ADB:Lappenberg, Johann Martin
Samuel Christian L., hatte zuerst als Subrector der Domschule zu Bremen und dann als Pastor zu Hamelwörden im Lande Kedingen, seit 1759 zu Lesum, nördlich von Bremen, gewirkt und sich als Mitbegründer der bremischen Deutschen Gesellschaft durch einige Dichtungen, durch eine Controverse mit Lavater, durch Schriften über den Kreuzzug gegen die Stedinger, über die Geschichte des Herzogthums Bremen und die Reformation desselben bekannt gemacht. Sein Vater, Valentin Anton L., 1759 zu Lesum geboren, wurde Arzt in Hamburg, ein fein gebildeter Mann, der mit dem Astronom Olbers, dem Mediciner Hufeland, dem Geschichtschreiber Heeren befreundet war und in dem Kreise der Büsch, Reimarus, Perthes, Spekter, Sieveking verkehrte, in welchem seit Lessing’s Tagen das geistig rege Leben der alten Hansestadt weiter pulsirte, ein während der guten und bösen Tage, welche die französische Revolution und das Kaiserreich über dieselbe brachte, durch gemeinnützige sanitärische Schöpfungen, wie auch schriftstellerisch hoch verdienter Praktiker, der bei seinem Tode 1819 seiner Frau, einer Tochter des Syndicus G. Sillem, welche erst 1840 starb, nur einen Sohn, Johann Martin, hinterließ. Derselbe, in der Jugend kränkelnd und in sich gekehrt, besuchte während der französischen Occupation das unter der Leitung des trefflichen Philologen J. G. Gurlitt blühende Johanneum und ließ auf seine junge reizbare Seele die namhaften Freunde des Vaters einwirken, vor allem Spekter, einen Verehrer Kant’s und Goethe’s, der die Liebe zum Vaterlande, zu Kunst und Wissenschaft [708] in ihm wecken half. Indeß als der Jüngling bei der vorübergehenden Befreiung Hamburgs durch Tettenborn im März 1813 diesem gleich anderen jungen Leuten als Freiwilliger folgen wollte, widersprach der Vater wegen seines schwachen Körpers, gestattete ihm aber nicht ohne Fährnisse über Helgoland nach London, wohin die Hamburger auch während der Continentalsperre ihre alten Beziehungen aufrecht zu erhalten wußten, und weiter nach Edinburgh zu reisen, um an diesem Sitze der Wissenschaften, der einige Zeit vorher schon den jungen Niebuhr angezogen, nach des Vaters Wunsche mit dem Studium der Arzenei den Anfang zu machen. Da ihn jedoch Davoust’s Schreckensherrschaft von der Heimath absperrte, hatte er sich in der Fremde, so gut es ging, durchzuschlagen, kam aber, indem er Schotten und Engländer unterrichtete, auf selbständige Beschäftigung mit deren Litteratur und Geschichte, die ihn sofort mehr anzogen als die Naturwissenschaften. Er wurde alsbald schriftstellerisch thätig, indem er einen Aufsatz des Vaters über afrikanische Sprachen für Constable’s Edinburgh Magazine 1813 ins Englische übersetzte und 1815 in London eine Uebertragung von J. B. Say De l’Angleterre et des Anglais mit eigenen Anmerkungen herausgab. Gleichzeitig empfing er tief nachhaltige Eindrücke des eben von Walter Scott mit romantischem Zauber umwobenen nordbritischeu Landes, bei einem Aufenthalte in London der dortigen Kunstsammlungen, der großartigen wirthschaftlichen und politischen Organe des öffentlichen Lebens der Britten. Es wurde ihm freundliche Aufnahme bei geistigen Größen zu Theil, bei Dugold Stuart, dem Edinburgher Philosophen, Sir James Macintosh, dem liberalen Politiker und Geschichtschreiber, bei Sir Walter Scott selber, bei Wordsworth, dem dichterischen Haupte der Seeschule, James und John (Christopher North) Wilson u. a. m. Endlich gar durch die zarte Neigung zu einer jungen Dame guter Herkunft gefesselt, war er rasch entschlossen, die vom Vater gewünschte ärztliche Laufbahn fahren zu lassen und eine staatsmännische einzuschlagen. Mit der sanguinischen Hoffnung zur Zeit der allgemeinen Neubildung im Jahre 1815 gar in englische Dienste zu gelangen, hat er sich, freilich vergeblich, bei Lord Castlereagh und Graf Münster um Verwendung bemüht. Erfüllt mit so