Die Gartenlaube (1880)/Heft 13
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No. 13. | 1880. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Der Rest des scheidenden Tageslichtes reichte gerade noch aus, den Baron zwei wohlverpackte und verschleierte Frauengestalten erkennen zu lassen – es begann seltsam zu hämmern in seiner Brust. Er brauchte sein Auge nicht: eine Ahnung hatte ihm schon gesagt, daß Lisa hier angefahren kam. War es denn denkbar, und war es möglich? Sie?
Doch Gespann und Kutscher kamen aus Sternberg; er kannte sie, und jetzt hob auch schon die eine der Insassen des Schlittens die Hülle von dem frischgerötheten, gesundheitsstrahlenden Gesichtchen.
„Da sind wir, glücklicher Weise ohne von Wölfen gefressen worden zu sein,“ rief sie lachend, daß zwei Perlreihen tadelloser Zähnchen zum Vorschein kamen.
Das mußte wohl Lora sein, die kleine Lora, die er seit dem Tage, wo man ihren Vater zu Grabe getragen, nicht mehr gesehen hatte. Ihm war es damals nur für kurze Zeit möglich gewesen, sich loszumachen, und während der paar Stunden, die er auf Sternberg verweilte, hatte er kaum sonderlich auf das halbwüchsige magere Mädchen in dem engen schwarzen Kleide geachtet, das mit verweinten Augen und rothem Näschen unter den Leidtragenden mitgelaufen war oder in der Ecke gehockt hatte.
„Lora, wie bist Du –!“ begann er unwillkürlich.
„Gewachsen und groß geworden,“ fiel sie ihm hastig in's Wort. „Denke Dir, das weiß ich schon. Du darfst es mir nicht auch sagen, Witold – sonst ist's mit aller Schwärmerei, die ich für meinen großen, geistreichen Schwager empfinde, auf der Stelle vorbei.“
Sie schloß lachend, und mittlerweile hatte er schon die Pelzdecke losgehakt und sie, als die ihm Zunächstsitzende, aus dem Schlitten und auf die Treppe herübergehoben. Noch halb in seinen Armen, bot sie ihm die rosigen Lippen zum wiederholten und herzlich erwiderten Kusse.
Nun wollte Witold auch seiner Frau zu Hülfe eilen, diese war aber schon auf der andern Seite aus dem Schlitten gestiegen, wo sie jetzt mitten im Schnee auf den Knieen lag und Gretchen an sich preßte, die mit freudigem Aufjauchzen ihre Aermchen um Mamas Hals geschlungen hatte und nicht satt werden konnte, sie zu liebkosen, während Harro leise knurrend die Gruppe mißtrauisch umschnüffelte.
„Pfui, Harro, willst Du Mama beißen? Ich mag Dich nicht mehr! Die liebe Mama!“ rief die Kleine und schlug mit dem einen Händchen in das zottige Fell des Spielcameraden. Der Hund ließ es sich gutmüthig gefallen, Lisa aber hatte Gretchen auf den Arm genommen und vernahm schweigend, wie der kleine unschuldige Mund ihre Ahnung bestätigte. Papa hätte gesagt, Mama werde lange, lange nicht wiederkommen. Papa hätte Gretchen erschrecken wollen. Nun bekäme aber Mama auch einen brennenden Schneemann.
Witold nickte mit einem fast scheuen Blick zu seiner Frau hinüber und schien große Eile zu haben, den Gast, der ohne Umstände seinen Arm genommen hatte, unter Dach zu führen. Lisa, welche Gretchen an der Hand hielt, folgte langsam. Im Flur war es schon hell; ein Mädchen mit Licht war herbeigekommen. Auch die Gräfin hatte man schon benachrichtigt, und sie kam den Eintretenden auf der Schwelle des Zimmers entgegen.
„Seien Sie willkommen!“ sagte sie nach den ersten vorstellenden Worten Witold's zu Lora, der sie mit gütigem Ernst die Augen geschaut. „Sie erinnern mich an meine Tochter. Auch sie war so groß und blond wie Sie.
„O bitte, Mama,“ versetzte das liebliche Mädchen rasch in gewinnendem Tone. „Haben Sie mich nur auch ein wenig so lieb!“
Sie beugte sich in kindlicher Bescheidenheit auf die schmale runzlige Hand der würdigen Dame, diese aber faßte ihren Kopf und küßte sie gerührt auf die Stirn.
Nur eine gemessene kalte Kopfneigung hatte dagegen Lisa gegolten. „Und ich – ich bin hier fremd,“ sagte Lisa zu sich.
Wie war doch die ihr gewordene Begrüßung so verschieden von dem freundlichen Willkommen, das ihrer Schwester geboten wurde! Selbst dieser mußte es ja auffallen. Lora und Witold hatten sich unbefangen umarmt und geküßt, wie in alter herzlicher Zusammengehörigkeit; zwischen seiner Frau und ihm war noch kein Wort gewechselt worden.
Nun stand sie doch noch vor ihm, reichte ihm die Hand und schlug das Auge zagend zu ihm auf.
„Du hast mir einmal eine Heimath angeboten,“ sagte sie und stockte. Es war ein so düster brennender und erwartungsvoller Blick, dem sie begegnete, und doch nicht der feindselig strenge von heute Morgen, auch nicht das ernste, fast traurig milde Auge, das ihr einst ein solches Vertrauen eingeflößt. Ein ganz anderes Wesen spiegelte sich darin, und sie verlor den Faden ihrer Rede und fast auch den Athem, daß ihre Brust sich hoch und zitternd hob. „Ich möchte Dich um ein Plätzchen für meine Schwester in Deinem Heim bitten.“
„Nur vorläufig,“ fiel Lora jetzt selbst in ihrer frischen Weise ein. „Wir hielten es in Sternberg nicht mehr aus. Ich glaube [202] beinahe, wären wir nicht freiwillig gegangen, hätte Hilma Rattengift gestreut. O Witold, nicht wahr, Du behältst mich doch, bis ich irgendwo ein Unterkommen gefunden? Ich werde mich unterdeß hier schon als Gouvernante betrachten, um mich nützlich zu machen,“ und sich umwendend drohte sie mit komischer Würde: „Gretchen, nimm Dich in Acht – ich werde sehr strenge sein!“
Lachend kauerte sie sich nieder, mit der Kleinen in aller Eile Freundschaft zu schließen.
Witold aber ließ jetzt, ohne Druck, still und kalt zurücktretend, die Hand seiner Frau los.
Nur für die Schwester nahm sie die Heimath in Anspruch, nicht für sich. Darum also war sie noch einmal zurückgekommen – nur darum! – Auf wie lange?
Wieder begann der Abend zu sinken, diesmal aber war es die schon länger verweilende Sonne der Tag- und Nachtgleiche, welche sich dem Höhenzuge auf der andern Seite des Flusses und den fernen blauduftigen Bergen zuneigte. Die letzten Strahlen, die noch über den First des Herrenhauses hinweg glitten, zogen einen goldenen Streifen an dem langen Stallgebäude hin, und ein kleines Bündel fand sogar noch Eingang durch die offene Thür, in welcher jetzt Lisa wie in einem Bilderrahmen erschien.
Die schlanke zierliche Gestalt in dem einfachen hausmütterlichen Kleide, die mit solcher Vorsicht die volle Milchschüssel in den Händen trug, über welche sich das feine Köpfchen mit den schlicht umgeschlungenen dunklen Flechten in großer Achtsamkeit neigte, hätte wirklich ein reizendes Motiv für einen Genremaler gegeben. Einen interessanten Contrast zu Lisa's Erscheinung bildete das hinter ihr eben auftauchende hagere, gelbliche Matronenantlitz mit einer seltsamen Mischung von Mißtrauen und Billigung im Blicke, welcher der Voranschreitenden beobachtend folgte.
„Es sind nur ein paar Schritte bis in die Kühlkammer,“ sagte Lisa im Heraustreten entschuldigend, „den kleinen Gang kann ich ja auch selbst machen Tante.“
„Wer Alles selbst machen will, verliert die Uebersicht über die Wirthschaft. Den Mägden aber gefällt die Erleichterung; sie lernen sich auf fremde Hülfe verlassen, und keine nimmt's mehr mit der Pflicht genau. Der Frau Arbeit ist Befehlen und Ueberwachen; sie ist nicht leichter als die der Magd.“
So sprach die Gräfin und als sie ihre Zurechtweisung beendet hatte, setzte sie bei sich hinzu:
„Sie hat wirklich Lust und Willen zur Wirthschaft. Ich hätte es nicht gedacht.“
Nicht wie man sich in eine Beschränkung, in eine Verbannung mit stumpfer Ergebung fügt, war Lisa in Riefling aufgetreten, sondern mit einem sich in ihren Mienen, in ihrem ganzen ein wenig aufgeregten Wesen deutlich aussprechenden Gefühle heiterer Zuversicht.
Während ihre Schwester bei Gretchen auf dem Gute geblieben, hatte sie schon am Morgen nach ihrem Einzuge in Riefling den Gatten auf einige Tage nach der Stadt zurückbegleitet. Sie hatte die Zeit in der Stadt mit einer ihrem zarten Körper kaum zuzutrauenden Unermüdlichkeit zum Ordnen und Einpacken und zu den unerläßlichen Abschiedsbesuchen verwendet, sodaß Witold, welcher einige Tage länger in der Stadt blieb, ungehindert sämmtliche Geschäfte abwickeln konnte.
Und von dem Tage ihrer Rückkehr an hatte sie begonnen, sich in Haus und Hof umzusehen und nützlich zu machen. Witold's Tante hatte darauf bestanden, ihr sofort mit den Schlüsseln auch die Herrschaft abzutreten, wogegen sich jedoch Lisa sanft, aber mit Bestimmtheit gesträubt. Da sie nichts von der Wirthschaft verstehe, hatte sie entgegnet, wäre sie, wenn man sie zwänge, dieselbe zu übernehmen, genöthigt, eine Haushälterin und Oberaufseherin zu ihrem Beistand herbeizuziehen, welche neue und im Grunde überflüssige Ausgabe in der gegenwärtigen Lage kaum räthlich sei. Die bisherige Herrin, unter deren Führung Alles so wohl gediehen, möge sich auch weiterhin als solche betrachten, so lange wenigstens, bis es die Schülerin dahin gebracht, sie mit einigem Erfolg ersetzen zu können. Und als Schülerin erbat sich Lisa die Erlaubniß, die erfahrene Leiterin des ganze Hauswesens überallhin begleiten zu dürfen, um so allmählich sich in den künftigen Beruf hineinzuleben.
Die Tante verwunderte sich zwar, aber da ihr alles Vorgebrachte doch ganz verständig erschien, gab sie endlich ihre Zustimmung, während Witold, als er von den getroffenen Abmachungen verständigt wurde, Lisa's Weigerung, in die Rechte der Hausfrau einzutreten, im Sinne eines ihm nur zu klaren Vorbehalts deutete. –
Eben kam Lisa mit leeren Händen wieder aus der Kühlkammer zurück und gab nun ihrer Lehrmeisterin auch die früher zurückbehaltene Antwort, die trotz des Lächelns bewies, daß sie bei aller Unterordnung unter einen fremden Willen nicht auf die eigene Selbstständigkeit verzichtete:
„Wer befehlen und überwachen will, muß doch erst selbst wissen, wie's gemacht wird. Und auch das Kleinste ist oft nicht so leicht, wie man sich vorstellt. Ich selbst hätte heute Schelte verdient.“
Sie deutete dabei auf einen großen feuchten Fleck auf ihrer weißen Wirthschaftsschürze.
Die Selbstanklage entlockte der Tante einen Schein von Lächeln, doch war sie sofort wieder ernst und nickte nur.
„Die Treppe ist schlecht und dunkel. Die Mägde verschütten immer die Milch; man darf darum die Schüsseln nicht so voll nehmen.“
„Dann hat man aber kein Maß,“ wendete Lisa ein.
Einen Augenblick sah die Tante ihr sinnend in's Gesicht. Dann sagte sie mit sichtlichem Widerstreben:
„Nun ja, der Eingang muß geändert werden. Ich will morgen mit Witold reden, oder auch sofort. Er muß ja schon zurück sein; da führt Peter sein Pferd.“
„Er ist heute nicht geritten, sondern zu Fuß fort, und das Pferd ist nicht 'Ralf', Tante; sein Braun ist ein viel helleres. Es wird doch kein Besuch –“
Sie sprach den Satz nicht zu Ende; ein aufsteigender Gedanke machte, daß ihre Wangen die Farbe wechselten.
Die beiden Frauen gingen neben einander durch den Hof, an Harro vorüber, der sich von Frip geduldig an der wolligen Brustkrause zausen ließ, den kleinen Necker nur dann und wann mit gutmüthigem Schlag der derben Pfote in den Sand kugelnd, und der nun seine Schnauze abwechselnd einmal in die herunterhängende Hand seiner älteren und die der rasch lieb gewonnenen jüngeren Herrin schob, welche ihm den possierlichen kleinen Spielgefährten mitgebracht hatte. Sie traten geradewegs auf Peter zu, der ein schlankes englisches Reitpferd von edlem Blute im Schatten des Hauses auf und ab führte.
„Ein Herr Officier,“ meinte er kopfschüttelnd auf die Frage, ob der Herr zurück sei und ob vielleicht Graf Baumbach mit ihm gekommen. „Ich denke, es wird wohl einer von den Husaren in Moorstädtel sein. Er sagte, ich brauchte das Pferd nicht einzustellen, und fragte, ob die gnädige Frau zu Hause sei. 'Natürlich,' sagte ich; darauf ging er in's Haus. Der Herr Baron aber wird später erst heimkommen. Er ist in's Dorf zum Vorsteher, wegen der schadhaften Fähre. Wir hätten heute genug gearbeitet, sagte er, und es ist wahr, die Dreiäcker sind ganz umgebrochen, und da hat er uns mit den Pflügen heimgeschickt.“
Lisa hatte über die lange Auskunft Zeit gehabt, sich zu fassen. Ihre Ahnung war mit den ersten Worten bestätigt worden. Der Besucher konnte nur Gustav sein. Sein Urlaub war nun wohl zu Ende, und er machte Ernst mit seiner Drohung, hier in Riefling die Belagerung aufzunehmen, nachdem jener erste Ansturm so unbefriedigend ausgefallen war. Daß sein wiederholter Besuch während jener Tage des Räumens und Packens nicht angenommen worden war, hatte ihn offenbar nicht abgeschreckt. Von Richard mußte er ja ungefähr über die Lage der Familie und die Ursachen der plötzlichen Uebersiedlung Lomeda's auf das Land unterrichtet worden sein. In der erfahrenen Abweisung sah er nur eine Maßregel, die wohl alle Bekannte des Hauses traf und die bei der Auflösung desselben eigentlich selbstverständlich war. Er hatte seine Pläne also vertagt, so mußte sie annehmen. Wenn er sich aber jetzt mit der Hoffnung schmeichelte, an jene unterbrochene Zwiesprache anknüpfen zu dürfen, so mußte ihm diese Hoffnung gleich jetzt, wo er zum ersten Male seinen Fuß über die Schwelle von Riefling setzte, für immer benommen werden. Der Zauber jener Stunde war gebrochen, und in Lisa's Seele lebte nicht einmal mehr der zur Duldung verwandelte Rest jener einstigen schwärmerischen Sehnsucht.
[203] Entschlossen ging sie auf die Treppe zu, an der Wilhelm, welcher, der Gelegenheit zu Liebe, den auf dem Lande abgelegten Livréefrack in aller Eile übergezogen hatte, bereits mit der Meldung harrte, Herr Rittmeister Steinweg habe sich anmelden lassen und sei von Fräulein Lora angenommen worden.
Die Gräfin schüttelte das graue Haupt. Daß Mädchen so ohne weiteres Officiere zum Besuche empfingen, erschien ihr als eine neue, selbst an ihrem Lieblinge nicht lobenswerthe Mode. Nur mit einer leichthingeworfenen Frage vergewisserte sie sich, daß der Rittmeister zu dem Bekanntenkreise der beiden Schwestern gehöre, und erklärte dann, ihnen den Besuch allein überlassen zu müssen, da ihre Toilette den Rücksichten auf den Empfang nicht entspräche.
„Auch gilt ja die Visite nicht mir,“ fügte sie nach einem ernstforschenden Blicke hinzu, wenigstens glaubte Lisa einem solchen begegnet zu sein und war unwillkürlich erröthet.
