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Sheffield in England

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
CCCCXXVII. Das Pariser Rathhaus Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band (1843) von Joseph Meyer
CCCCXXVIII. Sheffield in England
CCCCXXIX. Stuttgart
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SHEFFIELD

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CCCCXXVIII. Sheffield in England.




Aus den Trümmern der Vorwelt wuchs die jetzige Erde hervor; aus den Gräbern ausgestorbener Geschlechter erhob sich das ewig unsterbliche Leben; aus der verborgenen Tiefe stieg die bildende Kraft zum Licht herauf, von ihrem ersten Erzeugniß, dem Krystall, bis zu ihrem jüngsten und höchsten, dem weltbeherrschenden Menschen. Wie die Erdgeschichte, so ist die Geschichte der Menschheit. Der erste Menschenkern voll schlafender Kräfte zersplitterte sich im Laufe der Generationen, zahllose Individuen entstanden, sie nahmen unter den Einwirkungen der verschiedenen Ortsverhältnisse neue Formen, mit diesen neue Eigenschaften an. Das Gleichartige gesellte sich, gestaltete sich zu gesondertem Ganzen. Das organische Völkerleben wurde entzündet, es entwickelte sich von Stufe zu Stufe. Die Bildung und ihre eigenthümliche Kraft besiegte die rigide Masse, und die Kultur gelangte in ihren Repräsentanten, den kulturreichsten Nationen, allmählich zur Herrschaft im weiten Hause der Menschheit. Unter ihrem Walten und ihrem Einflusse erwachen selbst leblos und gestorben scheinende Völker zu neuer Thätigkeit, regen sich zahllose, ruhende Kräfte, erlangt der Menschengeist den höchsten Grad der Erregung, steigert sich sein Schaffungsvermögen, werden seine Erzeugnisse immer gewaltiger und colossaler, gebietend über Stoff, Raum und Zeit.

Englands Volk – mag es der Stolz anderer Völker leugnen! – ist die erste Nation der Welt. Unermeßlichkeit ist ihr Streben, Universalität ist ihr Einfluß, und ihr Interesse umspannt nicht nur das Erdrund, es ist in jedem Winkel der Meere wach, lebendig und thatenvoll. Sein grenzenloser Egoismus wird, eben weil er keine Grenzen hat, zu einer eignen Art Cosmopolitismus. Es gibt keinen Hafen, keine Bucht der Meere, wo die britische Flagge nicht wehte; kein Land, wo nicht Englands Boten und Geschäftsträger eine Rolle spielten; es gibt kein Produkt und keine Waare, weiches ihm nicht zu einem Mittel diente für Tausch und zur Vermehrung seines Reichthums. Seinen Unternehmungs- und Spekulationsgeist scheucht kein Aufwand von Capital, keine Entfernung des Orts, keine Gefahr und Mühe zurück. Englands Handel, an dessen Hand Civilisation und Freiheit über die Erde schreiten, ist, sowohl seinem Bestande, als seinem Wirken nach, das erstaunenswürdigste Wunder der menschlichen Kultur und zugleich ihre festeste Stütze. Seine Etablissements zu Land und zu Wasser, seine Verträge mit allen Völkern, die Anzahl der Arme, die er beschäftigt, die Größe [18] und Menge der Capitalien, die er in Umlauf bringt, die Entdeckungen, die er in allen Zweigen menschlichen Wissens hervorruft, seine Resultate endlich, unter was immer für einen Gesichtspunkt man sie bringen mag, überbieten bei Weitem Alles, was zu irgend einer frühern Zeit, oder unter irgend einem andern Volke je in dieser Art bestanden. Wenn auch einmal dieses Menschenwerk vom Loose alles Irdischen betroffen wird (eine ferne Zeit!), wenn er verfallen seyn wird und verschwunden von der Erde, wie Carthago’s Handel, bis auf das letzte sichtbare Zeichen: so wird dennoch sein Bild in dem Gedächtniß der Nationen ewig haften, und der Geschichtschreiber wird seine Bemühungen und seine Erfolge jederzeit unter die mächtigsten Hebel zählen, durch welche die größten Umwälzungen in der Ideenwelt entstanden und die Lage der menschlichen Gesellschaft sich von Grund aus veränderte. –

