Die Gartenlaube (1878)/Heft 10
„Es wird Dich Niemand zwingen,“ fiel Georg ein, „aber trennen wird man uns. In dem Augenblicke, wo unsere Liebe entdeckt wird, ist auch die Trennung ausgebrochen – das weiß ich, und das allein ist es, was mir Schweigen auferlegt. Du ahnst nicht, wie dieses Geheimniß, das Dir so reizend erscheint, dieses ängstliche Verbergen mich peinigt und demüthigt, wie sehr es meiner ganzen Natur zuwider ist. Jetzt zum ersten Male fühle ich, was es heißt, arm und unbekannt zu sein.“
„Was thut es denn, daß Du arm bist?“ fragte Gabriele sorglos. „Ich werde einmal sehr reich sein. Mama sagt es mir täglich, daß ich die einzige Erbin meines Onkel Raven bin.“
Georg schwieg und preßte die Lippen fest zusammen, als wolle er eine bittere Empfindung unterdrücken. „Ja wohl, Du wirst reich sein,“ sagte er endlich. „Nur allzu reich.“
„Ich glaube gar, Du willst mir einen Vorwurf daraus machen,“ schmollte die junge Dame mit sehr ungnädiger Miene.
„Nein, aber es öffnet eine Kluft mehr zwischen uns. Gehörtest Du meinem Lebenskreise an, dann dürfte ich offen hintreten und, wenn auch noch nicht Deine Hand, doch Dein Wort und Deine Treue fordern, bis ich Dir eine eigene Heimath zu bieten vermag. Jetzt dagegen – was würde der Freiherr von Raven mir wohl antworten, wenn ich es wagte, bei ihm um die Hand seiner Mündel, seiner muthmaßlichen Erbin zu werben? Er vertritt die Stelle Deines Vaters; Du stehst unter seiner Gewalt.“
„Aber doch nur bis zu meiner Mündigkeit. In einigen Jahren hat die vormundschaftliche Gewalt des gestrengen Herrn ein Ende. Dann bin ich frei.“
„In einigen Jahren!“ wiederholte Georg. „Und wie wirst Du dann denken?“
Es lag eine so bange Frage in den Worten, daß Gabriele halb erschreckt und halb beleidigt aufblickte. „Georg, Du zweifelst an meiner Liebe?“
Er schloß ihre Hand fest in die seinige. „Ich glaube an Dich, meine Gabriele; vertraue auch Du mir! Ich bin ja nicht der Erste, der sich emporarbeitet, und habe von jeher gelernt, der Zukunft und meiner eigenen Kraft zu vertrauen. Ich will Alles an diese Zukunft setzen, um Deinetwillen Du sollst Dich Deiner Wahl nicht zu schämen haben.“
„Ja, zur Excellenz mindestens mußt Du mich machen,“ neckte Gabriele. „Ich erwarte ganz bestimmt, daß Du auch einmal Gouverneur oder Minister wirst. Hörst Du, Georg? Ich will keinen andern Titel.“
Georg ließ plötzlich die Hand fallen, die er noch in der seinigen hielt. Er mochte auf seine mit so tiefer Innigkeit ausgesprochene Betheuerung wohl eine andere Antwort erwartet haben.
„Du verstehst mich nicht. Freilich wie solltest Du auch den Ernst des Lebens kennen, ist er Dir doch noch niemals genaht.“
„O, ich kann auch ernst sein,“ versicherte Gabriele. „Ganz außerordentlich ernst. Du kennst meine eigentliche Natur noch gar nicht.“
„Möglich!“ sagte der junge Mann mit aufquellender Bitterkeit. „Jedenfalls habe ich es nicht verstanden, sie zu wecken.“
Gabriele sah recht gut, daß er verletzt war, aber es beliebte ihr durchaus nicht, Notiz davon zu nehmen. Sie fuhr fort zu necken und zu scherzen und erschöpfte ihren ganzen Uebermuth. Sie pochte auf eine Macht, die sich oft genug bewährt hatte und auch heute ihre Wirkung nicht verfehlte. Georg’s Stirn begann sich zu entwölken; Verstimmung und Vorwurf wollten nicht Stand halten vor dem Geplauder jener rosigen Lippen, und als das geliebte Antlitz lächelnd und schelmisch zu ihm aufblickte, da war es vorbei mit dem Widerstande – er lächelte gleichfalls.
Drüben in der Stadt setzten die Glocken zum Mittagsgeläut ein. Die Klänge zogen hell über den See und mahnten das junge Paar zum Aufbruch. Georg zog die Hand der Geliebten leidenschaftlich an seine Lippen; die unmittelbare Nähe der Landhäuser und der Fahrstraße verbot jede weitere Zärtlichkeit. Gabriele schien die Trennung in der That sehr leicht zu nehmen. Einen Augenblick freilich wurde sie ernster, und es schimmerte sogar eine Thräne in ihren braunen Augen, aber in der nächsten Minute war Alles schon wieder sonnige Heiterkeit. Sie warf einen letzten Gruß zurück und eilte dann fort. Georg’s Augen folgten ihr unverwandt.
„Max hat Recht,“ sagte er träumerisch. „Ich und dieses verwöhnte übermüthige Kind des Glückes! Warum muß ich gerade sie lieben, die mir fern steht in so Vielem, wo wir uns nahe sein müßten? Ja, warum – ich liebe sie eben.“
Die Warnung des Freundes schien trotz aller Zurückweisung doch ein Echo in der Brust des jungen Mannes gefunden zu haben, aber was vermochte Vernunft und Ueberlegung gegen die Leidenschaft, die sein ganzes Wesen erfüllte? Er wußte längst, daß sich gegen den Zauber nicht ankämpfen ließ, der ihn schon bei der ersten Begegnung umsponnen hatte. Er unterlag ihm immer wieder von Neuem.
[160] „Ich bitte noch einmal, Excellenz: nehmen Sie diese harten Maßregeln zurück! Sie können unmöglich die ganze Stadt für die Ausschreitungen Einzelner verantwortlich machen.“
„Auch ich bin der Meinung, daß man nicht mit solcher Schärfe vorzugehen braucht. Es wird nicht schwer sein, die Schuldigen herauszufinden und sich ihrer zu versichern.“
„Sie sollten der Sache nicht solche Wichtigkeit beilegen, Excellenz. Sie verdient es in der That nicht.“
Der Gouverneur von Raven, an den all diese Mahnungen und Vorstellungen gerichtet waren, schien sehr wenig davon berührt zu werden, denn er erwiderte mit kalter Höflichkeit:
„Ich bedauere aufrichtig, meine Herren, mich in so vollständigem Widerspruch mit Ihren Ansichten zu befinden, aber ich habe den Entschluß nach reiflicher Ueberlegung gefaßt, und überdies wissen Sie, daß ich niemals eine bereits angeordnete Maßregel zurücknehme. Es bleibt dabei.“
Die Herren, welche sich im Regierungsgebäude von R. in dem Empfangszimmer des Gouverneurs befanden, schienen eine längere und lebhafte Conferenz gehabt zu haben; sie waren sämmtlich etwas erregt, bis auf den Freiherrn selbst, der mit unerschütterlicher Ruhe in seinem Sessel lehnte.
„Ich sollte meinen,“ sagte Derjenige, welcher zuerst gesprochen, „daß meine Stimme als die des Vertreters der Stadt doch von einigem Gewicht wäre. Um so mehr, als diesmal auch der Polizeidirector auf meiner Seite steht.“
„Allerdings,“ bestätigte der Genannte mit vorsichtiger Zurückhaltung. „Indeß bin ich erst zu kurze Zeit in meinem Amte, um die hiesigen Verhältnisse schon eingehend zu kennen. Excellenz werden das jedenfalls besser beurtheilen.“
„Ich fürchte nur,“ wandte sich der Dritte der Herren, der die Uniform eines Obersten trug, an den Gouverneur, „ich fürchte, man wird Ihre Strenge mißdeuten und sie als persönliche Besorgniß auffassen.“
Um die Lippen des Freiherrn spielte ein verächtliches Lächeln. „Seien Sie unbesorgt!“ entgegnete er. „Man kennt mich in R. zu gut, um mir Furcht zuzutrauen. Der Vorwurf bleibt mir unter allen Umständen erspart.“
Er erhob sich und gab damit das Zeichen zur Beendigung der Conferenz. Freiherr Arno von Raven stand im vollsten, reifsten Mannesalter und war trotz seiner sechs- oder siebenundvierzig Jahre noch eine imponirende Erscheinung. Die hohe, mächtige Gestalt hatte schon in ihrem bloßen Auftreten etwas Gebietendes. Die stolzen energischen Züge waren nicht schön und konnten es auch wohl nie gewesen sein, aber sie waren bedeutend und charakteristisch in jeder Linie. In das volle dunkle Haupthaar mischte sich noch kein Grau, nur an den Schläfen verrieth ein leichter Silberglanz, daß die Mitte des Lebens bereits überschritten war. Dagegen sprach aus den dunklen blitzenden Augen noch die ganze Vollkraft dieses Lebens, aber der Blick hatte etwas Strenges, Finsteres und gewann, sobald er sich fest auf einen Gegenstand richtete, eine durchbohrende Schärfe. Die Haltung war ein Gemisch von ruhiger Vornehmheit und unnahbarem Stolze. Auch nicht der leiseste Zug verrieth den Emporkömmling. Der Mann sah aus, als habe er von jeher nichts Anderes gekonnt, als befehlen und herrschen.
„Es handelt sich hier nicht um mich,“ fuhr er fort. „So lange die Schmähungen und Drohbriefe mir anonym zugingen, habe ich sie dem Papierkorb überantwortet, ohne weiteres Gewicht darauf zu legen. Wenn dergleichen sich aber offen und aller Welt sichtbar an den Mauern des Regierungsgebäudes findet, wenn man Miene macht, mich bei meinen Ausfahrten zu insultiren, und die Herren von der Bürgerschaft sich demonstrativ jedes Einschreitens enthalten, so ist es meine Pflicht, ernstlich vorzugehen. Ich bin die oberste Behörde der Provinz; dulde ich den Unfug, der sich gegen meine Person richtet, so gefährde ich damit die Autorität der Regierung, die zu vertreten ich berufen bin und die ich unter allen Umständen aufrecht erhalten muß. Ich wiederhole Ihnen, Herr Bürgermeister, daß ich es bedaure, Polizeimaßregeln verhängen zu müssen, die vielleicht schwer empfunden werden, aber die Stadt hat sich das selbst zuzuschreiben.“
„Wir sind es gewohnt, daß Excellenz sich in solchen Fällen nie von Rücksichten bestimmen lassen,“ sagte der Bürgermeister mit Schärfe. „Es bleibt mir also nur übrig, Ihnen, die volle Verantwortlichkeit zu lassen – und damit wäre unser Gespräch ja wohl zu Ende.“
Der Freiherr verneigte sich kühl. „Ich wüßte nicht, daß ich mich jemals der Verantwortung für meine Maßnahmen entzogen hätte; es wird auch diesmal nicht geschehen. Leben Sie wohl, meine Herren!“
Der Bürgermeister und der Polizeidirector verließen das Gemach und schritten durch die weiten Gänge des Regierungsgebäudes dem Ausgange zu. Auf dem Wege konnte der Erstere, ein etwas cholerischer alter Herr mit grauen Haaren, nicht umhin, seinem lang zurückgehaltenen Aerger Luft zu machen.
„Also haben wir mit all unsern Bitten, Mahnungen und Vorstellungen wieder einmal nichts erreicht, als ein souveränes: ‚Es bleibt dabei!‘“ sagte er zu seinem Begleiter. „Auch Sie scheinen sich diesem berühmten Lieblingswort Seiner Excellenz zu beugen. Ihre Opposition verstummte davor sofort.“
Der Polizeidirector, ein noch jüngerer Mann mit scharfen klugen Zügen und sehr höflichen Manieren, zuckte die Achseln. „Der Freiherr ist oberster Chef der Verwaltung, und da er erklärt hat, mich auf alle Fälle mit seiner Verantwortlichkeit zu decken, so –“
„Fügen Sie sich seinem Willen,“ ergänzte der Andere. „Im Grunde ist das nur natürlich. Sie haben schwerlich Lust, das Schicksal Ihres Amtsvorgängers zu theilen.“
„Jedenfalls hoffe ich meiner Stellung besser gewachsen zu sein als er,“ war die artige, aber bestimmte Antwort. „So viel ich weiß, wurde mein Vorgänger wegen Unfähigkeit auf einen anderen Posten versetzt.“
„Da irren Sie sehr. Er fiel, weil er dem Freiherrn von Raven nicht genehm war, und sich bisweilen herausnahm, eine andere Meinung als Dieser zu haben. Er mußte dem allmächtigen Willen weichen, der uns nun so lange schon unumschränkt regiert. Das heutige Auftreten unseres Gouverneurs wird Ihnen besser als eine monatelange Amtsdauer gezeigt haben, wie die ‚hiesigen Verhältnisse‘ eigentlich liegen, und Sie haben bereits Ihre Partei gewählt, wie mir scheint.“
Die letzten Worte klangen sehr anzüglich, aber der Polizeidirector schien das nicht zu bemerken; er lächelte nur verbindlich, ohne etwas zu erwidern, und da sie den Ausgang jetzt erreicht hatten, trennten sich die beiden Herren.
Im Zimmer des Freiherrn war Dieser mit dem Oberst zurückgeblieben. Letzterer, der Commandant des Regimentes, das die Garnison von R. bildete, war eine echt militärische Erscheinung, aber trotzdem und trotz seiner Uniform und Orden vermochte er doch nicht den Vergleich mit der gebietenden Gestalt des Gouverneurs auszuhalten, der den einfachen Civilanzug trug.
„Sie sollten nicht allzu schroff vorgehen, Excellenz,“ nahm der Oberst das Gespräch wieder auf. „Man sieht höheren Ortes diese fortwährenden Conflicte mit der Bürgerschaft sehr ungern.“
„Glauben Sie, daß ich diese Conflicte liebe?“ fragte der Freiherr. „Aber Nachgiebigkeit wäre hier Schwäche, und die wird man mir hoffentlich nicht zumuthen.“
Der Andere schüttelte mit dem Ausdruck der Besorgniß den Kopf. „Sie wissen, daß ich einige Wochen lang in der Residenz war,“ begann er von Neuem. „Ich habe viel im Ministerium verkehrt. Im Vertrauen gesagt, die Stimmung ist dort keine für Sie günstige. Man liebt Sie durchaus nicht.“
„Das weiß ich,“ sagte Raven kalt. „Ich bin den Herren von jeher unbequem gewesen. Ich war ihnen nie fügsam, nie devot genug, und überdies können sie mir meine bürgerliche Herkunft nicht verzeihen. Meine Carrière war nun einmal nicht zu hindern, aber Sympathie habe ich in jenen Kreisen nie besessen.“
„Eben deshalb sollten Sie vorsichtig sein. Es werden Versuche gemacht, Ihre Stellung zu erschüttern. Man spricht von Willkür, von Uebergriffen, und all Ihre Maßregeln werden in schärfster, oft in gehässigster Weise besprochen und kritisirt. Fürchten Sie nicht die gegen Sie gesponnenen Intriguen?“
„Nein, denn ich bin den maßgebenden Persönlichkeiten allzu nothwendig und werde dafür sorgen, daß diese Nothwendigkeit bestehen bleibt, trotz meiner ‚Willkür‘ und meiner ‚Uebergriffe‘. Ich kenne am besten die Schwierigkeiten meiner hiesigen Stellung; [161] sie finden so leicht keinen Zweiten, der dem ersten Posten in dieser Provinz und in diesem widerspenstigen, ewig oppositionslustigen R. gewachsen ist. Aber ich danke Ihnen trotzdem für die Warnung, die vollständig mit meinen eigenen Nachrichten übereinstimmt.“
„Ich wollte Ihnen wenigstens einen Wink geben,“ sagte der Oberst abbrechend. „Aber jetzt muß ich fort. Sie erwarten heute noch Besuch, wie ich höre.“
„Meine Schwägerin, die Baronin Harder, und ihre Tochter,“ erklärte der Freiherr, seinen Gast bis zur Thür begleitend. „Sie haben einen Theil des Sommers in der Schweiz zugebracht und wollen heute eintreffen. Ich erwarte sie jede Minute.“
„Ich habe die Frau Baronin vor einigen Jahren in der Residenz kennen gelernt,“ warf der Officier flüchtig hin, „und ich hoffe die Bekanntschaft bald zu erneuern. Darf ich bitten, der Dame vorläufig meine Empfehlung zu überbringen? Auf Wiedersehen, Excellenz!“ –
Eine halbe Stunde später rollte ein Wagen in das Portal des Regierungsgebäudes, und Freiherr von Raven kam die große Haupttreppe herunter, um die erwarteten Gäste zu begrüßen.
„Mein lieber Schwager, wie glücklich bin ich, Sie endlich wieder zu sehen!“ rief die im Wagen sitzende Dame, indem sie mit großer Lebhaftigkeit und Zärtlichkeit dem Herantretenden die Hand entgegenstreckte.
