Die Gartenlaube (1880)/Heft 12
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No. 12. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Während sie die mit alterthümlichen Waffen geschmückte Treppe langsam hinanstiegen, erzählte Lora mittheilungsbedürftig, daß sie beim Eintreffen der telegraphischen Abberufung aus der Pension der Meinung gewesen, man wolle ihr für den Rest des Carnevals noch die irdische Glückseligkeit eines Balles, oder gar mehrerer, bereiten, wie denn auch die ihr zur Begleitung mitgegebene Musiklehrerin sie während der kurzen Reise in diesen Hoffnungen bestärkt habe. Die Enttäuschung sei dann freilich eine sehr harte gewesen, als sie am vergangenen Abend bei ihrer Ankunft statt der Festvorbereitungen nur finstere, vergrämte Gesichter angetroffen, die eher eine Leichenfeierlichkeit zu verheißen schienen als Ballfreuden. Bei all dem, was sie später erfuhr, war doch ein Lichtgedanke vorherrschend geblieben, der dem kindlichen Gemüthe über alle Traurigkeit hinweghalf: die Gewißheit, nicht mehr in das Bauer zurückkehren zu müssen, aus dem das nach der Freiheit so sehnsüchtig ausblickende Vöglein jubelnd ausgeflogen. Mochte auch das Vermögen verloren sein, es regte sich fast etwas wie Schadenfreude darüber in dem kleinen Herzen, daß nun die Pension in dem theuren Institut nicht mehr weiter bezahlt werden konnte. Die Welt lag offen vor ihr – endlich, endlich! Was that alles Uebrige zur Sache!
Es war ein himmelweiter Unterschied zwischen dieser Denkweise Lora's und der Stimmung ihrer übrigen Angehörigen. Beim Eintritt in das Wohnzimmer wurde Lisa von Heinrich empfangen; Richard ging, unbekümmert um die Eintretenden, mit langen Schritten in dem düstern, nach der jüngsten Mode mit schwerfälligen gothischen Schnitzmöbeln ausgestatteten Gemache auf und ab, und Frau Hilma saß, steif aufgerichtet, in einem der hochlehnigen Sessel, die sämmtlich mit dem gestickten Ritterwappen derer von Mildner – einem goldenen Mühlrade im blauen Felde – von ihrer eigenen kunstfertigen Hand geschmückt worden waren.
Die magere Gestalt bewegte sich kaum, nur der schmale hohe Kopf neigte sich, Lisa begrüßend, ein wenig. Ihre Brauen waren gleich denen ihres Schwagers unheilvoll gerunzelt, was sie nicht gerade verschönte. Ein Kampf mit scharfen, wohl gar vergifteten Pfeilen mußte stattgehabt haben, und sichtlich nur durch das Aufgehen der Thür war das letzte noch unabgeschossene Wort auf Hilma's vor Aufregung zitternden Lippen gebannt geblieben.
Das ehrliche, breite Gesicht des blonden Recken, der Lisa gegenüberstand, war ungewöhnlich geröthet, und die gutmüthigen Augen des so schwer Betroffenen blickten beinahe furchtsam zu der Schwester hinüber, als ob er fragen wollte:
„Kommst auch Du, um mich zu verdammen?“
Sie aber brauchte nur einen Blick auf die beiden Anderen zu werfen, um zu fühlen, wie Alles, was sie auch auf dem Herzen haben mochte, vor dem Mitleid wich.
„Armer, armer Heinrich!“ sagte sie, ihn voll Innigkeit umarmend, was den großen starken Mann so erschütterte, daß seine breiten Schultern zu zucken anfingen und er plötzlich wie ein Kind in Schluchzen ausbrach. Er brauchte eine Weile, ehe er die Schwester aus seinen Armen ließ.
Eine ganz entgegengesetzte Wirkung hatte Lisa's Ausruf jedoch auf ihre Schwägerin geübt.
„Armer Heinrich, ja, armer Heinrich!“ ließ sich ihre harte schneidende Stimme vernehmen. „Ich denke wohl, daß sich das Mitleid ein Object aussuchen könnte, das dessen würdiger ist. Arm – arm sind andere Leute, die man in eine vergoldete Falle gelockt, um sie dann darin verhungern zu lassen.“
„Nicht ich habe diese anderen Leute gelockt – nicht ich!“ vertheidigte sich Heinrich mit erstickender Stimme.
„Einerlei!“
Der Vorwurf schien auch Richard verdrossen zu haben. Sich gegen die Klägerin wendend, fuhr er mit etwas ungeschlachtem Witze heraus:
„Du hättest eben dem Speckgeruche nicht zu folgen gebraucht. Warst Du doch kein so harmloses Mäuslein mehr.“
„Man merkt Deinen Ausdrücken den Casernen- und Stallduft an,“ gab Frau von Mildner spitz zurück, während ihr Blick Lora, der ein leises, durch kein nachträgliches Husten mehr zu bemäntelndes Kichern entschlüpft war, durchbohren zu wollen schien.
„Ei was, Du spritzest auch nicht mit Eau de Cologne um Dich,“ entgegnete Richard barsch, und wie ein echter Reitersmann, der sich im dichten Handgemenge, ohne von Hieb zu Hieb viel Zeit verstreichen zu lassen, rasch herumwendet und nach allen Seiten um sich haut, kehrte er sich sogleich wieder gegen den Bruder. „Aber wahr ist's, arm sind zunächst andere Leute, die man dazu gemacht hat. Warst Du unfähig, so hättest Du nicht Andere bevormunden, sondern Dir selbst einen Curator setzen sollen. Es ist unverantwortlich, wie Du gehandelt hast! Aber freilich, da hieß es immer 'der leichtsinnige Bursche, der Richard, man muß ihm Zügel anlegen ihn unter dem Daumen behalten und ein Beispiel sollt' er sich nehmen am soliden Heinrich.' Saubere Solidität das, die Andere an den Bettelstab bringt!“ [186] „Frau und Kind!“ warf Richard's frühere Gegnerin, jetzt seine Partei ergreifend, ein. Dafür aber dankte er schlecht.
„Bah! Frau und Kind gehören zu ihm,“ fuhr er, ohne Lisa's Mahnruf zu beachten, im gleichen heftigen Tone fort. „Das ist seine Sache – ob er sich selbst zum Habenichts macht in seiner Eigenschaft als Familienvater, das geht mich im Grunde nichts an, aber seine Geschwister um das Ihrige bringen – pfui! Da sieh das arme Ding an,“ sagte er, auf Lora zeigend, „das mit einer überfeinerten Erziehung, mit allen Ansprüchen an die Welt, jetzt hinaustritt in's Leben, welches für die Arme ein Complex von getäuschten Hoffnungen, Demüthigungen und Elend ist. Verstehst Du, um was Du sie gebracht hast? Um ihr Glück.“
„Nein, Richard!“ fiel Lora eifrig ein. „Ich dulde es nicht, daß Du in meinem Namen Heinrich schiltst. Ich verlange nichts; ich wünsche nichts; ich verzichte auf Alles – es soll nur endlich Ruhe werden.“
Ihr Antlitz hatte sich geröthet, und aus ihren blauen Augen leuchtete ein entschlossener Wille, den man in dem frohmüthigen Geschöpfe gar nicht gesucht hätte. Sie trat nun auch an Heinrich's Seite, der, an der Lippe nagend, ihr einen bittend dankbaren Blick zuwarf, und ergriff, wie zum Zeichen ihres Entschlusses, seine Hand.
„Eben deshalb,“ fuhr Richard fort, ohne sich beirren zu lassen, „eben deshalb, weil Du in kindischer Einfalt nicht weißt, was Du thust, brauchst Du Jemand, der für Dich spricht. Er darf Deinen Verzicht gar nicht annehmen, wenn er sein Gewissen nicht noch mehr belasten will. Gottlob, unsere Erbtheile sind alle verhypothecirt, und für die Jüngste mit pupillarischer Sicherheit; wenn unsere Frau Stiefmama, wie sie eben durch ihren Herrn Rechtsvertreter vermelden ließ, auf Subhastation anträgt, im Falle sie ihre gekündete Hypothek nicht binnen einer Woche ausbezahlt erhält, so läufst Du ihr doch noch mit Deinem vorhergehenden Posten den Rang ab.“
„Aber ich will nicht, ich will nicht,“ rief Lora mit dem Fuße aufstampfend, daß man den Hacken ihres Stiefelchens auf dem Parquet klappen hörte.
„So schenke doch Dein Geld diesem rücksichtslosen, habgierigen Weibe!“ schloß Richard zornig den Streit.
Nun aber trat Lisa unmittelbar an ihn heran; sie legte ihre Hand auf seinen Arm, und unter dem Blitze ihres Auges hielt er mitten in seiner Wendung, die er auf dem Absatze zu machen gewillt war, unwillkürlich an.
„Es ist ein trauriges Drama, zu dem ich hierher gekommen bin,“ sagte sie ernst und unwillig, „und Du, Richard, hast Dir keine schöne Rolle darin gewählt. Meine Meinung habe ich Dir schon vorgestern gesagt, daß Du aber mit jener Frau – mit unserer Stiefmutter concurriren willst, das nimmt mich Wunder; dann hast Du wahrlich kein Recht, sie zu verabscheuen.“
„Wer will concurriren?“
„Du – so muß ich wenigstens annehmen. Freilich, wenn ich es verhindern kann, geschieht es nicht. Ich weiß von Lomeda, daß wir Alle, Du, Lora und ich, Grund haben, zu verzichten, und wenn Du nicht schon abgereist gewesen wärst, als er mir Alles auseinander setzte, wärst auch Du von der Rücksicht unterrichtet, die uns zur Verzichtleistung zwingt. Es darf zu keinem Concurse kommen. Er muß um jeden Preis vermieden werden – auch um den höchsten! Und Du, Heinrich, schaffe das Geld für diese eine Drängerin! Wirf ihr das erschlichene Vermögen hin, damit sie schweige! O, wenn der Vater sie jetzt sehen könnte!“
„Ihr Theil wäre zu beschaffen ...“ meinte Heinrich kleinlaut.
„Sieh!“ ließ sich hier seine Frau vernehmen. „Da scheinen ja noch Geheimnisse vorzuliegen. Baron Lomeda und Gemahlin glauben mich wohl ganz als Nebenperson betrachten zu dürfen, auf die bei den von ihnen getroffenen Abmachungen keine Rücksicht genommen zu werden braucht. Für Andere wird gesorgt, daß aber in erster Linie Rücksicht auf Frau und Kinder genommen würde, liegt natürlich außerhalb der Erwägungen.“
Alles schwieg. Selbst Lisa kämpfte, die Verbitterung des Unglücks nachsichtiger beurtheilend, ihre Unmuth nieder. Den Blick noch immer auf Richard geheftet, fragte sie ihn mit dem feierlichen Tone tiefer Ergriffenheit, ob er ihren Bitten folgen wolle.
Finster, grämlich hatte er dagestanden. Jetzt warf er sich, als ob Lisa's Bitten die Erstarrung seiner Glieder gelöst, mürrisch in den nächsten Stuhl.
„Je nun, warum schelte ich denn,“ brummte er, „als weil ich mich in diese traurige Nothwendigkeit ergeben habe und verzichte? Thäte ich's nicht, hätte ich den Mund zu halten, es träfe mich ja nicht; so aber meine ich mir wenigstens das Recht erkauft zu haben, mir die Galle von der Leber zu reden.“
„Ist's Dein Ernst?“ fragte Lisa freudig.
„Na, es versteht sich wohl von selbst.“
„Bruder ...!“ Mehr brachte Heinrich nicht heraus, er legte die Hand über die Augen.
Nur so rascher ging Lora's Zünglein. Voll Entzücken sprang sie auf Richard zu und fiel ihm um den Hals, daß er Noth hatte, sich der Liebkosungen zu erwehren.
„Du bist mein Ideal, Richard,“ betheuerte sie. „Ich schwärme für Dich. Der schönste, eleganteste, nobelste Ulanenlieutenant der ganzen Armee!“
„Damit wird's nun wohl vorüber sein,“ erwiderte er seufzend. „Ich werde um meine Versetzung in ein Infanterieregiment einkommen, oder nein, lieber Jäger – die Uniform ist doch immer aparter. Und dann heißt's Pferde verkaufen, sich einschränken, von der Gage leben. Hm! man kann sich auch an Virginia-Cigarren gewöhnen – es müssen just nicht Regalia sein.“
„Und ich will Gouvernante werden,“ sagte Lora trotz aller Lebhaftigkeit mit großem Ernste. „O, ich habe die schönsten Zeugnisse; Französisch, Englisch und Musik: Vorzugsclasse. Ich werde an die Damen schreiben, daß sie mir eine Stelle verschaffen, recht weit weg, wo man nichts weiß von uns, in Rußland oder Indien.“
„Nein,“ fiel da Heinrich, der sich ermannt hatte, mit Bestimmtheit ein, „das sollst Du nicht, arme Kleine. So lange ich lebe, sollst Du bei mir Deinen Platz finden. Ihr habt so ungeheure Opfer gebracht, meine Geschwister, so edelmüthige; es sollen nicht noch größere – ich wäre ein Schuft, wenn ich sie annähme! – – Unehrlich war ich nicht, nur träge und gedankenlos. Aber ich will arbeiten, und müßte ich mit diesen Armen – sie sind stark genug – und wenn es als Holzhauer sein müßte!“
„Vielleicht eignest Du Dich dazu am allerbesten,“ warf, während alle Anderen die Bewegung in dieser fast athemlosen mächtigen Brust mit empfanden, Frau Hilma schneidend hin. „Ich begreife nur nicht, wie Du mit dieser keineswegs sehr lucrativen Beschäftigung ein solches Einkommen verdienen willst, um damit auch noch Gastfreundschaft zu üben. Meines Erachtens bist Du gar nicht in der Lage, Dir noch weitere Kostgänger aufzuladen; sieh zu, daß erst die Deinen satt werden!“
„O Lisa, nimm mich mit Dir! Ich möchte keine Nacht mehr unter diesem Dache bleiben,“ bat Lora hastig ihre Schwester. Diese trat im Augenblick näher an Hilma heran.
„Frau Schwägerin,“ sagte sie eindringlich und ruhig, „wer einem Armen in seine Suppe ein bitteres, ekelhaftes Kraut wirft, der begeht eben keine schöne Handlung. Eine Frau, die ihrem Manne geschworen, in allen Lagen treu bei ihm auszuharren, sollte dieses Eides zumal im Unglück tröstend und erwärmend eingedenk bleiben. Damit schafft sie Glück um sich und sich selber innere Befriedigung.“
„Wie Du zum Beispiel,“ setzte Frau Hilma, mit der hohnvollsten Grimasse sich auf ihrem Sitze verneigend, hinzu.
Der Pfeil saß, und Lisa wechselte verstummend die Farbe. Kein einziges Wort hatte sie zur Verfügung. Ihr war, als hätte man ihr einen Spiegel vorgehalten, aus dem ihr das eigene versteinerte Medusenhaupt entgegenstarrte.