Sie nahm sich übrigens nicht Zeit, ihrer eigenen Toilette noch besondere Sorgfalt zu widmen; allerdings stand sie, nachdem die große Schürze abgebunden worden war, in tadellosem Anzuge da. Das graue Wollkleid, das sie trug, war zwar das allereinfachste ihrer Garderobe, aber nur nach dem Maßstabe ihres früheren Bestandes, denn für das stille Landhaus blieb es immerhin noch ein Muster der Eleganz. Sie steckte nicht einmal die etwas verschobene blaßblaue Bandschleife am Halse zurecht; so ganz nahm sie der Gedanke in Anspruch, den Besuch Steinweg's abzukürzen und – für die Zukunft einer Wiederholung vorzubeugen. Ihr war der Gedanke, daß Lomeda mit ihm zusammentreffen könnte, plötzlich höchst unangenehm. Nicht, daß sie die Furcht beschlich – zu welchen denkbaren Conflicten konnte denn eine solche Begegnung führen? Nein, das peinliche Gefühl, das sie bedrückte, war anderer, undefinirbarer Art; ihr selbst blieb es undeutlich, aber sie empfand es.
Bei ihrem Eintritte in den Salon sprang Steinweg von seinem Stuhle auf und unterbrach somit das lebhafte Gespräch, in das er sich schon mit Lora vertieft hatte, die ihrerseits sich alle Mühe gab, Gretchen zu bewegen, dem „Soldaten, der bei Mama gewesen“, ein vertrauensvolles „Patschhändchen“ zu geben.
„Ich habe Sie nicht erwartet,“ waren Lisa's erste und durch die ruhige Betonung für ihn und jedes aufmerksame Ohr auch bedeutungsvolle Worte, wobei sie zwar die Spitzen ihrer Finger in die von ihm dargereichte Hand legte, sogleich aber wieder zurückzog, ehe er sie noch an die Lippen gezogen.
„Sie haben darin Unrecht gethan, Baronin,“ entgegnete er, ohne sich diesen wenig einladenden Empfang verdrießen zu lassen, „denn ich halte mein Versprechen. Sie sehen, ich habe keine Minute verloren. Gestern eingerückt, heute hier.“
Dem vielsagenden Blicke, welchen er ihr dabei zuwarf, wich sie aus, indem sie auf das kleine Sopha in der Fensterecke zuging und ihn so zwang, sich wieder Lora zuzuwenden, welche schon dort saß und vor welcher er sich kein einverständnißsuchendes Mienenspiel mit der Schwester erlauben durfte. Da Lisa schwieg, bemächtigte sich ihre Schwester, welche unterdeß neugierige Blicke hinüber und herüber wandern ließ, des Wortes und erklärte scherzend, weshalb der Besucher solche Eile gehabt habe.
„Um mir zu versichern, daß ich ein häßlicher kleiner Knirps gewesen sei.“
„Ich bitte, mein Fräulein!“ suchte sich Steinweg zu entschuldigen, indem er die gefalteten Hände erhob. „Ich habe nur gesagt, daß Sie sehr groß geworden seien.“
„Und sehr hübsch – bitte kein Wort auszulassen! Und Sie haben es mir sogar mit einem feierlichen, fremdartig lautenden Schwur bekräftigt. Das ist es ja eben; das ist ja das Verbrechen, das ich Ihnen nun und nimmer vergeben kann. Hätten Sie sich lieber meiner gar nicht mehr erinnert! Beachtet haben Sie mich ja doch nicht viel. – Ich bitte, ich bitte, darüber herrscht kein Zweifel in meinen Annalen. Gehen wir über diesen Gegenstand großmüthig hinweg! Aber schwieriger ist es mit der neuen Beleidigung. Es giebt nichts Erniedrigenderes, als immer wieder an eine obscure Vergangenheit erinnert zu werden.“
„Mein Gott, ich kann Sie doch nicht klein und – und –“
„Häßlich finden?“ half Lora nach. „Meinetwegen – aber können Sie denn nicht galanter Weise annehmen, daß, was wir sind, wir auch immer waren? Götter altern nicht.“
„Dann können Sie auch nie avanciren, denn das geht nach der Anciennetät,“ setzte er lachend hinzu, und Lisa sah verwundert bald auf ihn, bald auf ihre Schwester, die so herzlich mitlachte. Warum nur gewann ihr selbst der Witz nicht das leiseste Lächeln ab? War er wirklich schal oder war sie nur so mißgestimmt?
Lora sprang plötzlich auf, und einen weiter entfernten Lehnstuhl aufsuchend, rief sie, ihr Näschen zwischen Daumen und Zeigefinger fassend, der Schwester in komischer Entrüstung zu:
„Ach Gott, Du kommst schon wieder aus dem Stalle. Pfui! ich kann den Geruch nicht ausstehen.“
„Sie machen mich trostlos,“ übernahm Steinweg die Antwort. „Dann trifft das am Ende auch den Träger des Duftes, denn der dürfte ich sein; wir Cavalleristen alle schmuggeln diesen Odeur mit ein.“
„Ach, ein Pferdestall, das ist ganz etwas Anderes,“ erklärte Lora eifrig. „Für Pferde schwärme ich.“
„Sie sollten reiten lernen, Fräulein.“
„Witold hat es mir schon versprochen. Mein Herr Schwager reitet selbst ausgezeichnet.“
„Ein Civilist?“
Das Lächeln und der zweifelnde Ton machten Lora ungeduldig.
„Wie ein Centaur,“ entgegnete sie mit lebhaftem Widerspruche. „Glauben Sie denn, daß es außer den Husaren gar keine Männer mehr giebt, welche ein Pferd zu tummeln und zu bändigen verstehen? Das ist ja das Handwerk jedes Kunstreiters, jedes Jockeys. Das kann nicht so übermäßig schwer zu erreichen sein. Was uns imponirt, ist, wenn ein Mann, der geistig Alle überragt, auch noch nebenher in allen ritterlichen Künsten Meister ist. Der ist des Kranzgewinnes sicher beim wackeren Turnier.“
„Ei, mein Fräulein, ich bin trostlos. Sie scheinen den Kampfpreis ja bereits vergeben zu haben. Zum Glücke werden nicht alle Preisrichterinnen so denken. Wir Leute vom – Handwerk müßten ja sonst geradezu verzweifeln und vor stillem Neide vergehen.“
Sein Auge hatte sich wie in siegesgewisser Appellation auf Lisa gerichtet, welche, durch die von ihrer Schwester unbedacht herausgesprudelten Worte eigenthümlich berührt, ihren Blick sinnend auf Gretchen senkte, welche schon vor einer Weile ihren Schooß erklettert hatte. Als Steinweg erkannte, daß ihm diesmal keine Antwort zu Theil wurde, wirbelte er ein wenig verdrießlich seinen Schnurrbart und wendete sich dabei wieder nach der andern Seite, wo Lora, die spöttelnde Erwiderung ganz anders nehmend und über die ihr nun selbst einleuchtende Tactlosigkeit ihres verletzenden Ausfalls erröthend, auf eine ausgleichende Wendung sann.
Endlich aber kam es halb im Ernst, halb im verlegenen Lachen über ihre Lippen geplatzt.
„Hab' ich etwas Dummes gesagt? Ach, ich bin doch noch ein recht kleines Mädchen! Schlimm war's gewiß nicht gemeint. Ich wollte die Soldaten wahrlich nicht in eine Linie stellen mit – mit Kunstreitern und –“
„Jockeys.“
„Nun ja. Ich habe ja auch einen Bruder, der Soldat ist, und wenn ich ein Mann geworden wäre, ich hätte mir selber nichts Schöneres wünschen mögen, als Soldat zu werden. Nein, Herr Rittmeister, es ist nur so einfältig herausgekommen. Bitte, nehmen Sie mir's nicht übel!“
Und wie ein Verzeihung erschmeichelndes Kind hielt sie die Hand hin, in welche einzuschlagen sich Steinweg nicht zum zweiten Male auffordern ließ. Wer hätte einer so hübschen reumüthigen Büßerin die Absolution auch vorenthalten wollen, selbst wenn sie sich weit schwerer vergangen hätte?
„Von mir aus sind Sie freigesprochen,“ antwortete er scherzend. „Ich kann gegen eine Dame weder einen Proceß führen, noch Genugthuung von ihr verlangen.“
„Das Letztere würde ich Ihnen auch nicht gerathen haben,“ war Lora schon flugs wieder mit ihrer früheren Munterkeit bei der Hand, „das müßte ein Duell auf Nadeln geben, und in deren Führung sind wir die Meister.“
„Doch halt!“ fiel er ein, indem er die entschlüpfende Hand zu bleiben zwang. „Im Namen der Armee kann ich nicht so nachsichtig sein. Ein Kriegsgericht muß aussprechen, welche Sühne Sie ihr schulden.“
[204] „O, das ist eine Ueberlistung – die gilt nicht.“
„Vor dem Feinde ist sie sogar geboten.“
„Ein rechter Mann zieht sein Wort nicht zurück.“
Lisa hatte der Neckerei gar nicht geachtet, sondern in Gedanken seitwärts zum Fenster hinausgesehen. Jetzt schrak sie auf einmal zusammen. Sie hatte Witold erblickt, der den Uferweg eingeschlagen haben mußte und jetzt durch den Park auf das Haus zuschritt. Sie fühlte das Blut heiß gegen die Schläfe wallen, und der Wunsch, einer Begegnung der beiden Männer vorzubeugen, wurde ohne klare Begründung in ihr rege. Ohnedem hatte sie ja schon länger, als es ursprünglich in ihrer Absicht gelegen, gezögert, dem unwillkommenen Gaste die Grenzen des Verkehrs für jetzt und alle Zukunft zu ziehen. Sie durfte damit nicht länger zaudern, damit er sie nicht mißverstehe.
„Ich fürchte,“ sagte sie gemessen, „wenn der Streit heute noch zu Ende gebracht werden soll, dürfte die Nacht den Herrn Rittmeister auf dem Heimritte überraschen.“
„O, das thut nichts,“ erklärte Steinweg, der im Spiele beinahe die Anwesenheit eines Dritten sammt dem Zweck seines Besuches vergessen hatte, indem er jetzt die rothgedrückte weiche Hand aus ihrer Gefangenschaft erlöste.
Auch Lora schien die endgültige Austragung der Proceßangelegenheit nicht verschoben haben zu wollen.
„Ein Reitersmann wird sich doch nicht vor Gespenstern fürchten,“ wendete sie sich gleichfalls gegen die Mahnung, die sie ebenso wenig ernst nehmen wollte.
„Aber vielleicht vor unserer schadhaften Fähre, auf der in der Dunkelheit leicht ein Unglück passiren könnte.“
„Ach, da kommt Witold!“ rief Lora, die, durch ein leises „Papa“ Gretchen’s aufmerksam gemacht, durch’s Fenster gesehen hatte. „Er wird uns am besten sagen können, ob wirklich Gefahr dabei vorhanden ist.“
„Sie sollten meiner Warnung folgen und Ihre Heimkehr nicht länger verzögern.“
Steinweg richtete, betroffen durch den ernsten, beinahe befehlenden Ton, seinen Blick auf Lisa. Die Unruhe und Befangenheit, welche er in ihren Augen entdeckte, glaubte er jedoch in einem Sinne deuten zu müssen, der ihn zum renommistischen Widerspruche stachelte. Sie sollte es wissen, daß er dieses Zusammentreffen, das früher oder später doch unvermeidlich war, nicht scheute. Laut erklärte er, soviel er wisse, könne er ja im Nothfalle auch weiter oberhalb über die Telzer Brücke reiten; aus einem kleinen Umwege mache er sich nichts, und jedenfalls wolle er sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Baron Lomeda’s Bekanntschaft zu machen.
„Schon um mich doch einmal mit dem unerreichbaren Sieger, dem Besitzer so hochgerühmter Eigenschaften zu messen,“ setzte er lächelnd hinzu, und sein Blick traf bedeutsam zuerst Lisa’s, dann Lora’s Augen.
Die Letztere klatschte fröhlich in die Hände, wobei es noch unentschieden blieb, ob sie sich über das längere Verweilen des Gastes oder über den bei ihm geweckten Ehrgeiz freue. Ihre Schwester konnte darüber nicht wieder zu Worte kommen. Mit welchem Mittel hätte sie den Trotzenden vertreiben sollen? Ihn zu bitten, war sie zu stolz, ihm zu befehlen, hätte wohl kaum gefruchtet, während dadurch nur Lora’s Befremden erweckt worden wäre. Sie verzichtete daher auf einen wiederholten Versuch – auch war es schon zu spät.
Witold stand im nächsten Augenblick bereits auf der Schwelle und dem Rittmeister, der sich rasch erhoben und ihm in zuvorkommender Weise genähert hatte, gegenüber.
Es war gut, daß Lora in ihrer dreistfröhlichen Art die eigentlich überflüssige Vorstellung besorgte; es wurde Witold dadurch möglich, die plötzliche Ueberraschung zu bemeistern. Ein einziger rascher Blick flog zu Lisa hinüber, die einem Steinbilde gleich mit gesenkten Wimpern dasaß, nachdem sie Gretchen auf den Boden gestellt.
Er zürnte sich selbst, daß er nicht über den Corridor gegangen; da wäre er auf Wilhelm gestoßen; dieser hätte ihn von dem Besuche in Kenntniß gesetzt, und so wäre es ihm erspart geblieben, Steinweg’s Bekanntschaft zu machen. Aber auch gegen Lisa regte sich Groll in ihm. Durfte sie, so lange sie noch unter seinem Dache verweilte, diesen Mann empfangen? Er hätte ihr mehr Zartgefühl zugetraut, aber freilich – die Liebe macht rücksichtslos gegen die übrige Welt. Am tiefsten aufgebracht war er über den Mann, der es wagte, so ungescheut in sein Haus zu treten, das er berauben wollte. Diebe und Einbrecher kommen doch sonst nur bei Nacht, wo man sein gutes Recht der Nothwehr wahrt, wenn man sie mit einem Schusse heimschickt. Hier aber kam der nach fremdem Eigenthum Lüsterne bei hellem Tage und machte wohl gar noch Miene, dem Hausherrn, auf dessen Hab und Gut er es abgesehen, in der freundlich liebenswürdigsten Weise die Hand zu drücken.
Eine Heuchelei in solchem Maßstabe brachte aber Witold nicht über sich. Er neigte ein wenig den Kopf, darauf beschränkte sich die ganze Begrüßung. Finster, stumm und kalt stand er dem allerlei übliche Formeln auskramenden Besucher gegenüber; keine Silbe des Willkommens kam über seine fest zusammengepreßten Lippen. Als das auf ihn zulaufende Kind ihn erreichte, beugte er sich auf dasselbe herab und nahm es bei der Hand, um es fortan nicht mehr von seiner Seite zu lassen.
Es war das Benehmen eines Bauers, wie Steinweg zu sich selber sagte, das vollkommen zu der rauhen Jagdjoppe und den hohen Wasserstiefeln paßte. Er kam nicht sofort in’s Klare, ob er diese starrende Kälte ignoriren oder übel vermerken solle. Deutlich genug jedoch empfand er, daß er seinen Besuch nicht gut länger ausdehnen könne und am besten gethan hätte, Lisa’s Mahnung, welche offenbar diese peinliche Scene vorausgesehen, vorher schon zu befolgen.
Alle Deutschland benachbarten Völker haben die gräcisirte hebräische Benennung „Pascha“ für das christliche Auferstehungsfest beibehalten, oder, wie einige slavische Stämme, neue Namen mit Bezug auf die christliche Tradition gebildet. Nur das deutsche Osterfest erinnert den Forscher schon mit seinem Namen daran, daß um dieselbe Zeit, wo wir jetzt den freudigsten Tag des Kirchenjahres feiern, unsere Vorfahren, zum Theil wenigstens, eine Göttin der aufgehenden Morgenröthe, die Ostara, als Frühlingsgöttin, Göttin des erwachenden Lichts und Lebens verherrlichten. Ihr Dienst hat im Volke so feste Wurzel gefaßt, daß die Bekehrer den Namen duldeten und auf eines der höchsten christlichen Jahresfeste anwandten.
Die Bräuche, welche sich an das heidnische Fest knüpften, sind theilweise mit in die christliche Osterfeier herübergenommen worden und dort zumeist im Laufe der Zeit wieder ausgeschieden und verschollen. Anderes hat sich bruchstückweise, vielfach verändert, im Schooße des Volks als festlicher oder abergläubischer Brauch erhalten.
Die Ostara war eine freudige, heilbringende Erscheinung; nach ihr war der April ôstermanôth genannt, und ihr opferte das Volk die ersten Maiblumen. Weißgekleidete Jungfrauen, die sich nach der Volkssage um Ostern zur Zeit des einkehrenden Frühlings in den Felsklüften oder auf Bergen sehen lassen, gemahnen noch an die alte Göttin.