„Seien Sie mir willkommen, Mathilde!“ sagte Raven mit seiner gewohnten kühlen Artigkeit, die auch nicht um einen Grad wärmer wurde, als er den Schlag öffnete und seiner Schwägerin beim Aussteigen behülflich war. „Haben Sie eine gute Fahrt gehabt? Es war heute etwas zu heiß für die Reise.“
„O entsetzlich! Die lange Fahrt hat mich völlig nervös gemacht. Wir beabsichtigten anfangs, einen Tag in E. auszuruhen, aber uns trieb die Sehnsucht, unsere theuren Verwandten so bald wie möglich zu begrüßen.“
Der „theuere Verwandte“ nahm das Compliment sehr gleichgültig hin. „Sie hätten immerhin in E. bleiben sollen,“ meinte er. „Aber wo ist das Kind – Gabriele?“
Die junge Dame, die soeben den Wagen verließ und, ohne eine Hülfe abzuwarten, leichtfüßig auf den Boden sprang, wurde bei dieser höchst beleidigenden Frage von einer hellen Zornröthe übergossen. Aber auch der Freiherr stutzte und heftete einen langen erstaunten Blick auf das „Kind“, das er drei volle Jahre nicht gesehen hatte, und dessen Anblick ihn jetzt sehr zu überraschen schien. Doch sein Erstaunen und Gabrielens Triumph darüber dauerte nicht lange.
„Ich freue mich, Dich zu sehen, Gabriele,“ sagte er ruhig, und sich niederbeugend, berührte er mit den Lippen leicht ihre Stirn. Es war dieselbe flüchtige, gleichgültige Liebkosung, die er einst dem vierzehnjährigen Mädchen hatte zu Theil werden lassen, und dabei streiften seine dunklen, strengen Augen ihr Antlitz mit einem einzigen, aber so scharfen und prüfenden Blicke, als wolle er damit zugleich ihr ganzes Innere ergründen. Dann aber reichte er seiner Schwägerin den Arm, um sie in das obere Stockwerk hinauf zu führen, und überließ es der jungen Dame, ihnen zu folgen.
Die Baronin ergoß sich in einen Strom von Redensarten und Liebenswürdigkeiten, die nur einsilbig beantwortet wurden, aber das hemmte nicht ihren Redefluß, der erst stockte, als sie den Flügel erreicht hatten, in welchem die für die Damen bestimmten Zimmer lagen.
„Das ist Ihre Wohnung, Mathilde,“ sagte der Freiherr, auf die geöffneten Räume deutend. „Ich hoffe, daß sie nach Ihrem Geschmack ist. Diese Klingel ruft die Dienerschaft herbei. Sollten Sie irgend etwas vermissen, so bitte ich, es mir mitzutheilen. Jetzt aber möchte ich Sie allein lassen. Sie und Gabriele sind jedenfalls müde von der Reise und bedürfen der Ruhe. Bei Tische sehen wir uns wieder.“
Er ging, offenbar froh, sich der lästigen und unbequemen Pflicht des Empfanges entledigt zu haben. Kaum hatte sich die Thür hinter ihm geschlossen, als die Baronin, nachdem sie die Reiseumhüllung abgelegt, sofort begann, die Umgebung zu mustern. Die vier Zimmer waren mit großer Eleganz, sogar mit Pracht eingerichtet, das Meublement sehr reich, die Vorhänge und Teppiche von den schwersten Stoffen. Ueberall war auf die Ansprüche und Bedürfnisse vornehmen Besuchs Rücksicht genommen; kurz, es blieb auch nicht das Geringste zu wünschen übrig, und sehr befriedigt kehrte Frau von Harder von ihrem Rundgange zurück, als sie gewahrte, daß ihre Tochter noch in Hut und Reisemantel inmitten des ersten Zimmers stand.
„Willst Du denn nicht ablegen, Gabriele?“ fragte sie. „Wie findest Du die Wohnung? Gott sei Dank, endlich einmal wieder gewohnte Umgebungen, nachdem wir so lange in der Dürftigkeit unseres schweizer Exils geseufzt haben!“
Gabriele achtete nicht auf die Worte. „Mama, ich mag den Onkel Raven nicht.“ sagte sie plötzlich mit vollster Entschiedenheit.
Der Ton war so ungewöhnlich, so ganz abweichend von der sonstigen Art der jungen Dame, daß die Mutter sie erstaunt anblickte.
„Aber Kind, Du hast ihn ja kaum gesehen.“
„Gleichviel, ich mag ihn nicht. Er behandelt uns mit einer Gleichgültigkeit, einer Herablassung, die geradezu beleidigend ist. Ich begreife nicht, wie Du einen solchen Empfang hinnehmen konntest.“
„Nicht doch,“ beruhigte die Baronin, „diese Kürze und Abgemessenheit liegt nun einmal in der Art meines Schwagers. Du wirst Dich daran gewöhnen, wenn Du ihn erst näher kennen und lieben lernst.“
„Niemals!“ rief Gabriele heftig. „Wie kannst Du verlangen, Mama, daß ich den Onkel Arno lieben soll; ich habe ja immer nur Schlimmes von ihm gehört. Du sagtest, er sei ein Tyrann ohne Gleichen, Papa nannte ihn nie anders als den Emporkömmling, den Glücksritter, und doch wagtet Ihr beide niemals, ihm ein unfreundliches Wort zu sagen –“
„Kind, um Gotteswillen schweig’!“ unterbrach sie die Mutter, sich erschrocken umblickend, ob auch Niemand die verfänglichen Worte gehört habe. „Vergißt Du denn ganz, daß wir vollständig von der Güte Deines Onkels abhängen? Er ist unversöhnlich, wo er sich beleidigt glaubt. Du darfst ihm niemals mit einem Widerspruch entgegentreten.“
„Weshalb hattet Ihr denn Alle so großen Respect vor ihm, wenn er nichts weiter als ein Glücksritter war?“ fuhr Gabriele beharrlich fort. „Warum gab ihm der Großpapa seine Tochter zur Frau? Warum war er immer die Hauptperson in der Familie? – ich begreife das nicht.“
„Weiß ich es?“ fragte die Baronin mit einem Seufzer. „Die Macht, die diese Mann ausübt, ist mir von jeher ebenso unerklärlich gewesen, wie die Vorliebe Deines Großvaters für ihn. Er, mit seinem bürgerlichen Namen und seiner damals noch so untergeordneten Stellung, hätte den Eintritt in unsere Familie als eine hohe Gunst, als ein unverdientes Glück ansehen müssen, und er nahm es hin, als ob ihm damit nur sein Recht geschähe. Kaum hatte er in unserem Hause festen Fuß gefaßt, als er auch schon Alles beherrschte, von meiner Schwester an bis zur Dienerschaft herab, die größere Furcht vor ihm hegte, als vor ihrem Herr selber. Meinen Vater hatte er so vollständig in der Gewalt, daß nichts ohne seinen Rath und Beistand geschah, und alle Uebrigen unterdrückte er einfach. Wie es eigentlich geschah, das weiß ich nicht – genug es geschah, und wie in unserem Familienkreise, so riß er auch in der Gesellschaft und in seiner Carrière die Herrschaft an sich – es wagte Niemand ihm entgegenzutreten.“
„Nun, mich soll er nicht unterdrücken,“ rief das junge Mädchen, das Köpfchen trotzig zurückwerfend. „O, er dachte auch mich zu schrecken mit seinen finstern Augen, die sich so tief einbohren, als wollten sie einem die geheimsten Gedanken aus der Seele lesen, aber ich fürchte mich ganz und gar nicht davor. Wir wollen doch sehen, ob er auch mich zwingt, wie all die Anderen.“
Die Baronin erschrak; sie fürchtete nicht mit Unrecht, ihre sehr verzogene Tochter, die der Mutter gegenüber eine unbedingte Herrschaft behauptete und überhaupt nicht gewohnt war, sich Zwang aufzuerlegen, werde auch dem Freiherrn gegenüber ihrem Eigensinne die Zügel schießen lassen. Sie erschöpfte sich daher in Bitten und Vorstellungen, aber vergebens – Fräulein Gabriele schien ein eigenes Vergnügen in dem angesprochenen Trotze gegen ihren Vormund zu finden und war durchaus nicht geneigt, die bereits eingenommene kriegerische Stellung ihm gegenüber [162] aufzugeben. Ueberdies war sie schon ungewöhnlich lange ernst gewesen und kehrte nun schleunigst zu dem alten Uebermuthe zurück.
„Mama, ich glaube, Du fürchtest Dich im vollen Ernste vor diesem Währwolf von Onkel,“ rief sie fröhlich auflachend. „Da bin ich tapferer. Ich trete ihm gerade unter die Augen, und – verlaß Dich darauf! – mich verschlingt er nicht.“
Das Regierungsgebäude von R. war ein ehemaliges Schloß und lange Jahre hindurch der Wohnsitz einer fürstlichen Familie gewesen. Später war es an den Staat gefallen und diente jetzt zum Sitz der Provinzialregierung und zum Aufenthalte des jeweiligen Gouverneurs. Das große, weitläuftige Gebäude lag
auf einer Anhöhe, oberhalb der Stadt, und hatte sich trotz seiner jetzigen Bestimmung noch einen Theil seines mittelalterlichen Ansehens bewahrt. Die vorspringenden Thürme und Erker und die hohe, die ganze Umgebung beherrschende Lage gaben ihm etwas Malerisches. Die alten Mauern und Befestigungen waren freilich schon längst der Neuzeit gewichen, aber dafür umrauschte jetzt ein ganzer Wald prächtiger Bäume den Schloßberg, an dessen Vorderseite ein breiter, bequemer Weg in die Stadt hinunterführte. Von den Fenstern des Schlosses, das sich stolz und mächtig über die Baumwipfel emporhob, genoß man den vollen Blick über die Stadt und das ganze weite Thal, das die Berge wie mit einem Kranze umgaben. Das Hauptgebäude war ausschließlich zur Verfügung des Gouverneurs gestellt, der das obere Stockwerk bewohnte, während sich in dem unteren seine Kanzlei befand; die beiden Seitenflügel enthielten die übrigen Bureaus und die Dienstwohnungen einzelner Beamten. Trotz dieser Einrichtung war auch dem Inneren sein alterthümlicher Charakter geblieben, der sich nicht verwischen ließ, weil er in der Bauart lag. Die gewölbten Zimmer mit ihren tiefen Thür- und Fensternischen gehörten noch dem vorigen Jahrhunderte an; lange, düstere Bogengänge und Galerien kreuzten sich in den verschiedensten Richtungen; hallende Steintreppen führten von einem Stockwerke in das andere, und der alte Schloßhof wie der ehemalige Schloßgarten waren noch ganz in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten. Jedenfalls war und blieb das „Schloß“, wie es kurzweg in der ganzen Umgegend genannt wurde, eine Zierde der Stadt.
Der jetzige Gouverneur bekleidete schon seit einer ganzen Reihe von Jahren seinen Posten. Hätte man nicht gewußt, daß er der Sohn eines mittellosen, früh verstorbenen Subalternbeamten war, man würde an seiner bürgerlichen Herkunft gezweifelt haben, denn sein Auftreten und seine Art zu leben waren so durch und durch aristokratisch, wie der Eindruck seiner Persönlichkeit. Wie Raven eigentlich der Günstling des damals allmächtigen Ministers geworden war, dem er seine spätere Laufbahn verdankte, das wußte Niemand. Vermuthlich hatte der Scharfblick des Ministers in dem jungen Manne eine ungewöhnliche Begabung entdeckt. Einige wollten auch wissen, daß noch andere geheime Beweggründe dabei mitgewirkt hätten; genug, er wurde urplötzlich zum Secretär Seiner Excellenz ernannt und hatte in dieser Eigenschaft nun freilich mehr Gelegenheit, seine Fähigkeiten zu entwickeln, als in der bisherigen untergeordneten Stellung. Der Secretär avancirte bald genug zum Vertrauten seines Chefs, der ihn bei jeder Gelegenheit bevorzugte und beförderte und ihm sogar seinen Familienkreis öffnete. Die unteren Stufen des Beamtenthums wurden rasch überwunden, und eines Tages wurden die vornehmen Kreise der Residenz mit der anfangs kaum geglaubten Nachricht überrascht, daß die älteste Tochter des Ministers sich dem jungen Ministerialrath verlobt habe. Allerdings erfolgte bald darauf dessen Erhebung in den Freiherrnstand, und damit war ihm die große Carrière geöffnet.
Der Schwiegersohn des einflußreichen Mannes fand überall die Bahn frei, aber es war nicht dies allein, was ihn so schwindelnd schnell emportrug. Seine in der That glänzende Begabung schien jetzt erst ihr eigentliches Feld gefunden zu haben und zeigte sich bald in einer Weise, die jede Begünstigung von anderer Seite überflüssig machte. Schon nach wenigen Jahren fand man die „Unbegreiflichkeit“ des Ministers, der, statt sich dieser Heirath zu widersetzen, sie begünstigt hatte, vollkommen begreiflich; er kannte seinen Schwiegersohn; er wußte, was von dessen Zukunft zu erwarten war, und seine Tochter spielte als Frau von Raven jedenfalls eine glänzendere Rolle, als ihre Schwester, die einen Baron von altem Adel, aber sehr unbedeutender Persönlichkeit geheirathet hatte.
Ebenso zudringlich wie unbeachtet brummte der Mont Valérien den Grundbaß zu dem ausgelassenen Treiben des Vorpostenlagers, das in allen deutschen Mundarten den großmäuligen Franzosen niederzutoben bemüht war. Abseits von dem Getümmel stand ich vor einem blutjungen Bürschchen. In kleidsamer, fast koketter, aber nicht ganz dienstmäßiger Uniform lehnte der Kleine nachlässig an einem Baume und begleitete seine Flüsterworte bald mit einem schelmischen Augenaufschlagen, bald mit einem leisen Wirbel auf der zierlichen Trommel. Plötzlich schlägt eine Bombe zwischen uns nieder; ich trete einen Schritt zurück – der jugendliche Held aber, in der Behandlung dieser Geschosse geübter, schiebt sie nachlässig mit der Stiefelspitze bei Seite. Im Lager furchtbarer Tumult: „ein Ausfall!“ Alles stürzt an die Gewehre und stiebt aus einander. Eiligst nähert sich uns ein etwas aufgeregter Civilist und mahnt in verbindlichster Weise: „Fräulein Wegner, Ihr Stichwort!“ Augenblicklich ist auch der kleine Tambour verschwunden, und noch ehe ich ihm nachblicken kann, tönt eine neue Salve an mein Ohr, ohne jeden Pulverdampf, dagegen von herzlichstem, vielhundertstimmigem Lachen abgelöst.
Es war dies der letzte glorreiche Winterfeldzug des Woltersdorff-Theaters, die neuentdeckte jüngste Soubrette Berlins an der Spitze. Weit über hundert Schlachten haben „Wir Barbaren“ in ununterbrochener Reihenfolge allen Sorgen und Bekümmernissen der Daheimgebliebenen mit glücklichstem Erfolge geliefert und die Waffen erst vor den heimkehrenden Siegern gestreckt. Frankreich hat sich längst von seinen Niederlagen erholt, jenes Kunstinstitut von seinen Erfolgen niemals wieder; die so reichlich erhobene Kriegssteuer ist, gleich den Milliarden, ohne Spur und Segen, den Weg alles Geldes gegangen, sein glänzender Generalstab in fremden Diensten zerstreut, und der weibliche Schlachtenlenker hat soeben mit seinem jetzigen Kriegsherrn auf’s Neue capitulirt, unter Bedingungen, die einer Dotation nicht ganz unähnlich sehen.
So bleibt sie den Berlinern erhalten, und in einer Zeit, die an allen Autoritäten rüttelt, wenigstens ein Gebiet von dem Kampfe um die Erbfolge verschont. Unbestreitbar aber gehört sie zu den regierenden Häuptern, die erste Soubrette des Wallner-Theaters, und wenn sie auch allabendlich dem allgemeinen Stimmrechte sich unterwirft, so ist dies doch nur ein Scheinconstitutionalismus, wie mancher andere auch, und ihre Herrschaft, wenn einmal anerkannt, eine der absolutesten. Und gerade jetzt ist dieser Posten ein ungemein wichtiger und schwieriger. Denn auch dieses Reiches sonst so fest und sicher abgesteckte Grenzen sind flüssig geworden, und Werdendes drängt mit allen Unbequemlichkeit des Gährungsprocesses nach neuen Formen.
Die Posse, das Kind des unvergeßlichen Kalisch, ist ein abgelebter Greis geworden, den das neue Geschlecht nicht mehr versteht, und der gerade da, wo er zu jugendlichen Sprüngen sich aufraffen will, seine Altersschwäche auch dem blödesten Blicke bloßstellt. Es hängt dies ganz untrennbar mit unserer politischen Entwicklung zusammen. Der Alte schlug einst mit dem erwachenden Volksgeiste die Augen auf und erreichte seine volle Manneskraft in der Conflictszeit, als er am Abend, zwischen
[163]Staatsanwalt und Polizisten, mit schlauem Lächeln im Couplet diejenigen Spitzen unterbrachte, denen der vorsichtige Leitartikel des Morgens kein Obdach gewähren durfte. Wer denkt noch an den Conflict? Die ernsthaften Kampfgenossen, soweit sie noch im Felde geblieben, haben compromittirt; der Posse, weniger gewandt, den veränderten Verhältnissen und Stimmungen Rechnung zu tragen, blieb nur übrig, sich zu compromittiren, und das hat sie ehrlich gethan.