Lora, welche den grinsenden Spott ihrer Schwägerin und das jähe Verstummen ihrer Schwester nicht verstand, wollte eben deren Vertheidigung übernehmen, als der Diener in seiner anspruchsvollen Livree, die so wenig zu dem wankenden Hause paßte, unter die Thür trat und zu Tische rief.
„Ihr werdet mit Wenigem vorlieb nehmen müssen,“ sagte die Hausfrau mit der säuerlichsten Entschuldigung; „doch dürfte uns ja allen der Appetit ohnedem vergangen sein.“
„Durch das bittere Kräutlein in der Suppe,“ sagte Lora ergänzend hinzu, indem sie Richard, der in schweres Nachsinnen versunken war, aufmunternd am Bärtchen zupfte.
Es war ein Aufbruch wie zu einem Leichenmahle.
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Der Landsitz, den die Freiherren von Lomeda sich bei Riefling zu einer Zeit gebaut, wo die kleine Ortschaft noch ein kaum in's Gewicht fallendes Anhängsel ihrer mächtigen feudalen Herrschaft bildete, war kein stolzes Schloß mit Thurm und Zinnen wie das Herrschaftshaus zu Sternberg. Irgend ein unverehelicht gebliebener nachgeborener Sohn hatte sich nach Jahren ruhmreichen Kriegsdienstes auf diese ihm zugewiesene Scholle der Lomeda'schen Besitzungen zurückgezogen und mitten in dem breiten, von mächtigen Höhen gesäumten Flußthale, am Flußufer selbst, das einfache und ziemlich geräumige Wohnhaus errichtet, den wilden, theilweise versumpften Grund aber mit der Vorliebe der alten Soldaten, die sich gern der Gärtnerei zuwenden, in einen hübschen Park verwandelt.
Der Park war mittlerweile gar stattlich in die Höhe gewachsen, und die Gruppen, Wald- und Buschpartieen legten nun, nach mehr als einem halben Jahrhundert ihres Bestehens, rühmliches Zeugniß von dem schönheitsverständigen Auge ihres Urhebers ab, der mit dieser Parkschöpfung ohne Frage gegen den herrschenden, steifen Hofgeschmack hatte protestiren wollen. An dem Hause aber hatte man, als später das verarmte Geschlecht es als letzten übrig gebliebenen Wohnsitz bezogen, ein Stockwerk auf- und zwei starke Flügel angesetzt, nicht in dem zierlichen Barokstile des ursprünglichen Baues, sondern zweckmäßig und billig, wie man damals etwa Casernen errichtete. In allerneuester Zeit war freilich mit Anbringung von Stuckfriesen und Terracottagesimsen einigermaßen nachgeholfen worden, aber doch war der Bau für ein modernes Landhaus viel zu gradlinig und einfach und für ein Schloß zu unscheinbar, obwohl es den letzteren Titel führte – in der Umgebung wenigstens. Der gegenwärtige Besitzer hatte gesunden Sinn genug, es nur seinen „Hof von Riefling“ zu nennen.
Und ein solcher war es eigentlich auch, denn von hier aus wurden die ziemlich umfangreichen Gründe bewirthschaftet, die nach der Ablösung der bäuerlichen Lasten dem Freiherrn noch geblieben waren. Die vom Wohnhause ein wenig abgerückten Oekonomiegebäude bildeten mit demselben thatsächlich einen großen Hof, welcher durchweg zu praktischen Zwecken benutzt wurde, bis auf den Platz innerhalb der Flügel, wo man um ein Rasenrondel eine gekieste Auffahrt freigehalten hatte.
Heute – der Abend begann eben hereinzubrechen – wäre der weite Raum wie ausgestorben gewesen, wenn dort, wo unter dem Schnee das Rasenrondel lag, sich nicht ein kleines dicht vermummtes Mädchen mit einem großen, ein wenig schwerfälligen Mann und dem struppigen Wolfshund, dessen Obhut der Hof empfohlen war, um ein mächtiges weißes Ungethüm getummelt hätte, einen Schneemann, der, mit einem alten Stallbesen statt der Hellebarde im Arm, starr und steif Wache hielt.
In einem der Zimmer des Erdgeschosses aber, dessen Fenster nach dem Flusse gingen, saß indessen Lomeda mit seiner Schwiegermutter in eifrigem Gespräch. Es wurde schon allmählich dunkel in dem kleinen, an den Speisesaal stoßenden Gemach, das, vor dritthalb Jahren neu und geschmackvoll eingerichtet, eine Art von Kaffee- und Rauchzimmer, seit jedoch die Gräfin allein auf Riefling hauste, deren gewöhnlichen Aufenthaltsort bildete. Noch war keine Lampe angezündet, aber der Gluthschein aus dem geöffneten Kaminofen, vor welchem Witold in den Kohlen schürend saß, beleuchtete seine finstern unmuthigen Züge, auf welchen die ältliche Dame ihren Blick sorgenvoll, nachdenklich, doch wieder mit einer nicht ganz verhehlbaren heimlichen Befriedigung ruhen ließ. War unter all dem, was sie über seine Zukunftspläne und die Ursachen zu dieser Neugestaltung gehört, viel sie Bekümmerndes gewesen, so fand sich doch auch manches dabei, was ihr Genugthuung gewährte. Sie hatte die zweite Heirath ihres Schwiegersohnes nie mit allzu günstigen Augen betrachtet, nicht etwa, weil es, bei allem Reichthum der Nachfolgerin ihres Kindes, doch nur eine „Müllerstochter“ war, die er heimführte, sondern vielmehr weil mit der Heirath die Uebersiedlung in die Hauptstadt verbunden war. Der Gräfin, die nach ihren Neigungen nicht begriff, wie man das freie Landleben mit dem Zwang und der Hast einer großstädtischen Existenz vertauschen und dazu sich noch gar in das abnützende freudelose Joch des Staatskarrens anspannen mochte, erschien der Entschluß des Barons nicht als das Ergebniß seines freien Willens; sie schrieb ihn dem Ehrgeiz und der Lebenslust der Braut zu, und meinte, um diesen Preis habe Witold die Mittel erkauft, seinem verkommenen Besitze aufzuhelfen.
Wie hatte sich das nun alles gewendet!
Das Geld war dahin, die bedürfnißvolle Frau aber mit ihrer Gleichgültigkeit gegen die Mühen und Freuden der Wirthschaft – sie war geblieben. Zum Glück konnten die Arrondirungen und Verbesserungen dem Gute nicht wieder genommen werden, es war nunmehr den erhöhten Anforderungen gewachsen, wenn der Herr fortan selbst willenskräftig mit Hand anlegte und sich in seinem engen Kreise beschied.
Freilich schien in der kurzen Zeit von Lomeda's Stadtaufenthalt das Landleben seine Reize auch für ihn völlig verloren zu haben. Die Stimmung, die sich eben wieder in seinem düstren Ausruf verrieth: er sei müde und wolle nichts Besseres, als sich hier in der Einsamkeit begraben, ängstigte die besorgte alte Dame.
„Begraben? begraben?“ erwiderte sie kopfschüttelnd. „Tritt der Mensch denn aus dem Leben, so lange er einen Zweck hat, zu dessen Erreichung er Kopf und Arme braucht?“
„Und habe ich denn einen Zweck?“ fragte er in durchbrechendem Unmuthe.
„Versündige Dich nicht!“ rief die Gräfin erschrocken und die etwas hagere Hand gegen ihn ausstreckend, als wünschte sie so das frevelnde Wort zu beschwören. „Hat man denn darum keinen Lebenszweck, wenn man irgend ein ehrgeiziges Ziel oder einen Beruf, der unseren Talenten besonders zusagte, aufzugeben gezwungen ist? Du hast aufgehört an der Gesetzgebung mit zu wirken – arbeite jetzt an ihrer Ausführung durch persönlichen Einfluß und Beispiel! Das Landvolk braucht ehrliche Führer und Vorbilder. Nicht einmal ich habe mich bis jetzt zwecklos auf Erden gefühlt – trotz meiner Kränklichkeit und Schwäche.“
„O Mama, Du hast hier zum Rechten gesehen, besser als ein Mann.“
Die Gräfin nickte geschmeichelt über den Lobspruch, der ihr auch nach ihrer eigenen Ueberzeugung gebührte, verlor aber dabei keineswegs den angesponnenen Faden.
„Bis jetzt ist es gegangen mit dem alten Borsch. Der will nun aber auch Feierabend machen und zu seiner Tochter ziehen. Einem jungen Verwalter von der neuen Schule fühle ich mich nun ganz und gar nicht gewachsen. Wer weiß, was man für einen Menschen findet, welche Schrullen er mitbringt, welche Eigenschaften? Vielleicht heißt's auch, rasch nach einander ein paarmal wechseln; das thut nicht gut; wo solche Unsicherheit eintritt, da soll des Herrn Eigenart der Fels sein, an den sich Alles hält und an dem sich auch jeder Eigenwille und der Widerstreit der Meinungen bricht; Du wirst genug zu thun bekommen, und ich wünschte nur, daß Du auch eine kräftige Gehülfin zur Seite hättest, die Liebe zur Sache fühlt, denn ich werde von Tag zu Tag hinfälliger, und ich fürchte, es wird nicht gar lange mehr –“
„O Mama, sprich doch nicht so! Es thut weh, das zu hören,“ unterbrach er sie, ihre Hand ergreifend, die er zärtlich drückte.
„Thut es das? Nun denke, wie es mir bei den Worten ist, die Du mir zu hören gabst! Du bist ein gesunder, kräftiger Mann, in der Blüthe Deiner Jahre, warum sollst Du nicht für Dich allein schon leben? Aber Du hast auch ein Kind, ein liebes herziges Ding. Sieh Dir Gretchen an und sage dann, daß es Dir gleichgültig ist, was aus diesem Kinde wird!“
„Du hast Recht; mir bleibt noch die Liebe zu meinem Kinde.“
„Und – zu Deiner Frau,“ setzte die Gräfin wieder weich, aber doch mit Nachdruck hinzu. „Und hättest Du sie selbst nicht lieben gelernt, wie ich aus den einsilbigen Berichten über sie fast schließen muß – Du bist vielleicht zu ihrem Glücke nöthig.“
„Zu ihrem Glücke?“
Er lachte kurz und dumpf auf. Was ihn bewegte, ließ sich aber in seinen Zügen nicht mehr lesen; denn er war, den Schürhaken wegstoßend, vor dem Ofen aufgesprungen, und sein Gesicht kam so aus dem Bereiche des Feuerscheines. Sollte er jetzt in die Brusttasche greifen und den zerknitterten Zettel hervorholen, den er gestern Abend aus der rachsüchtigen Hand der von ihrer Herrin brüsk fortgeschickten Kammerjungfer entgegengenommen hatte? Witold hatte ihn wohl ein Dutzend Mal gelesen, an's Licht gehalten, um ihn zu verbrennen, und dann doch wieder zurückgezogen und aufbewahrt.
[188] Dieser Zettel war ein furchtbarer Zeuge.
Nicht für eine wirkliche Untreue Lisa's in landläufigem Sinne; an eine solche glaubte Witold keinen Augenblick. Er hatte auch den verdächtigenden Zettel nur deshalb aus der Hand Mina's angenommen, damit das gefährliche Document nicht noch weiter mißbraucht werden könne, er hatte der Zwischenträgerin seine ganze Geringschätzung gezeigt und ihr die ernstliche Drohung ausgesprochen, er werde sie bei der geringsten verdächtigenden Aeußerung über seine Frau gerichtlich verfolgen. Gerade das anscheinend so sehr compromittirende Briefchen enthielt ja den allertriftigsten Beweis, daß jene Begegnung auf dem Balle die erste seit Lisa's Verheirathung gewesen; und was die entlassene Spionin über den Besuch jenes Husarenrittmeisters, den sie mit feingeschärftem Instinct sofort zu dem Billet in Beziehung brachte, boshaft anzudeuten wagte, verwarf sein großer Sinn verachtungsvoll. Nur der Anstoß war erst gegeben, doch was ihn mit Bitterkeit und Schmerz erfüllte, das waren die Dinge, die er unaufhaltsam kommen sah.
Von Lisa's Jugendneigung hatte er durch ihren Vater, schon als er um sie warb, Kunde erhalten; nichts desto weniger hatte er sein Wort nicht zurückgezogen. Mitleid und freundliche Zuneigung aber, nicht die volle, tief im Herzen wurzelnde Liebe hatten ihn bewogen, einen Schritt zu thun, der ihm nicht nur von verschiedenen Seiten angerathen, sondern von Lisa's Vater selbst deutlich genug nahe gelegt wurde. Es erschien ihm daher auch wie ein gerechter Rückschlag, als ihm von seiner Braut am Hochzeitsabende jene nüchterne kalte Erklärung gegeben wurde, die er zwar nicht erwartet hatte, nun aber hinnehmen mußte, wenn er das einmal geschaffene Verhältniß nicht durch eine sofortige Scheidung wieder lösen wollte.
Er gab sich damals der Hoffnung hin, durch Ruhe und Geduld, in friedlichem Nebeneinanderleben allmählich ein herzlicheres Verhältniß sich herausbilden zu sehen. Er kannte ja das geheime Hinderniß nicht, das seine zur Schwiegermutter gesprochenen wohlgemeinten Worte ohne sein Wissen geschaffen. Immer derselben Kälte begegnend, glaubte er endlich, daß bei Lisa ein häßlicher Charakterzug vorliege, der sich schon durch die Heuchelei und Heimtücke geäußert, in welcher sie mit ihrer wahren Ansicht über ihre gemeinsame Zukunft bis zu dem Augenblicke zurückgehalten, wo sie als die Mitträgerin seines Namens in sein Haus eingezogen war. Immer mehr von den politischen Geschäften, in die er sich gestürzt, in Anspruch genommen, hatte er endlich, ermüdet, die erfolglosen Versuche zu einer innerlichen Annäherung aufgegeben und sich gleichfalls an der rein äußerlichen Gemeinsamkeit genügen lassen.
So war es gewesen – bis zum gestrigen Tage.
Und eben in dem Augenblicke, wo er einen tieferen Blick in die Seele seiner Frau gethan und in ihr einen ungeahnten Schatz entdeckt zu haben vermeinte, in demselben Augenblicke, wo er plötzlich den Glauben an eine trotz aller äußerlichen Verdüsterung innerlich helle und freundliche Zukunft wieder gefunden, eben in diesem Augenblicke mußte er auf eine noch viel schmerzlichere Erklärung des eigenthümlichen Benehmens seiner Frau stoßen: sie hing seiner Meinung nach offenbar im tiefsten Innern an der alten Liebe, deren Gegenstand ihr plötzlich wieder nahe getreten war. Eine tiefe Muthlosigkeit ergriff ihn – er zweifelte keinen Augenblick, daß Lisa für ihn verloren sei, daß sie nunmehr heimlich Alles vorbereite, um die Fesseln der ersten Ehe zu zersprengen und eine neue zu schließen.
Das war immerhin schmerzlich.