Ihr zu Ehren wurden auch jene Feste abgehalten, welche die Forttreibung des Winters und den Einzug des Frühlings darstellen, und von denen es in alten Aufzeichnungen heißt: „Zur Zeit da Auen und Werder grünen, treten Fridebolt und seine Gesellen mit langen Schwertern auf und erbieten sich zum Osterspiel.“ Dieses aber bestand aus einem Schwerttanz, der von zwölf Männern ausgeführt wurde, von denen einer den Sommer, wie er den Winter aus dem Lande schlug, darstellte.
Im Norden Deutschlands herrschte gleichzeitig die Sitte des Osterfeuers, welche ein Augenzeuge aus dem sechszehnten Jahrhundert in folgender Weise beschreibt: „In allen Städten, Flecken und Dörfern des Landes wird gegen Abend des ersten Ostertags
[205][206] auf Bergen und Hügeln ein großes Feuer aus Stroh, Wasen und Holz unter Zulauf und Frohlocken des Volks, nicht allein der Jugend, sondern auch vieler Erwachsenen jährlich angezündet. Knechte, Mägde, und wer dazu kommt, tanzen jubelnd und singend um die Flammen; Hüte werden geschwenkt, Tücher in das Feuer geworfen. Alle Gebirge im Umkreise leuchten, und es ist ein erhebender, kaum mit etwas Anderem zu vergleichender Anblick, von einem der höheren Punkte viele Meilen ringsum das Land zu überschauen und nach allen Seiten hin auf einmal eine große Menge solcher Feuerbrände, stärker oder schwächer, gen Himmel lodern zu sehen.“
Aber die eigentliche heidnische Feier beim Anbruche des Frühlings bestand, wie es zahlreiche Andeutungen in der germanischen und slavischen Mythologie beweisen, darin, daß der Winter in der Gestalt einer Strohpuppe zerrissen und aus dem Dorfe hinausgeworfen wurde, während der buntgeschmückte Frühling seinen Siegeseinzug abhielt. Am Ostertage selbst duldete die Geistlichkeit diesen offenbar heidnischen Brauch nicht, und so verlegte man ihn in die Mitte der Fasten auf den Lätaresonntag. Das Zerreißen oder Zersägen der Puppe sollte alsdann ein Symbol der halbabgelaufenen Fastenzeit bedeuten.
Ein Osterspiel mit Tanz und Gesang im Freien, auf grünem Rasen, hat sich unter Kindern und selbst Erwachsenen vereinzelt bis auf die Neuzeit erhalten (vergl. „Blätter und Blüthen“ dieser Nummer); und noch heute wird an vielen Orten das Lätare- oder Sommersingen abgehalten, wobei Kinder mit buntgeschmückten Bäumchen im Dorfe umherziehen, Lieder absingen und dafür mit sogenannten Mehlweißen, Bauerbissen oder auch kleiner Münze beschenkt werden.
Leider ist in der neuesten Zeit für diese kümmerlichen Reste des Ostaracultus ein schlimmer Feind erstanden – die Polizei, welche überall die Osterfeuer und das Sommersingen untersagt und als Unfug bestraft. Erinnerungen an das heidnische Ostern sind aber auch sonst in Brauch und Aberglauben noch übrig. So thut nach dem Volksglauben die Sonne in des Ostertages Frühe, so wie sie aufgeht, drei Freudensprünge; sie hält einen Freudentanz. Beim Sonnenaufgange schöpft man Wasser aus einem nahen Flusse, nennt es Osterwasser und glaubt, daß an diesem Festtage für eine kurze Zeit dem irdischen Gewässer eine wunderbare heilsame Kraft vom Himmel verliehen werde, so daß es die Haut der eitlen Menschen vor Runzeln und Flecken bewahre, viele Krankheiten heile und weder verfaule noch verdünste.
Nicht unwahrscheinlich ist die Annahme, daß in der Osterfeier unserer Vorfahren die Festmythe, welcher der Naturvorgang einer Erlösung der winterlichen Natur durch den Kampf der winterlichen und sommerlichen Mächte zu Grunde liegt und welche sich in Heldenlied und Volksmärchen vielgestaltig erhalten hat, einen festlichen Ausdruck fand, daß sie, wie in dem Heidenthum der alten Culturvölker, irgendwie „gespielt“ wurde; natürlich nicht in kunstvoller dramatischer Ausprägung. Die Geistlichkeit hat wohl in Anknüpfung daran später für die Osterzeit die Mysterien oder Passionsspiele eingeführt. Auf Straßen und Plätzen wurden im Mittelalter vornehmlich zu Ostern die Leidensgeschichte und Auferstehung Christi dargestellt. Diese Sitte dauerte allgemeiner bis in das siebenzehnte Jahrhundert hinein und erhielt sich bis auf unsere Zeit besonders in dem Oberammergauer Bezirk, wo die Passionsspiele seit der Pest vom Jahre 1663 alle zehn Jahre aufgeführt werden und auch in diesem Jahre zu Pfingsten abgehalten werden sollen. Sie sind in den früheren Jahrgängen der „Gartenlaube“ ausführlich beschrieben worden (vergl. Jahrg. 1860, Nr. 34 und 35, und 1870, Nr. 15 und 25).
Die heidnische Osterfeier bildet überhaupt in viel höherem Maße, als man glauben mag, die Basis für die Ausgestaltung der alten kirchlichen. So ist schon die Fastenzeit vor Ostern heidnischen Ursprungs, wenigstens kennt das vorderasiatische Heidenthum ein Fasten vor der Frühlingsfeier. Und nicht minder leuchtet durch die österliche Freudenfeier der Kirche der heidnische Hintergrund. So in der Art, wie im Mittelalter der Osterfreude innerhalb des Gotteshauses Rechnung getragen wurde. Gastmähler wurden in den Kirchen gegeben, und die Geistlichen erzählten allerlei Märchen und Schwänke, welche das Volk zum Lachen reizten. In dieser Absicht bestiegen Prediger die Kanzeln, riefen wie Kukuke und schnatterten wie Gänse, wie es Oecolampadius in seiner Schrift vom Ostergelächter, de risu paschali (Basel, 1518), berichtet. So ferner in der Sitte, an der großen Osterkerze, die bei der Auferstehungsfeier angebrannt wurde, sich eine kleinere Kerze anzuzünden und mit dieser zu Hause statt alles zuvor ausgelöschten Feuers neues anzufachen.
Zu den charakteristischsten Ueberbleibseln volksthümlicher Osterbräuche gehören Ostereier und Eierspiele, wie letztere das beigegebene hübsche Genrebildchen Röhling’s vergegenwärtigt. Daß bei einem Frühlingsfest das Ei eine Rolle spielt, ist begreiflich genug. Nicht nur, daß es als Symbol des erwachenden Vogellebens recht eigentlich zum Frühling gehört: es ist eines der sprechendsten Symbole für das aus der Verborgenheit neu aufkeimende Frühlingsleben überhaupt. Steht es doch in heidnischer Götterlehre vielfach am Anfang alles Daseins. So ist es denn nicht zufällig, daß im slavischen Osten unter den Dingen, welche in der Kirche zu Ostern dargebracht und vom Priester geweiht werden, sich auch Eier befinden, und daß man mit Besuchern des Hauses ein Ei theilt und je zur Hälfte ißt. Auch bei unseren Vorfahren müssen die Eier neben dem Osterfladen (Osterstoupha) als Gaben an Besucher, später namentlich an die Kinder, gedient haben. Noch heute besteht vielfach die Sitte, daß Kinder in befreundeten Familien, besonders aber bei ihren Taufpathen, Osterbesuche machen und mit Eiern beschenkt werden. Daß diese Eier bunt sind, durch Kochen in Zwiebelschale oder einem anderen Farbstoff (oft nachdem sie zuvor mit jungem Grün und farbigen Läppchen umwunden worden), daß man sie durch vorheriges Beschreiben mit Wachs oder nachheriges Bekratzen mit Inschriften und Zeichnungen verziert, mag als festliche Auszeichnung der farblosen Hühnereier gedeutet werden. Uebrigens gehört das Bunte, gegenüber der Farblosigkeit des Winters, zu der Frühlingssymbolik. Ebenso begreiflich ist es, daß man die Eier versteckt und suchen läßt, wie die ersten Spuren des neuen Sommerlebens verstreut und versteckt zum Suchen auffordern, wie die Eier im versteckten Neste gefunden werden. Freilich entstammen diese Eier nach der verbreitetsten Ansicht keinem Vogel, sondern dem „Osterhasen“.
Gegenwärtig werden leider die hartgesottenen, buntgefärbten, mit Reimen versehenen Ostereier seltener. Man zieht solche aus Zucker, aus Chocolade oder eiförmigen Papierschachteln vor, in die man für kleine Kinder Naschwerk und für große Kinder oft kostbare Geschenke hineinthut.
Die Eierspiele verdanken auch nicht bloß der Spiellust der Kinderwelt ihren Ursprung. Im römischen Heidenthum finden sich Eierspiele in großem Stil in Gestalt gewisser römischer Circusspiele, die während der ersten Tage des April abgehalten wurden. „In dem Circus Maximus,“ schreiben Guhl und Koner, „war ein Gestell oder ein Altar angebracht, auf welchem sieben eiförmig gestaltete Körper (ova) lagen, ohne Zweifel in symbolischer Beziehung auf die Geburt der Rossebändiger par excellence, des Castor und Pollux. Nach jedesmaliger Vollendung der für jedes einzelne Rennen festgesetzten sieben Umläufe wurde nämlich eines dieser Eier von seinem Postamente herabgenommen, um den Zuschauern die Zahl der geschehenen Umläufe anzuzeigen.“
Außerdem sollen noch ganz besondere Eierspiele um diese Zeit, welche mit den christlichen Ostern zusammenfällt, abgehalten worden sein, von denen aber Näheres nicht bekannt ist, als nur, daß sie dem Castor und Pollux galten, und daß man im eirunden Kreise nach Eiern um die Wette lief.
Daran erinnert merkwürdig gerade die verbreitetste Art der Eierspiele. Das eine Kind rennt zu einem bestimmten Ziel hin und wieder zurück, während das andere eine bestimmte Anzahl Eier, die in gewissen Entfernungen auf der Erde niedergelegt werden, in ein Körbchen sammelt. Sieger bleibt, wer zuerst fertig wird. Diese Sitte ist ohne Zweifel von einem sehr hohen Alter, da sie in Deutschland, in der Schweiz, in Frankreich und in Spanien vorkommt, also kein Werk des Zufalls sein kann.
Es giebt indeß neben dieser Art der Eierspiele noch manche andere Formen: vielfach wird Ei gegen Ei gepickt, und dasjenige, dessen Schale zuerst verletzt wird, gehört dem Sieger. Oder es wird dasselbe Resultat herbeigeführt, indem das eine Ei am untern Ende einer abschüssigen Bahn, eines Brettes oder einer in die Erde gegrabenen schiefen Ebene, ausgesetzt und mittelst eines hinabgerollten zu treffen gesucht wird (vergl. unser Bild!).
Unsere civilisirten Zeitgenossen schauen in der Regel sehr [207] vornehm auf diese alten Volkssitten herab, und dieser oft unbegründeten Kritik ist ihr wachsender Verfall zuzuschreiben. Aber das Volksgemüth wird nicht allein durch die großen Werke der Wissenschaft und der Industrie befriedigt. Auch dichten und träumen will es. Und aus den Volksfesten weht entschieden ein sinniger, poetischer Hauch. Behalten wir also lieb der Väter alte Bräuche, welche gerade in den einfachen Hütten mit kleinen Gaben aufrichtige Freude bereiten!
Die Reform unserer Wirthschaftspolitik und die viel angefeindeten Getreidezölle haben die Blicke aller Gebildeten auf die Lage der deutschen Landwirthschaft gelenkt und für sie das Interesse erregt, welches sie an sich schon als der erste und vornehmste Productionszweig in einem Lande wie Deutschland hätte in Anspruch nehmen dürfen.
Noch an der Schwelle dieses Jahrhunderts war der Zustand unserer Landwirthschaft ein ziemlich trostloser. Dasselbe Wirthschaftssystem, welches vor tausend Jahren Karl der Große für die kaiserlichen Güter in dem berühmten „Capitulare de villis et curtis imperatoris“ sanctionirt hatte, war noch das absolut vorherrschende. Mit Ausnahme von wenigen Landstrichen, in welchen Gebirgswald oder die Nähe der See mehr auf die Viehzucht hinwiesen, wurde durchaus Dreifelderwirthschaft getrieben. Man unterschied dabei zwischen der sogenannten reinen und der verbesserten Dreifelderwirthschaft. Bei jener bebaute man den Acker in dem ewigen Turnus: reine Brache, Winterfrucht, Sommerfrucht, das heißt: es folgen zwei Halmfrüchte auf einander und jedes dritte Jahr bleibt der Acker unbestellt, um sich von der Anstrengung der Production zu erholen. Bei der „verbesserten“ Dreifelderwirthschaft treten regelmäßig oder nur von Zeit zu Zeit die sogenannten Brachfrüchte (gewisse Blattfrüchte) an die Stelle der reinen Brache. Die Viehhaltung ist bei diesem Wirthschaftssystem für den Sommer auf die unerläßlichen Gras- und Weideflächen angewiesen, während die Thiere im Winter Stroh und weniges im Sommer etwa erübrigte Heu erhalten.
Von landwirthschaftlich-technischen Gewerben konnte damals kaum die Rede sein; die Rübenzuckerfabrikation kannte man noch nicht; die Spiritusbrennerei und die Stärkefabrikation wurden, ebenso wie die Brauerei, als städtische Industriezweige betrieben.
Die Resultate, welche man bei solcher Wirthschaftsweise erzielte, können von unserm Standpunkte aus kaum anders als kläglich bezeichnet werden. Die Viehhaltung gab nur geringe Erträge; denn mehr als das Leben der Thiere wurde bei der armseligen Ernährung kaum erhalten, und zur Verabreichung eines wirklichen Productionsfutters reichte das Vorhandene nicht aus. Uebrigens konnten auch bei der geringen Consumtionsfähigkeit des ganz überwiegenden Theils der Bevölkerung die thierischen Producte einen nur geringen Preis haben. Nichtsdestoweniger blieb die Viehhaltung des benöthigten Düngers halber als „nothwendiges Uebel“ unerläßlich. Ihretwegen mußten manche Flächen als Wiesen erhalten werden, obwohl sie sich ihrer Natur nach nicht zum Graswuchs eigneten, dieser aber mußte, da das weidende Vieh die bessern Gräser und Kräuter bevorzugte und die schlechten mit seinem Zahne verschonte, immer mehr herunterkommen.
Aber auch der Acker, welcher oft mehr Gras und Unkraut als Früchte zeitigte, verfiel bei dem geringen Dünger, von welchem soviel durch das weidende Vieh vertragen wurde, fortschreitender Verarmung. Zwei auf einander folgende Halmfrüchte sind immer angreifend für den Kraftzustand; sie verunreinigen das Feld und verderben, wenn die mechanische Bearbeitung mit Ackergeräthen nicht eine vorzügliche ist, die für die Beziehung zu Luft, Wärme und Feuchtigkeit so wichtige Formbeschaffenheit des Bodens. Zu einer recht guten Bearbeitung aber fehlten damals ebensowohl die Geräthe, wie das rechte Verständniß.
Deshalb mußte man auch zuletzt zu der reinen Brache, in welcher der Acker durch oft wiederholtes Pflügen „gebrochen“ wurde, zurückkehren, selbst wo man dem Ausfall der Ernte in jedem dritten Jahre gern hätte ausweichen mögen und wo man Freiheit der Bewegung genug besaß, die Brache zu „besömmern“, das heißt nach der Tendenz der verbesserten Dreifelderwirthschaft mit Blattfrüchten anzubauen, wodurch wenigstens einige von den großen Mängeln der reinen Brache wegfallen. Einer der schlimmsten dieser Mängel ist der Umstand, daß die auf ihrer Hände Arbeit angewiesene Bevölkerung die Hälfte des Jahres hindurch keine lohnende Beschäftigung in der Landwirthschaft findet und demgemäß, wenn sie an der Scholle haftet, zu Noth und Entbehrung verurtheilt wird.
