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ADB:Neukirch, Benjamin

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Artikel „Neukirch, Benjamin“ von Erich Schmidt in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 510–512, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Neukirch,_Benjamin&oldid=- (Version vom 24. Dezember 2024, 17:42 Uhr UTC)
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Neukirch: Benjamin N., Dichter, wurde am 27. März 1665 zu Reinke im Glogau’schen geboren, besuchte seit 1673 die Schule des nahen Bojanowa, wo sein Vater Tobias N. Notar geworden war, und nach Breslauer Schuljahren auch das Gymnasium zu Thorn, bezog 1684 die Universität Frankfurt a. O., versuchte sich mit wenig Lust und Glück als Advocat in Breslau, gab die Jurisprudenz auf und eröffnete in Frankfurt 1691 erfolgreiche Curse über Poetik und Rhetorik. Aeltere Verbindungen mit Berlin, dem Ziele seiner Wünsche, wurden damals enger geknüpft. Man verhieß ihm eine Professur. Zunächst arbeitete N. 1693 f. in Halle, wurde 1694 Hofmeister und kam 1696 als Informator eines jungen Haugwitz aus Dresden in die preußische Residenz, wo er als Erzieher junger Edelleute ein gedrücktes Leben führte. Er umbuhlte den Hof und die höfischen Dichter, wurde von Canitz begünstigt, aber von Besser zurückgesetzt und hatte, ohne Geld und Amt, oft mit bittrer Noth zu kämpfen. Seine Panegyrici trugen ihm die Mitgliedschaft der Akademie, kleine Geldgeschenke und [511] 1703 eine karg besoldete Professur an der Ritterakademie ein, die nach dem Tode Friedrich’s I. erlosch. Zu guter Stunde folgte N. 1718 einem Ruf als Erzieher des Erbprinzen und markgräflicher Hofrath nach Ansbach, der erste Poet in der durch Uz, Cronegk, Platen berühmten Stadt, und spielte dort, müd und mürbe, dichterisch ganz ins Lehrhafte und Fromme übergehend, den kleinen deutschen Fenelon. Er starb am 15. August 1729.

N. ist als Mann einer stilistischen Uebergangszeit interessant, nicht als bewußter Anfang der norddeutschen Kritik, als welchen Gervinus ihn rühmt. Schon Gottsched, durch seinen Lehrer Pietsch auf diesen Vertreter des „güldnen Alters“ nachdrücklich hingewiesen, betont die Wendung von den „Oderflöten“ zur brandenburgischen Hofpoesie: „Des Einfalls Richtschnur ward nur Wahrheit und Vernunft“. Vieles ist unbekannt geblieben: ein Pastorale, eine Tragödie, der 4. Gesang Aeneis verdeutscht, eine Masse geistlicher Dichtungen seines letzten Jahrzehnts, eine Logik, eine Rhetorik u. s. w. Sein Ausgang ist der schlesische Marinismus. Der Schulmeister N. ist Herausgeber und Lobredner des Lohensteinschen „Arminius“, der galante N. ist Sammler und Nachtreter der Hoffmannswaldau’schen Lyrik, und dadurch ein Anreger der Anakreontik. Zu Canitz übergehend, den Franzosen wie Boileau nachstrebend, endlich in seiner Poetik platt vernünftelnd und moralisirend, wird er ein kleiner Vorläufer Gottsched’s. 1695 erschien als schmächtiges Bändchen „B. Neukirch’s galante Briefe und Gedichte“. Die redseligen Briefe, an Gönner und Frauenzimmer, wirklich oder fingirt, allgemein oder litterarischen und persönlichen Dingen zugewandt, weisen auf den zuerst 1707 veröffentlichten „Unterricht von deutschen Briefen“ hin, ein oft aufgelegtes, den französischen Mustern nachtrachtendes Buch, das erst Gellert verdrängte. Die Gedichte schwanken zwischen Schwulst und Nüchternheit, huldigen der Schäfermode, verschwenden schlesische Metaphern, bieten formell und inhaltlich nichts Ursprüngliches, Eigenthümliches, und fallen mehrmals in crasse Abgeschmacktheit: die um Sylviens Busen spielende Hand wird vor Liebesbrand schwarz, Sylvia aber will ihr eine Gunst mißgönnen, die sie den Flöhen nicht versagt. Berüchtigt albern ist der durchgeführte Vergleich zwischen Liebhaber und Eierkuchen im „Schertz-Gedichte an Leonoren über die Plintzen“. Ein Mischmasch von steifer Huldigung und anakreontischem Leichtsinn ist die officielle Hallenser Aria „Denn Joseph lebet noch“. In Berlin strebte er zum Boileau-Canitzischen Bonsens hin und häufte preußische Lobgedichte ohne Originalität, wenn man nicht in Versen wie „26 Bataillonen Und ein Dutzend Escadronen“ einen neuen Grenadierschritt der Poesie finden will. 1701 feierte er die Krönung des ersten Königs, 1705 in Rede und Vers den Tod der Sophie Charlotte, 1708 die dritte Vermählung Friedrich’s. Seine „Poetischen Sendschreiben“ sind zumeist handwerksmäßig, wie denn N. die verstiegene Schmeichelei „Die Natur hat, da sie dich gemacht, mehr auf ein Wunderwerk als einen Mensch gedacht“ wörtlich sowohl dem König Friedrich August, als dem Geheimrath Stryk schenkt. Im Scherz wird er leicht plump und roh. Auch seine geistliche Poesie zeugt neben ehrlichen Liedern und Psalmen durch rhetorisch überladene und in eklen Martern wühlende Passionsgedichte noch für die schlesische Herkunft. Er selbst, der manche litterarische Händel ausfocht und auch nach seinem Tode ein Gegenstand lebhafter Parteigunst sowie Parteipolemik war, weiß, daß Schlesien ihn nicht mehr liebt, seit er den „Amberkuchen“, geborgten Sprüchen und Sinnbildern entsagt hat - und doch plagt derselbe Mann noch 1708 zu Gottsched’s Aerger das Echo bis zu dem Unsinn „Sophie ist, schwer ich hin. – Schwerin erklang der Wald“, und auch die Texte zur Composition blieben von allerlei Auswüchsen nicht frei. Ganz nüchtern wurden erst die Ansbacher Gratulationen und dergleichen.