Englands Industrie entspricht dem Umfange seines Handels. Beide sind innig verschwistert, ein rechtes Zwillingspaar; Einigkeit ist ihr Panier. Die meisten Grundlagen und Hülfsmittel für den Handel kommen auch der britischen Industrie zu Statten: Niederlagen in allen Meeren; Kolonien, die volkreichere Staaten sind, als das Mutterland selbst; Absatzorte und offene Märkte überall und durch Verträge gesichert; ein trefflich geregeltes Bankwesen, welches den Localbedürsnissen der Gewerbe überall zu Hülfe kommt; die reichste Auswahl der Rohstoffe, die der Handel aus allen Erdwinkeln zu den wohlfeilsten Preisen herbeiführt, oder die britische Erde in überschwänglicher Menge verbirgt; Kapitalien, stets bereit, solche Gewerbe, in denen sie eine nützliche Anwendung finden können, zur größtmöglichen Ausdehnung in kürzester Frist zu bringen; Unternehmungsgeist ohne Maß, geleitet von der reichsten Erfahrung und jenem den Briten eigenen praktischen Sinn, welcher sich leicht in alle Verhältnisse fügt, oder ordnend in sie eingreift; dabei Schutz durch den Besitz der größten Macht, die jemals auf Erden bestanden: – dies sind die breiten Grundlagen, auf welchen der Bau der britischen Industrie zu dem Koloß emporwuchs, an welchem die übrigen Nationen entweder muthlos, oder muthig nacheifernd, alle aber mit Neid, emporsehen.

Eben so bewundernswerth als ihre Größe ist die Schnelligkeit ihrer Entwicklung: denn die Hauptzweige der britischen Industrie datiren erst aus dem letzten Jahrhundert. 1750 war England noch der größte Markt für baumwollene Stoffe aus Indien, für seidene aus Lyon und China, für deutsche und niederländische Stahlwaaren und Leinen, und mit Millionen englischen Goldes wurden unzählige Fabrikerzeugnisse des Continents gekauft. Seitdem hat sich Alles umgekehrt. Der Hindu und der Chinese kleiden sich jetzt wohlfeiler in englische Stoffe, als sie selbst welche hervorbringen können. Die britischen Stahl- und Eisenwaaren versorgen drei Viertheile der Welt; englische Leinwand verdrängt die deutsche von allen Märkten und die deutsche Leinwand selbst wird schon großentheils von englischem Garn gewebt. Jene Millionen bleiben nun in England, und dazu strömen die Millionen der Fremde, welche diese für britische Erzeugnisse derselben Gattung zahlt, die sie früher an England verkauft hat. Daher die stete Anhäufung von Capital, von der man im Ausland keinen Begriff [19] haben kann, da die gleichartigen Erscheinungen nicht groß genug sind, um einen Maßstab zu geben; daher die Anhäufung von Geschick, Erfahrung und von Talenten, welche, in ihrer Vereinigung, eine industrielle Uebermacht gebildet haben, gegen welche, bei freier Conkurrenz, in der ganzen übrigen Welt nichts mehr Widerstand leisten kann. Der britische Staat selbst ist seiner Industrie gehorsam. Um ihrer Interessen willen macht er Eroberungen in allen Zonen, hat er China bezwungen, bedeckt er die Küsten Asiens und Australiens mit Colonien und schützt sie durch Flotten und Armeen; macht er Völker und Könige ferner Erdtheile zu Unterthanen; unterhält er seine Häfen, seine Festungen, seine Arsenale und Docks an den Küsten Europa’s; liefert er Schlachten, stützt er Reiche, oder läßt sie fallen; leitet er die Fäden der Diplomatie; intervenirt er in der Politik aller Länder und gibt oft mit sicherer Hand den Ausschlag in den wichtigsten Conjunkturen des internationalen Verkehrs, indem er fremden Regierungen die Geldmittel gewährt, oder verweigert, deren sie zur Ausführung ihrer Plane bedürfen.