Komische Politik und politische Komik werden jetzt in anderen, meist auch öffentlichen, Localen zur Schau gestellt. Wir sind endlich ein Volk geworden und suchen als solches nicht blos politisch, nein, mit viel größerer Hast und Gewaltsamkeit auch social, neu uns zu gestalten, und diese Bestrebungen beanspruchen mit Recht und Nothwendigkeit die Mitwirkung und Mitleidenschaft auch der Bühne. Das „Volksstück“, das „Lebensbild“ auf vertieftem Untergrunde und in erweitertem Rahmen suchen die Posse von ihrem Platze zu verdrängen, ohne ihn bis jetzt behaupten zu können. Und so gähnt zwischen Ueberreifem und Unreifem eine tiefe Kluft, welche nur die volle Persönlichkeit des Darstellers auszufüllen vermag. Altes zu stützen und Neues zu heben, das Unfertige zu ergänzen, das Gegensätzliche zu versöhnen ist aber Niemand berufener, als Ernestine Wegner, deren Herrschaft als Soubrette in wahrer und echter Künstlerschaft begründet ist.
In der Komödienstraße zu Köln am Rhein ist sie geboren am 7. März 1854 – nicht bei allen Soubretten darf man das Jahr sagen – und ihre Wiege stand dicht am Theater. Die Eltern waren Schauspieler, führten in bescheidenen Verhältnissen ein stilles bürgerliches Leben und wußten die übersprudelnde Natur des kleinen Wildfangs auf jenes richtige Maß einzuschränken, das noch heute die ausgelassensten Schöpfungen der jungen Künstlerin so wohlthuend beherrscht. Der freie deutsche Rhein trug sie sehr bald zu den noch freieren Bergen der Schweiz, in Bern seufzte die jugendliche Republikanerin unter dem Despotismus der Schule, und in Zürich confirmirte sie ein Nachkomme Pestalozzi’s. Die Kleine war zu allerliebst, um nicht in weißgewaschenem Kleidchen mit goldenen Flügeln ein engelhafter Genius zu sein, und so hatte sie schon sehr frühe in der Schwebe zwischen Himmel und Erde ihre theatralische Flugbahn begonnen, auch zuweilen als simpler Menschensprößling auf der Bühne gesprochen und gesungen; das Lampenfieber hat nicht einmal zu ihren Kinderkrankheiten gehört. Der speculative Herr „College“ hatte sich nicht verrechnet, als er in seinem Benefiz zu Baden bei Zürich den vierzehnjährigen Backfisch, hinter welchem soeben die Pforten der Schule sich geschlossen, als Therese Krones den ersten ernsthaften theatralischen Versuch wagen ließ. Es war ein Wagniß, und es glückte über alles Erwarten. Gewiß hat die kühne Anfängerin nur sich selbst, vielleicht hat sie auch gar nicht gespielt, aber sie stammte in so directer Linie aus dem Geschlechte jener lachenden Muse Raimund’s, daß die Familienähnlichkeit hinreißend war.
Mit gleicher jugendlicher Unbefangenheit setzte sie sich sofort im „ersten Fache“ fest und bemächtigte sich aller dazu gehörender Rollen, bis ihr richtiger Instinct sie nach Berlin führte. [164] Hier hatte nun vorläufig die Herrlichkeit ein Ende; das schüchterne Mädchen mit dem einfachen Kattunkleidchen und ohne jedes Verständniß für die außerberuflichen Hülfsmittel einer Künstlerin ward kaum beachtet. Der Scharfblick Emil Pohl’s entdeckte sie. In seinem Lebensbilde: „Auf eigenen Füßen“, einem der gelungensten Versuche dieser Art, betraute er sie mit dem „Lieschen Spröde“. Und so stand sie denn auch auf dem neuen schlüpfrigen Boden endlich auf ihren eigenen Füßen und überwand die Sprödigkeit des Publicums schon am ersten Abende; über ein Jahr währte ununterbrochen die Wallfahrt zu dem neuen Stern. Noch war es keine Sonne, denn nicht das Woltersdorff-, das Wallner-Theater ist Berlin und der ehrgeizige Wandelstern fühlte das Bedürfniß, dort sich zu fixiren. Aber die Wege auch des Kunstgottes sind wunderbar - die Uebersiedelung von der Chaussee- in die Blumenstraße, eine einfache Droschkentour, war nur über Hamburg auszuführen. Wer Meister werden will, muß in die Fremde gehen; es steckt eben noch mehr Zunftzwang im Volke, als die Gewerbefreiheitler sich vorstellen. Am Thalia-Theater, der unvergleichlichen Bühnen-Erziehungsanstalt des Franzosen Maurice, dem die deutsche Kunst so viele ihrer Besten verdankt, erhielt auch „die kleine Wegner“ den letzten Schliff, und schon nach anderthalb Jahren, als die Begeisterung der Hamburger und die Sehnsucht der Berliner sich eben zu überbieten begannen, hielt sie ihren Einzug in der Hauptstadt des neugeeinigten deutschen Reiches und bestieg ihren Thron, gegen den niemals ein particularistisches Gelüste sich zu erheben wagt. Sie beherrscht Berlin; sie ist ein Dogma der Berliner.
Und dabei ist sie nicht einmal eine specifisch Berliner Soubrette, sondern ebenso gut ein „lieber Fratz“ wie eine „nette Jöhre“; das hat ihr glänzendes Gastspiel in Wien erwiesen. Bisher galt es für eine unbestreitbare, weil hüben und drüben so häufig bestätigte Thatsache, daß zwischen der Komik des Nordens und Südens die Mainlinie unüberwindlich. Der Wegner gelang es, sie zu überbrücken. Nicht allein das Publicum, nein auch die in diesem Punkte starr-, fast abergläubige Wiener Kritik haben sich widerstandslos ihr gefangen gegeben, und nicht nur mit den spitzen Tönen des preußischen Militärjargons, nein auch mit den weichen Lauten heimischer Gemächlichkeit sich fesseln lassen. Sie hatte die Wahl zwischen zwei Kaiserstädten, und sie ist ihr nicht leicht geworden, vielleicht ebenso schwer wie uns Allen die Trennung von Oesterreich, dem deutscher Geist und deutsche Kunst uns ewig verbinden werden.
Und daß Ernestine Wegner eine wirkliche Künstlerin, hat auch das feinfühlige, warmblütige Wien sofort erkannt und gewürdigt. Ihr sprudelnder Humor, ihre liebenswürdige, kecke Unbefangenheit, ihre übermütige Laune machen sie zu einer der vorzüglichsten, unwiderstehlichsten Soubretten, aber sie ist unendlich mehr, als ein weiblicher Clown oder ein Hanswurst im Unterrocke. Sie hat Natur und Herz und jenes seine Gefühl, das man den künstlerischen Verstand nennen möchte; ihre jedes Hindernisses spottende Gestaltungsfähigkeit bleibt immer auf jenem Gebiete, das von den Linien der Wahrheit und der Schönheit begrenzt wird. Und zu dem allem jenes geheimnißvolle Etwas, jener bestrickende Zauber, all die unsichtbaren Fäden der Leitung zwischen Darsteller und Zuschauer, die allein die zündende Wirkung vermittelt. Ihre reizende Stimme, ihre vorzügliche musikalische Anlage haben Herrn von Hülsen zu dem ganz ernsthaften Versuche veranlaßt, sie für die Oper zu gewinnen; von den verschiedensten Seiten ward sie bestürmt, sich dem Lustspiele zu widmen.
Als ob man nicht überall eine ganze Künstlerin, und als ob man überhaupt mehr sein könnte! Auch auf dem Theater vollzieht sich die allgemeine Umwälzung. Die so lange aufrecht erhaltenen Zwangsgrenzen der Gattung und des Faches werden erweitert und beseitigt; die daran geknüpften Rangunterschiede im Freistaat der Kunst verschwinden; in jeder Form sollen nur die Kunst und der Künstler zu Geltung und Ansehen kommen. Und unter den Vorkämpfern der neuen Richtung nimmt Ernestine Wegner einen hervorragenden und berufenen Platz ein, die Jedem, der sie blos als Soubrette anerkennen möchte, stolz entgegenrufen darf: „auch ich bin eine Künstlerin.“
Aus dem französischen Lourdes wie aus dem deutschen Marpingen wird noch immer die Mär von wunderbaren Heilungen, die daselbst geschehen sollen, in allen Blättern der päpstlichen Kirche eifrig verbreitet, um die Gläubigen theils anzulocken, theils in ihrem Glauben zu bestärken, der ungläubigen Wissenschaft und dem bösen Liberalismus aber Trotz zu bieten und wider ihre Angriffe und ihren Unglauben die wunderbare Offenbarung der „Mutter Gottes“ zu behaupten. Die Ultramontanen verfahren von ihrem Standpunkte aus richtig, indem sie dieses thun. Denn die sogenannten Wunderheilungen sind es einzig und allein, durch welche sie versuchen können, wenigstens indirect dem Volke Beweise beizubringen für die wirkliche Erscheinung der „Mutter Gottes“ und deren Wirksamkeit an den betreffenden Stätten. Die directen Zeugnisse dagegen bestehen nur in Angaben von Kindern über eine Erscheinung, die Niemand controliren konnte, da die übrigen Anwesenden nur die krankhaft erregten Visionärinnen sahen, nicht die Erscheinung selbst, und somit bezüglich derselben lediglich auf kindisches Behaupten angewiesen waren. Läßt sich also zeigen, auch den sogenannten wunderbaren Heilungen wohne in keiner Weise die Beweiskraft inne, daß sie wirklich und nothwendig von einer übernatürlichen Macht stammen, kann vielmehr erwiesen werden, daß sie ganz wohl von natürlichen, wenn auch ungewöhnliche Ursachen veranlaßt sein können - dann ist auch der Beweis geliefert, daß die vermeintliche Erscheinung der „Mutter Gottes“ ein Trug- oder Wahngebilde sei und daß das Volk durch eine falsche Vorspiegelung beschwindelt werde.
Schwindel ist ein Unternehmen, das, als auf fester, sicherer Grundlage beruhend, dem Volke angepriesen wird, um es zur Theilnahme anzulocken, während jene versicherte Festigkeit doch nur Schein und Trug ist. Läßt sich nun darthun, daß die Behauptung einer Erscheinung der „Mutter Gottes“ keinerlei sichere Begründung hat, wie keine directe, so auch keine indirecte, dann ist auch gezeigt, daß das ganze Thun und Treiben an diesen sogenannten Wunder-Orten der soliden Grundlage entbehrt, und mit Fug und Recht nach allen Beziehungen, sowohl was die Ursache wie was die Wirkungen (die Heilungen) betrifft, als Schwindel bezeichnet werden kann. Doch soll damit nicht gesagt sein, was sich mit voller Bestimmtheit noch nicht beweisen läßt, daß nämlich der Schwindel mit vollem Bewußtsein und mit klarer Absicht eingeleitet sei und fortgesetzt werde, da die Acteurs vielleicht selbst in dem Wahne befangen sind, den sie Anderen beizubringen suchen. Gewiß bleibt nur, daß die Heilungen als der sicherste Beweis der Anwesenheit der „Mutter Gottes“ und ihrer wunderthätigen Kraft angenommen wurden und die (in Lourdes) erfolgte kirchliche Approbation sich im Grunde ebenfalls auf nichts Anderes stützen konnte. Alles kommt also darauf an, ob wirklich wunderbare Heilungen stattfanden und ob Zeugnisse dafür, daß solche stattgefunden haben, genügen, um die Uebernatürlichkeit und Göttlichkeit solcher Geschehnisse zu beweisen.[1]
Wenn man auch nicht selber Augenzeuge war, kann man doch vollständig gelten lassen und braucht nicht zu bestreiten, daß in
[165] Lourdes wie in Marpingen wirklich auffällige Heilungen sich zugetragen haben. Damit aber ist noch nicht im mindesten eine übernatürliche Wunderkraft erwiesen, welche dabei im Spiele sein soll; der Vorgang ist ganz wohl auf andere Weise erklärbar. Verhältnißmäßig sind solcher Heilungen doch nur sehr wenige. Dies geht schon daraus hervor, daß man so viel Aufhebens davon macht, offenbar zum Behufe der Reclame, während man alles Uebrige verschweigt. Man sieht sogleich, daß es sich um Ausnahmen handelt und daß der größte Theil der ankommenden Kranken ungeheilt von dannen geht. Einzelne Curen zunächst, die wie ein Wunder erscheinen, gelingen auch Aerzten, gelingen Pfuschern, Hirten, alten Weibern etc., welche gewisse Mittel kennen und manchmal mit Nutzen anwenden. Aehnliches geschieht an solchen Wundercurorten. Abgesehen vom Gebrauche des Wassers, ist die durch den Glauben an die Nähe einer übernatürlichen Macht erregte Phantasie, ist die hochgespannte Erwartung, insbesondere aber die Glaubenszuversicht wohl geeignet, bedeutende Wirkungen im körperlichen Organismus hervorzubringen und dadurch manchmal ein Uebel zu heben oder zu erleichtern – oder wenigstens für den Augenblick oder für kurze Zeit die Einbildung oder Täuschung hervorzubringen, als ob das Uebel beseitigt wäre. Von dieser letzteren Art mögen wohl die meisten der sogenannten Wunderheilungen sein. Dann werden sie registrirt und ausposaunt, als wären es wirkliche, dauernde Heilungen. Stellt sich aber alsbald das Uebel wieder ein oder hört die Erleichterung auf und erweist sich somit die wunderbare Heilung als trügerisch, so wird dies eben verschwiegen und nicht weiter beachtet. Die Betheiligten selbst werden es meistentheils nicht bekannt machen, theils aus Scham darüber, daß sie nicht wirklich unter die Begnadigten gehören, theils aus Furcht vor der fanatisirten, wundersüchtigen Menge und vor den Geistlichen, oder auch um dem Gedeihen des Wundercurortes keinen Eintrag zu thun; endlich wohl auch, weil sie die „Mutter Gottes“ etwa zu beleidigen fürchten, wenn sie öffentlich kund thun, daß sie nicht ernstlich geheilt worden seien. Die Seelen der Gläubigen sind eben in solchen Fällen schon so gefangen und in Banden, daß ein unbefangenes Ueberlegen und freies Handeln von ihnen nicht mehr zu erwarten ist.
Neben den verhältnißmäßig nur Wenigen, die wirklich Heilung finden, und zwar auf jene ganz natürliche Weise, ohne dazu einer übernatürlichen Macht oder einer realen „Mutter Gottes“ zu bedürfen, da die Einbildung davon schon genügt, bleibt der weitaus größte Theil der Kranken ungeheilt und unerleichtert. In Frankreich hat man sogar eine besondere Phrase erfunden, um diese Ungeheilten zu trösten. Man sagt ihnen, wenn sie in Lourdes auch nicht Heilung ihrer leiblichen Gebrechen erlangt, so hätten sie doch wenigstens den Frieden ihrer Seele gefunden, der ja weit mehr werth sei, als die Gesundheit des Leibes. Gewiß! Aber dies ist doch kein Wunder, und nur um der Wunder willen wird ja der Ort gepriesen und nur durch sie – die wunderbaren leiblichen Heilungen – will man beweisen, daß eine übernatürliche Macht, daß Maria, die „Unbefleckte Empfängniß“, hier sei und hier wirke.
Um erlangten Seelenfriedens willen entsteht wahrlich kein berühmter Wallfahrtsort! Eben um der geringen Zahl der Heilungen willen, während die Mehrzahl ungeheilt bleibt – beweisen diese Heilungen nichts, da sie zufällig sind und aus natürlichen Ursachen stammen können, also nicht nothwendig eine übernatürliche Macht voraussetzen. Außerdem aber müssen auch die Nichtheilungen in Betracht gezogen werden, da sie direct gegen die Wirksamkeit einer übernatürlichen Kraft Zeugniß geben. Zwar möchte man geneigt sein hier einzuwenden, daß es doch wohl im Belieben oder im Ermessen der „Mutter Gottes“ stehen müsse, den Einen zu helfen und den Uebrigen die Hülfe zu versagen, sodaß immerhin die Wenigen übernatürlich geheilt sein könnten und die größere Zahl der Nichtgeheilten kein Zeugniß, keine Instanz gegen die Thatsächlichkeit einer wirkenden Wunderkraft wäre. Vergeblich! Da die wenigen sogenannten Wunderheilungen keine unbedingte Beweiskraft für das Wirken einer übernatürlichen Macht besitzen, weil sie auch auf andere, auf natürliche Weise erklärt werden können, so hat man kein Recht mehr, den Nichtheilungen eine bloße, gänzlich unbewiesene Möglichkeit der Wunderwirkung entgegen zu stellen. Außerdem aber: wozu denn eine so große Veranstaltung mit der Erscheinung der „Mutter Gottes“ selbst, wozu die Erfindung des Wunderwassers etc., wenn doch nur Einige geheilt werden sollten, während man die allerkolossalste Reclame macht und von überall her Pilger und Kranke zusammentrommelt! Alles, damit ein paar Schaustücke geliefert werden, wie von einem Tausendkünstler auf einem Jahrmarkte, während die Mehrzahl der Hülfsbedürftigen vergeblich Zeit, Mühe und Kosten angewendet hat? – Im Uebrigen ist dem noch beizufügen, daß die wenigen Geheilten oder Erleichterten selbst den vielen Ungeheilten gegenüber kaum ernstlich glauben dürften, daß sie wirklich direct durch Wundermacht geheilt seien, während den Anderen dies versagt geblieben – wofern sie nur einigermaßen noch gesunden Sinn und Bescheidenheit bewahrt hätten und nicht durch falsche Vorspiegelungen schon ganz verblendet und verbildet wären.