hochfliegenden Lebensplänen, bezog er im October die Universität Berlin, um Rechts- und Staatswissenschaften zu studiren. Wie empfindlich ihn auch die Ernüchterung in der ihm wenig zusagenden preußischen Hauptstadt berührte, wie sehr er auch fernerhin litterarischem Genuß und der eigenen wehmüthig schwärmerischen Stimmung nachhing, er hatte doch auch hier sich an der Gesellschaft edler und bedeutender Männer zu erfreuen, setzte aber seit Sommer 1816 seine Studien mit Eifer in Göttingen fort. Neben dem römischen Recht erwärmte er sich durch eingehende Beschäftigung mit Justus Möser für deutsches Recht und deutsche Geschichte. Noch immer aber hatte der Magnet in Schottland seine Anziehung nicht verloren. Nachdem L. am 23. October die Würde eines Doctors beider Rechte erworben, eilte er noch einmal über den Kanal, um durch eine persönliche Empfehlung an den Prinzen Leopold von Koburg, den Gemahl der Erbin des brittischen Thrones, sein Glück zu versuchen, kehrte aber tief erschüttert und um die Erfahrung reicher zurück, daß seine Stelle nicht in der Fremde, seine Braut nicht in Schottland zu holen war. Obwol sein Schmerz durch Eintritt in das Vaterhaus und die Advocatur, durch Beschäftigung mit dem lebendigen Rechte der Heimath, über welches er Beiträge in das Handeldrechtliche Archiv, Band I, lieferte, durch Verkehr in einem Kreise, aus welchem der spätere Geschichtsverein hervorgehen sollte, durch eine Schweizerreise und durch gelegentlichen Besuch der Falck, Hegewisch, Dahlmann in Kiel einigermaßen gelindert und zerstreut wurde, so erhielt sein Leben doch erst eine andere Wendung, ald er bald nach dem Tode des Vaters zu Anfang 1820 als erster hamburgischer Geschäftsträger [709] nach Berlin geschickt wurde. Hier folgte er fortan mit offenen Augen und ernster Arbeit den großen Gegensätzen und Verwickelungen der Restaurations- und Revolutionsepoche, ohne freilich je eigentlichen Geschmack weder der Politik, noch dem Diplomatenleben abzugewinnen. Liefen auch seine politischen Ideen den Wandlungen der Zeit parallel, so gewannen sie doch bereits einen festen conservativen Untergrund. Er beschäftigte sich immer noch viel zu sehr mit sich selber und hing einem unbefriedigten Ehrgeiz nach. Eine leidenschaftliche Neigung machte ihn nochmals tief unglücklich. Sein Thun und Treiben aber wurde wie bisher durch emsiges Eindringen in Poesie und Litteratur der verschiedenen Zeiten und Völker veredelt und festigte schließlich den längst vorhandenen sittlichen und religiösen Halt seines Wesens. Ueber alle Lectüre, über den Verkehr mit den Arnims, Varnhagen, dem Mendelssohn’schen Hause hinaus jedoch übte, wie er gern dankbar bekannte, auf seine Geistesbildung und Thätigkeit der nähere Umgang mit Savigny den bedeutendsten Einfluß. Das Interesse an rechtshistorischen und allgemein geschichtlichen Studien schlug tiefere Wurzeln. Er fand Freude an den sprachwissenschaftlichen Arbeiten Jakob Grimm’s und Schmeller’s und trug sich mit dem Gedanken an eine Handelsgeschichte. Als er dann im Frühling 1823 nicht ohne Widerstreben von der Hamburger Regierung die Ernennung zu ihrem Archivar annahm, gelang es ihm endlich, das Ringen mit den Idealen zurückzudrängen und einen fruchtbringenden Beruf anzutreten, der ihm in engen Grenzen bald eine Welt eröffnete. Allmählich lernte er sich in das Loos fügen der Bürger, der Diener eines kleinen Freistaats zu sein, an dessen altem Ruhme und weiten überseeischen Beziehungen sich zu begeistern. In der Folge erhielt auch sein an sich bescheidenes Amt dadurch höhere staatsmännische Bedeutung, daß der Senat ihn als Regierungssecretär zu den Sitzungen heranzog und wiederholt mit praktischen oder diplomatischen Aufträgen betraute. Nachdem er sich im J. 1825 mit der ältesten Tochter des reichen Kaufmanns G. F. Baur in Altona verheirathet, dieselbe aber schon nach wenigen Monaten durch den Tod