Die Gründe, weshalb unsere Landwirthschaft so lange auf niedrigster Stufe stehen blieb, sind mannigfachster Art. Die gewichtigsten lagen in den verrotteten und verzwickten Eigenthumsverhältnissen auf der einen, und in dem Mangel einer landwirthschaftlichen Wissenschaft auf der anderen Seite. Es war nämlich das Grundeigenthum durch Zehnten, Servituten, getheiltes und gemeinsames Eigenthum an demselben Object, durch Flurzwang und eine ganze Zahl besonders benannter Realberechtigungen in Schranken und Fesseln gelegt. Und wo man sich hätte freier bewegen können, da fehlte der rettende Faden, um aus Hindernissen und Schwierigkeiten aller Art sich herauszuarbeiten. Es fehlte die rechte Würdigung der Dinge; es fehlte die rechte Erkenntniß. Es gab zwar hundert Theorien, aber kaum eine einzige für den Landwirth feststehende Wahrheit.
Hiernach begreift es sich, wenn die Landwirthschaft damaliger Zeit keine großen Anforderungen an Denjenigen stellen durfte, welcher sie als Lebensberuf wählte. Ein Landwirth galt damals für hinreichend gut vorbereitet, wenn er neben der Uebung in allen landwirthschaftlichen Arbeiten eine reichhaltige Sammlung von Regeln und Recepten besaß, um je nach Lage der Dinge von dem einen oder andern Gebrauch zu machen. Alles beruhte auf Herkommen und Gewohnheit. Jeder höher strebende Geist hielt sich darum von einem so niedrig stehenden Berufe fern; in der Landwirthschaft war Deutschland von vielen anderen Culturländern überflügelt worden.
Zur Zeit der größten politischen Erniedrigung begann man die Grundlagen zu schaffen, auf denen unsere heutige Landwirthschaft aufgerichtet werden konnte. An Hardenberg’s und Stein’s Namen knüpft sich mit so vielem Andern auch die Erinnerung an die Anfänge einer besseren Agrargesetzgebung. Der größere Grundbesitz, welcher in Preußen bis zum Jahre 1807 Bürgerlichen nicht zugänglich war, hörte auf, ein Vorrecht des Adels zu sein. Durch Ablösungsgesetze und Gemeinheitstheilungs-Ordnungen, durch Aufhebung der Erbrecht- und Leiheverhältnisse, durch Separations- und Verkoppelungsgesetze wurden nach und nach, in einem Zeitraume von fünfzig Jahren, alle jene Fesseln beseitigt, durch welche die freie Benutzung des Grundeigenthums gehindert gewesen war. Niemals ist ein Bruch mit bestehenden wirthschaftlichen Zuständen zugleich mit mehr Schonung und mit mehr Consequenz durchgeführt worden. Stets das vorgesteckte Ziel fest im Auge behaltend, hat man jeden neuen Schritt der Gesetzgebung durch die bessere Erkenntniß gewissermaßen vorbereiten lassen.
Diese bessere Erkenntniß zu schaffen, haben vor manchen Mitarbeitern zwei Männer übernommen, deren Namen in Deutschland, und weit über seine Grenzen hinaus, allzeit mit nicht geringerer Verehrung werden genannt werden, wie die jener beiden Staatsmänner. Aber während diese im gemeinsamen Zusammenwirken, haben Albrecht Thaer und Justus von Liebig nach einander, jeder in der ihm eigenen Weise, in die neuen Bahnen der Landwirthschaft eingegriffen. Eine glückliche Fügung war es, daß der Wirksamkeit des großen Chemikers der Regenerator der deutschen Landwirthschaft, der Vater der „rationellen Landwirthschaft“ um einige Decennien voranging. Ohne Thaer wäre Liebig schwerlich der Begründer der „wissenschaftlichen Landwirthschaft“ geworden. Die Lehre, welche Thaer von Möglin aus verkündete, welche er in seinen „Grundsätzen der rationellen Landwirthschaft“ niedergelegt hatte und welche seine zahlreichen Schüler in allen Gauen des deutschen Vaterlandes durch Wort und Beispiel verbreiteten, mußte zuvor die intellectuellen Grundlagen schaffen, [208] ohne welche die Lehre Liebig’s auf unfruchtbaren Boden gefallen wäre. Thaer mußte zuerst durch moralische Hebung des landwirthschaftlichen Berufs demselben eine große Zahl geistig hervorragender Männer zuführen, welche die Lehre des großen Naturforschers verstehen und sich zu seinen Mitarbeiten emporschwingen konnten.
Thaer hat die Herrschaft der Dreifelderwirthschaft gebrochen. Nach seinen eigenen Beobachtungen und nach den Erfahrungen, welche man in England gemacht hatte, mußte der Anbau von Blattpflanzen, welche bei der Dreifelderwirthschaft eine so untergeordnete Rolle spielen, ja bei dem reinen System ganz fortfallen, für die Fruchtbarkeit des Ackers bedeutungsvoll sein. Sie führen dem Boden durch die gute Beschattung, welche sie ihm zu Theil werden lassen, die Gase der Luft in reicherem Maße zu; sie bereichern ihn durch eine größere Menge von Wurzelrückständen und geben ihm die zur Erhaltung der Fruchtbarkeit so nöthige Mürbung und Lockerung. Thaer’s Ideal war demgemäß die sogenannte Fruchtwechselwirthschaft, wie er sie in England und dort besonders in Norfolk gesehen, das heißt der stets zwischen Halm- und Blattfrüchten wechselnde Anbau. Das durch die ersteren angegriffene Bodencapital sollte durch die letzteren bald wieder Ersatz oder wenigstens Schonung erhalten, je nachdem sie grün abgemäht und zur Fütterung verwendet wurden oder auf dem Felde zur Reife gelangten. Wiesen und Weiden zu belassen ist nach Thaer nicht unbedingt nöthig, da auch der Acker quantitativ und qualitativ sehr ergiebiges Futter liefern kann, weshalb Grasflächen, wenn es sonst wünschenswerth erscheint, umgebrochen und eventuell in gutes Ackerland verwandelt werden können. Gute Wiesen geben allerdings sichere Ernten und einen hohen Reinertrag und liefern gleichzeitig einen willkommenen Zuschuß für die Krafterhaltung des Ackers. Der Futterbau auf dem Acker verringert zwar den Anbau von Körnern und anderen direct marktfähigen Früchten, aber er gestattet, das Vieh auf dem Stalle zu füttern, es rationell und reichlich zu ernähren und ebensowohl bessere und mehr Marktproducte, wie auch besseren und mehr Dünger davon zu gewinnen. Die Erträge aus der Viehhaltung steigen in solcher Weise direct, und es wird auch der besser gedüngte Acker trotz der reducirten Fläche größere Erträge an Körnern liefern; der Gewinn ist somit ein doppelter.
Das Vorstehende giebt den eigentlichen Kern der Thaer’schen Lehre wieder. Thaer versuchte auch bereits, bestimmte Zahlen für die Entnahme aus dem Bodencapital durch die Ernten und für den Ersatz aufzustellen, doch war der Ausbau der Lehre von der „Statik“, von der Gleichgewichts-Wiederherstellung, seinen Schülern vorbehalten, welche die Culturpflanzen in stark angreifende, angreifende, schonende und bereichernde theilten und die Minderung und Mehrung der Bodenkraft durch den jeweiligen Anbau entweder nach Centnern Stalldünger oder nach Procenten der ursprünglichen Bodenkraft berechneten.
Der wirkliche Werth dieser Thaer’schen Ideen bestand in der durch sie gegebenen Anregung zu selbstständigem Denken, zu freier Haltung gegenüber der hergebrachten Schablone, unter deren Joch bisher Alles sich blind gefügt hatte. Um dauernd praktisch einzugreifen, ermangelten sie, wie sich bald zeigen sollte, der rechten wissenschaftlichen Erkenntnißgrundlage. In der Agriculturchemie führte nämlich damals die Humustheorie das Scepter, das heißt die Theorie, nach welcher der Humus, die Ackererde, die eigentliche Pflanzennahrung bilden sollte. Das Irrige dieser Ansicht nachzuweisen, war Liebig vorbehalten.
Der Humus, sagt Liebig, ist überhaupt kein Nährstoff der höher organisirten Pflanzen. Sie leben nur von anorganischen Stoffen, welche sie zum Theil der Luft, zum Theil dem Boden entnehmen. An und für sich sind alle nothwendigen Nährstoffe – Kali, Kalk, Magnesia, Eisen, Phosphorsäure, Salpetersäure (oder Ammoniak), Schwefelsäure, Kohlensäure und Wasser – gleichwerthig. Fehlt einer derselben, so kann die Pflanze nicht gedeihen. Da aber Kohlensäure, Salpetersäure (beziehungsweise Ammoniak) und Wasser aus dem stets sich erneuernden Luftmagazin zugeführt werden können, so sind es nur die anderen, die bodenbeständigen oder Aschenbestandtheile der Pflanze, welche bei der Düngung die besondere Aufmerksamkeit des Landwirths verdienen. Die absolute Menge der in den Ernten entzogenen Aschenbestandtheile ist zwar nicht groß gegenüber dem Gehalte daran, den uns fruchtbare Ackererden bieten, es kommen jedoch für die Ernährung der Pflanzen nur die lösungsfähigen Stoffe in Betracht; nur solche vermögen in die Pflanze einzudringen, und deren Menge im Boden älterer Culturländer ist niemals sehr groß. Die Lehre von der Statik ist eine Irrlehre; denn Pflanzen, welche den Boden an ihm eigentümlichen Nährstoffen bereichern, giebt es nicht. Je größer die Ernte, um so größer die Entnahme und um so dringender die Nothwendigkeit des Ersatzes durch die Düngung, wenn die Fruchtbarkeit auf gleicher Höhe erhalten werden soll. Der Stalldünger, welcher aus den gewonnenen Pflanzen herrührt, kann keinen vollen Ersatz liefern, weil die Stoffe fehlen, welche in der Form von Körnern, Milch, Fleisch etc. ausgeführt wurden.
Mit dieser Lehre, deren Thesen nicht nur experimentell bewiesen, sondern auch durch die Erfahrung erprobt waren, stellte Liebig vor Allem das Vertrauen zu der Wissenschaft her. Seitdem ist die Chemie die tägliche und unentbehrliche Beratherin des Landwirths geworden; in ihrem Gefolge wurden Physik, Mineralogie und Geognosie, Botanik, Zoologie und Physiologie herangezogen. Das Bewußtsein, daß man, um ein tüchtiger Landwirth zu sein, nicht nur über eine reiche Erfahrung, sondern auch über ein reiches Wissen müsse verfügen können, ist nunmehr bei den jungen Landwirthen, welchen die Fortentwickelung ihres Gewerbes anvertraut ist, zur vollen Geltung gekommen.
Da sieht es im Betriebe der deutschen Landwirthschaft jetzt freilich anders aus, als zu jener Zeit, wo die bahnbrechende Thätigkeit Thaer’s begann. Der Boden, die eigentliche Grundlage aller landwirthschaftlichen Thätigkeit, wird sorgfältig untersucht, geognostisch bestimmt, in seine gröberen und feinen Bestandtheile zerlegt; seine Absorptionskraft, seine Wärme und Wasser leitende, anziehende und zurückhaltende Kraft wird erwogen, seine Mängel werden durch Meliorationen, durch Drainage, durch Bodenmischung beseitigt. Die Bodenbearbeitung wird nicht mehr nach der Schablone ausgeführt, sondern mit Rücksicht auf Luft, Wärme, Feuchtigkeit vorgenommen. Man ist darauf bedacht, durch rechtzeitige und passende Arbeit die Kräfte der Natur zur günstigen Wirkung zu bringen, und bedient sich dabei nicht nur der menschlichen Hand und der Muskelkraft der Gespannthiere, sondern auch der gewaltigen Dampfkraft. Die Düngung erfolgt keineswegs allein mit dem Dünger der Hausthiere, alle Abfälle aus der Wirthschaft werden je nach ihrem stofflichen Werthe zu diesem Zwecke zu Rathe gehalten; die Latrinen der Städte und so manche künstliche Dünger, mit deren Herstellung sich ein besonderer Industriezweig beschäftigt, werden herangezogen. Phosphorsäure und Kali, an denen der Boden am leichtesten Mangel hat, werden als Bestandtheile derselben besonders geschätzt; daneben ist auch der gebundene Stickstoff, Salpetersäure und Ammoniak, wieder in seine Rechte eingesetzt, da man inzwischen erkannt hat, daß er nicht direct aus der Luft, sondern nur durch die Vermittelung des Bodens den Pflanzen zu Gute kommen kann. Immer werden der Vorrath des Bodens einerseits und der Bedarf der anzubauenden Pflanzen andererseits in Betracht gezogen. Bei der Saat wird sorglicher als vordem die Beschaffenheit des Saatguts überwacht, und ebenso die gleichmäßige Unterbringung desselben zu der Tiefe, wie sie dem gegebenen Boden und der Natur der Pflanze am besten entspricht. Maschinen reguliren Stärke und Tiefe der Aussaat; indem sie die Früchte in Reihen aussäen, beugen sie auf reichem Boden der Schwächung der Pflanzen durch Lagern vor, denn das in die Reihen besser eindringende Licht kräftigt den pflanzlichen Organismus und giebt insbesondere dem Halme festeren Halt.
Die Ernte in der Hauptfrucht, in Roggen, die 1878 bei ziemlich sechs Millionen Hectaren Anbau auf durchschnittlich dreiundzwanzig Centner pro Hectare sich belief, war sicherlich um fünfzig Procent höher, als man von gleicher Fläche zur Zeit der herrschenden Dreifelderwirthschaft zu ernten pflegte, und doch hatte der anspruchslose Roggen sehr viele der besseren Aecker, welche ihm früher zufielen, an Weizen und andere werthvolle Früchte abtreten müssen, die früher nur in viel beschränkterer Ausdehnung gebaut wurden. Auch ist es nicht zu übersehen, daß die bessere Cultur Mißernten jetzt viel seltener eintreten läßt und daß man bei der Production nicht mehr lediglich auf die Quantität der Ernte, sondern auch auf die Gewinnung einer besseren Qualität abzielt. Und wie die Pflege-Arbeiten, mit welchen wir selbst zwischen Bestellung und Ernte Frucht und Feld überwachen, Gelegenheit geben, manche feinere Kenntnisse bezüglich der [209] Lebens- und Wachsthumsbedingungen der Pflanze zur Geltung zu bringen, so gilt das nicht minder bezüglich der thierischen und pflanzlichen Parasiten, die in immer steigender Zahl die Früchte bedrohen. Mit Hülfe des Mikroskops hat die Wissenschaft so manche Krankheitserscheinung erklärt, so manchen Schmarotzer entlarvt und, was mehr sagen will, deren Entwickelung und Fortpflanzung klar gelegt.
Keinen geringeren Gewinn als der Ackerbau hat der andere Zweig der landwirthschaftlichen Production, die Thierzucht, aus den Fortschritten der Wissenschaft gezogen. Schon Thaer hatte auch auf diesem Gebiete ganz erhebliche Verbesserungen eingeführt. Insbesondere hatte er in richtiger Erkenntniß, daß es weniger auf die Kopfzahl des Viehstandes, als auf die gute Haltung ankomme, eine bessere Ernährung desselben angestrebt. Er hatte dafür gewisse Normen aufgestellt, den Futterbedarf nach dem Lebensgewichte der Thiere berechnet und den Nährwerth der verschiedenen Futtermittel, unter Zugrundelegung eines einheitlichen Werthmessers, des Wiesenheus, festzustellen gesucht. Die moderne Wissenschaft hat aber auch an dieser Stelle Manches zu berichtigen gefunden. Man unterscheidet heute schärfer noch zwischen Erhaltungs- und Productionsfutter, und setzt letzteres, welches allein Leistungen zu schaffen vermag, in directe Beziehung und in ein angemessenes Verhältniß zu diesen Leistungen. Die sogenannten Respirationsapparate, in welchen man die Ernährungsvorzüge controlirt, haben über die Verwerthung des Futters mehr Aufschluß gegeben als früher überhaupt denkbar erscheinen konnte. In den Stand gesetzt, die ganze Ernährung und alle Vorgänge bei der Verdauung und Athmung durch die Ausscheidungen – feste, flüssige und gasförmige – zu überwachen, hat man jene einheitlichen Heuwerthe der Thaer’schen Schule verwerfen müssen.
Man zerlegt heute die Trockensubstanz eines Futtermittels in verdauliche und unverdauliche Theile. Letztere haben nur, indem sie die Verdauungsorgane füllen, einigen Nutzen. Jene, die eigentlich ernährenden, zerfallen wieder in mehrere Gruppen von sehr verschiedenem physiologischem Werthe. Man unterscheidet Proteïnstoffe, früher auch als plastische bezeichnet, weil sie es sind, welche vorzüglich den Körper aufbauen, ferner Kohlenhydrate und Fett, die man als Respirationsmittel zusammenfaßte, weil sie speciell den Athmungsproceß stützen sollten. Zu einer guten Ernährung gehört in jeder Futterration eine gewisse Menge von Nährstoffen, bei denen wieder jede jener Gruppen vertreten sein muß. Jede Thiergattung, jeder Nutzungszweck, vielleicht jedes Individuum vermöge seines eigenthümlichen Organismus, verlangt ein besonderes Nährstoffverhältniß, wenn eine recht wirthschaftliche Ausnutzung des Futters erzielt werden soll.
