Stuttgart (Meyer’s Universum)
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In unsers großen Vaterlandes südwestlicher Ecke liegt eine Landschaft, über welche eine heitere Natur das Füllhorn ihres Segens ausgegossen hat, bewohnt von Menschen, in denen deutsches Gemüth noch frische Triebe treibt, und biederer, redlicher Sinn noch die Regel ausmacht, – das liebe Schwabenland.
Der Kern dieser Landschaft, welche Natur, Sage und Geschichte wetteifernd schmückten, bildet ein mit Hügelmassen besetztes Plateau, welches im Westen und Osten von Gebirgszügen begrenzt ist. Der westliche Zug ist der Schwarzwald; wie ein Dach senkt er sich gegen die Ebene herab, während südöstlich jäh und steil die Alb ansteigt. Beide Höhenzüge nähern sich einander im obern Neckarthale bis auf eine halbe Stunde; jenseits geht die Landschaft weit auseinander und verflächt sich in die Ebenen des Mains und der Jaxt. Von der Alb, im Süden, breitet sich die Hochebene Oberschwabens bis zur Donau und bis zum Bodensee aus und bildet die Grenze des Ganzen.
Das Prachtstück dieser schönen Landschaft, in welche Baden und Würtemberg sich theilen, ist das Neckarthal: heiter ist’s und überaus fruchtbar. Rankende Reben kleiden seine Gelände, Obstwälder seine Höhen, lustige Wiesengründe und bunte Auen und Saatfelder die Seilen des Stromes, auf dessen Wogen in Dampf- und Segelschiffen, in Boten und Barken ein rüstiges Leben sich schaukelt. Städte, Flecken und Dörfer, reinlich und schmuck, bald in das breite Stromthal, bald in die Seitengründe gebettet, bald die Gehänge hinan gebaut, bald auf den Scheiteln der Höhen gelagert, wie Italiens Städte, oder hinter Obsthainen verborgen, bieten dem Auge liebliche, immer wechselnde Scenen dar, und der Ausdruck der dichten Bevölkerung zeigt im Allgemeinen Intelligenz und Zufriedenheit. Daß im Neckarthale nicht die Hauptstadt des Landes gebaut worden ist, müßte Wunder nehmen, wüßte man nicht, wie ungeschickt oder unglücklich die Gründer von Landeshauptstädten und fürstlichen Residenzen in der Ortswahl gemeinlich waren, und wie Laune und Zufall dabei so oft ihr arges Spiel getrieben. Man denke an Madrid, Berlin, München, Darmstadt! Würtemberg war darin doch minder unglücklich; denn Stuttgart’s Lage ist, wenn auch eine bessere Wahl getroffen werden konnte, doch in der That recht schön und, weil fast in der Mitte des Königreichs, ist sie auch zweckmäßig.
[23] Des Schwabenlandes Königsstadt nimmt mit ihren Gärten und Anlagen den größten Theil der kesselförmigen Ausweitung eines Thals ein, über welches die südliche Natur des nahen Neckarthals noch einen Theil ihres Segens ausgos. Am schönsten ist die Fernsicht Stuttgart’s von den Höhen um Cannstatt. Da prangen im Vordergrunde die königlichen Luftschlösser Bellevue und Rosenstein auf ihren Höhen, und zwischen ihnen, im Hintergrunde, fällt der Blick auf die Hausermasse der Hauptstadt, von den Eßlinger, Bosper- und Hasenbergen umgeben, und überragt von den königlichen Schlössern, der Solitude und den vielen Landhäusern auf den Höhen.