verloren hatte und damit noch einmal in trostlose Einsamkeit zurückgeschleudert wurde, bereitete ihm seit 1827 die Ehe mit der jüngeren Schwester das Glück, das er lange vergeblich ersehnt, das sich dann neben anderen Vorzügen seiner Lebensstellung in mancher Beziehung zu einer im deutschen Gelehrtenstande beneidenswerthen gestalten sollte. Mittlerweile hatte er rüstig zu schaffen begonnen. Er kostete die erste Freude am Ordnen der in wüstem Zustande vorhandenen reichen Schätze des Archivs, versenkte sich in ihren Inhalt, entdeckte bedeutende Bestandtheile des erzbischöflich hamburg-bremischen Archivs, die Urkunden der alten Seerechte und Schifffahrtsgesetze, deren sich die Vorfahren bedient hatten, eine Fülle unschätzbaren Materials aus der Blüthezeit der Hanse. Aus solcher Thätigkeit entsprungen außer Sammlungen von Hamburger und Bergedorfer Verordnungen allerlei rechtsgeschichtliche und litterarische Beiträge für verschiedene Zeitschriften. Die erste größere Arbeit erschien in höherem Auftrage zum 29. September 1828 als Programm zur dritten Säcularfeier der bürgerschaftlichen Verfassung Hamburgs, das zwar in streng erhaltendem Geiste die bisherigen Institutionen abspiegelte, aber in der geschichtlichen Ausführung und Begründung echt wissenschaftlichen Sinn bekundete und den herkömmlichen Anschauungen über hamburgische Geschichte eine neue Bahn eröffnete. Aber weder die Natur seiner Studien, noch der Jnhalt seines Archivs gestattete Beschränkung auf die Vaterstadt. Im J. 1829 als Anhang zu Rotermund’s Geschichte der Petrikirche zu Bremen, stellte er das Register von Einkünften der Propstei bei dem Dom zu Bremen zusammen und schrieb er „Ueber ältere Geschichte und Rechte des Landes Hadeln“. Eine kleine Schrift „Ueber den ehemaligen Umfang und die alte Geschichte der Insel Helgoland“ [710] war zur Begrüßung der im Sommer 1830 in Hamburg tagenden Naturforscherversammlung bestimmt und erwies aus den Quellen ein für allemal, daß die Jnsel, was vielfach bezweifelt worden, in historischer Zeit kaum größer gewesen als in der Gegenwart. Von seinen Funden und Entdeckungen theilte er stets freigebig anderen mit, Jakob Grimm, an dessen Forschungen er immer größere philologische Sicherheit gewann, Pardessus für seine Sammlung der Lois Maritimes, Professor Warnkönig in Gent für seine flandrische Staats- und Rechtsgeschichte, vor allem aber dem um die Geschichte hochverdienten Göttinger Gelehrten Sartorius. Als dieser, der durch seine Geschichte des hanseatischen Bundes, 1802–8, den alten Ruhm desselben zuerst wieder zu Ehren brachte, über seiner Hauptarbeit starb, hat L., der ihr die werthvollsten Documente zugewendet, sie als „Urkundliche Geschichte des Ursprungs der Deutschen Hanse“ in 2 Bänden, 4°, 1830 herausgegeben, ein Werk, das bis 1870 zugleich das erste, immer noch dankenswerthe Urkundenbuch bot, vor allem aber L. das Verdienst sicherte, durch eingehende Untersuchung die Verbindungen der deutschen Kaufleute im Auslande als die eigentlichen Keime zu Entstehung und Wachsthum des Bundes nachgewiesen zu haben. Aus derselben arbeitsamen Zeit stammten die Anfänge nicht minder umfassender Leistungen. Durch Niebuhr und Dahlmann als Mitarbeiter für die Monumenta Germaniae Historica gewonnen, begann L. sich mit einer hochwichtigen Gruppe von Geschichtschreibern des norddeutschen Mittelalters zu beschäftigen, und 1829 bestimmte ihn F. Perthes desgleichen für die große Sammlung der Staatengeschichten von Heeren und Ukert die Geschichte Englands anzugreifen. Die Aufgabe, eine der dankenswerthesten auf dem weiten Gebiete der Historie, fesselte ihn in den nächsten Jahren vorzugsweise und brachte ihn mit dem Lande seiner Jugendliebe, an dem das Interesse nie erkaltete, in um so engere Beziehung. Das früh Erlernte, die gemeinsamen Bande des Stammes, der Sprache, Hamburgs centrale Stellung in Nordwesteuropa, die auf