Viel, sehr viel hat dadurch die Landwirthschaft nutzbarer anzuwenden und zu ersparen vermocht, und ebenso in anderer Richtung durch die bessere, den jeweiligen Nutzungszwecken mehr entsprechende Auswahl der Rassen. Man hat die Paarung dem Zufall entzogen, überhaupt auch innerhalb der Rasse nur solche Thiere zur Zucht verwendet, welche den beabsichtigten Leistungen entsprechen. Man hat die Züchtungskunst von einer Menge Charlatanerien befreit, nachdem die Wissenschaft manche wunderbare Vorstellungen dahin verwiesen, wohin sie gehörten: in das Reich der Fabel.
Endlich ist noch hervorzuheben, daß ein neuer Zweig des Wissens für die moderne Landwirthschaft mit der Nationalökonomie zur Geltung gekommen ist. Sie hat als Grund- und Hülfswissenschaft eine nicht minder große Bedeutung erlangt, wie die Naturwissenschaften. Während diese Aufschluß geben über die Kräfte der Natur und die Gesetze, nach welchen sie wirken, giebt jene Kenntniß von den wirthschaftlichen Gesetzen der Gütererzeugung und Consumtion, des Verkehrs, der Entwickelung der Preise und des Ertrages. Jeder Landbesitz erfordert jetzt seine besonders gestaltete Ordnung und Leitung; eine schablonenhafte Organisation ist unmöglich oder doch ganz unwirthschaftlich geworden. [210] Je nach den Bodenverhältnissen, nach den Eigenthümlichkeiten des Klimas, nach den Besonderheiten des Marktes und der vorhandenen Arbeitskräfte und sogar nach den eigenen ganz persönlichen Verhältnissen des Bewirthschaftenden muß die Gestaltung des Betriebs sich richten.
Es kommt dabei, wenn auch in beschränkterer Weise, das Gesetz der Arbeitstheilung zur Geltung, durch welches unsere Gewerbe zu so großer Blüthe gebracht sind. Die Körnerwirthschaften nehmen nur noch einen bescheidenen Platz ein; die Erzeugung thierischer Producte ist, dank der durch die Blüthe der Industrie hervorgerufenen größeren Consumtionsfähigkeit der Bevölkerung, überall zu größerer Bedeutung gekommen. Manche moderne Wirthschaft legt – um von denen nicht zu reden, welche in unmittelbarer Nähe sehr consumtionsfähiger Städte einen fast gärtnerischen Betrieb eingerichtet haben – viel Nachdruck auf die Production von Handelsgewächsen. Eine viel größere Zahl sucht ihre hauptsächlichste Aufgabe in der Cultur und Verarbeitung derjenigen landwirthschaftlichen Rohproducte, auf welche in neuerer Zeit eine so blühende landwirthschaftliche Industrie begründet ist. Die Zuckerfabriken und Spiritusbrennereien sind aus der Stadt auf das Land verlegt worden; denn es ist viel leichter, das fertige Fabrikat nach der Stadt zu transportiren, als das Rohmaterial. Die Thatsache, daß diese beiden Fabrikationszweige der Reichscasse jährlich mehr als hundert Millionen Steuer beitragen, illustrirt ihre Bedeutung. Auch Stärkefabriken, ja selbst Brauereien sind vielfach auf dem Lande errichtet worden, und die Zahl der Flachsbereitungsanstalten hat sich in einigen Gegenden sehr vermehrt. Jede solche in sich werthvolle Acquisition ist zu einer Zeit, wo der Production von Körnern und Fleisch eine so gefährliche Concurrenz aus fernen Ländern erwachsen ist, freudig zu begrüßen.
So hat sich denn nicht nur in ihrem inneren Getriebe, sondern auch in dem durch die Wirthschaftsorganisation bedingten äußeren Gewande die deutsche Landwirthschaft im Laufe dieses Jahrhunderts gewaltig geändert, und man darf ohne Ueberhebung behaupten, daß in intellectueller Beziehung die deutsche Landwirthschaft heute gegen die keines einzigen andern Landes zurücksteht.
Der hohen Bedeutung, welche die Landwirthschaft für den Staat hat, wie den gesteigerten intellectuellen Anforderungen, die man wenigstens an diejenigen Landwirthe stellen muß, in deren Besitz sich größere Landgüter befinden, scheint es zu entsprechen, daß man in neuerer Zeit an einigen Universitäten Einrichtungen getroffen hat, um an dieser Stelle auch die höchste wissenschaftliche Ausbildung junger Landwirthe zu übernehmen. Unsere Abbildung zeigt das neue landwirthschaftliche Institut der Leipziger Universität, mit welchem den in großer Zahl hier studirenden Landwirthen ein eignes Daheim gegeben ist.
In dem hohen Parterre des Gebäudes befindet sich das mit allen technischen Hülfsmitteln der Neuzeit ausgerüstete agriculturchemische Laboratorium, welches auf dem Südostflügel mit einem Gewächshause verbunden ist. Zwei große Arbeitssäle, der eine für Anfänger, der andere für Geübtere, enthalten zusammen 36 Plätze für die Praktikanten. Daneben findet sich eine Reihe von kleinen Zimmern, jedes für sich völlig abschließbar, welche Gelegenheit bieten, besondere Richtungen bei der Forschung zu cultiviren. Die mittlere Etage umfaßt eine größere Zahl von Arbeits- und Sammlungsräumen mannigfacher Art, wie dies den vielseitigen wissenschaftlichen Beziehungen der Landwirthschaft entspricht, und außerdem, was sonst an räumlicher Einrichtung nöthig ist: Auditorien, Lesezimmer, Bibliothek, Conferenz- und Examenzimmer, Expedition etc. An den vorhandenen 12 Arbeits- und Sammlungsräumen haben 7 Professoren Antheil, die den Unterricht, welcher in den nahegelegenen mineralogischen, geologischen, physikalischen, zoologischen, chemischen, physiologischen, veterinärklinischen und botanischen Instituten der Universität ertheilt wird, in der Richtung der Landwirthschaft zu ergänzen berufen sind. Die landwirthschaftliche Abtheilung hat ebenso wie die agriculturchemische ein großes in der Korbform gebautes, zu demonstrativen Vorlesungen besonders geeignetes Auditorium. In der zweiten Etage des Gebäudes haben der Director des landwirthschaftlichen Instituts und der des agriculturchemischen Laboratoriums und in dem Aufbau noch ein Assistent und der Castellan Wohnung erhalten.
Was die Ostern für das kirchenstaatliche Rom waren, sind sie heute nicht mehr. Mit den christkatholischen Osterprocessionen und Schauspielen hat es ein Ende; man pilgert nicht mehr singend, schreiend und musicirend durch die Straßen und über die Plätze der ewigen Stadt; jenes Gepränge und sinnenberauschende Festtagstreiben, das gestern dem römischen Volke noch unentbehrlich erschien, bildet heute kaum mehr als eine nebelhaft verschwommene Erinnerung, und all die heiligen Standarten und Siegestrophäen der „Alleinseligmachenden“, die bordenschweren Baldachine, die gold- und blumengestickten Fahnen der Bruderschaften, der Purpur und die edelsteinblitzenden Agraffen der Cardinäle sind in Gefahr, ein Fraß des Staubes und der Motten zu werden.
In den größten Basiliken, Sanct Peter, Santa Maria Maggiore und San Paolo, finden feierliche Pontificalämter nicht mehr statt; kaum daß man in irgend einer entlegenen Seitencapelle während der Passionswoche gegen Abend ein leise gemurmeltes Miserere vernimmt, dessen elegischer Widerhall über den prächtig cassetirten Bogen des dunklen Raumes selbst nicht zu dringen vermag. Mit den vielstimmigen, nach allen Regeln der Kunst ausgeübten Chormessen und symphonischen Gesängen ist es zu Ende, und so mancher musikalische Gourmand sieht sich seit 1870 um seinen liebsten Ohrenschmaus betrogen. Die Peterskirche, in der früher ein so geräuschvolles Osterleben herrschte, nimmt sich jetzt um jene Zeit wie ein Museum aus, in dem man gaffend auf- und niederschlendert. Vornehme und gemeine Müßiggänger, Prälaten und Bettler, Damen der Aristokratie, Grisetten – neben vielen soliden noch viel mehr zweideutige Existenzen spazieren und kokettiren hier auf und nieder und – interessiren sich für die aufgehäuften Kunstwerke. Für acht Tage giebt sich hier die große und kleine Gesellschaft jenes Stelldichein, dem sonst nur die duftigen Schattengänge des Pincio geweiht sind.
Aber wie allenthalben nach dem Goethe’schen Wort „bald allein ist, wer sich der Einsamkeit ergiebt“, so geht der Einfluß des kirchliche Roms immer weiter zurück, je enger der Vatican sich in seine Schmollwinkel drückt und dem Volke seine vielbestaunten geistlichen Ausstattungsfeststücke vorenthält. Das Volk von Rom will seine Festfreuden haben, und was die Kirche ihm nicht mehr bietet, sucht es in unheiliger Neugierde anderswo. Denn Langeweile erträgt der Südländer einmal nicht, auch um der römisch-katholischen Religion willen nicht, ohne die er im Uebrigen nicht gedacht werden kann.
So möge denn der Leser uns hinausbegleiten in die Campagna, um an einem Beispiel zu sehen, wie sich das moderne Rom zu Ostern amüsirt.
Die goldene Frühlingssonne, ein tiefblauer wolkenloser Himmel und die weiche Luft verlockender Lenztage bringen in der ewigen Stadt Alles auf die Beine. Dicke Staubwolken erheben sich über dem ungeheueren Foro. Aus allen Richtungen wälzen sich Menschenmassen auf die weltberühmte Straße, die sich seit mehr als anderthalb Jahrtausend unvergänglich unter den Triumphbögen des Titus und Constantin hindurchzieht. Wir sehen Wagen an Wagen in unabsehbaren Reihe sich drängen. Seit Jahrhunderten ist das Volk nicht mehr hinausgezogen zum Circus des Romulus, wie hier kurzweg der Circus Maxentius genannt wird. Heute erwacht das alte Rom wieder; man findet wieder Freude und Genuß an den uralten Wettkämpfen der Wagenlenker, an dem verwegenen Ringen kühner, todesmuthiger Reiter. Und das ist der moderne Römer; gestern noch als sedario (päpstlicher Sesselträger) mit der Centnerlast des schmeerbäuchigen Pontifex auf dem Rücken oder mit dem Weihwedel und dem Wachslicht im Zug psalmodirender Mönche, und heute lebenskeck und fröhlich in das halsgefährliche Gedränge von Fußgängern, Wagen und Reitern sich stürzend, das die Via Appia hinunterfluthet.
Am Eingange des Circus hält das Riesengrabmal der Cäcilia
[211] Metella Wacht. Als Cäcilia Metella, deren Name wohl nur durch ihr Prachtmausoleum auf die Nachwelt gekommen in dem stolzen Rundbau ihre letzte Ruhestätte fand, war der Circus Maxentius noch nicht erbaut. Die einst viel gewaltigere Steinmassen des Circus sind zerfallen und öde; elende Pferde weiden für gewöhnlich auf seinem Plane, während das Denkmal der Metella noch heute in die Lüfte ragt aus dem unvergleichlichen Panorama, in dessen Hintergrunde das Albaner- und Sabinergebirge traumhaft malerisch sich abhebt.
Heute aber pulsirt in dem Circus Maximus das Leben des neuen Rom. Die Bewohner der Tiberstadt sind achtlos an den mystischen Katakomben des Callistus, an den Märtyrerstätten zahlloser Christen bei San Sebastian vorbeigeeilt. Ueber zwanzig Jahrhunderte hinweg versetzt man sich mit einem kühnen Sprunge zurück in die nervenaufrüttelnden Vergnügungen eines weltbezwingenden Volkes, das mehr Sympathien hatte für den in der Verzweiflung des Todes ringenden Gladiator, als für den begeistert um seinen Glauben sterbenden Märtyrer. Nur ist das zu erwartende Schauspiel das zahmste in der Reihe jener antiken Circusvergnügungen.
Ein einfaches Wagenwettrennen in der galanten Manierlichkeit des neunzehnten Jahrhunderts, und doch ein gewaltiges Schauspiel! Die in die Räume des Circus, welcher wohl 1600 Fuß in die Länge und 300 Fuß in die Breite messen mag, hineingepferchte ungeheure Menschenmenge veranschaulicht erst dessen kolossale Dimensionen. Die Ringmauern stehen noch aufrecht wie einst; die Loggia der Cäsaren hat noch gewaltige Mauerreste aufzuweisen, und an der östlichen Langseite sind in ungewöhnlicher Höhe zerfallene Balken und Fenster wahrnehmbar. Die Signalthürme, welche die Gefängnisse verbinden, ragen nur noch als Skelete über dem Baue empor, und die Triumphpforte, durch welche an der entgegengesetzten Seite die Sieger verschwanden, hat einzig ihren Bogen bewahrt, über welchem sich früher höchst wahrscheinlich eine Tribüne oder ein Altar erhob. Von den zwölf kreisförmig laufenden Stufen der Arena, auf welchen die Theatersitze angebracht waren, ist nichts mehr erhalten, und sogar der Marmor ist verschwunden. Wenige aus der Erde hervorragende Marmorstümpfe und ein langes, knapp erhaltenes Mauerwerk bezeichnen die Stelle, wo der große Obelisk einst aus einer Gruppe herrlicher Götterstatuen und Amazonen emporragte, der heute auf der Piazza Ravona unter dem Brunnen Bernini’s sich erhebt. Auch der kleine Venustempel in der Arena ist nur noch eine Erinnerung, ebenso wie die Palme, die seinen Eingang bewachte und von welcher der Sieger den Siegeszweig pflückte.
Mit den heiteren Gebräuchen der heidnischen Götterverehrung, mit denen jedes Schauspiel eingeleitet wurde, sind auch die malerischen Erscheinungen, die bunten Trachten eines mosaikartig zusammengewürfelten Völkergemisches, das sich in den Zuschauerräumen drängte, verschwunden. Statt der leuchtenden Pracht eines Cäsar’s in der gold- und purpurschwer decorirten Kaisertribüne erscheint ein König in schwarzem Frack und weißem Rochefort-Kragen, einen bürgerlichen Cylinder aus dem Kopfe. Und er besteigt eine ärmliche Bretterbude, mühsam ausgeschlagen mit nationalfarbenem Shirting, so daß man unwillkürlich an die Prater-„Wurstltheater“ Wiens erinnert wird. Neben der Kaisertribüne etliche Reihen bretterner Sitze, vorne wieder mit Brettern verschlagen, ärmlich bewimpelt und besetzt mit Damen und Herren im Costüm unsrer Modejournaltypen. Welch kläglichen Eindruck macht nicht dieser moderne Kram inmitten der kolossalen Reste des antiken Marmortheaters!
Das Volk hatte es sich auf dem Rasen bequem gemacht; die letzte, noch erhaltene Grundmauer der früheren Stufen benutzte es als Sitz, während die Umfassungsmauer einen willkommenen Schatten in den westlichen Halbkreis warf. Die mitgenommenen Proviantkörbe wurden ausgepackt, Hoch und Niedrig, Alt und Jung ließen Gläser mit purpurnem Weine kreisen. Jedes hatte sich herausgeputzt wie zu einem Familientage.
Unten in der Rennbahn tummelten sich übermüthig die Kämpfer auf ihren Sedioli. Sie reizten offenbar ihre Pferde und bereiteten sie auf den Strauß vor, denn diese flogen auf und nieder im Circus, wie der Wind. Vier Batterien, wie man in Italien einen Laufturnus nennt, sollten um den Preis fahren.