Doch nehmen wir einmal an, die Zeugnisse über die verhältnißmäßig wenigen wirklichen Heilungen gelten in der That für eine vorhandene göttliche oder übernatürliche Wunderkraft, oder speciell für eine thatsächliche Wirksamkeit der „Mutter Gottes“, – dann muß man doch billiger Weise ähnliche Zeugnisse für erlangte wunderbare Hülfe von Seiten der Gottheit auch bei anderen Religionen, insbesondere bei den sogenannten heidnischen Völkern gelten lassen. In neuerer Zeit wurden z. B. auf der Stätte des alten Carthago Tausende von Dankeszeichen frommer Menschen ausgegraben, Dankeszeichen für wunderbare Hülfe, die sie von der Göttin Tanoth oder dem Gotte Baal-Hammon erlangt haben wollen. Könnte diese Sache nun überhaupt durch solche Zeugnisse entschieden werden gegenüber vernünftigem Denken und wissenschaftlicher Einsicht, dann müßte angenommen werden für’s Erste, daß z. B. Tanoth wirklich eine Göttin oder eine übernatürliche Macht war ähnlich der wunderthätigen Madonna, und zweitens, daß durch sie wirklich manchen Menschen durch wunderbares, direct göttliches Eingreifen Hülfe gebracht wurde; denn menschliche Zeugnisse von den Betheiligten selbst liegen doch hier so gut vor, wie von den Wunderheilungen etc., die an christlichen Wallfahrtsorten oder Wunderstätten geschehen sollen.
In den Tempeln des Aeskulap in Epidauros und Pergamos, wo die Kranken schlafen mußten, um auf übernatürliche Weise im Traume vom Gotte das Heilmittel zu erfahren, waren Tausende von Votivtafeln aufgehängt, welche Zeugniß für die vom Gotte erlangten Heilungen enthielten. Haben also solche Zeugnisse wirklich ein Gewicht, so muß angenommen werden, daß Aeskulap (Asklepios) wirklich ein Gott war und wirkliche Wunderheilungen vollbrachte an seinen Verehrern. Freilich wurden nicht Alle, die kamen, geheilt, und schon aus dem Alterthume wird berichtet, daß, als einst der Priester einen Fremden auf die vielen Votivtafeln aufmerksam machte als Zeugnisse für die Wunderkraft des Gottes, dieser einfach entgegen fragte, wo denn die Tafeln Derer seien, die nicht geheilt wurden. Die Nichterfolge pflegte man damals ebenso zu verschweigen, wie jetzt an den Wunderorten.
Allerdings hatte man in früherer Zeit einen leichten Ausweg aus dieser Klemme. Die „Rechtgläubigen“ behaupteten einfach, die Wunder bei den Heiden seien durch den Teufel geschehen, dem ja nach christlichem Glauben auch die übernatürliche Kraft zukomme, in den Lauf der Natur ändernd einzugreifen. Wir zweifeln nicht, daß es auch jetzt noch viele Fromme oder Kluge giebt, die sich auf diese Weise aus der Schwierigkeit zu ziehen suchen. Allein dem ist einfach zu entgegnen, daß dies eben nur eine menschliche und unbewiesene Behauptung ist, welcher die Behauptung des Gegentheils von Seiten anderer Menschen mit gleichem Rechte gegenüber treten kann. Und jene „rechtgläubigen“ müssen es sich gefallen lassen, daß, wenn sie ihrerseits die bei anderen Religionen angenommenen Wunder für Teufelswerk erklären, die Bekenner dieser wiederum die von ihnen geglaubten Wunder ebenfalls als solches bezeichnen. Es sind beiderseits nur menschliche und unbewiesene Behauptungen, die als solche gleich berechtigt oder gleich unberechtigt sind. Wollte man dies nicht gelten lassen, so müßte man auf Seite der Rechtgläubigen annehmen, daß den Andersgläubigen nicht die gleichen Menschenrechte zukommen, daß sie also nur als untergeordnete, gleichsam untermenschliche Wesen zu betrachten und zu behandeln seien, als Wesen, die durch Geistesschwäche und Herzensbosheit Kinder des Teufels geworden, und die man entweder wie Narren oder wie Verbrecher behandeln und in aller Weise unterdrücken oder geradezu vernichten müsse.
Die Religionsgeschichte, insbesondere auch die Geschichte des Christenthums zeigt, daß die Menschen und Völker verschiedenen [166] Glaubens auch wirklich fast überall mehr oder minder so gegen einander gedacht und gehandelt haben. Es hat schweres Ringen gekostet, diesen Standpunkt der Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit zu überwinden, und er wird doch wohl überwunden bleiben trotz des Kampfes, den die Orthodoxen und Wundergläubigen aller Orten gegen den Sieg der Humanität unterhalten.
Fehlt so den wirklichen oder scheinbaren Heilungen, die an den fraglichen Wunderorten geschehen, alle Beweiskraft, daß daselbst wirklich eine höhere übernatürliche Macht thätig sei, so fehlt auch den Aussagen der Kinder über eine Erscheinung der „Mutter Gottes“ alle Gewähr und Glaubwürdigkeit. Es sind dieselben daher nur als Producte kindischer Einbildung und krankhafter Erregung zu betrachten, auf die man selbst in gewöhnlichen menschlichen Verhältnissen nicht das Mindeste bauen möchte, geschweige denn, daß ihnen in den höchsten und ernstesten Angelegenheiten menschlichen Daseins irgend ein Gewicht beigelegt werden könnte. Wie die vermeintlichen Wunderheilungen sich zur Genüge aus erregter Phantasie, gespannter Erwartung und hingebendem Vertrauen erklären lassen, so auch und noch mehr sind jene Erscheinungen, Visionen oder Hallucinationen aus krankhaften körperlichen Zuständen und aus regelwidriger Thätigkeit der Einbildungskraft zu erklären.
Die Erscheinungen sind nicht wirkliche, gegenständliche Dinge oder Personen, sondern Gebilde der eigenen Phantasie, die so ungemein lebhaft sind, daß sie auf die Sinne wirken und von diesen wahrgenommen werden, als wären sie äußerlich dastehende oder sich bewegende Erscheinungen. Daß die sogenannten Erscheinungen der „Mutter Gottes“ in Lourdes wie in Marpingen nur Product der krankhaft erregten Einbildungskraft der Mädchen selber waren, geht aus vielen Umständen hervor. In Lourdes erscheint die Mutter Gottes als „Unbefleckte Empfängniß“, denn damals war diese eben zum Dogma erklärt worden, und man war durch Unterricht in den Schulen und Predigt in den Kirchen eifrig bemüht, das neuverkündete Dogma einzuführen. Die Kinder wurden beständig damit beschäftigt, deren Phantasie davon angefüllt, sodaß, wo Anlage vorhanden war, das Bild vielfach im Traume erschien und, wo die Krankhaftigkeit stärker wurde, in ähnlicher Weise auch im Wachen erscheinen konnte, oder in einem abnormen oder „verklärten“ Zustande, der vom Traum sich nicht viel unterscheidet. Besonders auf die Gestalt und namentlich auf die Toilette der Erscheinung muß geachtet werden. Es gleicht dieselbe dem damals nach dem Traume einer französischen Nonne verfertigten und allgemein verbreiteten Bilde der „Unbefleckten Empfängniß“.
Die kleine Bernadette Soubirous in Lourdes war also ganz wohl auf die Erscheinung vorbereitet, als sie dieselbe gesehen haben wollte, und diese mußte dem verbreiteten Bilde und überhaupt einer vornehmen französischen frommen Dame gleichen, mit allen Attributen einer solchen, mit Rosenkranz, schönen Kleidern, andächtiger Gebährde etc. ausgestattet sein und außerdem „Unbefleckte Empfängniß“ heißen. Es scheint fast, als ob Bernadette sich noch besonders auf die Erscheinung vorbereitet hätte, denn obwohl sie damals nur zum Holzsuchen ausging, hatte sie doch den Rosenkranz bei sich und blieb angesichts des Felsens hinter ihren Gefährtinnen zurück. Wir wollen indeß hier ihr selbst keinen Betrug zur Last legen sondern nur unabsichtliche Täuschung. Thatsache aber ist, daß sich sogleich Leute fanden, welche die Sache in die Hand nahmen, ausbildeten und keinen Widerspruch mehr aufkommen ließen.
Auch in Marpingen wollen wir den Beginn nicht einem eigentlichen geplanten Betrug zuschreiben, obwohl besonders hier Manches auf einen solchen hindeutet, z. B. daß die erste Erscheinung gerade an jenem 3. Juli stattfand, wo in Lourdes die priesterliche Gründung durch eine großartige Festfeier abgeschlossen wurde. Sehr auffallend ist ferner die Abwesenheit des Pfarrers zu dieser Zeit, das späte Verweilen der achtjährigen Mädchen im Freien und fern vom Hause, sowie auch der Umstand, daß sich ganz in der Nähe bereits eine alte Capelle nebst einer Quelle befand. Indeß davon abgesehen – jedenfalls indirect war die Wundererscheinung reichlich vorbereitet. Schon die Gegend in der Nähe des bekannten Echternach disponirt zu Marien-Erscheinungen, die daselbst im Traume bei vielen Leuten vorkommen sollen; dann die starke Pflege des Marien-Cultus von Seite des Pfarrers, die Erzählungen und Wundergeschichten aus Lourdes etc. Daß es der Mädchen eigene Phantasie war oder eines derselben, welches das Wort zu führen pflegt, zeigt sich sehr deutlich an einer Verbesserung in der Antwort der erscheinenden „Mutter Gottes“. Sie sagt nicht mehr wie in Lourdes: „Ich bin die ‚Unbefleckte Empfängniß‘“, sondern: „Ich bin die unbefleckt Empfangene“. Dies kommt vom besseren Schulunterricht der Mädchen. Ohne Zweifel ist ihnen bemerkt worden, daß man die heilige Jungfrau nicht die „Unbefleckte Empfängniß“ nennen dürfte, daß man (ein wenig correcter, wenngleich noch incorrect) sagen müsse: „die unbefleckt Empfangene“. Dies macht sich also auch in der Vision oder Hallucination der Mädchen geltend, da ja eben auch die Antwort auf ihre Frage nur von ihnen selbst kam – in ähnlicher Weise wie im Traume der Träumende Fragender und Antwortender zugleich ist, ja sich noch mehr spalten kann, z. B. in zwei oder mehrere Schüler, und er allenfalls als der Eine oder er selbst (Ich) die gestellte Frage nicht zu beantworten vermag, die er als Anderer beantworten kann. Daß die Phantasie der Kinder selbst das ganze Spiel der Erscheinungen hervorbrachte, zeigt dann insbesondere die Erweiterung der Erscheinungen, in Folge deren endlich das ganze Repertoire der biblischen Scenen, welche die Kinder aus Schule und Kirche inne hatten, sich abspielte und zuletzt auch der Teufel nicht ausblieb. Daß bald noch andere Personen die Erscheinung sahen oder zu sehen glaubten, wird man leicht erklärlich finden, wenn man die Macht der Ansteckung in Betracht zieht, welche solchen krankhaften Zuständen innewohnt.
Bei den religiösen Erweckungsversammlungen (Revivals) in Nordamerika wurden Manche, die nur als Zuschauer dabei sein wollten, von der Tanzwuth der hier Tobenden ergriffen und mitgerissen. In einem französischen Kloster fing eine Nonne wie eine Katze zu miauen an und bald folgten alle anderen nach und miauten jeden Tag ganze Stunden lang. Das Miauen hörte nicht eher auf, als bis man eine Compagnie Soldaten schickte, mit der Drohung, jede zu peitschen die wieder miauen würde. In einem anderen Kloster soll nach Cardanus’ Bericht eine Nonne die anderen mit der Lust zu beißen angesteckt und von hier aus sich diese Sucht von einem Kloster zum anderen verbreitet haben. Aus dem Alterthum erwähnt Plutarch einer epidemischen Selbstmordmanie der Mädchen von Milos. Diese fingen zu toben an ohne alle erkennbare Ursache, so daß man sie durch die Luft vergiftet glaubte, verlangten zu sterben und führten trotz aller Vorstellungen und aller Vorsicht ihr Vorhaben durch Erhängen aus. Da alle Mittel dagegen sich wirkungslos erwiesen, wurde endlich verkündet, daß die Leiche jeder, die sich tödte, nackt durch alle Straßen geschleppt werden solle. Dadurch wurde der Epidemie rasch ein Ende bereitet – offenbar deshalb, weil die Vorstellung der schmachvollen Bloßstellung ihrer Leiber sich so lebhaft in ihrer (subjectiven) Phantasie gestaltete, daß dadurch der krankhafte Drang zum Selbstmord überwunden wurde, der jeder vernünftigen Mahnung widerstanden hatte. Auch sonst ist der ansteckende Charakter körperlich-seelischer Krankheiten durch viele Beispiele bezeugt. Selbst die sogenannte Besessenheit wirkt ansteckend auf dazu disponirte Personen. In Betreff der Ansteckung der krankhaften Sucht, Visionen zu haben, fehlt es nicht an manchen Beispielen. In Deutschland zeigen sich in der That schon jetzt Spuren von Ansteckung oder Nachahmung des visionären Treibens in Marpingen, und es droht diesem Orte starke Concurrenz zu entstehen, was natürlich dort mit Ingrimm vernommen und dem Teufel oder der Betrügerei zugeschrieben wird. In Lourdes war man klüger, indem man die krankhafte Person möglichst bald entfernte und in ein Kloster that, um vor den Wandlungen ihrer Stimmung sicher zu sein. Nicht einmal zu den großen Festlichkeiten hat man sie dankbar herangezogen.
Um übrigens dergleichen Erscheinungen wenigstens einigermaßen richtig zu würdigen, ist es nothwendig, Wesen und Bethätigung jener Seelenkraft näher zu untersuchen, die man als Phantasie bezeichnet. Hier indeß muß ich mir versagen, näher auf diesen Gegenstand einzugehen, doch möge gestattet sein, diejenigen Leser, die ein tieferes Interesse an der Sache nehmen, auf mein Werk zu verweisen, das der Untersuchung desselben gewidmet ist: „Die Phantasie als Grundprincip des Weltprocesses“ (München. Th. Ackermannn 1877). Inn demselben wird nicht blos die gewöhnlich so genannte Phantasie nach allen Beziehungen untersucht, sondern es wird deren Begriff erweitert und zu zeigen [167] versucht, daß die ganze Natur von einer Macht durchdrungen sei, die in ihrem Wesen und ihrer Thätigkeit sich am entsprechendsten mit Wesen und Thätigkeit der menschlichen Phantasie vergleichen läßt, und daß diese Macht oder Gestaltungskraft es sei, durch welche im unendlichen Proceß der Natur endlich auch der Mensch und insbesondere der Menschengeist seinen Ursprung genommen hat.