Reisen und durch kleinere Arbeiten – „Ansprache an die Alterthumsforscher Deutschlands und des nördlichen Europa“, Hamburg 1834 und „Dänische Annalen“, ein Nachtrag zu Langebek, SS. rerum Danicarum, Altona 1834 – erworbene Bekanntschaft mit dänischen, norwegischen und schwedischen Zuständen, die fleißig fortgesetzten rechtsgeschichtlichen, seerechtlichen und linguistischen Studien, namentlich eifrige Beschäftigung mit dem Angelsächsischen, die ihn, von Grimm angeregt, früher noch als englische Gelehrte auf die von Anbeginn bestehenden litterarischen Unterschiede aufmerksam machte, ein in kritischer Untersuchung von Quellen geübtes Auge, Alles traf zusammen, um ihn recht eigentlich zu befähigen, einen der werthvollsten Beiträge zu der Sammlung der europäischen Staatengeschichte zu liefern. „Er brachte“, wie sich Ranke in einem Nachruf ausdrückt: „die Anschauungen deutscher Wissenschaft in der älteren Geschichte einer nahe verwandten Nation zuerst zur Geltung“, indem zuerst der erste Band, der 1834 die angelsächsische Periode abschloß, grundlegend für das germanische Alterthum überhaupt wurde und in England selber nicht nur von den ersten Sachverständigen freudig aufgenommen und übersetzt wurde, sondern auch in späteren Arbeiten, wie denen von Stubbs und Freeman bis heute segensreich weiterwirkt. L. schuf in der That ein Meisterwerk weniger der Darstellung, denn sein Stil blieb trotz fein gebildetem Geschmack ungelenk und gewunden, als der gediegensten Untersuchung. Angesichts der unendlich angewachsenen Schwierigkeiten, Geschichtsforschung und Geschichtschreibung in vollendeter Harmonie zu vereinen, gelang es ihm durch Kritik der Texte die Quellen mit objectiver Sicherheit auszuschöpfen und zu beseelen und namentlich auch durch systematische Beurtheilung der alten englischen Geschichtschreibung diejenigen Grundsätze in Anwendung zu bringen, welche gleichzeitig bei der kritischen [711] Beurtheilung der deutschen Geschichtsquellen durchdrangen. Außerdem bot die gründliche Erörterung der angelsächsischen Rechts- und Verkehrsverhältnisse allen Nachfolgern auf diesem Gebiete die beste Richtschnur. Ehe 1837 der zweite, die Normannenkönige bis 1156 behandelnde Band erschien, unternahm er noch einmal eine ausgedehnte Reise nach England und Irland, um den persönlichen Zusammenhang mit Land und Leuten aufzufrischen, mit C. F. Cooper, dem Secretär der Record-Commission, dessen Nachforschungen in Deutschland Niemand wirksamer unterstützte, als L., mit Sir F. Palgrave, dem Rivalen auf dem Gebiete der älteren englischen Geschichte, der wegen mangelnder Kenntniß deutscher Rechtsinstitutionen vielfach abweichender Meinung war, mit Sir T. Philipps, dem großen Handschriftensammler, auf dessen Schloß Middlehill in Worcestershire gar mancher werthvolle Codex für die von Pertz geleiteten Monumente eingesehen wurde, näher zu verkehren. Als eine weitere Frucht jener Reise erschien nachträglich 1845 in der Encyklopädie von Ersch und Gruber eine der besten Arbeiten über Irland, seine Geschichte, Statistik, Sprache und Litteratur, über Vieles, was gewöhnlich am Wege liegen bleibt, geradezu eine unschätzbare Fundgrube. Wenn die Beschäftigung mit dem großartigen, fremden Stoff ohne eigentlich je wieder abgebrochen zu werden, fernerhin vor deutschen Aufgaben auch mehr zurücktrat, so hat sie doch diesen wesentlich einen allgemeinen weiteren Gesichtskreis und L. selber vor dem Schicksal bewahrt sich ausschließlich in die engeren Quellengebiete seines Archivs zu versenken. Wohl hat er sich in dem kaufstädtischen Hamburg mit seinen materiellen Interessen als Gelehrter von europäischem Namen recht einsam gefühlt und bisweilen Versuche gemacht, geistige Kräfte, wie selbst die Grimm’s, nach ihrer Vertreibung aus Göttingen an sich heranzuziehen, einen festen Zusammenhang mit den tüchtigsten Vertretern der historischen Wissenschaften hatte er längst, wie im brieflichen Verkehr und auf häufigen Reisen, so ganz besonders durch seine lebhafte Betheiligung an der Herausgabe der Geschichtschreiber des deutschen Mittelalters geknüpft. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen über eine ganze Reihe der wichtigsten Schriftwerke, ihre Quellen, Verbindungen und Ableitungen legte er seit 1838 im achten und in späteren Bänden des Archivs der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde nieder. Als erste Frucht derselben erschien 1839 im dritten Bande von Pertz’ Scriptores die einzige kritische Ausgabe der großen Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg. Im siebenten Bande folgten 1846 Adams Geschichte der Hamburger Erzbischöfe, auf deren Herausgabe schon vor längerer Zeit Dahlmann hatte verzichten müssen, im 16. Bande 1859 die Annales Stadenses. Gandenses und als hocherfreulicher Nachtrag zu den alten karolingischen Jahrbüchern aus einem von ihm drei Jahre vorher in Petersburg wieder aufgefundenen Codex die Annales Mosellani. Die Slavenchronik des Helmold und sein Fortsetzer Arnold von Lübeck wurden erst nach seinem Tode in mustergiltiger Behandlung als werthvollster Bestandtheil des 21. Bandes des Scriptores im J. 1869 herausgegeben. Die dort ebenfalls wieder abgedruckte Holstenchronik des Presbyter Bremensis sowie die Chronik der nordelbischen Sachsen edirte er selber im ersten und dritten Band der Quellensammlung der Schleswig-Holstein-Lauenburgischen Gesellschaft für vaterländische Geschichte, 1862 u. 1865. Mit dem Chronicon Rastedense und der Braunschweiger Reimchronik kam er über die Abhandlungen im Archiv nicht hinaus. Anderes eignete sich wegen der vorwiegend localen Beziehungen nicht für die große vaterländische Sammlung der Monumente, ein Band Geschichtsquellen des Erzstifts und der Stadt Bremen, 1841, als Beitrag zur quellenmäßigen Begründung der Geschichte derselben dem Senate der Stadt gewidmet, mit der niederdeutschen Chronik von Rynesberch und Schene als Hauptbestandtheil und sprachlichen Bemerkungen von Jakob [712] Grimm, Hamburgische Chroniken in niedersächsischer Sprache für den Verein für hamburgische Geschichte herausgegeben, 1861, und eine neue Ausgabe der Hamburgischen Chronik des Syndicus Adam Tratziger, des ältesten wissenschaftlichen Geschichtschreibers der Stadt Hamburg, 1865. Sämmtliche Arbeiten dieser Art zeichnen sich durch ungemeine Sorgfalt der Vorbereitung, kritische Sichtung des handschriftlichen Materials, philologische Behandlung des Textes und praktische Sacherklärung aus. Neben dieser den weiteren und engeren Gebieten deutscher, niederdeutscher und nordisch-englischer Vergangenheit gewidmeten Thätigkeit lief seit jenen ersten Hamburg und seine Nachbarschaft betreffenden Publicationen ein immer breiterer Strom von kleinen Arbeiten, welche nach allen Richtungen des rechtlichen, corporativen, öffentlichen, wirthschaftlichen und geistigen Lebens die Geschichte der Vaterstadt durchforschten und begründeten. Da fesselte ihn selbst das Unscheinbare und Geringe, indem er es mit den großen und allgemeinen Grundzügen städtischer Entwickelung überhaupt und namentlich mit den weiter außen liegenden hansischen Verbindungen zusammenzufassen wußte. Zumal nachdem im J. 1839 der Verein für hamburgische Geschichte entstanden, dessen eigentlicher Begründer er zwar nicht war, dessen Seele er aber alsbald durch eifrige Betheiligung an der Zeitschrift wurde, hat er zwischen 70 und 80 größere und kleinere Beiträge beigesteuert, die sich mit Sammlung und Kritik localer Quellen, mit Kirchen-, Kunst-, Litteratur-, Gelehrten-, Beamten- und Familiengeschichte, mit biographischen Mittheilungen über Jürgen Wullenwever, Marx Meyer und viele andere Persönlichkeiten, mit Mittheilung historischer Lieder, urkundlichen Nachrichten über Ansiedlung der Niederländer, Engländer, Juden in Hamburg bis