In Italien ist das Wettfahren mittelst „Sedioli“ das beliebteste. Die „Biga“ ist weniger häufig, wenngleich in Oberitalien beide Sitten sich von Alters her erhalten haben, hauptsächlich in Padua und Modena, wo alljährlich berühmte Wettfahrten und Wettrennen stattfinden, zu denen das Volk aus nah und fern herbeiströmt. Der Sediolo ist zweifellos eine Nachahmung des Tilbury, der wieder nichts anderes ist, als der in moderne Façon gebrachte altitalienische zweirädrige Viroccino, bei dem Bauer ebenso in Anwendung wie bei dem vornehmen Herrn bei Letzterem natürlich nicht ohne die entsprechenden Verfeinerungen. Das Aussehen dieser Viroccini nicht minder wie ihr Wesen ist von einer solchen Leichtigkeit, daß man geneigt ist, sie als aus Schilfrohr gebaut anzusehen. Auf der Achse zwischen zwei mächtigen Rädern erhebt sich über einer quadratförmigen Unterlage ein luftiger Sitz mit niedriger Seitenlehne. Der Viroccino ist immer einspännig, und die Besitzer fahren meist selbst. Unterschieden werden diese Sedioli von einander entweder durch die Farbe der Räder oder auch durch eine Nummer. Gewöhnlich laufen drei Viroccini auf einmal aus. Die Preise pflegen nicht gerade bedeutend zu sein, höchstens 3000 Franken. Der ganze Circus muß dreimal umfahren werden. Das Schauspiel des Wettfahrens mit den Viroccini ist aufregend, weil die Räder bei den Biegungen leicht in einander gerathen und dazu die Lenker gewöhnlich von ihrem Sitze geschleudert werden.
Um drei Uhr wurde das Signal gegebene; die ersten drei Renner flogen davon wie der Blitz. Bei einer Biegung in der Nähe der Gefängnisse stürzten Roß und Lenker des ersten Viroccino; die nachfolgenden Wagen und Pferde jagten über den Mann hin und hatten Mühe, dem scheu gemachte Roß auszuweichen welches sich rasch aufgerafft hatte. Todtenstille blieb es in der Menge; kein Ausruf des Schreckens oder des Mitleids, höchstens das „Jesu!“ eines alten Mütterchens wurde vernehmbar. Man bändigte das Roß, und der Auriga erhob sich wieder. Was hätte man möglicher Weise vor tausendfünfhundert Jahre für ein Jubelgeschrei erhoben bei diesem Sturze!
Wir sahen mit etwas mehr Gleichmuth, als das erste Mal, auch einen zweiten Viroccino stürzen, worauf dann das Wettspiel durch das Erscheinen mehrerer Büffelhirten auf ihren urwüchsige, mittelalterlich besattelten Gäulen, mit Zäumen aus Strick in den Händen, eine heitere Wendung nahm. Ein lauter Jubelruf begrüßte die wohlbekannten heimathlichen Steppenreiter. Fünf bärtige Kerle mit wettergebräunten Gesichtern, breitkrämpige Spitzhüte auf dem Kopfe, in schäbigen, kurzen Jacken und mit Lederschienen an den Waden, stachen malerisch ab von einem dreizehnjährige Knaben, der in Reih’ und Glied neben ihnen einhergeritten kam. Mit losgelassenen Steigbügeln und schlaffen Zügeln – so flogen jene Naturreiter dahin auf ihren Pferden. Der tapfere Junge sauste vorwärts; leuchtenden Auges und wallenden Haares war er in einem Nu den Blicke der schreienden Menge entschwunden, die Anderen stürzte ihm nach, von dem Beifalle beleidigt, der dem Knaben gespendet wurde; der Zorn übergluthete ihre Wangen; sie drückten die Sporen in die Weichen der Thiere, und diese vervollständigten mit ihren langen flatternden Mähnen und den riesigen Schweifen ein seltsam reizendes Bild.
Während des dritten Rundlaufes fühlte der Jüngling seine Kräfte weichen; der Gaul gehorchte seiner Hand nicht mehr, und er war bald überflügelt. Der bärtige Sieger ergriff mit triumphirender Miene die rothe Fahne, und keck und vornehm, als käme er erst frisch in die Bahn, jagte er, das Banner in der Rechten schwingend, sein Roß noch einmal in die Runde, während die Menge brüllend applaudirte.
Das Schauspiel war nun zu Ende. Die langen Abendschatten dunkelten bereits über die ganze Arena, deren Tribüne sich leerte, während unten der Menschenknäuel sich langsam entwirrte, um den Ausgang zu suchen. Ein Lachen und Plaudern, die ganze Lebendigkeit des Römers schwirrte um uns. Das Volk war sichtlich befriedigt, es hatte ein Ostervergnügen gehabt, und ein neues dazu. Es gab keinen deutlicheren Beweis, daß die pontificale Vergangenheit nicht, wie die Curie gewähnt, eine unausfüllbare Lücke zurückgelassen hat. Nichts in der Welt ist unersetzlich.
„Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit,
Und neues Leben blüht aus den Ruinen.“
[212]
Vor Jahren, als mich mein Arzt zum Curgebrauch nach Wiesbaden gesandt hatte, bemerkte ich dort unter der großen Zahl von Kranken und Gesunden einen jungen Mann, der, in einem Rollwagen ruhend, viele Stunden im Freien zubrachte. Ein ältlicher Bedienter setzte das kleine Fuhrwerk in Bewegung; sein hageres, grämliches Gesicht diente gewissermaßen zur Folie des schönen Kopfes seines Herrn, dessen blühende Farbe und freie Haltung bei einem Leidenszustande auffallen mußte, der offenbar einen Theil der Glieder lähmte. Noch größere Gegensätze bildeten der schwermüthig durchgeistigte Ausdruck der Züge und der lebhafte Blick; körperliches Leiden hatte das Feuer dieser Augen nicht zu dämpfen vermocht; es verrieth sich auch dann, wenn sie an Menschen und Dingen nur vorüberstreiften.
Unfern des Curgartens liegt ein grün umschatteter Weiher, dessen kleine Insel durch eine leichte Bogenbrücke mit dem Parkwege verbunden ist. Auf diesem Inselchen pflegte ich mich Nachmittags einzufinden, um fünf Uhr, wo die große Fontaine springt und das Concert beginnt; um diese Zeit war es dort einsam; man konnte in ungestörter Freiheit nach dem Menschengewimmel jenseits ausschauen. Bald bemerkte ich, daß der Curgast, welcher mich interessirte, diese Liebhaberei mit mir theilte. Der alte Bediente fuhr den Wagen regelmäßig bei Beginn des Concertes unter eine Buche, die breite Schatten warf, und zog sich dann schweigend zurück. Der Leidende blieb immer allein, sah aber nie gelangweilt oder verstimmt aus, was meine Sympathie für ihn steigerte. Wer mochte er sein? Ein im Felde verstümmelter Officier? Ein durch Krankheit Gelähmter? Zuweilen schien mir, als müßte mein eigenes Gedächtniß darauf Antwort geben; ich hätte darauf schwören mögen, das Gesicht schon früher gesehen zu haben. Aber wann und wo?
Eines Nachmittags, als wir beiderseits wieder der Musik zuhörten, kam mein Arzt des Weges. Er hielt seinen Schritt vor dem Rollstuhl an, wechselte einige Worte mit dessen Insassen und ging weiter. Dann bemerkte er mich und kam zu mir heran, sehr willkommen; denn schon wartete auf meinen Lippen die Frage:
„Mit wem sprachen Sie eben, Doctor?“
Er folgte meinem Blick. „Wie?“ sagte er verwundert. „Das ist ja Reinhold Isen.“
„Der Name klingt gut, aber Sie sprechen ihn aus, als sagten Sie: das ist ja Napoleon, oder Richard Wagner, oder sonst ein Weltwundermann. Mir ist er ein Klang, kein Begriff.“
„Und doch streiften Sie an diesem Begriff nahe vorbei, als Sie eben Richard Wagner nannten. Isen war einer von dessen ersten Interpreten. Sollte Ihnen wirklich der zur Zeit in ganz Deutschland genannte Tenor unbekannt geblieben sein?“
Plötzlich ward es hell in meiner Erinnerung; nun wußte ich, welche Aehnlichkeit stets vor mir gaukelte. Zwar hatte ich den Künstler nie selbst gesehen oder gehört, doch ging sein Bild damals durch alle illustrirten Blätter.
„Derselbe Reinhold Isen,“ fragte ich interessirt, „welcher mit der Flugmaschine so unglücklich stürzte?“
„Derselbe. Seit Jahren ist er hier ein regelmäßiger Curgast und nebst seinem typisch gewordenen Joseph jedem Kinde in Wiesbaden bekannt.“
Die Mandolinata verhallte als letztes Concertstück, während der Doctor seinen Weg fortsetzte. Ich saß nachdenklich; mein Blick schweifte mit gesteigertem Antheil zu dem Unglücklichen hinüber, dessen Namen und Loos ich soeben erfahren. Welch ein Loos! Von der Höhe des Ruhmes, des Erfolges gestürzt, nicht nur die Füße gelähmt, gewissermaßen auch die Flügel – Alles dahin, was Anderen das Leben beschwingt, und – allein!
Heute war ein milder, etwas schwüler Abend; über Laub und Wasser brütete eine Stille, die sich wie leise Müdigkeit auch über Glieder und Augen spann. Der Sänger drüben unter der Buche hatte einen kleinen Band aufgeschlagen, in dem er las. Vereinzelte Spaziergänger kamen von Zeit zu Zeit des Weges, um bald wieder zu verschwinden. Es war so still, daß ein schwaches Geräusch mich unwillkürlich von meiner Handarbeit aufblicken ließ. Dem Lesenden war sein Buch entglitten; es lag im Grase. Er machte eine unwillkürliche Bewegung sich abwärts zu neigen; als er bemerkte, daß es zwischen Buch und Wagen doch ein paar Schritte Zwischenraum gab, lehnte er sich resignirt zurück. Schon war ich über der Brücke, reichte ihm mit schweigendem Gruße das Buch und wollte eben an meinen Platz zurückkehren als er mich ansprach:
„Dank für Ihre Güte, verehrte Frau!“ Im melodischen Klang der Stimme lag ein Zögern, das mir den Schritt hemmte, und wirklich setzte er nach einem Augenblick hinzu: „Möchten Sie mir vielleicht einen Moment weiter schenken, weil Sie doch eine Samariterin sind? Und weil wir uns gewissermaßen als Nachbarn betrachten dürfen?“
„Gern,“ sagte ich, und nahm auf der zunächst dem Wagen befindlichen Bank Platz.
Er sah mich freundlich an.
„Sie haben von ferne große Aehnlichkeit mit meiner Mutter,“ sagte er mit liebenswürdigem Ausdruck; „in den Bewegungen, meine ich. Verzeihen Sie, wenn das mich vielleicht unbescheiden machte: wer weiß, ob Sie aufgelegt sind, sich zu unterhalten.“
„In jeder alten Frau regt sich leicht ein mütterlicher Zug,“ sagte ich lächelnd: „wenn Ihr Instinct dies errieth, behält er Recht.“
Während ein angeregtes Gespräch sich weiter spann, erfreute mich die Lebendigkeit, mit der mein neuer Bekannter jedes berührte Thema aufnahm und demselben Inhalt gab. Sein bewegliches Mienenspiel erhöhte den Eindruck der geistreichen Worte. Nun ich ihm nahe saß, gewahrte ich, daß er nicht so jung war, wie er mir von einiger Entfernung aus erschienen. Feine Linien zogen sich bereits um Stirn und Augen. Trotzdem blieb der Eindruck des lebensvollen Kopfes ein jugendlicher; denn gerade um Stirn und Augen lag ein merkwürdig genialer Zug, welcher die leise Spur des Alters gleichsam wieder aufhob. Während er sprach, wurde der geistige Ausdruck intensiv; schwieg er, dann trat um den von keinem Bart beschatteten Mund ein Zug von Schwermuth hervor.
Von dieser ersten Gesprächsstunde an trafen wir, auf Verabredung oder ohne sie, fortan täglich zusammen, im Park oder an irgend einem schönen Punkte, der für Isen’s kleines Fuhrwerk zugänglich war. Die Stimmung, mit der er sein herbes Schicksal trug, setzte mich in wachsendes Erstaunen.
Nach und nach erfuhr ich, daß Isen, als Sohn eines gebildeten Hauses, die sorgfältigste Erziehung genossen und eine Universität besucht hatte, ehe er sich der Bühne zugewandt. Er stand allein, ohne Eltern und Geschwister; der alte Diener war noch ein Erbstück aus dem väterliche Hause.
Meine Curzeit war abgelaufen, und die Heimreise stand bevor. Mit Bedauern dachte ich daran, von Isen scheiden zu müssen; selten war mir ein so sympathischer Mensch begegnet, ein träumerischer und zugleich thätiger Geist, der überall auf gründlicher Wahrheit beruhte.
Wir verabredeten, den letzten Nachmittag auf dem Neroberge zuzubringen. Als ich oben anlangte, fand ich die Stätte vor dem Säulentempel noch leer. Der Himmel war bedeckt: zwar zeichnete sich die Kette des Taunus, der Odenwald deutlich ab, über Thalgrund und Stadt lag aber ein gedämpfter Ton, welcher zu den Abschiedsaugen stimmte, mit denen ich darauf blickte. Das Heranrollen eines Wagens unterbrach bald meine Gedanken; zum erste Male sah ich Isen in einem andern Fuhrwerk als seinem Rollwagen. Joseph sprang vom Kutschersitze, machte das an die Droschke befestigte Wägelchen los und öffnete den Schlag. Er nahm seinen Herrn gleich einem Kinde auf die Arme und trug ihn in den Rollstuhl. Der Plaid, welcher den Unterkörper verhüllte, die Sicherheit, womit der kräftige Mann seine Bürde hielt, verminderten jedes Peinliche; dennoch schnürte es mir das Herz zusammen, als ich die völlige Hülflosigkeit des Armen so vor Augen hatte. Bereits war die Droschke davon gerollt; Joseph hatte ein Körbchen voll schöner Früchte in erreichbare Nähe gestellt und sich dann in seiner discreten Gewohnheit zurückgezogen, als ich noch immer kein Wort fand.
Isen mochte mir die Gedanken von der Stirn lesen. „Ja,
[213][214] ja, liebe verehrte Frau,“ sagte er; „so steht’s: es ist und bleibt ein armer Krüppel, dem Sie Ihr Wohlwollen geschenkt. Das darf Sie aber nicht trübe stimmen, besonders heute nicht, wo wir zu guter Letzt nur Freundliches zu Worte kommen lassen wollen.“
„Was mich bekümmert, ist weniger Ihr Zustand selbst – weiß ich doch, mit welcher Beherrschung Sie ihn zu tragen wissen,“ entgegnete ich bewegt; „daß Sie aber bei solchem Zustand so vereinsamt leben, erscheint mir allzu traurig. Ich, meiner Glieder mächtig, jede Freiheit genießend, kehre jetzt in den Kreis meiner Lieben zurück, und Sie – weiß ich – Alles entbehrend.“
„Nicht so sehr vielleicht, wie Sie glauben! Mein alter Joseph ist so viel werth, wie eine ganze Familie.“
„Frauenpflege und -Nähe wäre doch noch mehr werth. Ein Wesen an Ihrer Seite, dem das Recht, die Pflicht zustände, Ihnen, was Sie entbehren, zu ersetzen – wie tröstlich wäre das! Und gewiß könnte dies Ihr Theil sein. An Herzen, welche Sie sich gewannen, wird es nicht gefehlt haben.“
Eine feine Röthe stieg zu seinen Schläfen empor; sein lächelndes Gesicht wurde plötzlich ernst.
„Sie halten es für so leicht, ein Herz zu gewinnen?“ sagte er. „In dem Sinne, daß es dauernde Gabe wird, zu jedem Opfer bereit? O, verehrte Frau! Mir scheint nichts seltener und schwerer, als das Herz auch nur eines einzigen Menschen so zu gewinnen. Und dennoch –“
Er brach ab; ein sonnenheller Strahl drang aus seinem Auge.
„Eines war mein.“
Ich schwieg; seine Seele war im Begriffe, sich aufzuthun, kein Laut sollte sie stören.
„Sie rühmten mich zuweilen als Stoiker oder guten Christen,“ sprach er weiter, „weil ich, statt fruchtlose Klagelieder zu singen, mich lieber jeder freundlichen Stunde freue. Eigentlich hätte mich dieses Lob beschämen müssen. Ersparen Sie mir das Bekenntniß, in welchem Maße sich zu Anfang Alles in mir gegen den Spruch des Schicksals bäumte! Der Contrast war zu grell – es bedarf keines Ausmalens; die Lage, in welcher mich mein Loos traf, die, in welche es mich versetzte, sprechen für sich selbst. Noch war mein Denken, mein Charakter damals nicht fertig. Es ist unmöglich, zwischen den Coulissen von Schlacken frei zu bleiben; das Selbstbewußtsein mischt sich in Alles, will Anderes zur Erscheinung bringen, als nur das Göttliche, und wird durch mancherlei Einflüsse gerade in dem Punkte abgenutzt, auf welchem der Werth des Künstlers beruht. Heute beschämt mich die uralte Wahrheit, daß ich den Menschen abgeneigt wurde, weil mir verwehrt war, sie ferner in Enthusiasmus zu versetzen; damals machte ich mir das nicht klar, sondern überließ mich nur dem Hange bitterster Stimmung. Es handelte sich darum, einen Entschluß für künftiges Verweilen zu fassen. In der Stadt zu bleiben, war mir zuwider; umherzureisen stand außer Frage; ein dauernder Aufenthalt auf dem Lande versprach nur dann häusliches Behagen, wenn ich mir eigene Einrichtung beschaffte, und der bloße Gedanke an Dergleichen belästigte mich damals. Wohin also mit mir?