Erst kürzlich (im IX. Bd. S. 133) ging eine der großartigsten Erscheinungen an uns vorüber, welche sich aus der britischen Industrie entwickelten. Wir haben Manchester betrachtet, den Sitz der englischen Baumwollenmanufaklur. Sheffield ist der Pendant: Sheffield, „die Messer- und Scheerenstadt.

Sie, die sich jetzt über ein Thal und 2 Berge hinstreckt, Sheffield, das über 1 engl. Geviertmeile Flächenraum bedeckt und, größer als Hamburg, 145,000 Einwohner zählt, war, ehe die Industrie einkehrte, ein elender Flecken, der im 17ten Jahrh. kaum 2000 Einwohner hatte. Er war berüchtigt durch seine Bettler, die das Land weit und breit brandschatzten. Um 1580 zog ein fremder Mann dahin und fertigte – Maultrommeln. Dies war der erste, unscheinbare Keim jener ungeheuern Fabrikation von Eisen- und Stahlwaaren, durch welche Sheffield sich allmählich die ganze Erde zinsbar gemacht hat. Im Jahre 1586 sing das Messer- und Scheerenmachen an, und man trieb 1624 das Geschäft so stark, daß die Verfertiger in eine Innung zusammen traten. Sie lieferten Taschenmesser mit Griffen aus Eisen, aus Horn und Schildplatt. 1628 ward das erste Rasirmesser in Sheffield gemacht; 1658 die erste Feile. 1680 waren schon über 90 Meister, Messermacher, Feilenhauer u. s. w. da. Sie bezogen ihren Stahl aus Westphalen, von Schmalkalden und Suhl unter dem Namen German Steel, bis 1665 ein deutscher Stahlmacher nach Rotherham zog, und zuerst hier, dann in Sheffield selbst, den ersten Stahlhammer etablirte. Der Name German Steel blieb für allen auf deutsche Weise gefertigten Cementstahl bis auf den heutigen Tag, obschon Sheffield seit langer Zeit kein Pfund deutschen Stahl mehr bezieht. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die Fabrikation von Sensen und Sicheln aus Steiermark eingeschleppt, und sie kam bald in große Aufnahme. Die erste größere Waffenfabrik entstand 1720. [20] Im Jahr, 1725 wurden die ersten platirten Knöpfe gemacht, welches die Grundlage zur Entstehung jener großartigen Manufaktur von platirten Waaren abgab, womit Sheffield ein halbes Jahrhundert lang alle Märkte der Erde ausschließlich und ohne Conkurrenz versorgte. Bis um diese Zeit bediente sich das Sheffielder Fabrikwesen der Londoner Vermittelung zum Vertrieb seiner Erzeugnisse. Broadbent, ein Cockerill seiner Zeit, der 700 Arbeiter beschäftigte, löste zuerst diese Fessel, indem er Reisende in alle Theile der Welt ausschickte, welche direkte Verbindungen mit dem Auslande aufsuchen und anknüpfen mußten. Den größten Aufschwung aber nahm das Sheffielder Geschäft dann, als Holztheuerung und Holzmangel die Erzeugung des Eisens mit Steinkohlen gelehrt hatten. Sheffield, von großen Steinkohlenablagerungen umgeben und schon längst reiche Eisenbergwerke bebauend, sah sich dadurch im Besitze unerschöpflicher Hülfsmittel für seine emporstrebenden Gewerbe, welche seitdem von Jahr zu Jahr gewachsen sind bis auf den heutigen Tag. 1736 hatte die Stadt 9800 Einwohner; 1755 über 12,000; 1788 schon 26,000; 180 über 36,000; 1820 70,000; und seitdem ist die Bevölkerung um das Doppelte, die Häuserzahl auf 32,000 gestiegen! Jede Familie bewohnt in glücklicher Unabhängigkeit ein eignes Haus, der Wohlstand ist allgemein, durch alle Classen verbreitet, und jene betrübenden Contraste zwischen dem Crösus-Reichthum der großen Fabrikherren und der bittern Armuth ihrer Arbeiter, wie sie in den Distrikten der britischen Baumwollenmanufaktur, namentlich in Manchester sichtbar werden, sind hier unbekannte Dinge. Daher hört man auch nichts von Arbeiterassoziationen, um höhern Lohn zu erzwingen, und von jenen Strikes, denen Aufstand und Elend im Gefolge gehen. Die meisten Eisenarbeiter fertigen die Waare in ihrer eigenen Werkstätte auf Bestellung der Faktoren, theils in halb-, theils in ganzvollendetem Zustande, und das Prinzip der Theilung der Arbeit hat hier glücklicher Weise noch nicht alle Selbstständigkeil des kleinern Gewerbsmannes zu Gunsten des mächtigen Fabrikanten vernichtet.