herab zu Grabreden und Grabsteinen befaßte. Als daher am 27. October 1864 der Verein, dessen Verdienst durch seinen Vorgang die meisten anderen historischen Gesellschaften in Deutschland weit überragte, seine 25jährige Jubelfeier beging, gestaltete sie sich von selbst zu einem Ehrenfest seines langjährigen ersten Vorstehers, dem durch eine Denkmünze ein besonderer Dank ausgesprochen wurde. In Verbindung mit diesen Studien gedieh nicht nur zur 400jährigen Jubelfeier ein für die niederdeutsche Litteratur höchst werthvoller Beitrag zur Geschichte der Buchdruckerkunst in Hamburg 1840, nicht nur im J. 1847 die treffliche Erläuterung der Elbkarte des Melchior Lorichs vom Jahre 1568, sondern eine Reihe strengerer Arbeiten. Davon ist leider bis heute das nach dem Frankfurter Muster seines Freundes J. F. Böhmer angelegte „Hamburgische Urkundenbuch“ unvollendet geblieben. Das Material zu einem folgenden Bande, so wie bis auf hundert Exemplare die ganze Auflage des ersten, welcher die Urkunden der Stadt bis zum Jahre 1300, sowie der Anfänge des Bisthums enthält, gingen in den Flammen auf, durch welche im Mai 1842 das alte Hamburg sammt dem Rathhause und den werthvollsten Bestandtheilen des von L. gehüteten Archivs zerstört wurde. Aber wie ihm Grimm schrieb: „Große Verluste haben den Vortheil, daß sie den Sinn für das Gebliebene schärfen und erhöhen“, so stählte auch L. unter Ruinen den entschlossenen Muth, die erhaltenen Schätze um so liebevoller zu pflegen und das Andenken des Verlorenen nun vollends zu fertigen. Noch unter den rauchenden Trümmern seiner Umgebung verfaßte er eine kleine Schrift: „Der große Brand von London im J. 1666“. Dann brachte er bis 1845 die Frucht langjähriger Studien: „Hamburgische Rechtsalterthümer I. Die ältesten Stadt-, Schiffs- und Landesrechte“ zu Stande, deren Quellen auf die Soester und Lübecker Statuten und den Sachsenspiegel zurückgeführt wurden. Daran schlossen sich Erläuterungen zu den von Otto Spekter reproducirten Miniaturen des alten Hamburger Stadtrechts von 1497. Es folgten „Die milden Privatstiftungen zu Hamburg“, 1845, in zweiter umgearbeiteter und veränderter Ausgabe 1870, und im Auftrage des [713] Senats die für die Rechtsgeschichte nicht minder werthvolle Abhandlung „Historischer Bericht über Hamburgs Rechte an die Alster“, 1859 und der „Archivalbericht über den Ursprung und das Bestehen der Realgewerbs-Rechte in Hamburg“, 1861. Auch als seit 1848 die Erblindung des linken Auges seinen rastlosen Fleiß empfindlich hemmte, entschloß er sich zwar mit schwerem Herzen, die Fortsetzung der englischen Geschichte einem jüngeren Freunde zu übertragen, aber nur um die verschiedenen Richtungen seiner Studien um so eifriger zu verfolgen. In einer Arbeit, die im Auftrage der Senate der drei Hansestädte unternommen wurde, trafen sie gewissermaßen alle zusammen. Die „Urkundliche Geschichte des hansischen Stahlhofes zu London“, 1851, obwol nicht im Buchhandel erschienen, eine Art Fortsetzung und Ergänzung der „Urkundlichen Geschichte der Hanse“, konnte nur von ihm verfaßt werden, der es zu einer Lebensaufgabe gemacht hatte, der Geschichte des großen Bundes einen sicheren Grund zu legen. Wol stand er mit seinem Wunsche allein, die alte Factorei an der Themse in eine neue Gildhalle aller Deutschen verwandelt zu sehen und konnte Verkauf und vollständige Umwandlung von Grund und Boden nicht hindern, aber durch Beleuchtung ihrer Vergangenheit mittelst seltener, bisher unbenutzter Urkunden, die zu einer Geschichte des hansischen und deutschen Handels in England verwoben wurden, gab er einen Anstoß zu weiteren umfassenden Forschungen. In der historischen Commission zu München, deren Mitglied er seit ihrer Begründung 1859 war, und deren Jahressitzung er im Herbst regelmäßig besuchte, befürwortete und leitete er lebhaft die Vorarbeiten zu einer Ausgabe der „Hanserecesse“ und eines großen „Hansischen Urkundenbuchs“. Dr. W. Junghans, der ihm in Hamburg zur Hand ging, führte er persönlich in die Archive der wendischen Städte, sowie das Public Record Office und das Archiv der städtischen Gildhalle zu London ein. Als der viel versprechende junge Gelehrte schon nach wenigen Jahren als Professor in Kiel und bald darauf auch L. starb, begannen jüngere Kräfte die von ihm ins Leben gerufenen Unternehmungen auszuführen. In den Publicationen der historischen Commission und des seit 1870 bestehenden hansischen Geschichtsvereins wirkt sein Andenken segensreich weiter. Viele Spuren der Fruchtbarkeit und Vielseitigkeit seiner Arbeit begegneten nebenher seit Jahren in verschiedenen Zeitschriften. Den Bericht des Sido und andere Nachrichten über Vicelin und das Kloster Neumünster gab er schon 1829 im neunten Bande des Staatsbürgerlichen Magazins für Schleswig-Holstein und Lauenburg heraus. Zahlreiche Recensionen über Städtegeschichte, Stadt- und Seerecht, angelsächsische, englische und deutsche Geschichte und Litteratur schrieb er in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik, der Jenaer, der Allgemeinen Litteratur-Zeitung, vor allen den Göttinger Gelehrten Anzeigen, in W. A. Schmidt’s Allgemeiner Zeitschrift für Geschichte. Kleinere Beiträge auf allen diesen Gebieten finden sich von ihm in Hugo’s Civilistischem Magazin, im Archiv für Staats- und Kirchengeschichte von Michelsen und Asmussen, im Rheinischen Museum für Jurisprudenz. Im ersten Bande des Vaterländischen Archivs für das Herzogthum Lauenburg handelte er 1857 von den Schlössern der Sachsen-Lauenburgischen Raubritter. Einen trefflichen Artikel über Hamburgs Verfassung, Geschichte und Handelsentwickelung der Gegenwart hat er noch 1862 zu dem bei Brockhaus verlegten Staatslexikon beigetragen. Endlich aber ist noch eine Gruppe litterarischer Arbeiten zu erwähnen, zu der er sich frühzeitig anschickte, für die er aber Zeitlebens die alte Neigung bewahrte. Abgesehen von dichterischen Uebersetzungen aus den Engländern, wie des ihm einst befreundeten Wordsworth, wovon nichts im Druck erschienen, stammte die Anregung zu diesen Leistungen sowol aus der Berührung mit den romantischen Kreisen während seines Aufenthalts in Berlin, wie aus der starken Anziehungskraft seiner niederdeutschen [714] Heimath. In den schweren Tagen des Jahres 1849 erquickte ihn, wie einst 30 Jahre früher Susanna Katharina von Klettenberg, Religion nebst Erläuterungen zu den Bekenntnissen einer schönen Seele, die er zum hundertjährigen Gedenktage Goethe’s erscheinen ließ. Nach langer Vorbereitung veranstaltete er 1854 eine überaus sorgfältige, gelehrte Ausgabe von Thomas Murner’s Ulenspiegel, die er dankbar den Freunden Savigny und Grimm widmete. Im J. 1861 erschienen, wie alles übrige, sprachlich und sachlich trefflich erläutert die niederdeutschen Scherzgedichte von Johann Laurenberg, 1863 die lateinischen und 1865 die deutschen Gedichte des in Hamburg begrabenen Paul Fleming, der von jeher sein Liebling gewesen, sämmtlich in der Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart. Die Briefe von und an Klopstock, an denen er viele Jahre gesammelt, wurden erst nach seinem Tode 1867 herausgegeben, gleich der Geschichte des Hamburger Rathhauses, welche Hauptmann Gaedechens besorgt hat. Die Sammlung der Briefe Hagedorn’s, des Hamburger Dichters, der nach London verschlagen wurde, harrt, wie die Vorarbeiten zu einer Geschichte der Dominicaner und Minoriten in Hamburg, noch auf eine sachkundige abschließende Hand. L. sind, wie in der Jugend, so auch im späteren Alter harte Schicksalsschläge und empfindliche Einwirkungen der allgemeinen Hergänge nicht erspart worden, in die sich sein reizbares Gemüth schwer zu finden vermochte. Vor der Erblindung des linken Auges wurde das rechte allerdings bewahrt, so daß er mit Vorsicht und fremder Beihülfe noch Jahre lang