Seedichter“ in tiefen Schatten. Gleichwohl muß erwähnt werden, daß der Lieblingsdichter des neuen England, Alfred Tennyson, wie er als poëta laureatus des englischen Hofes ein Nachfolger von Southey ist, so auch die poetischen Wurzeln seiner Kraft in denselben geistigen Boden schlägt, in welchem die Dichter der Seeschule wurzelten, daß er durchaus ein geistiger Abkömmling derselben ist und mit den satanischen Genies wie Byron und Shelley nicht das Geringste gemein hat.
Freiligrath hat mit Vorliebe Gedichte dieser Sänger übersetzt, deren fremdländische Färbung seinen Neigungen entsprach, darunter auch mehrere Gedichte von Coleridge, der selbst wieder als Uebersetzer des Schiller’schen „Wallenstein“ sich um die Vermittlung deutscher und englischer Literatur große Verdienste erworben hat. Coleridge hat eine Phantasie, welche das Furchtbare und Abenteuerliche bevorzugt, die unheimlichen grellen Lichter, welche in’s Menschenleben fallen, das Wogen und Weben einer Geisterwelt, die mit unsichtbaren Händen in das Menschenleben eingreift. Dafür spricht vor Allem der von Freiligrath mit Meisterschaft übersetzte Romanzencyklus: „Der alte Matrose“, der wie von geisterhaftem Polarlicht beleuchtete Marinebilder enthält. In diesem Cyklus ist Sage und Legende zu einem oft schwer entwirrbaren Knäuel geschürzt; die ganze Dichtung blickt uns wie mit hohlen Geisteraugen an. Der alte Matrose hat auf der Fahrt nach dem Südpol einen großen Vogel, den Albatroß, welcher den Schiffern große Vorbedeutung brachte, getödtet, unter der Zustimmung der Seeleute. Dafür werden diese furchtbar gestraft, sinken verdürstend auf das Deck des Schiffes und mitten unter den Todten bleibt der alte Matrose der einzig Ueberlebende. Der Tod und die Nachtmahr, die auf einem Gespensterschiff heranschwammen, haben um sein Leben gewürfelt und alle Anderen dem Tode geweiht. Die weiteren Erlebnisse des Matrosen auf dem mit Leichen gefüllten Schiff, seine Heimfahrt, seine Entsühnung, bei welcher eine ganze Schaar von Geistern jeder Art mobil gemacht und das gespenstige Licht hier und dort von einem ambrosischen abgelöst wird: das alles zieht an uns vorüber wie die Bilder einer Zauberlaterne, schattenhaft, und doch in buntes Licht getaucht, ein Stern phantastischer Gestalten, welche oft in sinnvoller Deutung nicht einmal Rede stehen, aber in ihrem Vorüberwogen unsere Einbildungskraft in gespenstige Träume wiegen.
Dieser Dichtung von Coleridge hat sich der geniale Zeichner Gustav Doré als einer willkommenen Beute für die geisterhaften Polypenarme seiner weitausgreifenden Phantasie bemächtigt, und das Prachtwerk dieser Zeichnungen, mit dem Text von Freiligrath-Coleridge ausgestattet, ist auch von einer deutschen Verlagsbuchhandlung, derjenigen von Amelang, herausgegeben worden.
Sie kennen, verehrte Freundin, Gustav Doré’s Zeichnungen, namentlich diejenigen der Dante’schen Hölle; seine Phantasie neigt sich zu dem großartig Gespenstigen, zu dem unheimlich Abenteuerlichen; seine Zeichnung ist meisterhaft in dem verschwimmend Schattenhaften, und er weiß uns mit dem Griffel in jene Stimmungen zu versetzen, in denen der Seele das Unerhörte glaubhaft erscheinen möchte. Er verzaubert gleichsam die Natur; das Natürliche wird phantastisch und abenteuerlich in seinen Zeichnungen. Er erinnert an Amadeus Hoffmann, bei dem zuletzt die Theekannen, die Actenbündel, die Thürklinken fratzenhafte Gesichter schneiden, wie unter dem Einfluß phantastischer Verzauberung. Aehnlich wirkt der Griffel des Zeichners der „Hölle“, des „Don Quixote“, des „Pantagruel“, des „Ewigen Juden“ und anderer absonderlicher, feenhafter und märchenhafter Skizzen.
[864] Sie lieben, verehrte Freundin, das Originelle, auch wenn es bizarr ist. Doré ist ein Romantiker; die deutsche und classische Walpurgisnacht ist die Heimath seiner Phantasie, aber er ist gewaltig in seinem Schaffen, welches einen großartigen Zug hat, und selbst in den flüchtigsten, bisweilen eilfertigsten Skizzen spricht sich immer sein entschiedenes Talent aus.