Sehr verwundern, ja schmerzlich berühren muß es, wahrzunehmen, mit welch leichtgläubiger oder abergläubischer Begierde sich das katholische Volk und selbst auch Leute aus dem gebildeten oder wenigstens vornehmen Stande zu solchen Wunderorten hindrängen und wie nichts so abenteuerlich, widersinnig und abgeschmackt sein kann, daß es nicht blinden und fanatischen Glauben findet. Indeß muß man bedenken, daß in der menschlichen Natur ein ungemein starker Hang zum Aberglaube liegt, wie die ganze Religionsgeschichte zeigt und wie selbst sonst aufgeklärte Menschen in lächerlichen Kleinigkeiten so oft bekunden. Dazu kommt noch, daß das katholische Volk von früher Jugend an leider gerade in dieser Beziehung durch religiösen Cultus und Unterricht zu besonderer Empfänglichkeit ausgebildet wird. Ueber dies haben die Menschen ein natürliches Verlangen, einen Blick in das dunkle Jenseits zu thun oder wenigstens auf leichte Weise aus demselben wunderbare Hülfe in der Noth ihres Lebens zu erlangen oder (bei vornehmeren Ständen) sich die Langeweile vertreiben zu lassen. Wie die Noth oder die Habsucht die Menschen verblendet, daß sie in ihrer Begierde nach Hülfe oder reichlichem Gewinn die gewöhnlichste Ueberlegung außer Acht lassen, selbst die offenbarste Unmöglichkeit nicht wahrnehmen und blindlings dem Schwindel zum Opfer fallen, so ist dies auch bezüglich der Vortheile der Fall, welche sie durch Wunder zu erreichen hoffen. Außerdem aber kommt endlich noch ein Umstand in Betracht. Schon im Alterthume haben die Völker sich die heilsamen, beglückenden, segnenden Kräfte und Gaben der Natur durch ihre lebendige Phantasie persönlich vorgestellt und sich nahe gebracht. So ward die erquickende oder heilende Kraft der Quellen zum Beispiel in Nymphen, Göttinnen etc. in ähnlicher Weise vorgestellt, wie jetzt die heilende Kraft derselben als Gabe ober Wirkung der Madonna der Volksphantasie vorschwebt. Es verdient ernste Erwägung, wie bei einer Neugestaltung der Religion, welche den wissenschaftlichen, sittlichen und ästhetischen Fortschritten der Zeit Rechnung trägt, dieser Gabe und diesem Drange der menschlichen Natur eine der Vernunft entsprechende, wahrhaft hebende und veredelnde Befriedigung gesichert werden kann. Die Schule aller Stufen hat hier unbedingt eine große Rettungsaufgabe, und es darf mit der Vollführung derselbe wahrlich nicht gesäumt werden, wenn man den verdammenswürdig frevelhaften und schamlosen Eifer sieht, welcher von der clerikalen Presse jetzt so beharrlich auf die Pflege und Förderung des haarsträubendsten Gespensterglaubens, des tollsten und rohesten Wunder- und Teufelsspuks verwendet wird.
Originale, wie man sie noch vor einem halben Jahrhundert in allen Gesellschaftsschichten in einzelnen Exemplaren finden konnte, stehen heutzutage vollständig auf dem Aussterbe-Etat; der Realismus und Materialismus beherrscht die Zeit und bietet für sie keinen Boden mehr. – Originale, welche, besonders in größeren Städten, noch vor fünfzig bis sechzig Jahren ungestört ihr Wesen treiben konnten und mit einer gewissen pietätvollen Rücksicht selbst von der goldenen Straßenjugend behandelt wurden, würden jetzt als Caricatur verhöhnt und verlacht werden und sehr bald vom Schauplatz verschwinden müssen. – Wir glauben, daß selbst so geistreiche Originale, wie weiland Hoffmann und Devrient, heutzutage schwerlich ein solches unantastbares Heiligthum finden würden, wie sie es im zweiten Decennium dieses Jahrhunderts in dem durch sie historisch gewordenen Eckstübchen am Gensd’armenmarkt in Berlin, bei Lutter und Wegener, gefunden und als Hohepriester beherrscht haben.
Es ist eben die Zeit eine andere geworden, und mit ihr hat auch das ganze gesellschaftliche Leben eine andere Richtung gewonnen. Die hohe Politik, die Speculation und leider auch – der Schwindel sind die Hauptfactoren, mit welchen die heutige Gesellschaft rechnet. Die Welt ist zu rationell geworden, und der Idealismus der Neuzeit ist entweder zu ernst oder zu ausschweifend, um auch dem Humor der Originale einige Geltung verschaffen zu können.
Vielleicht ist es nicht uninteressant Einzelnes aus dem Leben, Denken und Handeln solcher origineller Existenzen zu vernehmen. Wir wollen, ohne grelle Farbentöne zu benutzen, Episoden aus dem Leben einiger Sonderlinge mit historischer Treue vorführen, wobei wir ausdrücklich bemerken, daß wir nur von solchen sprechen, die uns persönlich bekannt wurden, und daß wir nichts fingiren. Der Vorwurf der Indiscretion kann uns nicht treffen, da die handelnden Persönlichkeiten längst heimgegangen sind.
Einige Originale leben mir noch aus den Berliner Jugendjahren in der Erinnerung; mögen sie hier zuerst ihren Platz finden !
Ein Sonderling durch und durch war ein alter pensionirter Rittmeister, in steter Begleitung seines ungefähr in gleichem Alter befindlichen ehemaligen Wachtmeisters. Jeden Nachmittag, ohne Ausnahme, präcis fünfzehn Minuten vor zwei Uhr, im Winter und Sommer, gleichviel ob bei Sonnenschein, Regen oder Schneegestöber, traten die Dioskure aus einem kleine Hause der Poststraße, der bescheidenen Garçonwohnung des Rittmeisters, um ihre gemeinsame Wanderung nach einem sich nie ändernde Ziele anzutreten.
Mein Weg zum Joachimsthalischen Gymnasium, welches ich damals als Obertertianer besuchte, führte mich an der Wohnung des alten Rittmeisters vorüber; der Sohn seines Wirthes war ein Classencollege und Freund von mir, und ich rief ihn in der Regel zum Schulgange ab. Einer Uhr bedurften wir nicht, um pünktlich zu sein; dafür sorgte der alte Herr, denn so wie die drei Viertelschläge vom nahen Nicolaikirchthurme ertönten, überschritt der Rittmeister und hinter ihm sein unzertrennlicher Begleiter, der Wachtmeister, die Hausthür. Letzterer war wenige Minuten früher in das Haus und ganz militärisch, ohne anzuklopfen, in das Zimmer seines strengen Gebieters getreten, wo er in dienstlicher Haltung nur die Meldung machen durfte: „Es ist Zeit, Herr Rittmeister,“ worauf dieser erwiderte: „Gut, Wachtmeister.“ Nun kamen sie mit schweren Schritten die Treppe herab, um die beregte Wanderung zu beginnen. Waren Beide auch nicht in Uniform, so war doch ihr Anzug und ihre Haltung so uniform und eigenartig, daß sie wohl der Beschreibung werth sein dürften. Langer blauer, fast bis zum Halse zugeknöpfte Tuchüberrock, steife sehr schwarze Halsbinde ohne jeden weißen Vorstoß, bis zum Knie reichende Reiterstiefel mit schweren Sporen, die des Rittmeisters von Silber, die des Wachtmeisters von Stahl, blaue Militärmütze mit großem Schirm und dito Cocarde, weiße waschlederne Handschuhe, in der rechten Hand ein starkes spanisches Rohr, in der linken eine halblange Pfeife mit silberbeschlagenem Meerschaumkopfe. Schirm oder Mantel waren selbst bei stärkstem Regen oder strengstem Froste verpönt.
So pilgerten die Unzertrennlichen schweigend in gravitätischer Haltung, der Wachtmeister einen Schritt links von seinem Gebieter, doch etwas zurück, in gemessenem Schritte durch die Post- und Königsstraße, über den Alexanderplatz, durch die Frankfurter Linden zum Frankfurter Thor hinaus, bis zu einem Etablissement, die „Neue Welt“ genannt. Hier versammelte sich alltäglich in einem reservirten Zimmer eine Anzahl alter Herren, den gebildeten Ständen angehörig, als Stammgäste, um bei einer „kühlen Blonden“, dem renommirten Berliner Weißbier, und einer Pfeife Knaster die Stadtneuigkeiten zu besprechen, Familienklatsch zu treiben, oder mit großer Vorsicht zu kannegießern, denn politische Meinungen äußern war damals ein gar gefährlich Ding. Anderen Genüssen gab man sich nicht hin, es sei denn, daß dieser oder jener der Herren so extravagirte, daß er auf die genossene „Stange“ – die Bezeichnung für die hohen schlanken Gläser, in welchen das schäumende Weißbier credenzt wurde – noch einen kleinen Kümmel setzte.
[168] Gegen drei Uhr traten unsere Dioskuren in das Zimmer und nahmen, die Gesellschaft stumm grüßend, an einem besonderen Tischchen Platz. Der Wirth brachte ohne Aufforderung zwei brennende dünne Tannenspähne zum Anzünden der Pfeifen und setzte jedem der Herren die schäumende „Weiße“ vor. Nie betheiligten sich unsere Helden auch nur mit einem Worte an der allgemeinen Unterhaltung; nie sprachen sie unter sich. So saßen sie bis vier Uhr, um welche Zeit, nachdem der letzte Schluck aus der Stange gethan, der Rittmeister, das Geld für die gemeinschaftliche Zeche auf den Tisch legend, sich erhob und der Wachtmeister folgte; still grüßend, wie sie gekommen, entfernten sie sich.
An einem Vormittage im Sommer 1819 nach beendeter Probe zu den „Räubern“ brannte das königliche Schauspielhaus auf dem Gensd’armenmarkt nieder; es war ein gewaltiges Feuer, und ganz Berlin befand sich in höchster Aufregung, denn bei dem starken Winde und den damals noch keineswegs gut organisirten Feuerlöschanstalten war der ganze nächste Stadttheil bedroht. Die durch alle Straßen wirbelnden Trommeln und die langgezogenen Hornsignale, durch welche die Garnison alarmirt wurde, ließen wohl keinen Einwohner der Stadt in Unkenntniß über das Ereigniß. Zur gewöhnlichen Zeit trat auch an diesem Tage der Wachtmeister in das Zimmer seines gestrengen Vorgesetzten, ließ sich aber, angesteckt durch die allgemeine Aufregung, verleiten der Meldung: „Herr Rittmeister, es ist Zeit,“ die Worte hinzuzufügen: „Heute Vormittag ist das Schauspielhaus abgebrannt.“
Mit zornentflammten Blicken betrachtete der Rittmeister seinen ehemaligen Untergebenen und herrschte ihm die Worte zu: „Ich gehe heute nicht. Kehrt! Marsch!“
Entsetzt verließ der Unglückliche, dem Commando strict Folge gebend, das Zimmer.
Am andern Tage erschien der Rittmeister allein in der „Neuen Welt“. Die Stammgäste waren erstaunt darob und einer derselben erkühnte sich, den in sich gekehrt und mürrisch dasitzenden alten Herrn zu fragen: „Wo haben Sie denn Ihren Wachtmeister?“
Wild aufblickend entgegnete er: „Ich habe mit ihm nichts mehr zu schaffen; der Kerl ist ein Schwadroneur geworden.“
Acht Tage lang hielt es unser Original allein aus; dann siegte die alte Gewohnheit; der Wachtmeister erhielt Amnestie und der Rittmeister erschien wieder wie früher in seiner Begleitung in der „Neuen Welt“. – Etwa zwei Jahre später bewegte sich ein Leichenzug von der Poststraße aus, der jedoch nicht seinen Weg nach dem Frankfurter-, sondern nach dem Oranienburgerthor und dem Invalidenkirchhof zu einschlug. Der alte Rittmeister wurde zu seiner letzten Ruhestätte geleitet. Als einziger Leidtragender folgte der Wachtmeister im gewohnten Anzuge, nur Stock und Pfeife fehlten, das sonstige Gefolge bestand aus dem Wirth und den Stammgästen der „Neuen Welt“.
Nur vier Wochen darauf wurde auch sein treuer Gefährte im Leben, der Wachtmeister, zur Erde bestattet; kein Leidtragender schritt hinter seinem Sarge, wohl aber dasselbe Ehrengefolge. – Die Unzertrennlichen wurden auch im Tode dicht neben einander gebettet; sie ruhen sicherlich in Frieden. – –
In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wurde ich als Officier von der Garde in ein Linienregiment am Rhein versetzt. Dasselbe war aus dem ehemaligen Lützow’schen Freicorps errichtet worden, und unter den älteren Officieren, besonders den Hauptleuten befanden sich noch viele, welche, aus den verschiedensten Lebensstellungen hervorgegangen und aus aller Herren Ländern stammend, nunmehr, nachdem die Hörnertöne von „Lützow’s wilder, verwegener Jagd“ verklungen und sie sich als brave und ehrenwerthe Männer bekundet, aber ihre früheren Berufstellungen eingebüßt hatten, beim Waffenhandwerk geblieben waren. – Nur sehr Wenige von diesen hatten sich eine Familie begründen können; sie lebten als alte, ziemlich gut situirte Junggesellen und huldigten, je nach Geschmacks- und Geistesrichtung, mehr oder weniger noblen Passionen. Es konnte so auch nicht fehlen, daß sich aus diesen Elementen welche übrigens auch bei anderen Waffengattungen ihre Vertreter fanden, manche Originale entwickelten. Ende der zwanziger Jahre war besonders Coblenz reich mit solchen bedacht. Meinem damals geführten Tagebuche könnte ich eine staatliche Blumenlese von Episoden aus dem Leben dieser Species entnehmen, ich werde mich jedoch darauf beschränken, einzelne Fälle anzuführen.
In einer kleinen Weinschenke in der Rheinstraße zu Coblenz versammelten sich an jedem Vormittage nach der Parade auf dem Clemensplatze mehrere, besonders ältere Officiere, um die Zeit bis zum Mittagsessen durch Unterhaltung und Vertilgung von so und so viel Specialen (Gläser, die etwa ein viertel Liter enthalten) leichten Weines auszufüllen. Regelmäßige Gäste waren hier unter Anderen der Major H. von der Artillerie und der Hauptmann Baron von L. von der Infanterie. Ersterer, ein überaus jovialer, praktischer, braver und mit dem eisernen Kreuze erster Classe decorirter Officier, der, von Hause aus Schmied, sich die Epauletten auf dem Schlachtfelde erworben, war vor etwa einem Jahre von einer schlesischen Brigade nach Coblenz versetzt worden; der Ruf seiner schon im Kriege mehrfach kundgegebenen originellen Excentricitäten war ihm jedoch längst vorausgegangen. Sehr ernst hatte er sich, nachdem er durch ein ererbtes großes Bauerngut zum wohlhabenden Manne geworden, mit seiner wissenschaftlichen Ausbildung beschäftigt und sich so die erforderlichen theoretischen Fachkenntnisse angeeignet; seine Originalität litt jedoch hierdurch keinen Abbruch. –
Der andere Stammgast der kleinen Weinschenke, Baron von L., war ein wissenschaftlich gebildeter und geistreicher Lebemann, der, nachdem er in einer anderen deutschen Armee gedient und dort, wie man sagte, ein bedeutendes Vermögen an den Mann gebracht, 1813 in preußische Dienste trat. Als „alter Baron“ oder „Hauptmann von Capernaum“ war er in der ganzen Garnison bekannt. Er hatte außer seinen gastronomischen Neigungen auch die absonderliche Passion, Singvögel aller Art zu züchten und zu pflegen; die Wände seiner Wohnung waren mit deren Käfigen dicht behangen.
Major H., der allerdings auch dem Weine nicht abhold war, aber weniger nach der Qualität fragte, huldigte dagegen einer anderen Leidenschaft in hohem Grade: dem Rauchen, verbunden mit der Manie, Pfeifen, wie sie bei allen bekannten Völkern in Gebrauch sind, zu sammeln und sie auch der Reihe nach zu benutzen. Seine Zimmer waren mit diesen verschiedenen Rauchwerkzeugen überreich decorirt, deren Menge sich auf Hunderte bezifferte. Seine Hauptleidenschaft war jedoch, wie beim alten Baron die Singvögelzucht, die Federviehzucht. Der Major wohnte in der Schloßstraße in einem von einer hohen Mauer umschlossenen Gartenhause ganz allein mit seinem Diener; auf dem Hofe und Garten trieben zahllose Hühner, Puten, Gänse und Enten ihr Wesen, welche von ihm stets eigenhändig ihr Futter erhielten, auch soll er ihnen, wie glaubwürdige Zeugen versicherten, schöne Weisen auf der Guitarre vorgeklimpert haben.
Beide alten Herren waren unbeweibt und standen in den fünfziger Lebensjahren; sie verkehrten täglich mit einander, waren auch Tischnachbarn im Trier’schen Hofe. Doch vorzugsweise ein Band verknüpfte sie auf das Innigste: sie belogen sich gegenseitig – doch stets harmlos – auf eine Weise, daß ein Münchhausen sie für seine Concurrenten erklärt haben würde. Das wußten wir „grünen Schnauser“, mit welchem Titel wir von den alten Lützowern beehrt wurden, und darum fanden wir uns auch häufig bei Onkel B. – so wurde der Weinwirth genannt – ein, um in respectvoller Zurückgezogenheit an einem Tische im Hintergrunde des Zimmers unseren Special zu trinken und den Vorträgen der würdigen Herren zu lauschen.