in gewohnter Weise weiter arbeiten konnte. Den Tod seiner zweiten Frau am 2. April 1849 hat er nie verschmerzt, wie später ebenso wenig den Verlust einer Tochter und eines Sohnes in hoffnungsreichstem Alter. Dazu dann die Erschütterung aller bisherigen Verhältnisse in Deutschland, wie in Hamburg, in die er, der Erforscher der Vergangenheit, sich mit allen seinen Anschauungen eingelebt hatte. Er hatte 1846 und 47 die beiden Germanistenversammlungen in Frankfurt a. M. und Lübeck besucht und auf der ersten einen folgenreichen Anstoß zu der Sammlung deutscher Ortsnamen im Mittelalter gegeben, dem mächtigen Andrange neuer Kräfte im öffentlichen Leben aber, der sich immer stärker regte, blieb er fremd. Sein Liebe zum deutschen Volk und Vaterland war von der Besorgniß getrübt, daß ihm staatliche Einheit und Größe nicht beschieden sei, wie er es 1847 in dem Vorwort zu einer Uebersetzung der unbedeutenden Geschichte Englands von Keightley aussprach. Im Sturmsommer von 1848 veröffentlichte er eine kleine Flugschrift „Ueber die Privilegien der Parlamentsmitglieder“, worin er sich für Beschränkung der Redefreiheit nach englischem Muster aussprach. Die große Bewegung nach einer deutschen Flotte und Flagge dagegen hatte seine ganze Theilnahme. Als sich im Sommer 1850 der Hamburger Senat im Gegensatz zur preußischen Union der Wiederherstellung des Bundestags zuneigte, wurde L. als sein Vertreter nach Frankfurt geschickt. Er hat dann in dieser Restitution seine politische Befriedigung zu finden gesucht. Auch die russische Reise im J. 1856, auf der er jenen wissenschaftlichen Fund that, wurde nicht nur zum Besuch einer nach Petersburg verheiratheten Tochter unternommen, sondern noch einmal in diplomatischer Sendung, indem er als Vertreter Hamburgs der Krönung Kaiser Alexanders II. beizuwohnen hatte. Wol noch die Abrechnung mit Dänemark, aber nicht mehr den deutschen Krieg von 1866, die Auseinandersetzung mit Oesterreich, die Neugestaltung Deutschlands in sich und nach außen hat er erlebt. Schwerlich hätte er sich als Mann der alten Schule in die Resultate gefunden. Er blieb dagegen, was sein Leben aus ihm gemacht, was Jakob Grimm einst treffend in einem Trinkspruch ihm zurief: ein halber Engländer, ein ganzer Deutscher und ein eingefleischter Hamburger. Nachdem er Ende 1863 seine amtliche Stellung niedergelegt, im folgenden [715] Jahre noch die wohlverdiente Huldigung von Seiten des hamburgischen Geschichtsvereins angenommen, nachdem ihm theuere Freunde fern und nah im Tode vorausgegangen, erkrankte er im September 1865 auf einer nach Sachsen unternommenen Reise, von der er sich gewohntermaßen nach München zu begeben gedachte. Genöthigt, nach Hamburg zurückzukehren, starb er daselbst am 28. November. Als auswärtiges oder correspondirendes Mitglied gehörte er den Akademien und gelehrten Societäten zu Berlin, Stockholm, Göttingen, München und St. Petersburg, sowie zahlreichen historischen, archäologischen und linguistischen Vereinen in Deutschland, England, Schottland, den Niederlanden, Schweden, Dänemark, Rußland und Griechenland an.
Lappenberg: Johann Martin L., Archivar und Geschichtsforscher, geb. zu Hamburg am 30. Juli 1794, † ebenda am 28. Novbr. 1865, stammte aus einer hannoverisch-bremischen Familie. Sein Großvater,- Lexikon der hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart, IV. 356 bis 372. G. Waitz, Zum Andenken an J. M. Lappenberg, Nachrichten von der k. Gesellschaft der Wissenschaften und der Georg-August-Universität, Göttingen 1865, S. 496 ff. I. v. Döllinger, Sitzungsberichte der k. baier. Akademie der Wissenschaften zu München, 1866, I. 408 ff. Nachrichten von der historischen Commission zu München, v. Sybel’s Historischer Zeitschrift beigelegt seit 1859. Johann Martin Lappenberg. Eine biographische Schilderung von Elard Hugo Meyer, Hamburg 1867, mit Benutzung von Briefen und Tagebüchern.