Die Dichtung von Coleridge war wie geschaffen für seine Illustrationen; sie ist in einem halb gespenstigen, halb magischen Helldunkel gehalten, welches seinem Talent entgegenkommt; das Grauenhafte darin hat er wohl mit zu großer Vorliebe ausgebeutet, und die Todtenmasken der verschmachteten Seeleute grinsen uns zu oft von dem Bord eines Schiffes entgegen, das wie ein hölzerner Kirchhof mit unverscharrten Leichen erscheint, aber viel des Genialen, kühn Phantastischen entschädigt für diese Vorliebe, und auch den Reiz des Contrastes weiß der Zeichner dem Dichter nachzuempfinden und ihn auf seinem Bilde zu lebendigster Wirkung zu steigern.
So wird Sie, verehrte Freundin, die Introduction, das heitere Brautfest, in welches der finstere Ahasver des Meeres hereingeräth, mit seiner frischen Lebenslust und seinen lieblichen Gestalten freundlich anmuthen, im Gegensatz zu den Schrecken der Polarwelt, welche die folgenden Bilder entrollen, diesen Eisbergen und Seeungeheuern, diesem unter Schnee und Eis fast vergrabenen Schiffe. Namentlich das Schneebild der Polarwelt ist so stimmungsvoll, daß es den stärksten Eindruck nicht verfehlen kann. Unser Künstler hat geniale Einfälle, aber sie sind im Einklang mit der Bedeutung der Dichtung. Ihr Hauptmotiv ist die Tödtung des Albatrosses; denn von dieser kommt der Fluch her, der auf dem Matrosen und dem Schiffe lastet. So bringt Doré in die Mitte des einen Bildes den Vogel und den Pfeil, der dicht daran ist, ihn zu treffen, während das Takelwerk des Schiffes und sein Kiel nur am Rande des Bildes hervorsehen und alles Andere stimmungsvolles Seegemälde ist. Sie sehen, wie ein genialer Zeichner in seiner Weise den gewichtigsten Accent auf einen Vorgang zu legen weiß.
Die Lichtgestalten der Versöhnung, beflügelte Engelsbilder, bringen später einen Abglanz des Dante’schen „Paradieses“ in diese Polarhölle, aber der einsame Wanderer, der durch die Nacht dahinstreift, erinnert uns an das Unvergeßliche im Leben der Menschen; trotz aller Entsühnung verfolgen ihn die Schreckensbilder des Erlebten, und selbst unter den frohen Hochzeitsgästen sucht er Hörer für das Unerhörte zu finden, um sich durch Erzählung und Mittheilung von dem Grauen zu befreien, mit welchem die gespenstigen Bilder sein Inneres heimsuchen.
Sie werden, verehrte Freundin, das Prachtalbum zu den anderen Prachtwerken, in denen sich dichtende und bildende Kunst die Hand reichen, auf Ihren Salontisch legen und wenn Sie dann an stürmischen Wintertagen in das Spiel der donnernden Wogen am Strande blicken, so werden Sie mit erregter Phantasie in den gepeitschten Wellen, die Todtengesichter sehen, die uns aus diesem ewigen Grab der Menschheit entgegengrinsen.
Dann aber denken Sie in Ihrem stillen Boudoir gewiß über den Sinn der unheimlichen Sage nach.
Sind wir nicht Alle wie der alte Matrose, und hat nicht Jeder von uns in seinem Leben einmal einen Albatroß, einen glückverheißenden Vogel, getödtet?
Das ist eine dunkle Kunde, verehrte Freundin. Solche Bilder, von keinem Coleridge besungen, von keinem Doré illustrirt, ruhen tief in unseren Herzen.[1]
- ↑ Den phantastischen, oft fratzenhaften und hie und da mit Zeichenfehlern behafteten Doré’schen Illustrationen gegenüber möchten wir noch ein Prachtwerk empfehlen, das durch seine classische Einfachheit sich vortheilhaft von dem Buche des französischen Künstlers abhebt – Tennyson’s „Enoch Arden“, illustrirt von Paul Thumann. In diesem Album, ist jede einzelne Zeichnung ein kleines Kunstwerk, so meisterhaft in der Linie, in Auffassung und Stimmung und auch von xylographischer Seite so glücklich behandelt, daß man sich immer und immer wieder mit Vergnügen dem Reiz dieser anmuthenden und feingedachten Gestalten hingiebt. Bei aller Anerkennung Doré’scher Phantasie, die nur durch die vortrefflichen Leistungen seiner Xylographen noch übertroffen wird, dürften ruhige Beurtheiler auch der liebenswürdigen Gabe des deutschen Meisters ihre vollste Sympathie entgegenbringen.D. Red.