Auch ein Zusammenleben, wie das bisherige, kann zur Gewohnheit werden, und wie schwer würde Gretchen sich von Lisa trennen! Das Kind hatte in ihr in Wahrheit eine gute und verständige Mutter gefunden – er vermochte das nicht zu leugnen. Auch sonst noch manche gute Eigenschaft hatte er im Laufe der Zeit an Lisa wahrzunehmen Gelegenheit gehabt.
Wie fremd auch und abweisend – offen und ehrlich war sie seit jenem Hochzeitstage, wie sie sich auch vorher gezeigt haben mochte, ihm immer begegnet. Er hatte sie in den vergangenen Jahren genau beobachtet. Vielumworben, hatte sie wohl Gefallen an den Huldigungen, aber niemals auch nur das leiseste Interesse für einen ihrer Bewunderer merken lassen. Sie würde sich kaum die Mühe genommen haben, ein solches Gefühl vor ihrem Manne zu verbergen, und ihm zu Liebe geschah es wohl am wenigsten, wenn sie unangefochten durch die Gefahren der Welt ging.
Kein Zweifel, die alte Liebe war nie in ihr erloschen und ihr zum Schild gegen alle Versuchungen geworden. Jetzt, wo sie von neuem aufflammte, war auch die plötzliche Aenderung ihres Charakters erklärt. Ein Thauen im Frühlingshauch! Der Liebe Härte und Eigennutz waren hingeschmolzen – daher der wunderbare Umschwung von einem Tage zum andern! Der Besuch des Geliebten lag ja dazwischen; Beschlüsse waren offenbar gefaßt worden; nur die hervorschlagende Wärme inneren Glückes hatte ihn getäuscht.
Und jetzt stand er selbst vor der Frage, wie er sich zu verhalten hatte.
Sein Eigenthum festhalten und vertheidigen, indem er den jenseits winkenden Nebenbuhler unter dem Vorwande, einen Räuber zu bestrafen, niederschoß? Das war wohl das übelst-gewählte Mittel. Die Trennung blieb immerhin entschieden, nur daß sie dann nicht in Ruhe und Freundschaft, sondern in tiefem Schmerz und unauslöschlichem Haß erfolgte. Und war es billig und edel von ihm, einen solchen wilden Sturm über ihr Leben heraufzubeschwören und ihr solch unheilbares Weh zu bereiten? Wenn es noch Vergeltung wäre – aber er liebte sie ja nicht. Bestimmt nicht. Nie war seine Empfindung für Lisa mehr als herzliches Wohlwollen gewesen.
Die ganze Nacht hindurch hatte er die heißen Gedanken durch den Kopf gewälzt, bis er endlich zu einem Entschlusse gekommen.
Die von ihm aus Sternberg gebrachten Mittheilungen hatten vielleicht ein Wort der Aufklärung zurückgehalten, das sie schon bereit gehabt. Es war am besten so. Wozu sollte es gesprochen werden? Stumm konnten sie aus einander gehen, und wenn seine leisen Andeutungen nicht verstanden würden und sie, an seiner Zustimmung zweifelnd, doch eine Auseinandersetzung für nöthig halten sollte, dann konnte er ihr ja morgen oder an einem der nächstfolgenden Tage, ohne jedwedes beigefügte Wort, den verrätherischen Zettel übersenden. Damit war dann Alles gesagt.
Nun aber vor der wackern Frau da am Kamin, die sich um den Neffen und Schwiegersohn sorgte, über sein trauriges Schicksal sprechen, Alles aus einander zerren und neugierig durchstöbern lassen – das ging über seine Kräfte. Eine gar seltsame Empfindlichkeit und Reizbarkeit hatte sich seiner bemächtigt, deren er zuvor Herr werden mußte, ehe er sein Herz ausschütten konnte.
Er fühlte, daß er gut that, der peinlichen Unterredung ein Ende zu machen.
„Es wird spät,“ sagte er, als ob alles Andere dagegen Nebensache wäre. „Die Sonne ist schon untergegangen, und Gretchen noch draußen. Das Kind vergißt sich in der Freude, sich hier tummeln zu können. Du wirst es in Acht nehmen müssen, bis Manon herauskommt. Peter ist doch wohl zur Bonne nicht recht geeignet. Ich will Gretchen hereinholen.“
Seine Tante war nicht so leicht zu täuschen. Beunruhigt über den Gemüthszustand des Neffen, blickte sie dem aus der Thür Eilenden kopfschüttelnd nach.
Als er hinaus kam, fand er die drei rasch befreundeten Spielgenossen noch immer eifrig beschäftigt, dem neuen Wachtposten aus Schnee, der alles in unerschütterlicher Geduld über sich ergehen ließ, seine Pflichten einzuschärfen. Peter stand im Begriffe, ihn für sein wichtiges Amt noch ganz besonders auszustatten. Auf des Vaters Ruf nämlich kam Gretchen fröhlich herbeigelaufen, aber nur um einen letzten Aufschub zu erbitten.
„Noch ein Bischen, Papa!“ flehte sie, seine Hand streichelnd, „nur noch ein Bischen! Peter zündet den Kopf an, das wird so schön.“
Das war nun freilich nicht buchstäblich gemeint; nur ein Licht sollte in den ausgehöhlten Kopf gestellt werden, daß der Schneemann schrecklich leuchtende Augen und einen flammenden Mund bekäme.
Die Kleine, welche der Unwiderstehlichkeit ihrer Bitten doch nicht recht trauen mochte, war schon auf eigene Faust wieder davon gesprungen, und Witold ließ sie gewähren, da der Abend nicht kalt und völlig windstill war. Er selbst blickte zu der Pracht des gestirnten Himmels auf, welcher sich im Laufe des Nachmittags, als der Schneefall aufgehört, völlig geklärt hatte.
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Schon beim Hinaustreten war es ihm gewesen, als höre er Schellengeläute; jetzt ertönte es weit näher und ganz deutlich; es konnte kein Bauerngespann sein; denn der Rhythmus entsprach der raschen Gangart flüchtiger Pferde. Nun schlug Harro an und rannte mit mächtigen Sätzen der Einfahrt zu.
Ein paar Secunden später, kam auch schon ein offener Schlitten durch das noch nicht geschlossene Hofthor geflogen, und in hübscher Wendung einbiegend, hielt er knapp vor den Stufen, auf deren oberster Witold überrascht stand.
Es hat ohne Zweifel etwas Seltsames, wenn der Laie, wie es thatsächlich häufig geschieht, einem neuen Werke gegenüber nicht eher meint zu einem Urtheil oder auch nur zu einem Eindruck kommen zu können, als bis er darüber belehrt worden, welches Meisters Spuren der betreffende Künstler folgt; geradezu lächerlich aber ist es, wenn er mit der bloßen Rubricirung das Urtheil nicht nur vorbereitet, sondern schon selbst angesprochen zu haben glaubt. Wer gefunden oder erfahren hat, daß ein Lied Schumannisch, eine Symphonie Haydnisch, eine Oper Wagnerisch sei, der weiß höchstens, an welchem Ort ungefähr er das Werk zu setzen, aber durchaus nicht, wie hoch er es zu schätzen habe. Mozart hat bekanntlich einige Arien und Ouverturen „im Händelischen Stil“ geschrieben. Damit ist nur gesagt, daß eine fremde Form benutzt, aber noch gar nichts darüber, mit welchem Inhalt sie erfüllt, ob mit originellen oder nachempfundenem, ob und wieweit dabei die eigene Individualität verleugnet, ob mit diesem Stücke die musikalische Literatur wirklich bereichert oder nur um eine Nummer vermehrt worden sei. Bis zu einem gewissen Grade also sind diejenigen, welche sich die Ohren zuhalten, sobald sie von „Richtungen“ in einer Kunst reden hören, vollkommen im Rechte. Aber der mögliche Mißbrauch jenes Eintheilungsverfahrens schließt keineswegs seine relative Nothwendigkeit und Zweckmäßigkeit, wenigstens als eines vorbereitenden Momentes, aus. Der erste Schritt, den man thun muß, um über irgend eine Art von Gegenständen klar zu werden, ist der, daß man die vorliegende Fülle übersichtlich gruppirt, das Verwandte zusammenstellt, das Verschiedene trennt, selbst wenn es zunächst nur nach oberflächlichen und unzulänglichen Gesichtspunkten geschehen sollte. So gut die Geschichtsschreibung nie aufhören wird, den ununterbrochenen Gang der Ereignisse in Epochen zu zerlegen und in Perioden zu gliedern, so gut dürfen wir, zum Zweck der Uebersicht, gleichzeitige Bestrebungen auf dem Felde einer Kunst oder Wissenschaft in Gruppen ordnen. Eines nur darf nicht vergessen werden: daß durch ein bloses Unterbringen in Fächer die Leistungen eines Gelehrten oder Künstlers werder erklärt noch abgeschätzt sind.
Dieses allgemeine Bedürfniß nach Orientirung durch Zerlegen in Gruppen haben wir im Auge, wenn wir uns anschicken, über die Hauptrichtungen zu sprechen, welche die Musik der Gegenwart beherrschen. Der Streit der Parteien soll uns heute nicht beschäftigen; nur den charakteristischen Eigenschaften, durch die sich die künstlerischen Leistungen der Schulen unterscheiden, sei unsere Aufmerksamkeit zugewandt. Wir wollen nicht richten, sondern nur zu verstehen suchen.
Im Großen und Ganzen haben wir in der heutigen Musik drei Richtungen zu unterscheiden: die antikisirende, die romantische, die neudeutsche. Die erste pflegt auf die Classiker bis Beethoven zurückzugreifen; auf die zweite hat am stärksten Schubert’s Vorbild eingewirkt, während die dritte sich an die späteren Werke Beethoven’s anlehnt. Natürlich fehlt es nicht an zahlreichen Misch- und Uebergangsformen, die zwischen den Hauptrichtungen vermitteln.
Um einen Begriff von den Unterschieden dieser drei Hauptrichtungen zu geben, muß zuerst eine allgemeine Bemerkung vorangestellt werden. Die Denker der Alten bezeichnen mit Recht das künstlerische Darstellen als ein „Nachahmen“ – der Natur nämlich. Nun ist aber weder Alles, worauf unser Blick fällt, der künstlerischen Wiedergabe fähig und würdig, noch darf das, was sich als fähig und würdig erweist, genau so, wie es da vor uns steht, in das Kunstwerk herübergenommen werden. Nur Weniges bietet sich von selber in der Stellung oder Gruppirung dar, wie es der Maler gebrauchen kann; selbst ein guter Photograph pflegt lange an Haltung und Kleidung zu corrigiren. Ebenso steht es um den Musiker, dessen Aufgabe es ist, Gefühle, Stimmungen und Leidenschaften in Tönen zu schildern. Sind nun Alle darüber einig, daß die Wirklichkeit, um für die künstlerische Darstellung tauglich zu sein, verändert werden müsse, so sind die Meinungen darüber um so verschiedener, was ausgeschieden oder vermindert, was beibehalten und gesteigert, mit einem Worte, wie idealisirt werden solle.
Die Einen – die Vertreter der antikisierenden Richtung – tadeln am Leben, daß es formlos und unregelmäßig sei, daß es die Menschen hastig, unharmonisch und maßlos mache. Seine Kümmernisse graben Runzeln in die klarsten Stirnen; seine kleinen Sorgen lassen keine Empfindung ruhig und breit ausströmen; Allen giebt das Jagen nach Erwerb und Ehre etwas Ruheloses; ja das Handeln an und für sich schon hat etwas Schroffes und Eckiges. Im Reiche des Schönen aber walten Maß und Gesetz, Begrenzung und Harmonie. Wohlklang und strenge Form ist das Erste, was die Conservativen unter den Musikern von sich und Anderen fordern.
Sie bevorzugen deshalb auch die großen Allgemeingefühle, welche jenen Alltagsstörungen ausgesetzt sind: die Familienempfindungen, die Begeisterung für’s Vaterland, vor allem die religiöse Andacht, und auch bei den Empfindungen der Einzelnen, der Liebe zum Beispiel, lassen sie die für Jedermann leicht nachfühlbare allgemeine Seite hervortreten. Unter den Charakteren üben die gerundeten, allseitig ausgebildeten, harmonisch ausgeglichenen eine stärkere Anziehungskraft auf sie, als die scharf ausgeprägten, nach einer Seite energisch entwickelten. Die Kunst soll, so sagen sie, mäßigen, formen und glätten, das Maßlose bändigen, das Aufgeregte beruhigen, das Einzelne zum Allgemeinen erweitern. Ihr Schönheitsbegriff des Maßes darf sich auf das hohe Vorbild der Griechen und Goethe’s, in seiner mittleren Periode, berufen.
Die musikalische Fortschrittspartei, die neudeutsche Richtung, hält sich an das leuchtende Beispiel Shakespeare’s. Das Leben ist weit entfernt, die Charaktere eckig zu machen; es schleift ihre Ecken leider allzusehr ab. Nicht das Allgemeine, sondern das Besondere ist das Werthvolle. Das Leben macht stumpf und schlaff und läßt verkümmern, was etwa als kraftvoll Ursprüngliches geboren wird. Zeigt uns doch irgendwo in der Wirklichkeit jene energischen Personen, jene großen Leidenschaften und gewaltigen Schicksale, die von der Bühne des britischen Dichters herab die Herzen erschüttern und erheben! Klein ist, was uns umgiebt, klein und schwächlich. Der bürgerliche Mensch, noch mehr der Mensch des Salons, ist unoriginell. Die Gesellschaft nivellirt, die Convention erstickt das Urwüchsige; die Cultur macht Jeden dem Andern ähnlich.
Wenn so das Leben zur Mittelmäßigkeit und zur Unwahrheit erzieht, soll uns die Kunst das Außerordentliche zeigen und Wahrheit lehren. Sie soll nicht beruhigen, sondern aufrütteln, indem sie das Große, Kraftvolle und Eigenartige darstellt; sie soll nicht abschleifen und runden, sondern in’s Individuelle zuspitzen. Statt Wohlklang, formeller Glätte und Regelmäßigkeit ist ihr oberstes Gesetz natürlicher, wahrer und kräftiger Ausdruck. Nach dem Gesagten kann es nicht befremden, daß bei den Neudeutschen an die Stelle der den Conservativen heiligen strengen Formen deren freiere treten. Der neue Inhalt verlangt eine neue Form. Die Fuge macht einer beweglichen Vielstimmigkeit Platz; die herkömmlichen drei oder vier Sätze der Symphonie weichen der einsätzigen „symphonischen Dichtung“; die dort gesonderten Gegensätze treten hier nahe zusammen. Wo bei jenen breite Chöre und lange Arien, jede die anfänglich angeschlagene Stimmung bis zu Ende festhaltend, einander ablösen, finden wir bei diesen nach Art des Finale durchcomponirte wechselvolle Scenen. Bei den ersteren hat der Contrapunkt die Aufgabe, die Empfindung zu regeln und zu zügeln, bei letzteren, das lebendige Durcheinander widerstreitender Gefühle auszudrücken. Bei jenen tönt die Empfindung in breiter achttactiger Melodie aus, bei Richard Wagner verdichtet sich eine ganze Stimmungswelt zu einem schlagkräftigen knappen Leitmotiv.