[512] Am bedeutendsten erscheint N. als Satiriker. Er folgte dem Canitz als Uebersetzer Boileaus; viel glücklicher als bei den Resten sapphischer Lyrik. Er lernte von Juvenal und ließ in seinen eignen zwar ideenlosen und oft unmanierlichen Scheltgedichten (gedichtet im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, gedruckt zuerst 1727 im Anhang zu Hanke’s „Weltlichen Gedichten“) das höfische Maß des Pariser Vorbilds fallen, verleugnete seine feile Gelegenheitsdichtung, behandelte neben hergebrachten allgemeinen Fragen auch Gegenstände des Tages mit Wucht und Schärfe, schilderte z. B. in der 4. Nr. culturhistorisch bedeutsam die Jugenderziehung der Zeit, zog in Nr. 6 und 7 sein eigenes Elend und das Elend der damaligen Poeterei rücksichtslos ans Licht und fand hier eine volle, anschauliche, eindringliche Redeweise.

Sein letztes Werk ist die Umgießung des Fenelon’schen Prinzenromans in dürre Alexandriner, die schon Gottsched nicht loben konnte, für den Ansbacher Telemach, dessen durchlauchtiger Vater die Kosten einer Prachtausgabe bestritt, von welcher N. nur den ersten von drei Theilen erlebte: „Die Begebenheiten des Prinzen von Ithaca …“ 1727–1739; dazu eine billige Ausgabe (Anspach 1739 mit dem „Lebens-Lauff des seel. Autoris“). Ein schon durch die gewählte Form ganz verunglücktes Product, welchem der markgräfliche Mentor eine Ueberlast der trivialsten und ledernsten Fußnoten zur Mythologie und Sittenlehre beigegeben hat.

Neukirch’s Gedichte stellte Gottsched in einer Auswahl, Regensburg 1744, zusammen und schickte außer Vita und Charakteristik auch einige Angriffe gegen die Züricher voraus. Seine „Critischen Beyträge“ waren schon wiederholt für N. eingetreten, der da bekannt hatte, es sei „Canitz, der die deutschen Flöten auf den höchsten Ton gebracht“.