Ein Beispiel genüge zur Erkenntniß der außerordentlichen Virtuosität dieser Heroen im Lügen. Der Bursche des Majors H. erwartete jeden Mittag nach der Parade seinen Herrn mit der gestopften Pfeife an dem genannten Weinhause, fast stets mit einem anderen Exemplare, so auch an diesem Tage. Der besonders schön angerauchte und kostbar beschlagene Meerschaumkopf fiel dem alten Baron auf und er bemerkte:
„Major, Eure Pfeifen müssen Euch ein Heidengeld kosten.“
„Lange nicht so viel wie Euch Euer Wein, allerdings als ich noch als Batteriechef in G. stand, da hatte ich eine exquisite Pfeifensammlung; ich wohnte in einer alten Probstei, in der ein großer Saal war, dessen Wände ich vollständig mit Pfeifen ausgefüllt hatte, ich kaufte allein in einem Jahre für über einhundertfünfzig Thaler langes Stroh zum Reinigen derselben; jetzt bin ich aber sehr reducirt; es ist mir kaum für jeden Tag im Jahre eine andere geblieben.“
Der alte Baron gab sich den Anschein, als glaube er jedes Wort, und entgegnete mit dem ernstesten Gesicht:
„Ja, ich habe meinen Weinvorrath auch reducirt; Champagner [169] kaufe ich schon gar nicht mehr; ich habe ein Haar darin gefunden, seit mir die Ratzen fast alle meinen Champagner ausgesoffen haben.“
Unter allgemeiner Sensation: „Die Ratzen!?“
„Ja, die Ratzen, meine Herren, und zwar die Wasserratzen, die sich im Keller meiner jetzigen Wohnung hinter der Castorkirche an der Mosel in prächtigen Exemplaren zahlreich eingefunden. Glauben Sie denn, daß diese Canaillen nur Wasser saufen? Wein ist ihre Leidenschaft, und welche Quantität eine solche Bestie vertragen kann, davon habe ich mich durch den Augenschein überzeugt.“
Etwas indignirt meinte der Major: „Aber, lieber Baron, das scheint mir doch wunderbar. Wie haben denn die Ratzen die Flaschen aufmachen können?“
„Wie? Ja, es ist mir schwer geworden, dahinter zu kommen, aber mit Hülfe meines alten pfiffigen Heinrich, den ich anfänglich allerdings in Verdacht hatte, daß er den Champagner in seine Kehle hätte fließen lassen, gelang es mir doch. Wie machen sie es? Zuerst nagen sie den Draht durch, was ihnen leicht wird; dann wickelt die stärkste Ratze ihren Schwanz um den Pfropfen; die anderen rütteln nach Kräften an der Flasche – ein starker Ruck mit dem Schwanze, der Kork fliegt heraus, und das schäumende Naß wird gierig von den lüsternen Bestien gesoffen.“
Ein homerisches Gelächter lohnte den keine Miene verziehenden Erzähler. Der Major aber gab sein Spiel noch nicht verloren; er wollte durchaus den Baron überführen: „Lassen denn aber die Ratzen Euren anderen Wein ungeschoren? Ihr habt doch sonst noch gute Sorten im Keller.“
Schnell gefaßt replicirte unser Hauptmann: „Aber, lieber Major, wie könnt Ihr nur so fragen, wie sollen sie es denn anfangen, die Flaschen zu öffnen? Die Korke sind ja dicht am Glase abgeschnitten und verpicht; sie können also auch nicht den Schwanz herumwickeln, und das Glas vermögen sie nicht zu zernagen.“
Nochmals schallendes Gelächter; der Major schwieg – er war um mehrere Längen geschlagen; die Infanterie hatte über die Artillerie den Sieg davon getragen.
Dergleichen humoristische Lügenduelle fanden hier nicht selten statt, sie dienten aber nur dazu, die Harmonie der Kämpfenden immer inniger zu gestalten, und führten nicht selten zu dem Resultate, daß der Major einen Puter oder eine fette Gans und der Hauptmann von Capernaum einige Flaschen des von den Ratzen noch verschonten Sects als Sühneopfer darbrachten und es sich gemeinschaftlich wohlschmecken ließen.
Etwa sechs Monate nach der eben skizzirten Sitzung wurde Major H. zum Oberstlieutenant befördert. Die erste Freude war groß, doch sie sollte leider nicht vierundzwanzig Stunden ungetrübt bleiben.
An einem Sonnabendnachmittag wurde dem Major die Ernennung zum Oberstlieutenant notificirt; eine Sitzung im Freundeskreise beim Weine im Trier’schen Hofe folgte. Dieselbe mochte sich wohl etwas über die Gebühr verlängert haben, denn der Gefeierte konnte sich am Sonntag erst spät den Armen Morpheus’ entwinden. Die Wachtparade auf dem Clemensplatz war bereits aufgezogen; der gestrenge commandirende General, Excellenz v. B., den der Volksmund „König der Rheinprovinz“ nannte, gab eben vor der langen Front der Officiere und Unterofficiere der Garnison die Parole aus, und die Musik des Regiments gruppirte sich zum Concertiren, als Oberstlieutenant H. im neuesten Paradeanzuge mit decorirtem Czako etc. aus seiner nahen Wohnung in der Schloßstraße angestürmt kam, um sich bei den hohen militärischen Würdenträgern behufs seiner Rangerhöhung zu melden. Bis zum Commandirenden vorgedrungen und die Hand an den Czako legend, um seine Meldung zu machen, bemerkte er, daß im anwesenden Publicum und selbst in den Reihen der Officiere und Unterofficiere große Unruhe und Gelächter entstand. Ehe er noch zum Worte kommen konnte, herrschte ihn die Excellenz an: „Oberstlieutenant H., was bringen Sie da für ein Gefolge mit?“ Bestürzt sah sich der Unglückliche um und – o Graus! – seinen Fersen folgte ein stattlicher Haushahn und hinter diesem sein ganzer Harem von beinahe einem halben Hundert Hühnern in geschlossener Colonne, in der Mitte von einigen Putern überragt und als Arrieregarde einige watschelnde Enten und Gänse. Wahrscheinlich hatte das Völkchen heut das gewohnte Morgenfutter aus der Hand seines Gebieters noch nicht empfangen und dieser beim Fortstürmen nach dem Paradeplatz das Hofthor zu schließen vergessen. Nun folgte ihm, treu wie sein Schatten, die gefiederte Colonne, den frechen Hahn als Führer. Man kann sich die Aufregung denken, welche diese Scene hervorrief. Die Jagd des Publicums, die Bemühungen der abgeordneten Unterofficiere und Ordonnanzen waren vergeblich; die erregte Schaar war nicht vom Platze zu bringen, bis endlich die gestrenge Excellenz dem verzweiflungsvoll und rathlos dastehenden neuen Oberstlieutenant, der sicherlich freudiger einer feuernden Batterie entgegengegangen wäre, zurief. „Nun bringen Sie Ihr sonderbares Gefolge auch wieder nach Hause, Herr Oberstlieutenant!“ Dies half. Wohl oder übel mußte der Schwergeprüfte sich an die Spitze seines gefiederten Völkchens stellen. Er lockte dasselbe, und willig folgte es, bis es mit seinem Herrn und Gebieter hinter dem Thore der Gartenmauer verschwand. Da man zu jener Zeit noch wenig hohe Politik trieb, eine türkische Frage nicht vorhanden war und Parlamentswahlen nicht bevorstanden, so bildete dieses Ereigniß wochenlang das Tagesgespräch in allen Kreisen der schönen Confluentia.
Die neueste aus dem Telephon hervorgewachsene Erfindung, der Phonograph des amerikanischen Physikers Thomas A. Edison ist eine kleine Maschine, die jeden ihr einmal vorgesagten Redesatz, jedes ihr vorgesungene Lied getreulich in ihrer walzenförmigen Gedächtnißtafel bewahrt und nach Belieben sogleich oder später mit vollkommenster Stimmennachahmung wiederholt. Eine solche Maschine könnte, wie man sieht, der Stimme einer berühmten Sängerin über deren Grab hinaus Dauer verleihen; sie könnte den Dialog einiger ausgezeichneten Schauspieler fixiren und das Sprüchwort. „Die Nachwelt flicht den Mimen keine Kränze“ für einen gegebenen Fall in Frage stellen. Damit sieht sich wieder einmal ein alter Herzenswunsch der Menschheit erfüllt, denn die Bemühungen, eine sprechende oder singende Maschine zu Stande zu bringen, sind so alt, wie die Geschichte.
Alte Schriftsteller erzählen uns bereits von sprechenden und singenden Figuren aus Gold, die an den Decken der babylonischen und griechischen Paläste und Tempel angebracht waren, von sprechenden Köpfen, welche den Menschen die Zukunft und den Willen der Götter verkündeten, ärmliche Abschlagszahlungen des Problems, bei denen die menschliche Sprache durch versteckte Röhren in die Figuren und Köpfe geleitet wurde, zur Täuschung leichtgläubiger Personen. Endlich im dreizehnten Jahrhundert soll Albert von Bollstädt, der Bischof von Regensburg, den man wegen seiner außerordentlichen Kenntnisse den Großen nannte, jene Aufgabe der mechanischen Stimmennachbildung völlig gelöst und eine Figur angefertigt haben, die seinen Besuchern nicht nur die Thür öffnete, sondern sie auch mit verständlicher Stimme begrüßte. Aber als ihn der (trotz seines Unglaubens in Sachen der unbefleckten Empfängniß) unter die Heiligen versetzte Thomas von Aquino eines Tages besuchte, entsetzte er sich dermaßen vor dem sprechenden Automaten, daß er das Teufelswerk mit seinem Stocke in Stücke schlug und dadurch, wie die Sage berichtet, dem Künstler die schmerzliche Klage auspreßte. „Da geht die Arbeit von dreißig Jahren zu Grunde.“
Wie es sich hiermit nun auch verhalten haben mag, die Ansicht, daß die menschlichen Stimmwerkzeuge auch nur ein Instrument, wie eine Flöte oder Orgel seien, machte sich früh geltend, und ebenso früh erschien Mechanikern und Naturforschern der Gedanke verführerisch, ein solches Instrument zu erbauen. In jenem astronomischen Märchen, von welchem die „Gartenlaube“ im vorigen Jahrgang (Nr. 14) Näheres mittheilte, in der Mondreise, sprach der große Kepler seine Ueberzeugung aus, daß es der Mechanik einst sicher gelingen werde, die menschliche Stimme nachzubilden nur fürchtete er, daß der Kunststimme die [170] musikalische Geschmeidigkeit der Menschenstimme fehlen möchte, daß sie jenen hohlen, unmelodischen Klang behalten würden, den man ehemals den Geisterstimmen beilegte, und in dem Kepler den Dämon seiner Mondreise sprechen läßt.
Mehr als hundert Jahre später war das Problem noch nicht gelöst, aber die Zuversicht der Physiker war darum nicht schwächer geworden. Im Juni 1761 schrieb der berühmte Mathematiker Euler, damals Professor in Berlin, in seinen zur Einführung in die Physik noch heute geschätzten „Briefen an eine deutsche Prinzessin“: „Es wäre wohl eine der wichtigsten Entdeckungen, wenn man eine Maschine bauen könnte, welche im Stande wäre, alle Klänge unserer Worte mit allen Articulationen nachzuahmen. Wenn man es je dahin bringe würde, eine solche Maschine auszuführen, und man im Stande wäre, sie durch Tasten, wie bei einer Orgel oder dem Claviere, alle Worte aussprechen zu lassen, dann dürfte wohl alle Welt mit Erstaunen zuhören, wie eine Maschine ganze Sätze oder Reden vorträgt, die man mit dem schönsten Ausdrucke begleiten könnte. Prediger und Redner, deren Stimme nicht gerade angenehm ist, könnten dann ihre Reden auf einer solche Maschine abspielen, gerade wie ein Organist Musikstücke spielt. Die Sache scheint mir nicht unmöglich.“
Euler wies in demselben Briefe zugleich den Weg, den man bei diesen Versuchen einschlagen müßte. Er erinnerte daran, daß sich an manchen Orgeln ein Register befindet, welches man die menschliche Stimme (Vox humana) nennt, weil der Zusammenklang der dabei wirkenden Pfeifen sich so anhört, als ob ein Mensch die Melodie auf ä singe. Er hatte vorher gesagt, daß der Klang der verschiedenen Vocale, wie man sich leicht durch Selbstbeobachtung überzeugen kann, hauptsächlich von der Gestalt abhängt, die man der Mundhöhle giebt, und er meinte deshalb, daß man durch verschiedene Gestaltnachahmungen in den Pfeifen ohne besondere Schwierigkeit auch die übrigen Vocale würde hervorbringen können. Die Hauptschwierigkeit erkannte er bereits in der Nachbildung der Consonanten.
Wie es in der Ordnung ist, versuchte man sich zuerst in der Nachahmung von Thierstimmen. In den siebenziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verfertigten die Gebrüder Le Droz in Chaux de Fonds zuerst für den König Ferdinand den Sechsten von Spanien einige Thierfiguren, die ihre Stimme täuschend erschallen ließen. Da war ein Schaf, welches vollkommen naturgetreu blökte, ein Hund, der einen Korb mit Früchten bewachte und, sobald eine Frucht hinweggenommen wurde, heftig zu bellen anfing und damit nicht eher nachließ, bis sie wieder an dieselbe Stelle zurückgelegt worden war, ein singender Vogel und dergleichen noch heute vielfach nachgeahmte automatische Kunstwerke, die jetzt namentlich von den Uhrmachern in Genf und Neuenburg angefertigt werden.
Im Jahre 1779 stellte die Petersburger Akademie, wahrscheinlich auf Veranlassung des inzwischen an dieselbe zurückberufenen, leider erblindeten Professor Euler, die Erforschung der Vocalbildung und die Herstellung einer Maschine, um dieselbe nachzuahmen, als akademische Preisaufgabe. Die Vocale entstehen, wie die dadurch veranlaßte und besonders die später von Chladni angestellten Vesuche ergaben, erst durch Modulation des Stimmritzentons an den Wandungen der Mundhöhle. Wenn der in der Stimmritze erzeugte, höhere oder tiefere musikalische Ton frei in diese Höhlung hinein- und ebenso frei wieder heraustreten kann, so nimmt der Klang die Färbung des Vocals a an. Wird jedoch während des Tönens die vordere Oeffnung mehr und mehr geschlossen, während die Eintrittspforte unverengert bleibt, so geht der Klang (wie man leicht an sich selbst beobachten kann) allmählich aus a in o und endlich in u über. Bleibt der Mund umgekehrt vorne offen, während der hintere Eingang stufenweise verengert wird, so entsteht die Vocalfolge a, ä, e, i. Wird der Mund hinten und vorn zugleich verenget, so entstehen die Vocale ö und ü. Ohne nun diese Bewegungen nachzuahmen, versah der Physiker Kratzenstein fünf Zungenpfeifen mit durch Probiren hergestellten, unbeweglichen, hölzernen Mundhöhlen, bei denen das Verhältniß der vorderen und hinteren Mundöffnung zu einander so regulirt war, daß durch bloßes Anblasen dieser Pfeifen die fünf Vocale entstanden, wodurch er den erwähnten akademischen Preis gewann.
Um dieselbe Zeit nahm auch der Wiener Hofrath von Kempelen diese Versuche auf und bestrebte sich, indem er Vorrichtungen zur Erzeugung der Consonanten erdachte, eine wirkliche Sprechmaschine herzustellen. Er pflegte zu sagen, daß er zu diesem Zwecke die Mundöffnungen der Thiere studirt habe, in deren Stimme bestimmte Consonante vorherrschen, und daß er das b den Schafen und das m den Kühen abgelernt habe. Sein größter Fortschritt war, daß er mit den Pfeifen einen wirklichen, beweglichen Mund nebst einer Nase verband. Im Uebrigen machte seine Maschine im Sprechen fast dieselben langsamen Fortschritte, wie ein kleines Kind. Zuerst gelang es ihr nur, so einfache und leichte Worte mechanisch nachzubilden, wie sie die ganz kleinen Kinder hervorbringen, nämlich: Mama, Papa, Aula, Lama und ähnliche. Durch höchst anerkennenswerthe Bemühungen, die ihm leider nicht so viel Ruhm eintrugen, wie sein auf einer bloßen geschickten Täuschung beruhender Schachspieler, kam Kempelen allmählich immer weiter. Seine Versuche richteten sich, wie gesagt, zunächst auf eine Analyse der Consonanten. Er hatte wohl erkannt, daß dieselben nur Geräusche sind, welche den Vocallaut, so zu sagen, umkleiden, wenn derselbe nämlich auf seinem Wege Hindernissen, Vorsprüngen etc. begegnet, oder sich durch schmale Spalten, längere Röhren etc. hinausdrängen muß. Das m kam gleich zu Anfang ausgezeichnet schön aus der Kunstnase, dagegen machte das durch plötzliche Oeffnung des Mundes hervorgebrachte b und p anfangs Schwierigkeiten, und das Maschinenkind nannte seinen Vater ursprünglich mit der größten Hartnäckigkeit „Pha–Pha“, wie es den alle Vocale stark aspirirte. Dem entspreched kam das h bei jedem plötzlichen Luftstoß sehr deutlich aus den Vocalpfeifen, und es mußte sogar alle Sorgfalt darauf verwendet werden, daß es nicht an unrechter Stelle auftrat.