Die Mittelpartei – die romantische Richtung – nimmt in der That eine vermittelnde Stellung ein. Sie hat mit der antikisierenden Richtung den Sinn für das Geordnete, Abgeklärte, Maßvolle gemeinsam, und sie ist zugleich individualistisch und charakteristisch wie die Neudeutschen, nur daß sie die Stoffe, welche sie darstellt, nicht der Welt draußen entnimmt, sondern der innern Welt des Künstlers, der Phantasie und der Gefühlsstimmungen. Einige von den Romantikern meinten geradezu [191] die Wirklichkeit gänzlich hinter sich lassen und auf den Flügeln der Phantasie in ein erdichtetes besseres Reich flüchten zu sollen. Das Wirkliche, sagten sie, ist gewöhnlich und unpoetisch; nur das Ungewöhnliche, Unwirkliche und Erdichtete ist poetisch. So flog man entweder zu einer erfundenen Märchenwelt empor, oder man träumte sich aus dem Jetzt und Hier in entlegene Zeiten und Oerter, in die Fernen des Mittelalters und des Orients, die man leicht zu einem Paradiese gestalten mochte. Doch auch das Schaurige und Gespenstige war willkommen. Wer Witz hatte, gefiel sich in ironischer Hervorkehrung des Gegensatzes von Ideal und Wirklichkeit; die Thatkräftigeren ermahnten zu fröhlichem Kriege gegen die Philister. Denn auf die Dauer konnte man sich doch nicht in jenen luftigen Höhen erhalten; da geschah’s wohl, daß einer beim Herabsteigen einen der goldenen Strahlen der Phantasie gerettet hatte und nun die feingeputzten Damen und Herren des Salons damit beleuchtete. Das Feierliche und Elegante, gemischt mit dem Reize des Romantischen, das war freilich unwiderstehlich.
Doch hat von dieser Romantik nicht blos die Welt der Nixen und der Gespenster profitirt. Die andere Seite der Romantik pflegte alle die feinen Schattirungen des subjectiven Empfindens. Mit oder ohne jene ätherische Welt voll schimmernder Einbildungen brachten die Romantiker zu reizvollsten Ausdruck die ganze Stufenleiter der lyrischen Stimmung, welche der geniale Poet vor allen anderen Menschenkindern reich und lebendig empfindet, besonders gern die zarten, duftigen, traumhaften. Nirgends auch sehen wir die Poesie des Kinderherzens so zart nachempfunden, wie bei den Romantikern, und ihre Neigung für volksthümlichen Gesang hat ihnen oft Töne voll herrlicher Innigkeit eingegeben. An musikalischen Formen hat die romantische Schule nicht eigentlich Neues erfunden, sondern nur vorhandene mit eigenthümlichem Inhalt erfüllt und unwillkürlich erweitert. Sie benutzt außer der Sonate mit Vorliebe die kleinen Formen des Tanzes und des Liedes.
So stehen sich – kann man zusammenfassend sagen – dem Schönheitsideale nach die drei Hauptrichtungen gegenüber als Formschule, Kraftschule und Stimmungsschule. Angesichts dieser Merkmale für die drei Richtungen in unserer gegenwärtigen Musik liegt eine Zusammenstellung derselben mit den Hauptgattungen der Poesie nahe, welche Künste ja ohnehin beide so vielfach einander die Hand reichen. Mit dem epischen Dichter hat der conservative Musiker die objective Ruhe und behagliche Breite gemein, mit dem lyrischen der Romantiker die Phantasie- und Stimmungsseligkeit des genialen Subjects, mit dem Dramatiker der neudeutsch gesinnte Tonkünstler die feurige Energie der Leidenschaft und die kernige Gewalt des Ausdrucks. Damit steht im Zusammenhang, daß jeder der Drei ein bestimmtes Publicum im Auge hat. Während die antikisirende Partei, in ihrer entschiedenen Neigung zur Kirchenmusik, sich an die Gemeinde wendet, und die neudeutsche, die gern zu großen Mitteln greift, vom Podium des Concertsaales oder von der Bühne herab zum Volke spricht, bewegt sich die romantische am liebsten und sichersten auf dem Feld der Kammermusik, die ihre Gaben einem kleinen Kreise Auserwählter zu bieten pflegt. So könnte man die drei Richtungen auch als Schulen der Chor-, Orchester- und Kammermusik bezeichnen.
Es soll natürlich nur behauptet sein, daß jede Partei eine gewisse Tendenz zu diesem bestimmten Gebiete habe und auf ihm ihre größten Triumphe feiere, nicht, daß sie sich völlig auf dasselbe beschränke. Wir besitzen von Brahms herrliche Kirchencompositionen, von Liszt großartige Oratorien und Messen, von Brahms und Rubinstein bedeutende, von Volkmann tüchtige, von Gade ansprechende Symphonien, von Kiel werthvolle Kammermusikwerke, aber man kann nicht sagen, daß der Schwerpunkt ihres Schaffens in diesen Werken liege. In der Gattung des Liedes, das von allen Richtungen gepflegt wird, verräth die jeweilige Behandlung deutlich die Eigenthümlichkeit der Schule: den Liedern der Conservativen haftet etwas von der beruhigten und gehaltenen Art der Oratorienarie an; dem Schmerz ist nur ein sanfter, gleichsam der Tröstung gewärtiger Ausdruck gestattet, und über der Freude, die sie singen, schwebt ein elegischer Hauch; die Gesänge der neudeutschen Schule nähern sich der Beweglichkeit und Schlagkraft der dramatischen Scene und die Clavierbegleitung möchte es dem Orchester gleichthun; das eigentliche Stimmungslied bleibt die Domäne der Romantiker. Bemerkenswerth ist, daß Brahms keine Oper geschrieben hat, Schumann’s „Genoveva“ nicht recht durchgedrungen ist und die Opern von Rubinstein und Holstein, so schätzbar sie sein mögen, zugestandenermaßen des dramatischen Zuges entbehren.
Aus der vorstehend gegebenen Charakteristik der drei Richtungen in unserer modernen Musik ergiebt sich unmittelbar, daß jede dieser drei Richtungen eine mehr oder minder bedeutsame Seite des Schönheitsideals zu verwirklichen strebt, sodaß keiner von ihnen eine relative Berechtigung abgesprochen werden darf. Die Berechtigung würde erst dort in Frage gestellt sein, wo eine Partei ihr eigenes Kunstideal für das absolut höchste und einzige, den von ihr mit besonderer Liebe ergriffenen Theil der Schönheit für das Ganze erklärt. Mag man es dem schaffenenden Künstler zu Gute halten, wenn er den Standpunkt der andern Richtung ablehnt – Publicum und Kritik dürfen diese Einseitigkeit nicht theilen. Wir Empfänger des Kunstwerks, selbst wenn wir einer bestimmten Richtung uns innerlich verwandt fühlen und sie im Herzen begünstigen, haben die Pflicht, uns den Blick frei zu halten für alles Schöne, in welcher Gestalt es immer erscheine. Richard Wagner und Johannes Brahms verstehen einander nicht, und begehen kein Unrecht, wenn sie einander nicht verstehen. Franz Liszt aber versteht beide. Dieser Lisztische Standpunkt sei unser Muster! Oder kann nicht ein und derselbe Mensch Shakespeare und Calderon und die Griechen bewundern? Kann er nicht Goethe verehren, gleichzeitig Paul Heyse lieben und Bret Harte gern lesen?
Um das volle Verständniß für unser Thema zu gewinnen, erübrigt es, einen Blick auf das Werden, auf den historischen Zusammenhang jener drei Richtungen zu werfen. Die jüngste unter den drei Parteien ist die neudeutsche; sie zählt heute, rund gerechnet, dreißig Jahre; die romantische ist über zwanzig Jahre älter. Nach Beethoven’s Tode (1827) sehen wir die Pfleger deutscher Tonkunst sich in zwei Lager spalten, ein conservatives und ein fortschrittliches; jenes auf die Classiker bis Beethoven zurückgreifend, dieses das Banner Schubert’s schwenkend. Die erstere Gruppe, ohne Verständniß und Sympathie für den aus der Poesie in die Musik hineinwehenden neuen Geist, verlangte, daß man in aller Form den alten Inhalt, denen beiden sie ewige Gültigkeit beilegte, wiederhole. Das empörte die junge Welt, welche das Bedürfniß empfand und sich berechtigt fühlte, Neues auszusprechen. Tieck, Fouqué, E. T. A. Hoffmann, Chamisso, die schwäbischen Dichter, Wilhelm Müller, Rückert, Lenau, vor Allen aber Eichendorff und Heinrich Heine hatten die Blicke der Welt auf Dinge gelenkt, die bis dahin wohl bemerkt, aber nicht hinreichend gewürdigt worden waren. Das verstohlene Murmeln des Baches, das geheimnißvolle Flüstern des Waldes, den magischen Zauber des Mondlichts hatte man früher zwar empfunden und benutzt, aber nie so schwelgend genossen wie jetzt. Man hatte ihnen nur die Begleitung anvertraut; nun ließ man sie die Hauptstimme singen. Der Zauberstab der Romantik weckte Mönche und blinkende Ritter aus mittelalterlichem Schlafe, rief die bunten Farben und klingenden Reime des Morgenlandes zu ihrem Dienste herbei und ließ dem Wasser schöne blasse Weiber entsteigen, gutartige, um mit dem Dichter zu kosen, böswillige, um den Ritter seiner Dame zu entführen. Man lauschte sehnsuchtsvoll den Klängen des Waldhorns und des Mühlrads, blickte mit wehmüthiger Andacht zur Burgruine empor und meinte hinter jeder Klostermauer die Seufzer verrathener Liebe zu vernehmen. Nie hatte man so unglücklich geliebt und nie sich so berauscht an diesem Unglück. Mit den Schmerzen der ganzen Welt belud der Dichter seine bange Seele: jeder Vers war von Herzweh durchbebt und von Mondschein übergossen. Das alles wollte nun componirt werden und wurde componirt. Kein Wunder, daß denen, die in dieser schimmernden und bangen Welt heimisch waren, die Kunst des gewaltigen Beethoven fast ebenso unverständlich blieb, wie den Herren mit Zopf und Perrücke. Diesen war er zu leidenschaftlich, jenen zu groß und gerade. So wählte man einen Anderen zum Führer, der Beethoven ähnelt, wie die Schwester dem Bruder. Schubert hatte sechs Gedichte von Heine in Musik gesetzt, und bald war das „Buch der Lieder“ auf jedem Clavierpult zu finden; und wie Schubert das Lied aus den Banden des Bänkelgesangs befreite, so führte er den Tanz, den er zierlichere Schritte lehrte, aus der Schänke in’s Familienzimmer. Mendelssohn benutzte den gemüthlichen Tanz des Wiener [192] Meisters, um den Elfen aufzuspielen; Chopin machte ihn salonfähig und ließ ihn von Patriotismus und Liebe erzählen; bei Schumann verwandelte er sich in einen geharnischten Tanz mit den Philistern.
Die weitere Spaltung innerhalb der Inhaltschule trat etwa um die Mitte unseres Jahrhunderts ein. Man begann der Lücken des romantischen Ideals gewahr zu werden. Man sah wohl Weltschmerz, aber keine Tragik; man sah Uebermuth, aber keine Kraft, Unruhe, aber keine Thätigkeit. Statt die umgebende Wirklichkeit künstlerisch zu verarbeiten, statt die reale Welt zur idealen zu verklären, hatte die Romantik eine weite Kluft befestigt zwischen Leben und Kunst. Man vermißte Größe, man sehnte sich nach starker Leidenschaft. In der Literatur traten dramatische Talente hervor: Karl Gutzkow, Gustav Freytag, Friedrich Hebbel und Otto Ludwig, die beiden Letzteren Altersgenossen von Richard Wagner, und man erinnerte sich des lange wenig beachteten Heinrich von Kleist. Gleichzeitig fing man an, sich mit Beethoven’s Riesengeiste vertraut zu machen und das Vorurtheil abzulegen, das dessen späteste Werke für Ausgeburten eines durch Krankheit verstörten und in grüblerischen Seltsamkeiten sich gefallenden Gemüthes erklärt hatte. An diesem Umschwunge der Meinung gebührt Wagner und Liszt ein Hauptverdienst; daß Wagner der größte Beethoven-Dirigent sei, ist ja so ziemlich der einzige Ruhm, den seine Gegner unangetastet gelassen.
Die eigenen Werke beider Meister befestigten dann vollends den Bestand der neudeutschen Schule. Sie zerstörten die trotz Gluck und Mozart noch immer verbreitete Ansicht, daß die Musik nur für den Ausdruck des Lyrischen, nicht auch des Dramatischen befähigt sei. Jenes Verständniß Beethoven’s aber wirkte nun auch auf Die zurück, welche, ferneren Erweiterungen des musikalischen Inhalts über das von der Romantik Geleistete hinaus nicht geneigt, dem von Schumann vorgeschlagenen Tone treu blieben, und selbst die Strengconservativen vermochten sich nicht auf die Dauer dem Einflusse des mächtigen Geistes zu entziehen, sodaß es heutzutage kaum einen Musiker giebt, von dem nicht irgendwie eine Brücke zu Beethoven zurück führte. Nicht nur Wagner und Brahms, auch Rubinstein, Kiel und viele minder Namhafte haben Beethoven’sche Elemente in sich aufgenommen. Man kann fast behaupten: je größer ein Componist, um so enger seine Verbindung mit Beethoven. Diese Einwirkung nach den verschiedensten Seiten hin wurde freilich erleichtert durch die unvergleichliche Vielseitigkeit und den langen Entwickelungsgang des Tonheros. Welch ein ungeheurer Weg von den Trios Op. 1 bis zu den letzten Quartetten, von der ersten bis zur neunten Symphonie, von den Gellert-Liedern bis zur Missa solemnis! Aus der reichen Fülle mochte sich dann jeder aneignen, was seiner Natur am meisten entsprach. Beethoven nimmt in der Musik des neunzehnten Jahrhunderts eine ähnliche beherrschende Stellung ein, wie in der Philosophie der Gegenwart Immanuel Kant: von ihnen ist Alles ausgegangen; zu ihnen strebt Alles zurück. Und wenn man die ganze Entwickelung Beethoven’s als bis zu Ende in durchweg aufsteigender Linie verlaufen anzusehen ein Recht hat, so darf man den Neudeutschen ihren Anspruch auf den Namen der eigentlichen und strengen Beethovenianer nicht verkümmern. Dabei verzichten sie aber keineswegs auf den mannigfachen Gewinn, welcher der Musik aus ihrer Berührung mit den romantischen Stimmungen und Idealen erwachsen war. Auf Wagner hat neben Beethoven und Gluck am stärksten Weber eingewirkt, und den Stoff seiner Dichtungen hat er den Sagenkreisen des Mittelalters und der Urzeit des deutschen Volkes entnommen, während Liszt nicht nur Schubert – an der Popularität der Schubert’schen Lieder haben seine Transscriptionen einen nicht zu unterschätzenden Antheil – sondern auch dem ihm befreundeten Chopin Vieles verdankt.