Die Frage wurde einmal in Gegenwart eines mir nicht unsympathischen Cavaliers des Fürsten erörtert, an dessen Hofbühne mich mein Schicksal betroffen. Baron F. mochte demselben über meine Mißstimmung und deren äußerliche Seite berichtet haben. In Folge dessen ließ mir der Fürst, welcher mir seit dem Unfalle seine Wohlgewogenheit mehrfach an den Tag gelegt, die Benutzung der Parterrezimmer eines ihm gehörigen, isolirt gelegenen Schlößchens anbieten. Dasselbe, eigentlich nur eine Villa, befand sich auf der Insel eines schönen Landsees, welche der Lieblingsaufenthalt der erst im Jahre zuvor verstorbenen Prinzessin Theodora, des Fürsten jüngster Tochter, gewesen war. Er hatte sich seitdem nicht mehr entschließen mögen, den Ort zu betreten, noch ihn von Anderen besucht zu wissen. An das Publicum, welchem die Insel stets zugänglich gewesen war, wenn sich die Herrschaften nicht gerade dort aufhielten, wurden keine Erlaubnißkarten mehr ausgetheilt. Ich verdankte die Gunst, welche mir der Fürst erwies, zum Theil dem Umstande, daß Prinzessin Theodora sich an meinem Gesange besonders erfreut hatte; dies deutete der Baron an, als er mir das freundliche Anerbieten brachte, welches ich gern und dankbar annahm. Die Insel war mir als eines der schönsten Fleckchen Erde bekannt; zu meiner persönlichen Pflege bedurfte ich nur Joseph’s, und die materiellen Lebensbedürfnis konnten vom Gärtnerhause aus beschafft werden.
Da der Mai schon in’s Land gekommen, rüstete ich mich sogleich zur Uebersiedelung. Mein Zustand machte es mir unmöglich dem Fürsten persönlich zu danken; ich that es schriftlich und wurde durch eine Antwortzeile ausgezeichnet, deren Schlußworte mich wohl neugierig gemacht haben würden, wäre ich in der Stimmung gewesen, mich für Räthsel zu interessiren.
‚Erholen Sie sich,‘ lautete der Satz, ‚und grüßen Sie mir das Frühlingsblümchen!‘“
„Rastlos nach dem unerforschten Innern der Kontinente wandert der Mensch, trotz Seuche und Gefahr; furchtlos ob der starren Natur, durchbricht er die Geheimnisse der ewig eisumgürteten Pole des Erdballs; die höchsten Gipfel der himmelanstrebenden Gebirge muß er ermessen und mit seinem meilenlangen Senkblei den tiefsten Grund des Meeres erfassen. Die Phänomene der Luft, der Fluth, das Innere seiner Erde muß er ergründen und auf ihre einfachen Naturgesetze reduciren, des gelben weltregierenden Metalles verborgene Schlupfwinkel prophetisch verkünden und die naturgerechten Stätten der ihm unentbehrlichen Pflanzen und Thiere in Gürtellinien um die Erde legen. Das ist das Reich der heutigen geographischen Wissenschaft, eine wunderbare große Welt des menschlichen Wissens, von der es unseren Vorvätern kaum geahnt ...“
Es sind jetzt gerade fünfundzwanzig Jahre verflossen, als der geniale Geograph und Kartograph Dr. August Petermann mit diesen einleitenden Worten die nunmehr so berühmten „Mittheilungen aus J. Perthes’ geographischer Anstalt“ in Gotha in’s Leben rief.
Noch nicht dreiunddreißig Jahre alt, hatte Petermann bereits damals eine auf dem Gebiete der Kartographie und Geographie reiche Vergangenheit hinter sich. In seltener Weise vereinigte sich bei ihm, dem Sohn armer Eltern, schon in der Jugend ein hervorragendes technisches Geschick und ein durchdringender, rastlos strebender Geist. Mit siebenzehn Jahren in die geographische Kunstschule des Dr. Hermann Berghaus eingetreten, mit dreiundzwanzig Jahren auf seines Freundes, des heute in Berlin lebenden hochgeachteten Dr. Henry Lange, Empfehlung nach Edinburg in die große geographische Anstalt von Johnston berufen, von dort, nach neunjähriger ungemein fruchtbarer Thätigkeit im Jahre 1855 einem Rufe nach Gotha zu Justus Perthes folgend, hatte dieser weitschauende unermüdliche Mann alsbald nach seiner Rückkehr nach Deutschland den Plan zur Herausgabe einer Fortsetzung des geographischen Jahrbuches von Heinrich Berghaus gefaßt, welches die Bezeichnung „Petermann’s geographisches Jahrbuch“ tragen sollte.
Da schlug ein Geschäftsgehülfe vor, anstatt eines Jahrbuches zwanglose Hefte unter dem Titel „Geographische Mittheilungen“ zu geben, und dieser Gedanke zündete bei Petermann so, daß das am Abend Besprochene schon am nächsten Tage in Form eines von Bernhard Perthes genehmigten Programmes vorlag. So entstanden die „Mittheilungen“, deren erstes Monatsheft nach einer handschriftlichen Notiz Petermann’s am 16. März 1855 fertig geworden ist.
Gleich vom ersten Moment an strebte die neue Zeitschrift dem großen Ziele zu, nicht nur die bedeutendste, die geographischen Forschungen und Entdeckungen am schnellsten und vollständigsten wiedergebende Publication zu sein, sondern sich auch vor allen anderen durch eine Fülle sorgfältig bearbeiteter und sauber ausgeführter Karten auszuzeichnen. Hierbei verstand es Petermann vortrefflich, die zahlreichen persönlichen Beziehungen, welche er mit den meisten geographischen Forschern, Reisenden und Gelehrten mündlich oder brieflich angeknüpft hatte, mitwirken zu lassen und das Material fast stets in erster Linie direct zu erhalten. Gleichzeitig glückte es ihm aber auch, diejenigen Hülfskräfte zu finden, mit denen sich die mühevolle schwere Arbeit der Herstellung der Zeitschrift erledigen ließ.
Fast vom ersten Augenblicke des Erscheinens der „Mittheilungen“ an haben die beiden Männer, welche wir heute an der Spitze des Unternehmens stehen sehen, diesem ihre Thätigkeit gewidmet. Vor Allen ist es Ernst Behm, der, nur acht Jahre jünger als Petermann, schon seit dem Beginn des Jahres 1856 die Redaction des Textes der „Mittheilungen“ übernahm, ein Mann von strengster Pflichterfüllung, unermüdlichem Fleiße und eminentem Wissen. Seiner riesigen und ausdauernden Arbeitskraft, derzufolge er reichlich die Hälfte des Textes der sämmtlichen fünfundzwanzig stattlichen bisher erschienenen Jahrgänge geschrieben hat, ist es vornehmlich zuzuschreiben, daß die Riesenaufgabe der Zeitschrift, zu deren Lösung unter anderen Umständen ein ganzes Personal gehört haben würde, scheinbar so spielend ausgeführt wurde.
Der zweite ist der Kartograph Bruno Hassenstein, dessen Thätigkeit als fünfzehnjähriger Lehrling und Hülfszeichner Petermann’s mit der Gründung der „Mittheilungen“ begann, und dem seit Petermann’s Tode, im Jahre 1879, die Herstellung der Karten für die „Mittheilungen“ übertragen wurde.
[215] Hervorzuheben ist ferner die Noblesse der Verlagsfirma Justus Perthes in Gotha, welche ohne Rücksicht auf den Erfolg in fast verschwenderischer Weise die Mittel für die künstlerische und reiche Ausstattung der Karten und der „Mittheilungen“ zur Verfügung stellte, obgleich das große gebildete Publicum sich – wie dies so leider populär-wissenschaftlichen Zeitschriften gegenüber in Deutschland vielfach geschieht – nicht in dem Maße betheiligte, wie es dies in seinem eigenen Interesse hätte thun sollen.
Selbstverständlich mußte mit solchen Kräften und Mitteln das neue Unternehmen bald eine hohe Stufe der Vollendung erreichen, es handelte sich aber darum, es in diesem Stadium dauernd fortzuführen, eine Aufgabe, die ebenso sehr der Würde der seit siebenzig Jahren bestehenden Anstalt wie der betheiligten Männer entsprach. Hier war es nun die unermüdliche agitatorische Thätigkeit Petermann's, welcher sich nicht damit begnügte, nur einfach das Geschehene zu referiren, die neuen Entdeckungen graphisch und beschreibend als der Erste von Allen und aus erster Quelle mitzutheilen, sondern der selbst Anregungen zu Forschungen und Reisen gab und sowohl die für die Ausführung richtigen Männer zu finden, wie auch, wo es nöthig war, die Mittel dazu flüssig zu machen wußte.
Das großartige Gebiet der geographischen Forschung theilt sich naturgemäß in so viel Abschnitte, wie wir Erdtheile haben, wozu die Polarländer, die Meere und die „allgemeinen“ geographischen Angelegenheiten noch besonders hinzukommen. Die Anschauung von der Gliederung unserer Erdoberfläche, welche im Laufe der letzten Jahrhunderte und bis zum Schlusse von Humboldt's Reisen gewonnen war, hatte in der Mitte unseres Jahrhunderts dahin geführt, daß man einen allgemeinen übersichtlichen Standpunkt zu fassen suchte, den namentlich Karl Ritter festzustellen sich bemühte. Indessen trieb die Fülle der neuen Erscheinungen und Resultate, welche fast jede neue Forschungsreise mit sich brachte, die Menschheit an, die Blicke immer weiter und weiter zu richten, in vergleichender Uebersicht die Oceane und Länder zu umspannen und auch jene großartigen Naturgesetze der Wind- und Wasserströmungen zu studiren, die mit unermüdlicher Thätigkeit bestrebt sind, die durch die Stauungen und Faltungen unserer Erdrinde rauh gewordene Oberfläche wieder glatt zu poliren, die Berggipfel abzutragen und die Ländermassive zu nivelliren.
Weitaus der größte Theil des Materiales, dem diese letztgenannten heutigen Anschauungen zu verdanken sind, befindet sich – vielfach noch als ein ungehobener Schatz – in den zahllosen Karten und Aufsätzen der Petermann'schen Mittheilungen. Ein Brief, ein Bericht, den der in den fernsten Theilen der Erde verweilende Reisende hierher sendet, das Tagebuch, das, wenn sein Schreiber vielleicht als Märtyrer der Wissenschaft gefallen ist, wohlbehalten hierher kommt, sie spiegeln viel reiner und klarer die wirklichen Verhältnisse an Ort und Stelle wieder, als jene zusammenfassenden Berichte, die, nicht immer mit großem Glücke, später nach Jahren von Anderen gemacht werden. Es giebt keine, selbst für den nicht ausschließlich wissenschaftlich Gebildeten interessanteren Berichte, als jene, welche uns die directen Zuschriften unserer Reisenden melden; jeder Artikel ist ein Blatt eines Romans, ein Abschnitt aus dem Gebiete der Wissenschaft, eine Photographie eines kleinen Erdenflecks.
Es entsprach der außerordentlich anregenden productiven Natur Petermann's viel zu sehr, sich mitten hinein in jene Legion von Aufgaben zu stürzen, deren Lösungen uns einer genauen Kenntniß unserer Erdoberfläche näher führen, als daß er einfacher Beobachter hätte bleiben können. Schon während seines Aufenthaltes in England, wo er sich der einflußreichen Protection von Bunsen's, des bewährten Gelehrten und preußischen Gesandten, erfreute, hatte er sich daran betheiligt, Forschungsreisen in's Leben zu rufen.
Im Jahre 1849 kam er sogar zu diesem Zwecke nach Berlin und lernte hier in der Wohnung seines Freundes Henry Lange die als Reisenden später so bekannt gewordenen Barth und Overweg kennen, die alsdann auf Kosten der englischen Regierung und der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin nach Afrika gesandt wurden. Damit war für ihn der Antrieb zu einer der beiden Hauptrichtungen seiner späteren Thätigkeit gegeben, die Beförderung der Afrikaforschung. Seine zweite Hauptthätigkeit war die Anregung zur Polarforschung, zu welcher letzteren er den Anstoß wohl von der damals die Welt bewegenden traurigen Franklin-Katastrophe empfing. Ihm, dem Vielvermögenden und Einflußreichen, sandte Dr. Barth von allen Stationen seiner Reisen directe ausführliche Nachrichten und Skizzen, mit denen er vom Beginn der Erscheinung seiner Mittheilungen die Augen der geographischen Welt auf sich zog. Petermann legte bei fast allen folgenden Expeditionen sein gewichtiges Wort in die Wagschale und wandte sich in entscheidenden Fällen an die Opferwilligkeit des deutschen Volkes, wie gelegentlich der deutschen Nordpol-Expeditionen. Wahrlich, man kann sagen: nur durch die agitatorische Thätigkeit Petermann's, die in seinen „Mittheilungen“ an die Oeffentlichkeit trat, ist ein nicht unbedeutender Theil der Erdoberfläche wissenschaftlich erforscht worden.
Selbstverständlich nahm ihn diese umfassende Thätigkeit so sehr in Anspruch, daß es manchmal um seine geographische Zeitschrift schlecht ausgesehen haben würde, wenn er nicht seinen getreuen Eckhard, seinen erprobten Redacteur Behm gehabt hätte. Mit einer Selbstverleugnung sonder Gleichen füllte dieser kenntnißreiche Geograph, ohne in seiner Bescheidenheit jemals seinen Namen als Autor zu nennen, die vom hohen Wogengang der Agitation hervorgerufenen Unebenheiten aus und hielt und hält bis heutigen Tages durch sein tiefes Wissen die „Geographischen Mittheilungen“ auf einer noch von keiner anderen geographischen Zeitschrift erreichten Höhe. Auch die künstlerische Ausführung der Karten, die unter Petermann's Aufsicht geschah, hat durch Bruno Hassenstein's Talent einen hohen Grad von Ausbildung erreicht. Es ist durchaus nicht leicht, nach Tagebuch-Aufzeichnungen Karten von unerforschten Gegenden mit Genauigkeit zu construiren, wie der genannte Kartograph vielfach früher gethan und nach jahrelanger Unterbrechung seit Petermann's Tode auf's Neue thut.
Es hat wohl innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre keinen geographischen Forscher und Reisenden gegeben, der nicht direct oder indirect mit der Zeitschrift in Beziehung getreten wäre, keinen, über den sie nicht Mittheilungen gebracht hätte. Dabei ist es besonders hervorzuheben, daß sich dieses Unternehmen fern zu halten suchte von der Einseitigkeit, mit der viele geographische Gesellschaften ihr Interesse nur bestimmten Forschungsgebieten zuwandten, daß im Gegentheil auch über die entfernter liegenden Dinge stets eingehend berichtet wurde. So ist denn mit Anerkennung hervorzuheben, daß über Australien und Polynesien seither in den „Mittheilungen“ und deren circa 60 Ergänzungsheften allein etwa 70 Karten veröffentlicht wurden, über die Polarländer noch einige mehr, über Amerika mehr als 80, über Europa gegen 120, über Asien einige mehr und über Afrika endlich mehr als 140. Es sprechen diese circa 650 Karten für die große Reichhaltigkeit des Unternehmens.
Petermann war mit Recht stolz auf die Anerkennung und den Einfluß seines Organs, er besaß aber auch die Schwäche, sehr ehrgeizig zu sein, und zeigte in Folge dessen wohl dann und wann eine Schroffheit des Charakters, die ihm manche Feindschaft zuzog. Er ist an seinem Charakter zu Grunde gegangen: mitten in der Fülle seines Ruhmes, auf dem Gipfel seines Einflusses, hat er sich bekanntlich in einem Anfall von Schwermuth das Leben genommen. (Vergl. Nr. 42, 1878.)