Die Consonanten, welche durch Verengerung der Lippen und Hindernisse im vordern Mundtheile gebildet werden, wie w, f, s, j, sch und ähnliche, ließen sich deutlich nachbilden, und selbst das r, welches einzelnen kleine Kindern so viele Schwierigkeiten bereitet, wurde mit große Virtuosität hervorgebracht. Dagegen begegnete die Nachbildung derjenigen Consonanten, welche kurz nach einander Verengerung und plötzliche Erweiterung der vordern oder hinteren Mundtheile erfordern, wie d, t, g, k, den größten Schwierigkeiten. Schließlich brachte Kempelen eine Maschine zu Stande, deren in einem drei Fuß langen Kasten enthaltenen und von einem mit der Hand bewegten Blasebalge angeblasene Pfeifewerke mittelst einer Claviatur, deren Tasten den Buchstaben entsprachen, gespielt werden konnte, und welche auf Verlangen einfache Worte und Sätze ungefähr mit der Stimme eines zwölfjährigen Mädchens nachsprach. Am besten gab die Maschine lateinische Worte wieder, excellirte aber auch in kurzen französischen Phrasen, wie z. B.: Vous êtes mon ami oder Venez avec moi à Paris! etc., wobei der fremde Accent zuweilen überraschend treu gelang. Ueberhaupt erklang die Sprache oft so täuschend menschlich aus dem Kasten, daß viele Personen, denen die Maschine gezeigt wurde, mit Unrecht eine Täuschung, wie bei dem Schachspieler, argwöhnten und die Meisten unwillkürlich das Gesicht der Maschine zuwenden mußten, sobald sie ihr Geplauder begann.
Gleichwohl versagten die Fähigkeiten der Maschine einzelnen Worten gegenüber gänzlich; andere verlangten eine so sorgfältige Behandlung des Blasebalges, der Tasten und sogar der Pfeifenmundstücke mit der Hand, daß kein Anderer als der Erfinder selbst sie hervorbringen konnte, und endlich gab er alle weitere Vervollkommnungsversuche mißmuthig auf. Seine Maschine ist später durch die Physiker Willis in Cambridge und Posch in Berlin vereinfacht worden, und auch der englische Physiker Wheatstone hat den Versuch, durch bewegliche Zungenpfeifen die menschliche Sprache nachzuahmen, noch einmal aufgenommen. Wheatstone’s Maschine sprach geläufig lateinisch, italienisch und französisch, aber das Deutsche wurde ihr sehr schwer, und bei einzelnen Buchstaben mußte, gerade wie bei der Kempelen’schen Maschine, die Hand nachhelfen, um den Laut glücklich zur Welt zu bringen.
Alle diese Versuche sind weit übertroffen worden durch die von dem Wiener Mechaniker Faber vor circa dreißig Jahren angefertigte Sprechmaschine, die, in dem Körper einer meschlichen Figur verborgen, allgemeine Bewunderung erregte, da sie ebensowohl leise flüstern wie laut und ausdrucksvoll sprechen, wie
[171][172] auch singen kann. Sie enthält eine vollkommene Nachahmung der menschlichen Sprachwerkzeuge, wobei denn auch statt der Zungenpfeifen als Tonwerkzeug eine wirkliche, aus Kautschuk nachgebildete Stimmritze dient, wie solche schon früher von dem berühmten Berliner Anatomen Johannes Müller bei seinen Untersuchungen über den Mechanismus der menschlichen Stimme benützt worden war. Ein gewöhnlicher Blasebalg, dessen langsame oder stoßweise Luftausgabe sich sehr genau beherrschen läßt, vertritt auch hier die Lunge. Der von ihr hervorgebrachte Luftstrom setzt zwei Kautschukbänder, welche, über die Luftrohrmündung gespannt, eine enge Spalte bilden, in Schwingungen, indem die Spalte durch die Elasticität der Bänder immerfort neu geschlossen und durch den Luftstrom sogleich wieder geöffnet wird. Je öfter dies in einem bestimmten Zeitabschnitte geschieht, um so höher wird der dadurch erzeugte Ton.
Um nun durch ein und dieselbe Stimmritze Töne von verschiedenen Höhen hervorzubringen, läßt Faber die Stimmbänder gerade wie im menschlichen Kehlkopfe einen ganz spitzen Winkel mit einander bilden, sodaß die Stimmritze die Form eines sehr schmalen und spitzen Dreieckes zeigt. Durch eine besondere Vorrichtung können ferner die Stimmbänder an dem engsten Theile der Spalte an einander gedrückt werden, wodurch der schwingende Theil der Bänder verkürzt und der Ton nach Belieben erhöht werden kann. Dieser einfach gleichförmige musikalische Ton erhält nun in einer durchaus der menschlichen nachgebildeten und in allen Theilen beweglichen Mundhöhle den Vocalklang und die nothwendige Articulation, und man sieht an dem Munde der sprechenden Figur, daß alle Bewegungen naturgetreu vollführt werden, so z. B. bemerkt man das Zittern der Zunge, wenn sie das r ohne Schnarren deutlich ausspricht. Kurz, Faber hat das Problem so vollständig wie möglich gelöst; die Sprache klingt nicht wie aus einem hohlen Fasse (nach Kepler’s Befürchtung), sondern ist sehr ausdrucksvoll, aber so leicht ist der Apparat nicht zu handhaben, daß sich Prediger, Abgeordnete und Lehrer mit widerspänstigem Organe seiner nach Euler’s gutgemeintem Vorschlage bedienen könnten.
Wie mit einem Zauberschlage ist seit wenigen Monaten in dem Telephon eine neue und höchst vollkommene Sprechmaschine in Aller Hände gelangt. Denn die Sprache wird in demselben keineswegs als solche fortgeleitet, sondern neu auf mechanischem Wege erzeugt, und zwar einfach von einer einzigen schwingenden Metallscheibe. Wenn die älteren Mechaniker und Physiker, die Jahrzehnte daran gesetzt haben, die Vocale und Consonanten mühsam durch complicirte Pfeifen hervorzubringen, auferstehen und dies hören könnten, so würde ihnen das wohl einen ganz anderen Eindruck machen, als der gegen physikalische Wunderleistungen sehr abgehärteten Mitwelt. Da die neuere Wissenschaft vom Schalle eine Menge Apparate erdacht hat, die Schallschwingungen aufzuzeichnen, ja sie sogar zu photographiren, so lag der Gedanke nahe, die Schwingungen des Telephonplättchens ebenfalls von ihm selbst aufzeichnen zu lassen, vielleicht um dadurch die mündliche Depesche in eine schriftliche zu verwandeln, die doch am Ende sicherer ist, „denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen“. Der amerikanische Physiker A. Edison machte sich also daran, einen solchen Phonographen oder mechanischen Klangschreiber herzustellen. Aus dem Schallplättchen eines Telephons, oder eines einfachen Mundstückes, welches fest vor einer drehbaren Walzentrommel angebracht ist, befestigte er senkrecht einen kleinen Metallstift, der bei jeder Schwingung die Trommelfläche berühren muß. Diese Trommelwalze kann nun durch ein Uhrwerk mit der größten Regelmäßigkeit vor dem Stifte so bewegt werden, daß sie sich nicht nur um ihre Achse dreht, sondern gleichzeitig langsam vor der Schallplatte mit ihrem Zeichenstifte vorbeischiebt. Der Letztere wird mithin, wenn die Schallplatte durch den elektrischen Strom oder direct durch die Stimme in Schwingungen versetzt wird, auf der Walzenfläche eine Folge von Punkten markiren, die in einer engen Schraubenlinie um die Walze herumlaufen. Diese Punkte müssen offenbar in ihrer gegenseitigen Entfernung genau den Tonschwingungen entsprechen, mit denen die Platte angesprochen wird, und es ist kein Zweifel, daß man mit Geduld und Vergrößerungsgläsern diese Punktschrift auch lesen und entziffern lernen würde.
„Indessen, wozu sich unnütz anstrengen?“ fragte Herr Edison. „Eine schwerleserliche Handschrift reicht man am besten dem Autor mit der Bitte, vorzulesen, und wenn jene Punkte ein getreuer Abdruck des Lautes sind, so muß letzterer sich auch daraus wieder herstellen lassen; die Maschine muß am besten selbst lesen können, was sie geschrieben hat.“ Um dies zu ermöglichen, bekleidete der Erfinder seine Walze statt mit einer anderweitigen Schreibfläche mit einem Stanniolblatte, welches um so leichter die Punktirung der schwingenden Nadel aufnimmt, als es auf einer feinen Schraubenrinne der Walzenoberfläche, die genau dem Gange des Stiftes entspricht, hohl aufliegt. Der schwingende Stift kann darauf besser wirken und zähnelt eine Schablone aus, die also graphisch genau diejenige Rede oder den Gesang, in Schwingungspunkte aufgelöst, wiedergiebt, die in dem Mundstücke des Apparates ertönten.
Um den Inhalt dieser Schrift von der Maschine vorlesen oder vorsingen zu lassen, ist nun nichts weiter nöthig, als die Walze nochmals mit gleicher Geschwindigkeit vor einem kleinen Lesestift vorbeigehen zu lassen, der, dem Schreibstiftchen ganz gleich, auf einer Schallplatte sitzt und sich von diesem nur dadurch unterscheidet, daß ihn eine schwache Feder in die Vertiefungen des Stanniolblättchens hineindrückt. Die Leseplatte muß in Folge dessen genau die gleichen Schwingungen vollführen, wie die Schreibplatte, folglich den Stimmklang mit allen seinen Eigenthümlichkeiten getreu wiedergeben. Natürlich muß das Uhrwerk einen genau gleichmäßigen Gang haben, denn bei schnellerem könnte es passiren, daß die Baßstimme des Redners in den Discant seines jüngsten Söhnchens verwandelt würde, daß er sich also um dreißig Jahre verjüngt zu hören glaubte.
Obwohl diese Leistungen der Theorie nach erfolgen müssen, hat man doch Mühe, an das Wunder zu glauben, bei welchem mit den einfachsten Mitteln unendlich mehr erreicht wird, als man jemals auch nur im Traume gehofft hat. Schon die ersten Versuche des Erfinders waren aber so erfolgreich, daß bei dieser Maschine kein in ihr Bereich fallendes Problem unmöglich erscheint. Ohne Schwierigkeit spricht sie deutsch oder englisch, welche Sprachen den complicirtesten Sprachmaschinen nicht aus der Kehle kommen wollten, und kein Zweifel, sie würde ebenso leicht chinesisch und hottentottisch sprechen. Ein amerikanisches Journal erzählte vor einigen Wochen, daß der Erfinder eines Tages in das Redactionslocal gekommen sei, den Phonographen auf den Tisch gestellt und eine Kurbel gedreht habe. „Sogleich erkundigte die Maschine sich so deutlich, daß es ein Dutzend rings umherstehender Personen vernehmen konnte, nach unserem Befinden („How do you do?“), fragte darauf, ob wir den Phonographen lieb hätten, bemerkte, daß sie sich wohl befände. und wünschte uns zum Schlusse eine herzliche gute Nacht.“ Was muß man nicht Alles von einer Maschine erwarten, die so anfängt und schon in den ersten Monaten ihres Daseins so viel leistet? Gedichte mit der Stimme des Dichters, Testamente mit derjenigen des Erblassers vorlesen zu lassen, wäre eine Kleinigkeit. Wichtige Thron- und Parlamentsreden können als Phonogramme versandt werden, und ein neuer Demosthenes könnte seine sämmtlichen Reden in Zinn herausgeben. Euler’s Wunsch ist hier mehr als erfüllt, denn nicht blos schlechte, sondern auch gute Kanzelredner könnten bei eingetretener Heiserkeit ihre Predigt vom Küster abdrehen lassen. Die Tage der rothen Theaterzettel scheinen gezählt, denn gesetzt, Helmerding würde plötzlich unpäßlich, so ließe er seine Stimme gastiren und ein anderer Schauspieler schnitte seine freilich unnachahmlichen Gesichter dazu. Ein Engländer hat vorgeschlagen, zu derartigen für die Nachwelt aufzuhebenden Reden und Dialogen das Mienenspiel in einer entsprechenden Folge zu photographiren und die Bilder zu einer sogenannten stroboskopischen Scheibe zu verbinden, sodaß man die Person in ihrem Mienenspiele vor sich sehen könnte, während man sie reden oder singen hörte, und mit diesem Non plus ultra von Zukunftsspaß wollen wir für heute diese hoffnungsvolle Perspektive schließen.
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Es ist ein stiller, traulicher Platz, mein Garten, wie er sich für einen träumerischen alten Mann eignet, der den Rest seiner Tage in Ruhe und Zurückgezogenheit zuzubringen gedenkt. Einige gut gehaltene Rasenstücke, von alten und großen Obst- und Zierbäumen überschattet, viele Centifolien, remontirende Rosen- und Syringenbüsche und im Sommer auf beiden Seiten der Wege eine ziemliche Anzahl von Granaten-, Oleander-, Orangen- und Feigenbäumen in höchst primitiven Gefäßen, eine große Porch hinter dem Hause, mit mächtigen Schlingpflanzen überwachsen – das ist Alles, und doch möchte ich nicht meinen einfachen Garten mit manchem andern, der prachtvoll und mit großen Kosten angelegt wurde, vertauschen. Im Mai, wenn die Syringen-, Aepfel-, Kirschen- und Pfirsichbäume in Blüthe stehen, und dann gar in seiner Glanzzeit im Juni, wenn die Rosen blühen, eine mächtige Bignonie im Hintergrunde mit weißen Bouquets bedeckt ist, weiter vorn die Granaten und Oleander in Scharlach und Rosenfarbe wahrhaft glühen und ganz vorn ein stattlicher Baum, dessen Namen ich nicht kenne und von dem ich das Samenkorn aus Nicaragua erhielt, seine enormen citrongelben Blüthenbüschel wie Feuerflammen aus dem dunkelgrünen Laube in die Höhe streckt, dann erlaube ich mir sogar ein wenig stolz auf mein Tusculum zu sein. Wenn dann auch hier und da eine schwarze Schlange eine Erdbeere von den Beeten nascht, so möge das die schönen Leserinnen nicht abschrecken einzutreten und sich ein Sträußchen zu pflücken, wenn sie die Lust dazu anwandeln sollte, da diese Schlangen schon sehr selten geworden und unschädlich sind.
Was mir aber meinen Garten vor Allem lieb und werth macht, sind außer dem dichten kühlen Schatten, den er in unseren heißen Sommermonaten spendet, meine lieben Singvögel, von denen sich eine große Menge von mancherlei Arten unter meinem Schutze in den Bäumen und Büschen angesiedelt hat, aber ich bin auch nicht wenig um sie besorgt und bemühte mich, ihnen ihren Aufenthalt so sicher und angenehm zu machen, wie es mir nur immer möglich war. So habe ich an allen geeigneten Orten Brütkästchen angebracht, streue ihnen zuweilen Körnerfutter oder Mehlwürmer und tödte alle fremden Katzen und sonstige Raubthiere, welche sich in den Garten wagen, nachdem ich meine beiden großen schwarzen Katzen mit vieler Mühe gewöhnt, daß sie ganz gravitätisch im Garten spazieren, ohne sich nur darnach umzusehen, wenn die Vögelchen vor ihnen im Grase herumhüpfen. Meine kleinen Schützlinge entschädigen mich aber reichlich für die ihnen gewidmete Sorgfalt dadurch, daß ich ihre schönen Formen und Farben ganz in der Nähe betrachten, ihr lustiges Liebesleben, sowie ihre kleinen Haushaltungssorgen beobachten und mich den ganzen Tag an ihrem zum Theil vortrefflichen Gesange erfreuen kann. Sie sind alle im Laufe der Zeit mehr oder weniger zahm geworden.
Von diesen meinen kleinen Schutzbefohlenen will ich heute ein wenig erzählen, und zwar der Reihe nach, wie sie im Frühjahr aus ihrem Winteraufenthalt im Süden zurückkommen.
Schon im Anfange des Februar, wenn der Südwind Schnee und Eis ein wenig schmelzen macht, lassen sich die melancholischen Noten des Blauvogels hören, und er bleibt dann hier, wenn auch später wieder wochenlang Alles in hartem Froste erstarrt. Es geht ihm dann zuweilen herzlich schlecht, und Gott weiß, wie er sein Bischen Nahrung finden mag, wenn es noch keine Insecten giebt und der Grassamen, den er aus Noth aufsucht, von den Winterstürmen verweht ist. Man hört dann auch überall den leise klagenden Gesang dieser armen Vögel, der beim wirklichen Eintritt des Frühlings gänzlich verstummt. Als die zuerst Ankommenden nehmen sie das Prioritätsrecht in Anspruch, sich die bequemsten und am besten gelegenen Nistplätze auszusuchen, und es finden darüber jedesmal hitzige Streitigkeiten mit den später Kommenden statt. Es sind kleine rundliche ungefähr fünf Zoll lange Vögel; Kopf, Rücken, Flügel und Schwanz schön mittel- oder königsblau. Brust und Bauch beim Männchen rostroth, beim Weibchen bläulichgrau. Ihr Gesang ist nicht angenehm genug, um sie deswegen im Käfige zu halten, und ihre schönen Farben allein konnten mich nicht dazu veranlassen, da ich sie zur Genüge den größten Theil des Jahres im Garten und auf allen Straßen sehen kann.