Wir haben die musikalischen Richtungen der Gegenwart gefragt: wo kommt ihr her, wo wollt ihr hin, was treibt ihr? und sie haben uns Rede und Antwort gestanden. Die letzte noch übrige Frage: wer sind eure Vertreter, und in welche kleineren Gruppen schaaren sie sich zusammen? fällt außerhalb der Aufgabe, welche dieser Aufsatz sich gestellt hat. Zum Theil ist sie durch vereinzelte biographische Artikel, welche die „Gartenlaube“ ihren Lesern seither geboten, bereits erledigt, und was an der Antwort noch fehlt, werden jedenfalls spätere Beiträge allmählich ergänzen. (Gewiß! D. Red.) Die Musik und die Streitfragen auf diesem Gebiete bewegen ja das Publicum in unserer Zeit so lebhaft, wie die Dinge auf keinem anderen Kunstgebiete.[1] Unerläßlich aber ist, wenn das Publicum zu einiger Selbstständigkeit des Urtheils in musikalischen Fragen und zum unbefangenen, nicht durch die verwirrenden Schlagwörter einseitiger Kritiker getrübten Genusse alles wahrhaft Bedeutenden und Guten auf diesem Gebiete gelangen soll, daß ihm die sachliche wie historische Berechtigung der verschiedenen Richtungen einmal klargelegt werde, und wenn der vorstehende Artikel dies erreicht hat, so hat er seine Aufgabe erfüllt.
Der abermalige Mordversuch auf den Herrscher Rußlands lenkt heute Aller Blicke nach der Schreckensstätte an der Newa, dem kaiserlichen Winterpalast in St. Petersburg, welcher die hauptstädtische Wohnung des russischen Czaren bildet. Die Lage dieses umfangreichen Baues ist eine ausgesucht reizvolle, besonders auf der Newaseite.
Der Strom selbst, mag er in seinen eisigen Banden ruhen, mag er seine tiefblauen Wasser in wieder erlangter Lebensfülle hinab nach dem finnischen Meerbusen tragen, bleibt immer einer der stolzesten und mächtigsten Flüsse unseres Welttheils. Am jenseitigen Ufer, rechts drüben, liegt die Peter- und Pauls-Festung mit ihrer wie eine endlose Goldnadel emporstrebenden Thurmspitze, die meilenweit hin leuchtet, als wolle sie Jeden daran erinnern, daß hier strenge Haft den Staatsverbrecher bedroht. Die Festungskirche birgt die Gruft, in der alle Herrscher Rußlands seit Peter dem Großen ruhen. Dem Winterpalast unmittelbar gegenüber, auf dem Insellande Wasilij Ostrow, hinter dessen Spitze hier der Arm der Kleinen Newa verschwindet, finden wir am Flusse entlang das mehr imposante, als schöne Börsengebäude, daneben die Colonnaden der Akademie der Wissenschaften, an die sich die Riesenbauten der Universität und des Pawlof’schen Cadettenhauses – einst Menschikoff’s Palais – nebst anderen großartigen öffentlichen Gebäuden reihen. Die Dimensionen der einzelnen Bauwerke treten durch die Menge der dazwischen liegenden Gärten doppelt imposant hervor. Unter den Gärten ist der schöne Solowiew’sche Square ein wahrer Schmuck von Wasilij Ostrow.
So schön auch das rechte Ufer der Newa ist, so wird es doch, was die Bauten anlangt, von der linken Seite übertroffen. In ihrer majestätischen Pracht tritt uns hier vor Allem die Isaaks-Kirche mit ihren achtundvierzig Monolithsäulen aus finnischem Granit entgegen. In langer Reihe ziehen sich wahre Paläste am englischen und am Palastquai entlang, und doch bleibt ihnen trotz ihrer Ausdehnung jede Monotonie fern. Das lebensvolle Standbild Peter’s des Großen zu Pferde, hoch oben auf dem Felsblocke, der mit undenklichen Mühen und Kosten zu Wasser aus Finnland hieher gebracht wurde, und der vor Kurzem wie mit einem Zauberschlage entstandene Admiralitätsgarten sorgen reichlich für wohlthuende Abwechselung. Der Winterpalast, zwischen den beiden eben genannten Quais gelegen, bildet gewissermaßen den Mittelpunkt dieser auffallend geschmackvoll angegelegten Stadtgegend.
Aber nicht die Flußseite allein ist erwähnenswerth: nach Süden hin finden wir einen schönen, von dem Riesenbau des Generalstabsgebäudes in weitem Halbbogen begrenzten Platz, welchen die Alexander-Säule schmückt, ein Monolith, der höher ist, als die höchsten ägyptischen Obelisken. Nach Westen liegt die Admiralität, deren goldene Thurmspitze allein 60,000 Dukaten kostete, ein weiter, ziemlich geschmackloser Bau, der aber jetzt, aus dem frischen Grün des kürzlich angelegten, zu seinen Füßen sich ausbreitenden Alexander-Gartens hervorragend, einen recht anmuthigen
[193] Hintergrund bildet. Nach Osten schließt sich durch einen kühnen Bogen die Eremitage, jene Stätte voll unübertrefflicher Kunstschätze, an den Winterpalast an.
Die Lage des kaiserlichen Palastes ist jedenfalls viel hervorragender, als die Bauart desselben; denn es ist schwer, in der riesenhaften viereckigen Steinmasse irgend einen rein durchgeführten Stil wieder zu finden. Die Höhe des Baues, siebenzig Fuß, entspricht, wie bei den meisten großen Bauten Petersburgs, nicht der Breite und Länge, welche letztere 700 Fuß ausmacht, und so großartig auch die Thore, Pforten, Säulen und Thürme im Einzelnen sind, so vermögen es doch diese Kunstwerke nicht, den ersten Eindruck des Ganzen zu verwischen; auch der gelbliche Ton des Palastes ist mehr eigenthümlich als wohlthuend.
Die Hauptanfahrt für den Kaiser und die kaiserliche Familie liegt nach dem Generalstabsgebäude hin; die fremden Gesandtschaften, die Generalität und die hohen Verwaltungsbehörden haben jede ihre besondere Anfahrt.
Ueber 5000 Menschen bewohnen den kolossalen Palast, dessen einzelne Räume sich in dem engen Rahmen dieser Schilderung unmöglich beschreiben lassen, so viel des Erwähnenswerthen sie auch aufzuweisen haben. Die Privatgemächer des Kaisers und der Kaiserin bleiben den Fremden, selbst in Abwesenheit des Hofes, streng verschlossen.
Wenn man die Prunkgemächer des Palastes durchschreitet, wähnt man sich in das Feenland versetzt; so strotzt Alles von Gold und Silber. Es ist begreiflich, daß in einer Winterresidenz, wo der Tag um die Zeit der Anwesenheit der Fürstlichkeiten so kurz ist, auf die künstliche Beleuchtung ganz besonderer Werth gelegt wird; schönere Candelaber und Kronleuchter lassen sich wohl kaum finden als hier: in allen Ecken stehen auf hohen Sockeln, bald von Gold, bald von getriebenem Silber, bald wieder vom reinsten Krystall vielarmige Leuchter, stets in vollkommener Uebereinstimmung mit dem übrigen Schmuck des Gemaches. So ragen im grünen Malachitsaale, der rund herum an den Wänden in bedeutender Höhe mit schönem grünen Uralsteine getäfelt ist, die hohen Leuchter auf mit demselben Stein getäfelten Quadern. Die Säle des Palastes sind mit vorzüglichen Gemälden, meist Schlachtenbildern, reichlich geschmückt. Der große, in letzter Zeit oft erwähnte Speisesaal ist in seinem oberen Theil von einem engen Gitter von Wachskerzen umgeben, und bei der tageshellen Beleuchtung erglänzen die Gold- und Silberschüsseln auf den großen Prunkbuffets in erhöhtem Glanze.
In diesen herrlichen Sälen vergißt man es leicht, daß man sich im hohen Norden befindet, denn man weilt hier unter Palmen und allen Wundern der südlichen Vegetation; ja die Kunst versteht es, mit der Natur ihr Spiel zu treiben, und erzeugt wie mit einem Zauberschlage die Blumen und Früchte des Frühlings, des Sommers und des Herbstes zugleich, um damit die Wohnungen und die Tafeln des Czaren zu schmücken. Großartige Gewächshäuser stoßen unmittelbar an die Wohnräume und sind stets ein Lieblingsaufenthalt der kaiserlichen Gäste.
Einen besonders behaglichen Eindruck machen die Gemächer der kaiserlichen Tochter, der Großfürstin Marie, die seit der Vermählung ihrer Bewohnerin mit dem Herzog von Edinburgh dem Publicum offen stehen. Auch hier fehlt es nicht an prunkvollen Empfangsgemächern, aber was liebende Fürsorge vermag, wurde hier vereint, um dem Liebling ein freundliches Heim zu schaffen. Große, immer grüne Epheuwände theilen die Zimmer ab und bilden gemüthliche Erker und Ecken, wo schwellende Kissen, weiche Divans aller Art zur Ruhe laden. Neben einem der Empfangszimmer befindet sich ein grottenartiges Gelaß, in das man über breite mit blumigen Teppichen belegte Marmorstufen gelangt; eine plätschernde Fontaine, von üppigen Pflanzen umgeben, nimmt die Mitte des Raumes ein, und in schattigen Lauben, zwischen Muscheln und Blumen verstecken sich die lauschigsten Sitze.
Mit orientalischem Luxus sind auch die verschiedenen Badestuben im Palaste ausgestattet, die in Rußland selbst im Dorfe zu den unentbehrlichen Einrichtungen gehören.
St. Petersburg ist eine zu neue Stadt, als daß sich an seine einzelnen Gebäude viel große historische Erinnerungen knüpfen könnten.[2] Man hat überall den Eindruck des plötzlich Entstandenen[3] man fühlt den Willen des stolzen Kaisers, der in einem Moraste sprach: „Es werde eine Stadt!“ Aber so kühn Peter's des Großen Pläne bei der Anlage der Stadt sein mochten, so würde er dennoch sicherlich staunen, könnte er sehen, was unter seinen Nachfolgern zur Ausführung kam.
Wie viel prunkvoller ist die heutige Behausung der russischen Herrscher, als das bescheidene Häuschen des Begründers der Stadt, das auf der Petersburger Seite steht und von dem aus er seit 1703 die Arbeiten für seine werdende Residenz leitete! Die ersten Steinhäuser entstanden 1810; bis dahin wurde nur mit Holz gebaut, und noch heute finden wir eine große Menge solcher Holzhäuser, die mit ihren doppelten Wänden der Kälte reichlich so gut trotzen, wie die besten Steinmauern.
Dort, wo heute der Winterpalast prangt, stand früher das Haus eines Grafen Apraxin, der es dem Kaiser Peter dem Zweiten vermachte. Nach diesem wohnte die Kaiserin Anna darin. Als aber Elisabeth den Thron bestieg, genügte ihr die bescheidene Wohnung nicht; sie ließ dieselbe niederreißen und berief den italienischen Architekten Rastrelli, der den ersten Winterpalast erbaute. Im Jahre 1765, unter Katharina der Großen, wurde das riesenhafte Schloß bezogen und von der kunstsinnigen Fürstin mit Kunstwerken aller Art reich geschmückt. Katharina's unersättlicher Thatendrang kam ihrem Reiche sehr zu Statten, dessen innerer Ausbau und Verwaltungsorganisation noch heute großentheils auf den unter dieser Kaiserin gebildeten Grundlagen beruhen.
[194] Unter der Regierung ihres Sohnes, Paul’s des Ersten, trat der Winterpalast in den Hintergrund des Interesses. Paul erbaute sich ein Schloß, das zugleich als Festung gelten konnte, das jetzt als Sitz der Militär-Ingenieur-Verwaltung dienende Michaelow’sche Palais, in welchem der unglückliche Monarch auch sein Ende fand. Erst unter Paul’s Sohn, Alexander dem Ersten, unter dem eine neue, bessere Zeit für Rußland heranbrach, wurde der Winterpalast wieder kaiserliche Residenz.
Eine schwere Katastrophe brach über das stolze Czarenheim zwölf Jahre nach der Thronbesteigung Nicolaus des Ersten herein. Es war am 29. December 1837, da schlugen plötzlich die Flammen aus seinen Fenstern, und so furchtbar wuchs die Gewalt des Elementes, daß man ihm die Zerstörung des Innern überlassen mußte. Aber den Ruinen gegenüber standen ein kaiserlicher Wille und kaiserliche Machtmittel; der Czar Nicolaus befahl, möglichst schnell das Andenken an die Katastrophe zu verwischen, und dank der fieberhaften Thätigkeit des Generals Kleinmichel, welchem der Plan Rastrelli’s in die Hand gegeben worden, stand fünfzehn Monate später das kaiserliche Schloß in weit größerer Pracht als vorher – so, wie wir es noch heute bewundern – fertig da.
Wer sich an unserer Mosel, dem größten und schönsten Nebenflusse des Rheins, und ihren bilderreichen Ufern erfreuen will, kann dies jetzt, wie bereits in einem frühern Artikel erwähnt, vom Fenster des Dampfwagens so gut wie vom Verdeck des Dampfschiffs aus thun, falls ihn die Eile plagt. Wer Zeit hat und wem es seine körperlichen Mittel erlauben, der nimmt doch besser Ränzel und Stab und geht zu Fuß, wie es der Verfasser dieser Zeilen in froher Gesellschaft gethan.
Als wir Coblenz mit seinem großartigen Bilde der Moseleinmündung in den Rhein verließen, hingen noch schwer und trübe die Wolken und brauten in gespenstigen Gestalten über dem Strom, dessen Rauschen wir wohl zu hören, den wir selbst aber durch den Nebel nicht zu erkennen vermochten. Nach und nach ward es lichter, bald tauchte das andere Moselufer in großen Zügen und Umrissen empor, und lustig wanderten wir vorüber an dem Oertchen Güls, dem weinbauenden Winningen und Dieblich. Die Gegend ward charakteristischer; die Berge wurden höher und zeigten kühne Linien und majestätische Abhänge. Zur Seite öffneten sich stille, einsame Thäler, auf den Höhen aber erschienen düstere Burgtrümmer, darunter manche mit gar stolz klingenden Namen, wie: Cobern, hinter welchem die „Alteburg“ auf unserer Illustration sichtbar, ist, Gondorf mit seinem renovirten Burghause, Bischofstein, Alken unter den Mauermassen des Schlosses und Turrun (Thurant), alles großartige Ruinen, von denen Geschichte und Sage viel zu erzählen haben. Die Herren von Cobern waren vor Alters ein großes Geschlecht, dessen letzter Sproß aber, Lutter von Covern, 1566 „zu Covelents auf dem Plan“ mit dem Schwerte gerichtet wurde. Auch der Glanz Derer von der Leyen; die auf Gondorf, der stattlichen Uferburg, ihren Wohnsitz hatten, ist längst erloschen.