Doch sein Werk wird unter Behms und Hassenstein's Leitung fortleben. Schon in der letzten Lebensjahren hatte Petermann sich direct nur noch sehr wenig an der Herstellung der „Mittheilungen“ betheiligt, weshalb denn auch sein Tod durchaus keine so fühlbare Lücke in das Werk riß, wie man hätte vermuthen können. Die Zeitschrift erscheint ohne die geringste sichtbare Veränderung genau in derselben Weise fort. Fast schien es, als ob die Perthes'sche Anstalt als Ersatz für die agitatorische Wirkung Petermann's in der Polarfrage eine andere Kraft heranziehen sollte, und dem zufolge ersuchte sie den durch seine Förderung der Polarfrage bekannten Dr. Lindemann in Bremen sich an der Redaction zu betheiligen, aber nach kurzer Zeit stellte sich heraus, daß auch dies Auskunftsmittel nicht nöthig war. So mögen denn die „Mittheilungen“ auch in den nächsten fünfundzwanzig Jahren fortfahren das zu sein, als was sie bisher nach dem Ausspruche des Freiherrn von Richthofen, bei Gelegenheit der Jubelfeier der Berliner Gesellschaft für Erdkunde, erklärt wurden: eine „Zierde Deutschlands“!
Eine deutsche Künstlerin. Aus Groß-Ullersdorf in Mähren brachte die dort erscheinende Zeitung „Ceres“ unter dem 5. Februar dieses Jahres die nachfolgende Mittheilung: „Am 3. dieses Monats wurde hierorts die in weitesten Kreisen bekannte kaiserlich russische Hofschauspielerin Frau Auguste Versing, geb. Lauber, siebenzig Jahre alt, beerdigt. Dieselbe verlebte hier neun Jahre und erfreute sich einer großen Sympathie. Die Theilnahme an der Leichenfeier war eine allgemeine und zahlreiche. – – Die hiesigen Armen verlieren an der Dahingeschiedenen eine theilnehmende, freigebige Gönnerin.“
Der Name der Frau, welche hier in der Abgeschiedenheit eines mährischen Dorfes ihr Leben beschlossen hat, ist freilich den „weitesten“ deutschen Kreisen nicht mehr so bekannt, wie der kurze Nachruf es voraussetzt. Sehr zusammengeschmolzen sind jedenfalls die Reihen Derjenigen, die sie in der Blüthe ihres Wirkens gesehen haben und aus eigener Anschauung zu bezeugen vermögen, daß sie einst eine glänzende Zierde des deutschen Theaters, eine mit Recht hochgefeierte Künstlerin ersten Ranges gewesen ist. Der Ausspruch, daß die Nachwelt dem Mimen keine Kränze flicht, kann im buchstäblichen Sinne heut allerdings nicht mehr als eine Wahrheit gelten. Es werden jetzt sogar schon die lebendigen Spuren verfolgt, welche die schöpferische Arbeit großer Schauspieler im Gange der Kunstentwickelung zurückgelassen hat. Dennoch waltet das Geschick in dieser Hinsicht nicht immer gerecht, und es sterben Manche, die weit über die Mittelmäßigkeit bloßer Localgrößen hinausragen, als Vergessene oder doch Halbverschollene, wenn sie der Tod nicht gerade mitten aus ihrem Berufe holt, sondern ihnen nach beschlossener Laufbahn noch einen längern Dienst des stillen Ausruhens vergönnt hatte. So auch erging es der Frau Versing. Wir erfüllen daher nur eine Pflicht, wenn wir hier ihres Lebenslaufes gedenken.
Als Tochter eines tüchtigen, allgemein geachteten Schauspielerpaares hatte Auguste Lauber ihre Kindheit und erste Jugend in den bescheidenen Verhältnissen und wechselnden Geschicken jener Wandertruppen besserer Art verlebt, von denen in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts eine ganze Reihe großer Schauspieler ausgegangen ist. Dem wohlunterrichteten Vater und der feingebildeten Mutter hatte das junge Mädchen eine sorgfältige Erziehung und gute Schulbildung zu danken. Frühzeitig betrat sie die Bühne und sah dadurch ihren Wunsch erfüllt, den Eltern und zahlreichen Geschwistern eine liebreiche Stütze zu sein. Ihre Erstlingsleistungen müssen wohl die Aufmerksamkeit der Bühnenleiter erregt haben; denn bald sehen wir sie aus ihrer süddeutschen Heimath unter Küstner's Direction nach Leipzig versetzt, wo ihr Emil Devrient und seine junge Gattin Vorbilder wurden. Von Leipzig wurde sie für das Fach der naiven Liebhaberinnen nach Nürnberg berufen, von da an das Hoftheater in Darmstadt, und in beiden Orten steigerte sich die ihr gewidmete Liebe und Anerkennung zu einem solchen Enthusiasmus, daß man auch auswärts diesen neuaufgehenden Stern kennen lernen wollte und ihr die Auszeichnung eines Gastspiels in Dresden zu Theil wurde. [216] Der Erfolg auf dieser großen Bühne erwies sich als ein wahrhaft bedeutender. Auch die meist von Ludwig Tieck inspirirte Kritik pries die außerordentliche Begabung, die Seelentiefe und vortreffliche Charakteristik, das begeisterungsvolle und doch in edelstem Maße sich bewegende Spiel der jungen Künstlerin. Ebenso sprach Tieck sich persönlich über sie aus; ihr Ruf war fortan begründet. Ein Engagement in Mannheim, wo sie sich mit dem vorzüglichen Bariton Versing vermählte, brachte dieselben Triumphe, bis sie einem Rufe Immermann’s nach Düsseldorf folgte, der dort soeben seine Musterbühne begründet hatte.
Was Auguste Versing (von 1834 ab) diesem denkwürdigen Theater gewesen, das läßt sich aus den Kritiken über dasselbe, aus den Broschüren und Memoiren eines Uechtritz, Grabbe und Immermann selber sehr deutlich ersehen. Aus ihrem reichen Repertoire werden namentlich Stella, Clärchen, Gretchen, Luise Miller, Isaura („Leben ein Traum“), Margaretha („Hagestolzen“), Walpurgis („Goldschmieds Töchterlein“) als geniale Meisterleistungen hervorgehoben.
Fragt man sich nun, warum eine so gewaltige Künstlerin nicht ihren Wirkungskreis dauernd bei den ersten Bühnen gefunden, so ist das leicht erklärt. Es hatten die Musen und Grazien an ihrer Wiege gestanden, aber sie besaß nicht jenen Glanz blendender Schönheit, welche die Blasirtheit der großen Welt an einer ersten Schauspielerin verlangt. Im Uebrigen war ihr keuscher und schlichter Sinn aller Reclame und allen Ruhmeszügen abhold; es genügte ihr, daß sie an den Orten ihres Wirkens eine so ungemeine Achtung und Theilnahme fand, die zugleich der Respectabilität ihres Wandels und dem stillen und vorwurfsfreien Leben galt, das sie, ihrer Kunst hingegeben, im Eltern- und Familienkreise führte.
Als Immermann die Direction niederlegte, ging sie mit dem Gatten an das kaiserliche Theater in Petersburg und wurde nun auch hier zehn Jahre lang durch die hinreißende Gewalt ihres Talents der bewunderte und verehrte Liebling des Publicums. Ueberhäuft mit Ehren und im Besitze der Pension, kehrte sie von der Newa in die deutsche Heimath zurück und ließ sich in Brünn nieder, um hier die talentvolle Tochter Anna, die später als Schauspielerin zu ehrenvollem Ruf gekommene Versing-Hauptmann, in die künstlerische Laufbahn zu führen. Einige Jahre hatte sie, diesen Mutterpflichten hingegeben, jedem eigenen Auftreten entsagt, dann aber zog es sie unwiderstehlich zu den Brettern zurück. Eine Gastspielreise über die bedeutendsten Bühnen Deutschlands zeigte ihre Genialität in ungetrübtem Glanze und erregte einen Wettstreit um ihren Besitz. Frankfurt hatte das Glück, sie auf die Dauer zu fesseln, als Ersatz für die berühmte Lindner, nunmehr im Fache der älteren Anstandsdamen und edlen Mütter. Dreizehn Jahre hindurch war sie die Zierde des Frankfurter Theaters, und unvergessen ist es dort, was sie auf dieser Bühne, namentlich im Feinkomischen wie im Derbhumoristischen, Großes geleistet und geschaffen hat. Als man ihr 1871 die erbetene Pensionirung nicht länger versagen konnte, wurden ihr beim Abschiede vom Publicum und von den Collegen die außerordentlichsten Ovationen bereitet.
Es war für die rastlose Arbeiterin die Zeit der Abendruhe gekommen. In Groß-Ullersdorf bei ihrer dort verheiratheten Tochter verbrachte sie die letzten Lebensjahre, bis sie am 1. Februar dieses Jahres das müde Auge schloß, noch in den letzten Stunden ihre Ergebenheit und Charakterfestigkeit, ihren unverwüstlichen Humor bewahrend. Gewiß, es waren wohlverdiente Lorbeerkränze, die von deutschen Städten aus auf das abgelegene Grab dieser großen deutschen Künstlerin gesendet wurden. Ihr Gatte war ihr schon zwei Jahre früher im Tode vorausgegangen. Die Pflege der Schauspielkunst aber lebt in ihrer Familie fort. Außer ihrer Tochter hat sie eine ebenbürtige Nachfolgerin auch in ihrer Nichte Franziska Ellmenreich gefunden, die jetzt in verwandtem Fache hochgefeiert an derselben Dresdener Bühne wirkt, wo ihre Tante vor bald fünfzig Jahren die erste Stufe hohen Ruhmes erstiegen hat.
Der Brand des Marktfleckens Donaustauf. Vom Fuße der „Walhalla“ gehen uns folgende Zeilen zu, die wir im Interesse der Sache hier gern mittheilen: „Aus allen Theilen Europas, ja sogar der Welt, wallfahrtet jährlich eine große Zahl Menschen nach Deutschlands Ehrentempel, der in der Nähe Regensburgs gelegenen 'Walhalla'. Alle die Wallfahrer werden sich gewiß gern des hübschen, malerisch am Fuße der 'Walhalla' gelegenen Fleckens Stauf mit dem fürstlich Thurn und Taxis’schen Schlosse und den herrlichen Gartenanlagen erinnern. Wer aber heute Donaustauf aufsuchen wollte, der würde einen rauchenden Trümmerhaufen finden, wo ehedem eine Gemeinde von 800 Menschen wohnte.
In der Nacht vom 3. auf den 4. März erhob sich ein furchtbarer Sturm, der den ganzen Tag hindurch wüthete. Unwillkürlich überkam Jeden der peinliche Gedanke: wenn jetzt Feuer ausbrechen sollte, so wäre unrettbar Alles verloren. Und das Feuer brach aus. Morgens um sieben Uhr verbreitete sich in Regensburg das Gerücht, in Stauf brenne es; bald traf auch die Bestätigung ein. Sofort ging die Feuerwehr von Regensburg dahin ab; im Laufe des Tages vereinigten mit ihr noch die Feuerwehren von 33 anderen Orten ihre Anstrengungen, allein aller Muth und alle Opferwilligkeit war erfolglos. Die Flammen züngelten, vom Sturme getragen, hier und dort auf, oft mehrere Häuser überspringend. So rasch griff das verheerende Element um sich, daß Viele nur das Leben zu retten vermochten. Man mußte dem Feuer Alles preisgeben. Schon Nachmittags war der Ort fast von allen Bewohnern verlassen. Sie hatten sich und die wenige Habe, die sie zu retten vermocht, in benachbarte Dörfer und auf die Berge geflüchtet. Erst jetzt ist es möglich, einigermaßen den Schaden zu übersehen: 96 Wohnhäuser und mehr als 50 Nebengebäude liegen in Asche, auch das schöne fürstliche Schloß. Nur die Kirche, das Pfarr- und Schulhaus, das Gasthaus 'Zur Walhalla' und einige wenige Häuser, die vereinzelt an den Bergen hin stehen, blieben verschont.
Der Schaden ist sehr groß: Man nimmt an, daß er, mäßig geschätzt, 800,000 Mark betrage, das fürstliche Schloß nicht gerechnet. Versichert waren die Gebäude für ungefähr 400,000 Mark, wovon 200,000 Mark auf das fürstliche Schloß kommen. Es fällt somit die Summe von 600,000 Mark aus. Was an Mobiliar, das leider auf dem Lande fast nie versichert ist, zu Grunde ging, läßt sich noch nicht absehen. Es ist nun zwar für die unglücklichen Obdachlosen, deren Zahl sich auf 650 beläuft, schon sehr viel von den Bewohnern der Umgegend, namentlich des stets opferbereiten Regensburgs, geschehen, allein da reicht eben das Alles nicht aus. Soll den Leuten auf die Dauer geholfen werden, so muß auch von anderwärts beigesteuert werden. Möchten doch alle Diejenigen, die einst die 'Walhalla' besucht, die damit vielleicht schöne Erinnerungen an erstes Liebesglück auf seliger Hochzeitsreise verknüpfen können, etwas für die Armen thun. Beisteuern an Geld sind an den Vorstand des Hülfscomités, Herrn Bezirksamtmann Schmid in Stadtamhof, Gaben in Naturalien an Herrn Pfarrer Kohlhaupt in Donaustauf zu richten.“
Osterfeier im Dorfe. (Abb. S. 213: „Grüne Ostern“.) Auf das Land hinaus müssen wir eilen, wenn das rechte Ostergefühl über uns kommen soll; nur im Freien feiert man mit ganzer Seele das Auferstehungsfest der Natur. Welches Stadtkind, das Verwandte auf dem Lande hatte, denkt nicht selbst noch in späten Tagen gern an die Freuden zurück, die ein Osterfeiertag im Dorfe darbot? Schon die andere, meist derbere Bauernkost überraschte angenehm; es war etwas Ungewohntes, Kräftiges. Dann wandelten die Buben an der Hand des Herrn Vetters, die Mädchen an der der Frau Base zur Kirche. Auch das war anders. Nicht das harte Steinpflaster und die kalten Häuserreihen umgaben die Kirche, wie in der Stadt, sondern sie stand im Gottesacker, um welchen eine Mauer lief, über die ringsum hohe schöne Bäume hereinragten. Die Zweige nickten auch an den hohen Kirchenfenstern; das sah man besonders genau während der Predigt, wo das Kindesauge sich daran erfreute. Und wenn die Kirche endlich aus war, welche Wonne, hinauszutreten in die freie, schöne, lachende Natur! Man besuchte nun erst die Gräber der Verwandten und brachte ihnen gleichsam den Ostergruß. Auch mich führte eine gute alte Base einst an einen versunkenen Hügel, auf welchem eine Schlüsselblume blühte. „Da drunten liegt Dein Großvater,“ sagte sie, „zupf Dir das Blümle ab! Es ist gewiß zum Ostergruß für Dich aus seinem Herzen gewachsen.“ – Endlich wandelt Gruppe um Gruppe der Friedhofpforte zu – und draußen auf der Straße theilen sie sich, hierhin und dorthin, aber immer, auch zum Abschied wieder, mit dem Gruß, den sie am Morgen sich zu den Fenstern hinaus und auf der Straße und auf dem Kirchweg geboten hatten: „Christ ist erstanden“ – „In Ewigkeit, Amen.“ – Das war Osterfeier im Dorfe.
Ueber das Osterspiel mit Tanz und Gesang im Freien, von welchem in unserem heutigen Osterartikel (auf Seite 206) vorübergehend die Rede ist, können wir die in Aussicht gestellten Mittheilungen leider erst in der nächsten Nummer geben, da es uns in unserem gegenwärtigen Feuilleton wider Erwarten an dem nöthigen Raum mangelt.
Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal dieses Jahrgangs. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.
Von unseren bewährten Mitarbeitern liegen uns für das nächste Quartal außer einer Reihe von Artikeln aus dem Gebiete des politischen und socialen Lebens der Gegenwart zahlreiche interessante Beiträge aus den verschiedensten Wissenskreisen vor, von denen wir hier nur nennen wollen: „Drei Briefe Goethe’s“ von Ferdinand Sonnenburg, „Aus der zoologischen Station in Neapel“ von Karl Vogt, „Luiz de Camoëns, zur dreihundertjährigen Feier des Todestages von Portugals größtem Dichter“ von Leopold Katscher, abschließende Artikel über das Leben Sylvester Jordan's und eine Reihe von Charakterbildern aus dem musikalischen Leben der Gegenwart („Brahms“ von Hermann Kretschmar, „Liszt“ von La Mara etc.), endlich die Schlußabschnitte der Artikel-Serie „Zur Geschichte der Socialdemokratie“ von Franz Mehring etc. etc.
Im Novellentheil unseres Journals werden neben einer Reihe kleinerer Erzählungen die Fortsetzung von Robert Byr’s so beifällig begrüßter Erzählung „Der Weg zum Herzen“ und