Um mehr als einen Monat später, wenn die Sonne schon an einzelnen Tagen ihre belebende Wärme fühlen läßt, kommt der Robin redbreast aus seinen Winterquartieren hier an, muß aber manchmal noch, ebenso wie der Blauvogel, bittere Noth leiden, da um diese Zeit weder Würmer und Insecten noch Baumfrüchte, welche seine gewöhnliche Nahrung bilden, aufzufinden sind, und er sich in der Zwischenzeit mit allerhand Nothbehelfen kümmerlich durchbringen muß. Es geht deswegen auch jedes Jahr eine Menge dieser Vögel zu Grunde, aber immer bleiben noch mehr übrig, als den Winzern lieb ist, da sie zwar nicht schaarenweise wie die Staare, jedoch einzeln in großer Menge in die Weinberge einfallen und großen Schaden an den reifen Trauben anrichten. Es gehört dieser Vogel zum Geschlecht der Drossel und ist ungefähr neun Zoll lang; Kopf, Rücken, Flügel und Schwanz sind graubraun, Brust und Bauch rostroth. Sein Gesang, wenn man seine kurz abgebrochenen, rauh klingenden Töne so nennen darf, ist nichts weniger als angenehm.
Der Vogel hält damit oft eine halbe Stunde lang an und besonders am Abend, bevor er sich zur Ruhe begiebt, singt er lebhaft. Wenn nun schon seine Stimmmittel manches zu wünschen übrig ließen und er sich im Herbste an den Trauben meiner Rebelaube mehr zu schaffen macht, als recht und billig wäre, so möchte ich doch nicht gern das Pärchen missen, welches schon seit manchem Jahre in einem Virginia Creeper (Bignonia radicans) in meinem Garten nistet und brütet, da diese befiederten Gäste ganz außergewöhnlich zahm und zutraulich sind, und zwar so sehr, wie ich dies noch bei keinem anderen Vogel in der Freiheit bemerkte. Er weicht nicht vom Platze, wenn ich hart an ihm vorbeigehe, folgt mir auf Schritt und Tritt im Garten nach, wenn ich etwas im Boden arbeite, und liest alle Würmer, Insecten und Larven, die sich in der frisch aufgeworfenen Erde vorfinden, gierig auf.
Ziemlich zugleich mit dem Robin redbreast erscheint die Prairielerche, ein Mittelglied zwischen Lerche und Wachtel, ungefähr sieben Zoll lang mit etwas hohen Beinen, ziemlich langem Schnabel und ganz kurz abgestutztem Schwänzchen, ein etwas plumper rundlicher Vogel, auf dem Kopfe, dem Rücken und den Flügeln hellbraun mit etwas dunklerer Zeichnung, ungefähr wie die europäische Wachtel, an Brust und Bauch lebhaft goldgelb, das Männchen mit glänzend schwarzem Barte; beim Weibchen ist das Gelb am Bauche weniger lebhaft. Auch dieser Vogel darf nicht zu den Virtuosen ersten Ranges gerechnet werden, obschon die Eingeborenen, die mit einem eigenthümlich musikalischen Sinn begabt sein müssen, seinen Gesang, der nur aus einigen weinerlich klingenden, oft wiederholten Noten besteht, angenehm finden. Er hält sich übrigens nur bei seiner Ankunft in den Gärten nahe bei den Wohnungen auf und nimmt seinen Sommeraufenthalt auf dem Ackerfelde und den weiten Prairien.
Sobald im April die ersten warmen Tage eintreten, kommen die schwarze und rothflügeligen Staare, der Spottvogel und die Rothdrossel an. Nur die beiden letzten Arten nehmen theilweise ihren bleibenden Sommeraufenthalt in den Gärten, während die ersten sich nur ein paar Tage lang darin herumtreiben und bald das Weite suchen. Etwas später, aber immer noch bevor die Obstbäume blühen und die anderen Bäume belaubt sind, hört man einen kleinen, unscheinbar grauen Vogel singen. Sein Gesang besteht aus einer Strophe von fünf bis sechs lang angehaltenen Noten und hat einigermaßen Aehnlichkeit mit jenem der Walddrossel. Das Vögelchen scheint nur auf der Durchreise nach weiter nördlich gelegenen Ländern hier Rast zu halten, da man schon vierzehn Tage später seinen reizend schönen Gesang vermißt und den Sommer über nicht mehr zu hören bekommt.
Wenn nun aber in den ersten Tagen des Mai der Frühling mit Macht und wie mit einem Zauberschlage eintritt und sich Bäume und Büsche in wenigen Tagen mit Grün und Blüthen schmücken, kommen auch mit ihm zu Hauf die Sänger, die ihn verherrlichen helfen. Es sind dies so viele und mannigfaltige, daß ich mich nur auf diejenigen beschränken muß, die sich durch ihren Gesang und ihr schönes Gefieder besonders bemerklich machen. Es sind dies hauptsächlich:
Der Baltimore-Oriol, Kopf, Flügel und Schwanz schwarz mit gelber Zeichnung, Brust und Bauch orangeroth, oder besser gesagt: feuerfarbig; das Weibchen etwas weniger lebhaft gefärbt. Bei seiner Ankunft stehen gewöhnlich schon die Aepfelbäume in voller Blüthe, und er ist dann den ganzen Tag über beschäftigt, [174] eine Blüthe nach der andern nach den darin hausenden Käferchen und kleinen Insecten abzusuchen, läßt aber dabei fortwährend seinen glockenreinen flötenden Gesang hören, dessen hauptsächlichste Strophe wie: „Tiu, Tiu Ti“ lautet. Von seiner beständigen Beschäftigung mit den Aepfelblüthen nimmt er deren Geruch so vollständig an, daß eine präparirte Haut dieses Vogels drei Monate nachher, nachdem ich ihn getödtet hatte, ganz den intensiven Duft dieser Blüthe beibehielt. Im Käfige ist er nicht wohl zu erhalten, da er sich blos von äußerst kleinen Insecten nährt. Ein Versuch, drei Junge aufzuziehen die ich noch fast nackt aus einem Neste in meinem Garten genommen hatte und in einem Käfige an das offene Fenster stellte, mißlang ganz und gar. Sie nahmen durchaus kein Futter, welcher Art es auch sein mochte, von mir an, wurden aber getreulich von den beiden alten Vögeln, welche den ganzen Tag ab- und zuflogen, geätzt und gefüttert, bis sie vollkommen flügge waren, und es blieb mir am Ende nichts übrig, als den Käfig zu öffnen und ihnen die Freiheit zu geben. Wahrhaft zu bewundern ist die Art des Nestbaues dieser Vögel. Sie hängen es, fest angeknüpft, in der Form eines Beutels an die äußerste Spitze eines Zweiges, hoch oben in die Baumwipfel. Die Innenseite des Beutels ist zu einer Art Filz von dem zartesten Moose und der feinsten Pflanzenwolle zusammengewirkt. Das Ganze ist ein kleines Meisterwerk.
Der Gartenoriol, ein sehr zierlicher, schlanker Vogel von gleicher Größe wie der vorige, überall lichtgelb mit kleinen braunen Federspitzen. Die Füße und der Schnabel sind bläulich. In seiner Lebensart hat er viel Aehnliches mit dem Baltimore-Oriol, seine Stimme ist aber bei weitem nicht so wohllautend, obwohl er mehr und anhaltender singt als jener. Ein langer Vogel dieser Art, den ich aufzog und mit gefangenen Stubenfliegen und kleinen Raupen ernährte, war ein trefflicher Turner.
Von dem Catbird habe ich schon an einem andern Orte gesprochen, und es bleibt hier nur noch zu erwähnen, daß außer ihm noch mehrere zum Geschlechte der Motacillen gehörige grasmücken- und bachstelzenartige Vögel meistens von grau und braun gemischten matten Farben ihre Sommerresidenz in den Gärten nehmen. Alle haben einen mehr oder weniger vortrefflichen Gesang, wenn auch keiner jenen des Catbird erreicht.
Ein außerordentlich niedliches und zierliches Vögelchen ist unser amerikanischer Zaunkönig, kaum vier Zoll lang, überall rothbraun mit schwarzen, fein gewellten Querlinien. Es trägt den Kopf und sein kurzes Schwänzchen immer stolz und steilrecht aufgerichtet, läßt von Morgens früh bis spät Abends fortwährend seinen dem Buchfinkenschlag ähnlichen Gesang hören und baut sein Nestchen in die Mauerlücken an den Häusern und Stallungen. Während einer langwierigen Krankheit, die mich einen ganzen Sommer lang in’s Zimmer bannte und während der ich den größten Theil des Tages im Schaukelstuhle am offenen Fenster zubrachte, hatte ein Pärchen dieser Vögel sein Nest hart neben meinem Fenster in ein kleines Loch in der Mauer gebaut, und ich gewöhnte sie nach und nach, mir gefangene Fliegen aus der Hand zu nehmen; das Männchen setzte sich zuweilen auf die Stuhllehne oder auf die Krempe meines Hutes und schmetterte lustig sein kleines Lied.
Schon zweimal während meines hiesigen Aufenthaltes kamen im Frühjahre große Flüge des Seidenschwanzes. Sie waren ganz der europäischen Art ähnlich und hatten ebenfalls jene kleinen hornartigen scharlachrothen Plättchen an den Flügelspitzen; nur kann ich mich nicht mehr mit Bestimmtheit erinnern, ob der europäische Seidenschwanz ebenfalls das breite gelbe Band über der Schwanzspitze hat, welches ich an denjenigen bemerkte, welche uns hier ihre kurzen Besuche abstatteten. Einmal kamen auch im Frühjahre auf wenige Tage Schaaren von Kreuzschnäbeln. Im Garten wimmelten alle Bäume von ihnen. Sie waren aber etwas kleiner, als ihre in Europa lebende Geschlechtsverwandten und ihr Gefieder auf schwärzlichem Grunde überall unregelmäßig dunkelroth, gelb und grün schattirt.
Von den aus Europa nach St. Louis und Belleville importirten Spatzen hatten sich auch einmal einige in meinen Garten verirrt, sie blieben aber ebenfalls nicht lange, und es möchte wohl hier am Platze sein, mitzuteilen was ich von dem Schicksal der nach St. Louis gebrachte europäischen Singvögel und Sperlinge erfahren konnte. Vor einigen Jahren wurde nämlich der auf der Südseite der Stadt gelegene schöne, schattenreiche Lafayettepark mit einigen hundert Nachtigallen, Lerchen, Buchfinken, Hänflingen, Distelfinken, Kohl- und Blaumeisen und endlich mit einer gleichen Anzahl von Sperlingen besetzt. Nur den ersten Sommer hielten sich die Singvögel an diesem reizend schönen Platze, jedoch ohne zu nisten und zu brüten. Nur ganz wenig Meisen sind geblieben und haben schon mehrmals gebrütet. Von allen Uebrigen, mit Ausnahme der Spatzen, ist auch keine Spur mehr vorhanden. Auch diese letzten scheint der idyllische Aufenthalt im Lafayettepark nicht befriedigt zu haben, und sie haben ihr Hauptquartier drei Meilen davon entfernt, beinahe am Nordostende der Stadt in dem noch ziemlich baumlosen kleinen Hydepark und den umliegenden, dicht bebauten und bevölkerten Stadttheilen aufgeschlagen, wo sie sich bei ihrer bekannten Fruchtbarkeit nicht wenig vermehrt und bis jetzt noch nichts von ihrer alten Frechheit und Ungezogenheit eingebüßt haben. Obwohl man nun allgemein ihre Nützlichkeit als Vertilger schädlicher Insecten anerkennt, wird ihnen doch zum Vorwurf gemacht, daß sie alle hier einheimischen Singvögel aus dem Parke vertrieben haben.
Ueber meine lieben Colibris, die größte Zierde und den lebendigen Juwelenschmuck meines Gartens, werde ich später einmal einige Mitteilungen machen.
Die ganze kleine Vogelwelt in meinem Garten lebt in Eintracht miteinander, und diese wird nur zuweilen gestört, wenn irgend ein anderer Vogel der Domäne der Colibris, dieser kleinen Heißsporne, zu nahe kommt, was aber immer bald wieder geschlichtet ist. Ein anderer Fall ist es, wenn ein junger Vogel zu früh ausfliegen will, und zur Erde fällt, wo sich dann ein allgemeines Lamento erhebt, bis ich, aufmerksam darauf geworden, die vorwitzige kleine Creatur wieder in ihr Nest gesetzt habe. Hat sich aber gar eine fremde Katze im Gebüsch versteckt und einen jungen oder alten Vogel erschnappt, so kommt die ganze Republik in Bewegung und Aufruhr. Die blauen Häher erheben ihr Kriegsgeschrei, und darauf kommt aus allen benachbarten Gärten, was Schnäbel und Federn trägt, zur Verfolgung des Räubers zusammen, und die Häher setzen ihm mit derben Schnabelhieben dermaßen zu, daß schon zum Oefteren das arme Schlachtopfer wieder aus den räuberischen Krallen befreit und gerettet wurde. Die kleineren Vögel erheben ein großes Geschrei, wobei sich besonders die allerkleinsten, wie die wilden Canarienvögel und Herr Zaunkönig, durch ihre Bravour auszeichnen; es dauert dann manchmal bis zum Abend, bis Frieden und Ruhe wieder hergestellt, und die Aufregung sich gänzlich gelegt hat. Ueberhaupt herrscht mit eintretender Abenddämmerung Stille im Garten, wenn nicht ein Spottvogel-Nachtsänger die ganze Nachbarschaft durch seine abwechselnden Melodien wach erhält, oder – später im Sommer – Grillen und Cicaden ihr nächtliches Concert anstimmen.
Ein interessantes Grabmal. (Mit Abbildung S. 171.) Unter den Kirchhöfen der Stadt Hannover ist es der bereits seit mehreren Jahren
geschlossene Garten-Kirchhof, welcher durch seine kunstvollen Denkmäler und eine Reihe hier gebetteter berühmter Personen – auch Charlotte Kestner (Werther’s Lotte) liegt hier begraben – das meiste Interesse erregt. Es sind aber nicht nur diese Eigenschaften, welche den Besuch des genannten Kirchhofes zu einem lohnenden machen, auch die Natur hat dazu ihren Tribut gezollt.
Wenige Schritte von der östlichen Seite des auf dem Kirchhofe stehenden einfachen Gotteshauses sieht man auf einem Stufenunterbaue, in schräger Lage, wie solches das Bild unseres Künstlers zeigt, einen imposanten Grabstein, der durch mächtige eiserne Sparren mit dem Unterbaue verbunden war. Das Monument, im Jahre 1782 erbaut, trägt außer den üblichen Familieninschriften an seinem Fuße die stolzen Worten: „Dieses auf ewig erkaufte Begräbniß darf nie geöffnet werden.“ (Siehe das Gedicht von Heinrich Seidel: „Auf ewig“ in unserer Nr. 12 vom Jahrgang 1873.)
Entgegen dieser menschlichen Bestimmung fand jedoch, vielleicht vom Winde verweht, das Samenkorn einer Birke Eingang in die Spalten der Steinfügungen des Unterbaues. Aus dem winzigen Samenkorne ist mit den Jahren ein starker üppiger Baum geworden, der nun, der stolzen Inschrift des Denkmals spottend, den schweren Oberbau desselben emporgehoben hat und unter demselben herausgewachsen ist. Die starken eisernen Sparren sind gesprengt und das Gefüge des Unterbaues auseinander getrieben worden. Das auf diese Weise geöffnete Grab erinnert den Beschauer an die Hinfälligkeit menschlicher „für die Ewigkeit“ getroffener Bestimmungen.
- ↑ Da die „Gartenlaube“ in den Nummern 36, Jahrg. 1876 und 40 des letzten Jahrgangs bereits ausführlichere Berichte über die Vorgänge in Lourdes und Marpingen mitgetheilt hat, glauben wir die Kenntniß des rein Thatsächlichen bei unsern Lesern voraussetzen zu dürfen. Eine solche Kenntnis aber reicht noch nicht aus zur Gewinnung eines vollen Urtheils über diese für unsere Zeit so beschämend traurigen und doch mit so unverschämtem Geräusche in’s Werk gesetzten Erscheinungen. Zur besonderen Freude gereicht es uns daher, das, Herr Professor Frohschammer in München auf unser an ihn gerichtetes Ersuchen die obigen kritischen Beleuchtungen den Leserkreisen unseres Blattes, darbietet. Es spricht also hier über die Sache eine namentlich auf diesem Gebiete anerkannt bewährte Autorität, ein durch Wissen, Geist und Scharfsinn ausgezeichneter Gelehrter und Schriftsteller, der als katholischer Priester schon mehr als ein Jahrzehnt vor dem vaticanischen Concil und vor der Entstehung des Altkatholicismus in vereinsamter Stellung entschieden den Kampf des deutschen Gedankens und der freien Wissenschaft wider Rom aufgenommen und trotz aller Verfolgungen bis zum heutigen Tage mit unentwegtem Mannesmuthe und immer frischer Geisteskraft geführt hat.
D. Red.