Einer der schönsten Moselruinen begegnen wir aber in dem wildromantischen Thal der Ehre, die sich bei Brodenbach in die Mosel ergießt. Hier saßen die Herren von der Ehrenburg, ein tapferes, mannhaftes und fehdelustiges Geschlecht. Als Richard Löwenherz Ptolemais bestürmte, war es ein Ehrenburger, der mit zuerst die Mauern erstieg; ein Anderer des Geschlechts war unter den Eroberern von Constantinopel; ein Friedrich von Ehrenburg starb unter Ludwig dem Heiligen als Tempelherr den Heldentod in der Schlacht bei Damiette. Der letzte Sprosse aber, der neidischen Auges das stete Wachsen der Städte, die Abnahme des Ritterthums beobachtete, fiel 1397 mit seinen wilden Gesellen über die Stadt Coblenz her und ließ zweihundert Häuser daselbst in Flammen aufgehen. Dem Erzbischof von Trier trieb er dazu die fetten Heerden weg. Mit dem Erlöschen der Ehrenburger ging die allmählich zerfallende Veste durch verschiedene Hände, bis sie zu Ende des vorigen Jahrhunderts an die Herren von Stein zu Nassau fiel.
Haben wir den Flecken Hatzenport mit dem Spitzthurm passirt, so steht vor uns auf unwirthlichem dunklem Felsen der hellschimmernde Thurm der Ruine Bischofstein, deren Geschichte bis an’s graue Mittelalter hinaufreicht. Erzbischof Nicetius ließ um 550 Künstler aus Italien kommen, um die von den Germanen zerstörten Tempel wieder herzurichten, besonders aber, um sein Schloß Bischofstein zu erbauen. Gar wundersam ist die Beschreibung, die uns ein berühmter Besucher, Venantius Fortunatus, der Bischof von Poitou, von diesem Schlosse hinterlassen. In drei Abtheilungen erhob sich dazumal amphitheatralisch das ganze Bauwerk; gewaltige Mauern umgürteten den Berg bis zur Mosel hinab; von dreißig Thürmen wehten die bischöflichen Zeichen; auf höchster Spitze des Felsens aber lagen die Wohngebäude und bildeten für sich wieder eine Burg, und weithin schweifte von der auf marmornen Säulen ruhenden Gallerie der Blick in die herrlichen Mosellande. Diese Pracht ist längst verschollen; ein weißes Kirchlein erhebt sich einsam inmitten der Ruinen.
Bei Moselkern kommt wildrauschend die Elz aus den Bergen, in deren Kessel auf steiler Koppe das noch erhaltene Schloß Elz uns lebhaft in die Zeiten des sturmbewegten Ritterthums versetzt. (Vergl. „Gartenlaube“, Jahrg. 1873, S. 85.) Bis in’s zehnte Jahrhundert verfolgen die Elzer ihren Stammbaum. Einer noch älteren Geschichte rühmt sich Carden, wo in alten Römerzeiten zu Ehren des Kaiserhauses ein Tempel gestanden. Im vierten Jahrhundert errichtete hier der Heilige Castor seine Zelle, über deren Stätte sich heute hie prächtige Stiftskirche erhebt.
Gedrängter reihen sich jetzt die Ortschaften; links, bei Treis, stehen in einer wilden Thalschlucht, die ein Bach ausgewühlt, zwei Burgen auf isolirten Kegeln, Treis und die Wildenburg; weiter folgen Clotten mit der Altenburg und die beiden romantisch gelegenen Städtchen Cochem und Beilstein, welch beide Orte in Nr. 21, 1879 und Nr. 7, 1880 schon eingehender besprochen und abgebildet wurden.
Immer schroffer und malerischer wird der Charakter der Gegend. Furchtbare Felsmassen dunkeln über dem Strom, in ihrer Gestalt manchmal an die Lurleifelsen erinnernd. Jedes nur irgend zugängliche Fleckchen, jede Ecke, jeder Vorsprung dieser Felsen ist zum Weinbau benutzt; terrassenförmig, durch kleine Mauern gestützt, schieben sich die einzelnen Weinberglagen die Felsen hinan; oft hat ein einzelner Weinstock seine kleine Terrasse. Inmitten dieser tiefen Einsamkeit, zwischen himmelhohen Felswänden spiegeln sich die öden Mauerreste des Klosters Stuba in der Fluth. Durch die Fensterhöhlen weben hohe Wallnußbäume ihre Schatten. Vor Zeiten war Stuba von Augustinerinnen bewohnt und weithin berühmt durch seine seltenen Kirchenschätze, die aber gleich denen des benachbarten Klosters Marienburg längst in alle Winde verstoben sind. Auch die Marienburg liegt in Trümmern, ist aber dank ihrem wunderbaren Ausblick ein vielbesuchter Ort. Von Alf, welches sich breit und stattlich am Fuße des Berges lagert, stiegen auch wir hinauf.
Bis vor wenig Jahren hauste hier oben einer der besten Kenner des Jägerlateins, der alte Förster Gassen. Der wußte ganze Bände zu erzählen von ergötzlichen Abenteuern und Jagdstücken auf Berg und Strom, und mit ihm und seinem Töchterlein ist ein gutes Stück Poesie für immerdar entschwunden. Heute erhebt sich an Stelle seiner einfachen Klause ein Hôtel, und frackbezipfelte Kellner hantieren in den Räumen, die vor Alters von Nonnen bewohnt gewesen. Die Aussicht hier oben ist unendlich wild; die Berge weisen sichere und charakteristische Schönheitslinien auf, und zur Rechten wie zur Linken sehen wir unter uns das silberne Band des Stromes, der nach fünf Stunden langer Krümmung, an dem alten Städtchen Zell vorüber, fast auf die alte Stelle zurückkehrt.
Unter Donner und Blitz, während eines heftigen Regengusses, langten wir, Enkirch links liegen lassend, in Litzich, einem Dörfchen vor Trarbach, an. Der Ort besteht zumeist aus stattlichen Fischerhütten, und die Männer in ihren braunen Jacken standen in der Thür und sahen dem Regen zu. Eine seltsame Einsamkeit lag über den Bergen; grau und schwer hingen die Wolkenzüge
[195] hernieder, der rechte Hintergrund für die phantastischen Trümmer der jetzt hoch droben erscheinenden, durch ihre Entstehungsgeschichte so merkwürdigen Gräfinnenburg.
Auf dem schon schroffen Berggrat nämlich, der das reizende Moselthal von Trarbach bis Enkirch umkränzt, saß seit grauer Vorzeit ein Hauptstamm der Grafen von Sponheim, der sich nach der hier erbauten, jetzt in kaum bemerkbaren Resten noch übrigen Veste Starkenburg, die Sponheim-Starkenburger Linie nannte. 1324 herrschte hier die Gräfin Lauretta, geborne von Salm, deren frühzeitig verstorbener Gemahl ihr seine reichen Besitzungen und drei unmündige Kinder hinterlassen hatte. Da beschloß Erzbischof Balduin, einer der kriegerischsten und mächtigsten Kirchenfürsten auf Triers Thron, Bruder Kaiser Heinrich's des Siebenten und Onkel des Königs Johann von Böhmen, das Erzstift auf Kosten der schutzlosen Wittwe zu bereichern. Er baute auf Sponheimischem Boden an einer Burg, besetzte sie mit seinen Mannen und begann die Besitzungen der Gräfin auszuplündern. Aber Lauretta sammelte ihre Vasallen und trieb die Trierer mit blutigen Köpfen zurück. Ergrimmt schritt jetzt der Bischof zu einer Belagerung der Starkenburg.
Die Gräfin, ebenso klug wie muthig, erkannte, daß sie auf die Dauer dem übermächtigen Gegner schwerlich gewachsen sei, verschob ihre Rache auf gelegenere Zeit und trat im Waffenstillstand einen Theil ihres Gebietes an Trier ab. Sorglos fuhr darauf Balduin eines Tages mit geringem Gefolge die Mosel hinab gen Coblenz. Aber die Gräfin hatte Kunde davon erhalten und kaum bog die Barke Balduins bei Starkenburg um ein mit Buschwerk bewachsenes Vorland, da schnellte vor derselben eine mächtige Kette aus den Tiefen des Wassers, aus dem Ufergestrüpp aber brachen Kähne mit Bewaffneten hervor, machten den Bischof zum Gefangenen und führten ihn hinauf nach der Starkenburg.
Die gesammte hohe und niedere Geistlichkeit rief umsonst Fluch und Verdammniß über die Kecke herab; Kaiser Ludwig und König Johann drohten vergeblich; sogar der große Kirchenbann, der vom Papste feierlich über sie verhängt wurde, vermochte Lauretta nicht zu beugen, und als sie den Gefangenen entließ, hatte er geschworen, das von ihm zu bauen begonnene Schloß Birkenfeld unvollendet liegen zu lassen und ein Lösegeld von 11,000 Pfund Hellern zu bezahlen. Balduin's mehrwöchentliche Haft war eine ehrenvolle gewesen, und er hatte während derselben seine Feindin kennen und achten gelernt. So kam es, daß er nach seiner Freilassung selbst die Aufhebung des Kirchenbannes vom Papste erbat und ein Schutz- und Trutzbündniß mit Lauretta einging. Nur gering waren die Kirchenstrafen, welche die sponheimischen Vasallen zu büßen hatten. Das Lösegeld Balduin's aber verwandte Lauretta zum Aufbau der Trarbach krönenden Gräfinnenburg, die nach ihrer Vollendung für eine der stärksten Burgen des Mittelalters und als uneinnehmbar galt. Besonders blutige Kämpfe um den Besitz derselben, als des wichtigsten Punktes der Mosel, spielten sich im dreißigjährigen und spanischen Erbfolgekriege bei Trarbach ab, und am wildesten ging es her im Jahre 1734, wo 250 Deutsche mehrere Wochen hindurch sich mit Erfolg gegen ein großes, unter dem Befehle des Marschalls Belle-Isle stehendes Heer Franzosen vertheidigten. Erst nachdem die Belagerer 2634 Bomben, jede zu 500 bis 600 Pfund, in die Burg geschleudert und mehrere ungeheure Breschen geschossen, capitulirte die tapfere Besatzung und zog unter ihrem Commandeur, Freiherrn von Hohenfeld, mit Fahnen und Geschütz frei ab nach Ehrenbreitstein.
Trarbach gegenüber lagert sich langgestreckt auf schmalem Ufersaume das gartenumkränzte Traben, hinter dessen alten Häusern die herrlichen Formen des Plateaus sich erheben, welches vor zweihundert Jahren die berüchtigte Moselzwingburg Ludwig's des Vierzehnten, den Montroyal, trug. Nach dem Plane des genialen Vauban erbaut, bildete die gewaltige Festung in Verbindung mit der Gräfinnenburg ein ungeheures Thor, das den Eingang nach Deutschland sichern mußte.
Erst das Jahr 1698 brachte dieser Zwingburg den Untergang, die wie ein eherner Fuß den Nacken der unglücklichen Rheinländer niedergezwungen hatte. Traben, der alte, weinberühmte Ort, ist dem Maler besonders noch lieb und werth. Nicht allzu viel verändert hat das letzte Jahrhundert in dem Thun und Treiben des Volkes. Auch die Bauart muthet uns noch recht feudal und mittelalterlich an. Neugierig springt ein Stockwerk über das andere hervor; das Holzwerk ist künstlich geschnitzt und zeigt namentlich an den Balkenknöpfen und Fensterleisten prächtige Arbeit, von der in der Illustration Proben als Mittelstab angebracht sind. Vom Mittelpunkte des Ortes aber, dem Marktplatze, wo alle Gassen zusammenlaufen und Abends die ehrsamen Bürger auf den Treppen hocken, um zu kannegießern, da winkte noch vor kurzer Zeit vom altersgrauen Rathhause das Glöckchen, um zu jeder Stunde der Gefahr, wie auch zum Rathe, die Bürger mit schrillem Tone zusammen zu rufen. Seit dem 2. November des vorigen Jahres, wo eine große Feuersbrunst 60 der ältesten Wohnhäuser verzehrte, liegt dies Alles, Haus und Thürmchen in Schutt und Asche und mit ihm ein Denkmal weit zurückreichender geschichtlicher Erinnerungen. Namentlich konnte man im Rathhaussaal noch die alte, derbe Bauart erkennen, wie sie damals in Deutschland gang und gäbe war: altersbraune, mächtige Pfeiler stützten die Decke; gegen die Straße hin öffnete sich ein Erker mit kleinen, bleigefaßten Fenstern; in uralten, mit schweren Schlössern versehenen Truhen lagen die Documente und Urkunden des Ortes, und ein gewaltiger Eckschrank barg des Ortes Zinngeschirr, das zum Gebrauche armer Bürger bei festlichen Gelegenheiten angeschafft worden war: radgroße Teller, Käseschüsseln, Trinkgefäße und vor Allem die merkwürdige „Strafkann', ein Monstrum ihrer Art. Den interessantesten Theil aber bildeten Glasgemälde, die, von holländischen Kaufleuten vor zwei Jahrhunderten gestiftet, meist Scenen aus der biblischen Geschichte zum Gegenstande ihrer Darstellung hatten und auf denen man einen David im Costüm der Pappenheimer, einen Holofernes in Landsknechtshosen bewundern konnte, während bei der Belagerung von Jericho ganze Reihen von Kanonen Feuer und Flammen spieen.
Geht man auf dem wunderbar romantischen Wege hin, den der kleine Rautenbach durch düstere Felsen und lachende Wiesen gebrochen, so eröffnet sich eine halbe Stunde von Trarbach eine wilde, einsame Gebirgslandschaft, deren höchster Punkt, auf einer kahlen Koppe, weithin sichtbar die cyklopischen Ueberreste des Wellsteines trug. Wie eine düstere Mythe ragt das seltsame Monument aus dem wüsten Chaos der viele Centner schweren Steinblöcke hervor, deren kolossale Größe bezeugt, daß die Erbauer des räthselhaften Bauwerkes dem heutigen Menschengeschlecht an Körperkräften weit überlegen gewesen sein müssen.
Vor zwei Jahrhunderten stand der Wellstein (den man, wie auf unserer Illustration, auch als Wildstein bezeichnet findet) noch in seiner ganzen trotzigen Gestalt. Acht gewaltige Blöcke waren zusammengefugt, ohne Mörtel und nur mit Hülfe kleinerer Steine zu höchster Festigkeit verbunden. Drei Steine erhoben sich nach oben zu in einem Punkte sich zusammenneigend, sodaß zwischen diesen drei Steinfüßen ein fünf Fuß hoher und neun Fuß langer leerer Raum blieb. Auf diesem ungeheuren Dreifuße lagen vier viereckige gleich große Steine übereinander, von Weitem anzusehen wie eine viereckige Säule, auf der Säule aber eine ungeheure Steinplatte, über alle Seiten weit hinausragend. Unser Gewährsmann, der hochgelahrte weiland Rector Hoffmann vom Trarbacher Gymnasium, versichert in seiner „Ehrensäul“, daß diese Steinplatte trotz der heftigsten Windstürme unverrückt liegen geblieben, obgleich dieselben sie so bewegt, daß man das Getöse in Trarbach habe hören können. Eines Tages aber – es war im Jahre 1730 – kam es einem Gymnasiasten von Trarbach in den Sinn, die eben in der Schule vernommene Lehre von der Gewalt des Hebels an dem Kopfe des Wellsteins zu versuchen, und nach kurzer Zeit fiel der Stein mit donnerndem Gekrache hinab, Alles zerschlagend und selbst zerberstend.