Schon von Weitem ist Sheffield das Bild eines blühenden Gemeinwesens. Meilenweit von der Stadt beginnen die Gärten und Landhäuser, und ihre unzählbare Menge läßt erkennen, daß hier recht Viele an den Freuden eines mäßigen Wohlstandes und am heitern Lebensgenuß Theil haben. Das Thal, in welches der älteste Stadttheil gebettet ist, wird vom Don bewässert, dem hier der Sheaf aus dem westlichen Gebirgsland zuströmt. Eisenbahnen und Kanäle, jene zum Theil von Viadukten getragen, zweigen sich nach mehren Richtungen aus, und das rührige, rastlose Leben auf denselben steht in Einklang mit dem schon in weiter Entfernung hörbaren, unausgesetzten Getöse einiger zwanzig Eisenhütten, Hammer- und Walzwerke, welche die Stadt unmittelbar umgeben, und zu den thurmhohen Essen, welche in Menge aus dem Häusergewühle emporstarren und Feuerbüschel oder schwarze Rauchwirbel ausstoßen. Die Stadt selbst hat, wegen des hügeligen, coupirten Terrains, viel Unregelmäßiges in ihrer Bauart. Die Wohnungen sind meistens klein, vom Ruß und Rauch geschwärzt; [21] aber im Innern reinlich und behäbig. Fast in jedem Parterre hämmert’s und klopft’s, säg’s und feilt’s, oder sprüht eine kleine Esse, und in jeder größern Werkstätte sind neben den Werkleuten Maschinen thätig und ersparen an menschlicher Arbeit. Trotz eines zweimal höhern Arbeiterlohns, als der auf dem Continente, hat man es möglich gemacht, mit der Güte der Sheffielder Eisen- und Stahlwaaren eine Wohlfeilheit zu verbinden, die ihnen alle Märkte der Erde und die meisten ausschließlich öffnet. Sheffields Industrie darf mit gerechtem Stolze die Preisherabsetzung ihrer Erzeugnisse als ihres größten Erfolges sich rühmen (ein Tischmesser, welches vor 50 Jahren einen Schilling kostete, gibt es z. B. jetzt für einen Penny), denn in der That hat der Ort in dieser Hinsicht das unmöglich Scheinende geleistet. Die Ursache liegt in der Theilung der Arbeit, im Geschick und in dem eisernen Fleiße seiner Bevölkerung, in der Einfachheit und zugleich wieder in der Wirksamkeit ihrer Verfahrungsweisen, endlich in ihrer so kunstreichen und einsichtsvollen Mechanik, in die sie alle Geschicklichkeiten zu legen wußte, welche die Vorsehung den Fingern des Menschen gegeben hat, alle Kraft, die sie seinen Muskeln verliehen, ohne jenen Beisatz von Ungeschicklichkeit, schlechtem Willen und falschem Urtheile, welche sich bei dem Menschen so oft in die Anwendung seiner Fähigkeit mischen und diese unvollkommen machen. Man muß die Sheffielder Werkstätten selbst gesehen haben, um die volle Bewunderung in sich aufzunehmen, welche die industriellen Zustände dieser „Messer- und Scheerenstadt“ verdienen, welche ein Fürst Pükler, der über Unbedeutendes und Kleines so wortreich seyn kann, mit der Bemerkung abfertigte: Des vielen Rauchs wegen habe er die Sonne für den Mond gehalten.