Die Wissenschaft unserer Tage ist noch nicht herangetreten an den einsamen Stein, im Volke aber munkeln halbvergessene Sagen, daß unter ihm ein mächtiger Heidenkönig die ewige Ruhe halte, und daß man vor langer, langer Zeit beim Graben Spuren von Baugefüge und sonderbare Geräthe gefunden, deren Zweck Niemand zu deuten gewußt.
Wir hatten in Trarbach übernachtet und rüsteten uns zur letzten Tagereise. Der Tag begann zu grauen, und wir wählten den Weg, der „über den Berg“ gen Berncastel führt, um der gewaltigen Krümmung zu entgehen, welche die Mosel zwischen beiden Orten beschreibt. Auf der Höhe, wo in der Nähe alter verfallener Schwedenschanzen einige dürre Eichbäume ihre blätterlosen
[196][197] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [198] zackigen Aeste wehmüthig in die Luft hinausreckten, empfing uns ein eigenthümliches Bild: tief unter uns wogte und wallte es – eine weiße Fläche, so weit der Blick reichte – das ganze Moselthal umfangen vom Morgennebel, den zu durchbrechen die blutroth auftauchende Sonne noch keine Kraft gewonnen. Inseln gleich ragten die Kuppen der höheren Berge hervor; märchenhaft tönte der Klang der Klosterglocken drunten im Thal; uns däuchte, als käme der Klang aus der Tiefe des Wassers herauf, als wären es die Klagelaute einer längst versunkenen Stadt.
Das weltberühmte Zeltingen, die Klöster Machern und Graach, das sogenannte Cröverreich waren verhüllt durch den Morgennebel, in den wir jetzt hinabtauchten, um Berncastel und die feste Moselbrücke zu gewinnen. Hier sind wir im Centrum des Rebenlandes, hier giebt's allenthalben Namen von süßestem Duft und reinstem Klang. Den mit dem gelehrten Titel „Doctor“ benamsten Wein kennt Jedermann; er gedeiht an den Berghängen, von deren Höhe die Trümmer des alten Schlosses Berncastel herniederschauen. Drüben wächst der Neuenberger, dort der Oligsberger, und das flüssige Gold der uns zu Füßen funkelnden Trauben kennt die Welt unter dem Namen „Brauneberger“. Weiter liegen am Flusse, der eben ein Hufeisen beschreibt, die Rebenhügel, die dem Oertchen Pisport zu eigen. Links liegt das von Ausonius schon besungene Neumagen.
Abend wird’s; drunten schlagen Rudrer die Fluth; überall rothgoldiger Sonnenschein, in der Nähe glänzende Felsen, uns zu Füßen der funkelnde Strom, in der Ferne aber blaues Gebirg und an seinem Fuße lange verschwimmende Häuserlinien. Bald liegen hinter uns der „marmorberühmte Erubrus“ und das alte Palatolium (Pfalzel), wohin vor zwei Jahrtausenden die Patricier der nahen Kaiserstadt zur Sommerfrische hinauszogen. Allmählich verdämmern die sanften, lichtumflossenen Höhenzüge; funkelnde Sterne steigen herauf; Lichter blinken herüber, mehr und immer mehr – endlich eine ganze Illumination – vor uns liegt Trier, die heilige Stadt, die „reiche, ruhmwürdige, beglückte“.
„Gott schlage mich, Herr! Wölfe haben uns den Rückweg abgeschnitten,“ rief Paulu mit dem Ausdrucke höchsten Schreckens.
„Abgeschnitten? Die gemüthlichen Gesellen, mit welchen Du so trefflich umzugehen verstehst?“
„Ach, Herr, unter den Wölfen giebt es, wie unter den Menschen, gute und schlimme, diese aber gehören sicher zu den schlimmsten – hört nur, wie sie grimmig heulen! Der Satan mag mit ihnen umgehen!“
„Meinst Du daß die Bestien unsere Spur verfolgen?“
„Weiß nicht, Herr, fürchte aber, sie sind im Stande, uns auch ganz zufällig zu verzehren.“
Der Bursche meinte es offenbar sehr ernst, weshalb ich nach den Pistolen fühlte.
„Richtig bemerkt, Paulu, da müssen wir uns eben unserer Haut wehren.“
„Wie Ihr befehlt, Herr, aber ich wollte es lieber mit den bissigsten alten Weibern – oh, oh“ unterbrach sich Paulu, mit der Faust auf die Stirn schlagend, „wie dumm man doch wird vor Angst! Folgt mir, Herr! Es ist da noch ein anderer Weg, zwar nicht gerade der beste, doch kann uns nichts Schlimmeres passiren, als das Genick zu brechen.“
Mit diesen Worten ritt Paulu den steilen Hang zu unserer Rechten aufwärts, wo sich in der That ein schmaler Steig zeigte, welchen unsere Pferde, von der Angst getrieben, katzenbehend erklommen.
Auf der Höhe angekommen, bemerkte ich eine einsam stehende, vom Blitze gespaltene Tanne, welche einen einzigen Ast wie klagend gegen den Himmel streckte und mich durch ihre galgenartige Form erinnerte, daß ich diesen Weg schon einmal betreten hatte. Derselbe war, wie ich mich nun genau entsinnen konnte, wenig mehr als schuhbreit in die schroffe Felsenwand gekerbt und namentlich an einer Stelle so brüchig, daß ich dieselbe damals als Fußgänger und bei Tage nur mit höchster Vorsicht Schritt für Schritt passirte.
Sofort wollte ich vom Pferde steigen.
„Bleibt, Herr!“ rief aber Paulu, „unsere Gäule haben den Weg näher am Auge und außerdem vier Füße – bleibt also, Herr, und ist nicht Hexerei im Spiele, dann sind wir im Sattel so sicher, wie ein Kind in der Wiege.“
Der Bursche hatte trotz seines kühnen Vergleiches Recht; es war mittlerweile ganz finster und die Wegspur für menschliche Augen völlig unkennbar geworden, während unsere vierfüßigen Kletterer dieselbe langsam zwar, aber sicher verfolgten, indem sie gefährliche Stellen Zoll für Zoll mit den Nüstern an der Erde untersuchten.
Schon hatten wir die schlimmste Strecke hinter uns, schon glaubten wir uns geborgen, als unsere Pferde plötzlich schnaubend stehen blieben, und abermals, nur weit näher, jenes wilde Geheul ertönte, während eine Reihe von glühenden Augensternen von dem Felsengrat vor und neben uns herabfunkelte.
„Aus ist's, Herr,“ stöhnte Paulu leise, „den Teufeln gelüstet's gerade heute nach Menschenfleisch; o Herr, ich wollte, wir wären im Riu rou ertrunken.“
„Unsinn, Paulu! Du selbst sagtest, die Bestien seien dem Menschen gegenüber feige; wollen einmal sehen.“
Wie segnete ich meine Vorsorge wegen der Pistolen! Ich nahm eine derselben aus der Tasche und feuerte sie in der Richtung gegen die Leuchtkugeln ab. Der Knall hallte zehnfach in den Bergen nach, und wüthendes Geheul folgte. Aber was war das? Rothe Feuerballen leuchteten jetzt von der andern Seite über den Abgrund herüber, die Nachtlandschaft plötzlich erhellend, und ein Schreien vieler Menschenstimmen scholl durch die Luft, das in unserer Brust das lauteste Echo fand.
Die unheimlichen Gluthaugen waren verschwunden, und während nun unsere geängstigten Thiere vorwärts jagten, der schützenden Nähe der Menschen zu, gab sich Paulu der ausgelassensten Fröhlichkeit hin. „Herr, Herr, diese Nacht vergesse ich nicht und lebte ich tausend Jahre. – O Du braves Kind einer Hexe! Hei wie gut, daß wir nicht ertranken!“ So rief er durch einander, und dann liebkoste er wieder die braune Stute und versprach ihr nicht nur Malaia, sondern auch einen Hochzeitskuchen, so groß wie die Mondscheibe.
Der rasche Ritt brachte uns in wenigen Minuten in die Nähe unserer Retter, und was erblickten wir?
Einer ganzen Schaar von Fackelträgern voraneilend, schritt Dordona's Tochter, doch nicht wie sonst als ein unter der harten Zucht der Mutter verschüchtertes Mädchen, sondern hochaufgerichtet, sichern Schrittes, und als sie Paulu's Gesicht im Scheine der Pechspähne erkannte, da jauchzte sie laut und schwang ihre Leuchte, daß die Funken einen Strahlenkreis um das liebliche Mädchenhaupt bildeten.
Das fehlte gerade noch. Wie toll sprang Paulu aus dem Sattel und preßte die Geliebte an seine Brust, unbekümmert um die schmunzelnd zusehenden Männer.
Unterdessen hatte sich mir der Führer des Zuges, der langbärtige Dorfpope, unter vielen Bücklingen genähert, worauf er in wohlgesetzter Rede die Gnade Gottes pries, welche ihn als das unwürdige Werkzeug erkoren, einen so großmüthigen Herrn vor dem unangenehmen Tode des Zerrissenwerdens zu bewahren.
Welche Großmuth! Es ist also alle Welt verrückt, dachte ich, und war im Begriffe, dieser meiner Ueberzeugung dem „unwürdigen Werkzeuge der Gnade Gottes“ gegenüber Ausdruck zu geben, als Paulu, der dritten verstärkten Umarmungsauflage sich entreißend, rief: „Freunde, Ihr alle seid Zeugen, daß ich dieses [199] Halsband Margiten rechtzeitig übergeben!“ Seine hocherhobene Hand ließ das glühende Roth einer Korallenkette im Fackellichte spielen.
Lauter Zuruf folgte den Worten Paulu's, worauf der Pope sprach: „Ja, mein Sohn, und nun soll die alte Dordona wohl oder übel Wort halten und einen Hochzeits –“
Der „Schmaus“ blieb dem guten Manne im Halse stecken; denn die verscheuchten Wölfe machten sich – wahrscheinlich durch Zuzug ermuthigt – abermals in höchst beunruhigender Nähe hörbar, Alle zur Heimkehr mahnend.
Rasch ordnete sich der Zug, in dessen Mitte nun das Brautpaar Hand in Hand schritt, während an der Spitze neben mir der Pope auf Paulu's Pferd meine Fragen bezüglich der noch unklaren Details des kleinen Liebesromans mit endlosem Wortreichthume beantwortete. Nur wenn ein Windstoß den brennenden Spähnen glühenden Funkenregen entlockte und in deren Lichte seltsame Nebelgestalten sichtbar wurden, welche über unseren Köpfen dahin huschten, wurde der Redestrom durch zahllose Bekreuzungen und Anrufungen mächtiger griechischer Heiliger unterbrochen, wobei der würdige Seelenhirt jedoch auch irdische Vorsicht nicht außer Acht ließ, sondern sein Pferd möglichst dicht an das meine hielt.
Der Kern dieser weitschweifigen Mittheilungen aber war folgender:
Als Frau Dordona trotz des glücklich ausgefallenen, ihre Bedingungen erfüllenden „Wurfes“ ihr Versprechen nicht einlösen wollte, legte sich der alte Pope aus Mitleid für die schöne Margita in's Mittel und machte der Alten die Hölle so heiß, daß sie endlich in seiner Gegenwart den Hochzeitstag bestimmte und Paulu zum Einkaufe des nöthigen Staates für ihn selbst und Margita nach Rimnik schickte.
So glaubte der würdige Diener der Kirche alles in bester Ordnung und unterwarf seinen wohlgepflegten Leib – wie er mir sub rosa anvertraute – in Erwartung des Hochzeitsgelages einer ebenso verdienstlichen wie in diesem Falle praktischen Bußübung dreitägigen Fastens, als Margita am dritten Abend weinend in seine Hütte trat und ihm erzählte, Paulu habe in seiner Glückseligkeit gerade das Wichtigste, das Korallen-Brautgeschenk – ohne welches kein anständiges Mädchen jener Gegend an den Traualtar tritt – zu kaufen vergessen und sei deshalb von der erzürnten Mutter mit dem Bedeuten aus dem Hause gewiesen worden, entweder den Halsschmuck rechtzeitig herbeizuschaffen, oder sich eine andere Braut zu suchen. Paulu aber sei trotz ihres Abredens in höchster Verzweiflung fortgeeilt, um das Unmögliche, die Zurücklegung des weiten Weges bis zum nächsten Morgen, zu unternehmen.
„Das war eine schlimme Nachricht, bester Herr,“ schloß der Redelustige seine Mittheilungen; „denn die Nacht ist des Menschen Feind, zumal in so vorgerückter Jahreszeit, wo die Wölfe, diese heulenden Kinder Belial’s, so heißhungerig sind, als hätten sie – drei Tage gefastet,“ platzte er im Eifer der Rede heraus, um nach gutmüthigem Selbstbelachen zu enden: „Da gürtete ich denn meine Lenden, wie einst Tobias der Sohn, und nahm so viele Männer mit mir, als in der Eile aufzutreiben waren, um den meiner Meinung nach Verunglückten aufzusuchen, ohne zu ahnen, daß dieser durch die Vermittelung Gottes und seiner Heiligen in Ihnen, bester Herr, einen so muthigen Beschützer und Retter in der Noth gefunden hatte.“
Blieb mir nach all dem auch noch immer räthselhaft, wie Paulu von meinem Reisevorhaben wissen konnte, so war mir doch vollkommen klar, daß ich all die Gefahren dieser Nacht eigentlich nur der Vergeßlichkeit eines einfältigen Hirten wegen bestanden, und diese Erkenntniß versetzte mich eben nicht in die rosigste Laune.
Aber auch dies schien der „dumme Junge“, wie ich meinen treuen Führer in Gedanken taufte, sehr genau zu wissen, denn als wir Frau Dordona's Hütte erreicht hatten, um daselbst den Rest der Nacht zu verbringen, verschwand er mit Margiten und überließ es mir allein, mich an den Geierminen und den grünfunkelnden Augen der über das Mißlingen ihres tückischen Anschlages wüthenden Alten zu ergötzen.
Schon mit Sonnenaufgang weckte mich der Jubel der Hochzeitsgäste, was meine Stimmung in Anbetracht der kurzen Nachtruhe nicht verbesserte. Schlaftrunken kleidete ich mich an, im Innern Amor und Hymen sammt ihren ruhelosen Schützlingen in’s Pfefferland verwünschend; da knarrte die Thür, und ein heller Lichtstrahl fiel in das Dunkel des Raumes. „Endlich Paulu,“ dachte ich mit einem Donnerwetter auf den Lippen; es war aber wieder nicht der einfältige Bursche, sondern Margita, bräutlich geschmückt, die rothen Korallen um den weißen Hals geschlungen. Mit einem Knixe überreichte sie mir einen Strauß frischer Alpenblumen, worauf sie mit bewegten Worten und einem Kusse, der leider nur meiner Hand zu Theil wurde, für meinen „großmüthigen“ Beistand dankte, ohne welchen sie jetzt vielleicht eine Braut in Thränen statt in Freude wäre.
Abermals „großmüthig“ – also auch Margita wußte nicht, daß ich – o Spitzbube von einem einfältigen Schafhirten! – da kam er endlich geschlichen und wühlte in den Haaren mit einem Gesichte, als könne er nicht fünf zählen, während Margita mit einem ermuthigenden Blicke davon hüpfte.
„Du leidest wohl nicht mehr an Kopfschmerzen?“ sagte ich möglichst ernst, denn die Mischung von Scheu, Verlegenheit und Pfiffigkeit in Haltung und Wesen des Burschen war doch gar zu drollig.
„Bestens zu danken, Herr, nein,“ erwiderte er, fügte aber, sich besinnend, hinzu: „das heißt, manchmal brummt es noch immer darinnen, und dann ist's, als hörte ich Wölfe heulen.“
„Sieh, sieh, aber nun sage mir, Bursche, wie kamst Du eigentlich auf den Gedanken, mit mir nach Rimnik zu reiten?“
Paulu schnitt ein Gesicht, wie ein von Leibschmerzen Befallener, ehe er antwortete:
„Ja seht, Herr, das war so ein dummer Gedanke, der unser Einem so in den Kopf kommt, wie eine Fliege in's leere Spinnennetz; auf der Heimkehr von der Stadt begegnete mir der Landbote, und so wußte ich, daß auch Ihr, wie sonst, dahin gehen würdet – na und dann hatte ich die rothen Teufelsdinger vergessen, weil ich eben nur an Margita dachte, und dann sollte ich die Dinger bis heute schaffen, als ob eines Mädchens Hals ein Faß wäre, das ohne Reifen ausrinne, aber es ist so der Brauch – na, da erinnerte ich mich an Euere Pferde und an Euch, Herr, und was für ein guter Herr Ihr seid –“
„Bestens zu danken, Paulu; aber, was meinst Du, wäre es nicht hübscher von Dir gewesen, mir die Wahrheit zu sagen und mich um ein Pferd zu bitten?“
„Mag wohl sein, Herr, aber seht, in der Nacht zählt der beste Mann nur für Einen, Zwei aber machen immerhin ein Paar, nicht zu vergessen die kleinen Schießgewehre in Eurer Satteltasche – na und –“
„Und da zogst Du es vor, mich zum Narren zu halten.“
„Gott schlage mich, Herr, wenn ich daran dachte!“ versicherte Paulu kleinmüthig, indem er nach dem dicken Tschibukrohr in meiner Hand schielte, das mir zugleich als Spazierstock diente – ich glaube, der arme Bursche würde es ganz in der Ordnung gefunden haben, hätte ich seiner stillen Erwartung nach Landessitte und Bojarenart kräftigst entsprochen. Doch schien er auch nicht unangenehm enttäuscht, als das Rohr nicht in Bewegung gesetzt wurde, und aufathmend meinte er:
„Auch dachte ich, Herr, Ihr werdet meine Dummheit um Margitens willen, und da wir doch weder ertranken noch zerrissen wurden, nicht allzu übel nehmen.“
„Nun denn, Du hast Recht,“ rief ich, meine Heiterkeit nicht länger verbergend, „man muß dankbar sein, und da Du Dich bei all dem als ein braver Führer benommen, so sei Dir dieser Streich verziehen – unter einer Bedingung jedoch.“
„Unter welcher, Herr?“ fragte Paulu, aus seiner gedrückten Stellung emporschnellend.
„Du erinnertest mich an Margiten, die heute Dein Weib wird,“ versetzte ich ernst, „Ihr Karpathenmenschen seid aber ziemlich rauhe Eheherren, und an Verdruss wird es in Deinem Hause nicht fehlen – willst Du mir versprechen, die Bosheit Deiner Schwiegermutter nie Margiten entgelten zu lassen?“
„Das will ich, Herr!“ rief Paulu eifrig, „ja, noch mehr, von morgen an bin ich Herr im Hause, und soll es jemals Verdruß geben zwischen mir und meinem guten Weibe, beim Himmel, Herr, die Alte soll's entgelten.“
Und wie der Bursche so sprach, die nervige Rechte schwingend, da schien seine Gestalt plötzlich um einige Zoll gewachsen, in den [200] dunklen Augen blitzte es drohend auf, und der Ausdruck von Stumpfsinn und Einfalt fiel wie ein Schleier von den energischen Zügen – der Knecht war zum Herrn geworden. – –
Ob Paulu sein drastisches „Recept gegen Schwiegermütter“ zur Anwendung brachte, blieb mir unbekannt, ist jedoch bei dessen gutmüthiger Charakteranlage um so weniger anzunehmen, als sich Frau Dordona, wie ich gelegentlich eines späteren Besuches bemerkte, mit echt rumänischer Geschmeidigkeit in die neue Ordnung der Dinge fügte, ja es ganz natürlich zu finden schien, wenn der junge Herr seine Rechte ihr gegenüber nicht allzu schonend geltend machte. Die merkwürdige Veränderung aber, welche mit Letzterem an jenem Hochzeitsmorgen vorging, war eine bleibende, was übrigens nur so lange befremdet, als man das bedingende Gesetz solchen psychologischen Processes nicht in’s Auge faßt. Knechtschaft erzeugt bei Individuen wie bei ganzen Völkern jene Hülle von Stumpfsinn und Einfalt, unter welcher Energie und Geist nothgedrungen sich birgt, wie Feuer unter todter Schlackenschicht. Wohl dem Herrn, der freiwillig die drückende Last der Knechtschaft mäßigt! Wehe dem Despoten, dessen gewaltthätige Faust plötzlich erlahmt!
Ein deutscher Burschenschafter. In Weimar ist vor wenigen Wochen ein Mann gestorben, der sich durch große Verdienste um einen wichtigen Zweig deutscher Cultur- und Sittengeschichte, um die so innig mit der Entwickelung unseres nationalen Lebens verwachsene Geschichte der deutschen Universitäten und ihres Studentenlebens, weithin einen Ruf erworben hat, und den auch die „Gartenlaube“ zu ihren Mitarbeitern zählte. Richard Keil, geboren 1828 in Weimar, bezog 1849 die Universität zu Jena, wo er bis 1853 die Rechte studirte. Schon hier entwickelte sich seine Neigung für historische Studien. Zu der Vergangenheit des akademischen Lebens zog es ihn hin, und als eifriger Burschenschafter durchforschte er emsig das reiche Material, welches für diesen Zweck in der Bibliothek des Jenaischen Burgkellers, in dem zur Zeit der denkwürdigen Demagogenhetze viel verfolgten Archiv, erhalten ist. Aus diesen so früh begonnenen Studien ist dann später nach mühevoller Ermittelung, Sichtung und Verarbeitung aller Quellen und unter Benutzung mündlicher und schriftlicher Mittheilungen ehemaliger Jenenser Studenten das von ihm in Gemeinschaft mit seinem Bruder Robert Keil verfaßte Werk hervorgegangen: „Geschichte des Jenaischen Studentenlebens von der Gründung der Universität bis zur Gegenwart, 1548 bis 1858“ (Leipzig, Brockhaus). Dieses Buch erschien zur dreihundertjährigen Jubelfeier der Hochschule und wurde weithin mit großer Freude und Anerkennung begrüßt, wie dies auch die hervorragendsten Männer (unter Anderen Alexander von Humboldt) in kritischen Aufsätzen und ehrenvollen Zuschriften aussprachen. In der That ist dieses Geschichtswerk bis jetzt die einzige gründliche Monographie über das Studentenleben geblieben, und in den Abschnitten über die neueren Zeitperioden zugleich eine Geschichte der deutschen Burschenschaft.
Wiederum in Verein mit seinem Bruder Robert gab Richard Keil sodann nach alten Handschriften gesammelte „Deutsche Studentenlieder des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts“ mit einer Einleitung über die Geschichte des deutschen Studentenliedes heraus, und gleichzeitig begannen die fleißigen Brüder mit Hülfe der großen Stammbüchersammlung der Weimarischen Bibliothek und zahlreicher in Privathand befindlicher Schätze umfassende kulturhistorische Studien über die deutschen Stammbücher der früheren Jahrhunderte.
Der Burschenschaft war und blieb Keil’s Liebe treu gewidmet, und interessant ist wohl auch die Thatsache, daß der ehrwürdige Mitbegründer der Verbindung, der erste Componist von Arndt’s Vaterlandslied, Pfarrer Johannes Cotta (vergl. „Gartenlaube“, Jahrg. 1863, S. 688 und 1868, S. 282), sein Schwiegervater wurde. Am Jahrestage der Gründung segnete er die Ehe der Tochter mit dem jüngern Freunde ein. Das Burschenschaftsjubiläum 1865 feierte Richard Keil in Jena fröhlich mit und ließ mit seinem Bruder Robert als Festschrift das historische, gleichfalls sehr bekannt gewordene Werk „Die Gründung der deutschen Burschenschaft“ erscheinen. Im Jahre 1867, bei der erhebenden Erinnerungsfeier des Wartburgfestes, war er mit Johannes Cotta, Friedrich Hofmann, Robert Keil und U. R. Schmid Mitglied des Festcomités und veröffentlichte mit seinem Bruder das an geschichtlichen Materialien so reiche, mit einem der schwungvollsten Gedichte F. Hofmann’s gezierte Buch: „Die burschenschaftlichen Wartburgfeste von 1817 und 1867“.
Mit der akademischen Jugend, die ihn verehrte und liebte, blieb er, gemüthvoll und lebensheiter, alle Zeit in regstem Verkehre. Von seinem munteren Commersiren, seinen Frühlingsausflügen mit den jungen Burschen der „Arminia“ weiß der Jenaer Burgkeller, wissen die Rudelsburg und das Saalthal noch aus dem vergangenen Jahre zu erzählen. Seine freundschaftlichen Beziehungen und die ihm erwiesene Verehrung erstreckte sich über alle deutsche Universitäten. Auch der Lese-Verein der deutschen Studenten Wiens ernannte ihn zu seinem Ehrenmitgliede. Unermüdlich wirkte er für die Gründung des für Jena bestimmten, von Donndorf ausgeführten Burschenschafts-Denkmals. Die Vollendung dieses schönen Werkes aber und die Feier der Enthüllung sollte er leider nicht erleben.
Seiner amtlichen Stellung nach war Richard Keil Rath bei der Generalcommission für Ablösungen und Separationen in Weimar. Nur die Mußestunden, welche diese Thätigkeit ihm übrig ließ, widmete er fort und fort seinen literarischen Bestrebungen. Mitten in denselben ereilte ihn nach kaum überstandener Krankheit ein jäher Tod. Sein Begräbniß legte Zeugniß ab von der Trauer, welche sein Hinscheiden erregte, und der Liebe und Anerkennung, die er sich erworben hatte. Aus der Nähe und Ferne waren die Freunde herbeigekommen, und auch die drei Jenaer Burschenschaften hatten dazu Deputationen gesandt, die eine von schwarz-roth-goldenem Bande umwundene Palme ihm auf den Sarg legten. Seinen weiteren schriftstellerischen Plänen hat das Geschick ein Ziel gesetzt, was er aber geschaffen, das genügt hinlänglich, um seinen Namen fortleben zu lassen im Herzen der wissenschaftlichen Jugend Deutschlands und vor Allem auf den Hochschulen, wo Burschenschaften bestehen, die ihn bis an sein Ende als einen der Treuesten unter den Treuen gekannt haben.
Aussichtsloser Versuch (Abbildung Seite 189). Daß Adolf Eberle, ein Schüler Piloty’s, über einen kerngesunden Volkshumor verfügt und diesen ebenso frisch wie klar zu gestalten versteht, dafür legt unser Holzschnitt nach einem seiner jüngsten Bilder unumstößliches Zeugniß ab. Das vor unsern Blick gezauberte Gesellschäftchen zeigt ein Stück Lebenslustigkeit von der Sorte, die sich gar nicht glücklicher äußern kann, als wenn sie eigentlich über Nichts lacht. Und, um viel mehr handelt es sich hier nicht. Das lustige Dirnenvolk auf der Alm hat den alten Freund und Topfflicker, sicherlich mit der ernsthaftesten Miene von der Welt, hereingelockt und ihm Aussicht auf lohnende Arbeit gemacht – und nun hält er einen „Unheilbaren“ in der Hand und muß sich von den Uebermüthigen auslachen lassen. Indessen, er ist ersichtlichermaßen der Mann, der einen Spaß versteht, und wenn er verlegen aussieht – dem Anblick dieser Verlegenheit kann der Beschauer sich ruhig hingeben; es wird keine Gemüthsverstimmung erfolgen, wenn der wackere Meister das ehrwürdige Gefäß schließlich zurückgeben, die Unzulänglichkeit seiner Kunst eingestehen und den lustigen Spott von drei Paar rothen Mädchenlippen als einzigen Ertrag seiner Bemühungen heimtragen muß. Wir sind überzeugt, daß viele unserer Leser, wenn ihnen die rechte Harmlosigkeit dazu nicht fehlt, sich an dem Bildchen erfreuen werden.
Abonnentin in Budweis. E. Marlitt erfreut sich des besten
Wohlseins und ist eben beschäftigt, einen neuen Roman für die „Gartenlaube“
zu vollenden.
H. K. in Wilna. Ihnen und vielen Ihrer Leidensgefährten, die bei uns anfragen, ob das Mikrophon noch nicht für Schwerhörige nutzbar gemacht worden sei, müssen wir leider erwidern, daß wir wohl von Versuchen, aber von keinem durchschlagenden Erfolge in dieser Richtung gelesen haben.
L. F. in Budapest. Von Ihrer Notiz, daß der Vater Munkacsi’s, Michael Lieb, nicht als Theilnehmer an der Revolution im Gefängnisse, sondern im März 1652 als kaiserlich königlicher Sammlungs-Cassa-Einnehmer in Miskolcz gestorben, sowie daß derselbe sich 1851 noch zum zweiten Male mit Elisabeth Eötvös verheirathet habe, welche erst 1878 das Zeitliche gesegnet, nehmen wir bestem Dank hiermit Act. Der Irrthum ist uns übrigens um so unbegreiflicher, als der Artikel dem Künstler selber zur Prüfung der angegebenen Thatsachen auf ihre Richtigkeit hin vorgelegen hat.
Abonnentin in Pest. Das Portrait der Tragödin Clara Ziegler finden Sie im Jahrgang 1868, Nr. 32.
- ↑ Konnte doch in den letzten Jahren ein vielbändiges musikalisches Nachschlagewerk seinen Weg in der Oeffentlichkeit machen: das treffliche, von Hermann Mendel begründete, jetzt von August Reißmann herausgegebene „Musikalische Conversationslexicon“ (Berlin, Oppenheim), welches soeben in neuer Lieferungsausgabe erscheint.
- ↑ Vorlage: „knüpfe ; könnten.“
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