Unser Bild zeigt uns Stuttgart viel näher. An der äußersten Linken, halbverdeckt von dem Berge, sehen wir ein Gebäude von imponirenden Verhältnissen: es ist das königliche Residenzschloß. Man nennt es das neue. Es wurde 1746 begonnen, brannte aber vor der Vollendung, 1762, größtentheils nieder. Erst der letztverstorbene König hat es ausgebaut. Man kann vor diesem Hause und in seinem herrlichen Innern, das alle Künste wetteifernd schmückten, vergessen, daß Würtemberg das kleinste Königreich in Europa ist. Es ist ein regelmäßiger Prachtbau, der auf den ersten Blick dem Beschauer sagt: hier wohnt ein König. Und der König ist gut. Ein kluger, kräftiger, wohlwollender, braver Fürst, dessen Gemüth kein Arg in sich hegt, mit einer Gesinnung, die dem Rechte nichts vergibt, aber versöhnlich doch über den Parteien steht, ist er im Kreise der deutschen Fürsten die beruhigendste und erquicklichste Erscheinung unserer Gegenwart. Würtemberg ist wirklich glücklich unter ihm und genießt die Früchte eines alles Preises würdigen Vertrauens und Zusammenwirkens zwischen Volk und Regierung in reichem Maße. – Neben der Residenz erscheint das hochgethürmte alte Schloß, wo man noch manche Merkwürdigkeiten und Curiosa sehen kann. Es ward 1553 zu bauen angefangen, und bis Ende des 17ten Jahrhunderts ist vielfach daran gebessert und erweitert worden. Der tiefe Graben, der es ehemals umgab, und wo die jagdlustigen Fürsten ein Rudel Hirsche gefangen zu halten pflegten, die sie aus den Zimmerfenstern schießen konnten, ist jetzt ausgefüllt und dadurch ein großer Theil des Baus in der Erde verborgen. Die einst berühmte unterirdische Mühle ist auch nicht mehr vorhanden. – Zunächst dem alten Schlosse guckt die alte Stiftskirche hervor, mit der Gruft der fürstlichen Familie und sehenswerthen Grabmonumenten; von ihrem gewaltigen Thurme schallt die große Glocke, Osanna, seit Jahrhunderten den Stuttgartern zu Freud und Leid. – Jenes Giebeldach, der Stiftskirche zur Rechten, gehört dem Theater an. Es ist eines der ältesten in Deutschland und bestand schon Ende des 16ten Jahrhunderts. Fast alle Erzeugnisse der deutschen dramatischen Dichtkunst gingen über diese Bühne. – Der Thurm, der die übrige Häusermasse überschaut, ist jener der Hospitalskirche, deren Altar Dannecker mit dem Modell seiner Christusstatue sinnig schmückte. Der Greis feierte damit die Stelle, wo er fünfundsechzig Jahre zuvor zum Erstenmal an des Herrn Tisch gegangen war.
[24] Nach diesem Blick auf die Einzelheiten unsers Bildes noch eine Ueberschau des Ganzen!
Stuttgart ist nicht alt und aus gar kleinem Anfang groß gewachsen. Noch im 12ten Jahrhundert war’s ein armer Flecken, oft ein Fehde- und Tummelplatz von den adelichen, raublustigen Rittergeschlechtern, deren sieben Burgen die zunächst gelegenen Höhen einnahmen. Der wackere Habsburger kam auf seinem heiligen Zuge zur Züchtigung des hochgebornen Raubgesindels auch hierher und zerstörte ihre Nester mit einander. Nach seinem Abzuge nahmen die eingeschüchterten Schnapphahn-Familien ihre Wohnsitze in der Stadt, bauten sich daselbst Schlösser, und die würtembergischen Grafen verlegten dahin erst ihr Erbbegräbniß, dann ihre Residenz. Doch hatte Stuttgart bis in die Mitte des 18ten Jahrhunderts noch nicht über 10,000 Einwohner. Seine große Zeit begann erst, als Napoleon dem Fürsten Würtembergs eine Krone aufsetzte: nämlich unter dem letztverstorbenen Könige. Ganze Stadtviertel erhoben sich neu und seitdem ist Stuttgarts Verschönerung und Erweiterung unausgesetzt fortgeschritten. Es hat jetzt an 100 Straßen (unter welchen die Königsstraße die schönste ist) und über 2500 Häuser, mit einer Bevölkerung von mehr als 45,000 Einw. – Außer den bereits genannten Gebäuden zeichnen sich durch Umfang und Schönheit die Palais des Kronprinzen und der Prinzessinnen, das Postgebäude, der Bazar, das Kanzleigebäude und die neue Kaserne aus. Den alten Schloßplatz schmückt die Statue Schiller’s, des Schwabenlands Stolz für alle Zeiten.
Stuttgart gilt in Süddeutschland als der Centralpunkt des geistigen Lebens und es hat gerechten Anspruch auf diese Ehre. Der Adel spielt hier nicht die überall bevorzugte Rolle, welche ihm an andern Residenzen zugetheilt ist, und der Beamtenstand findet in der Menge von privatisirenden Gelehrten und in einer großen Anzahl Individuen aus den bürgerlichen Ständen, welche wissenschaftliche Durchbildung besitzen, das Gegengewicht seiner Geltung. Daher sind die Stände hier weniger scharf geschieden, als in andern Hauptstädten Deutschlands; ein ächt geselliger, gemüthlicher, für alles Schöne und Nützliche empfänglicher Sinn ist lebendig und er macht jenen großartigern Sinnengenuß entbehrlich, den man in umfangreichern Hauptstädten findet. Die allgemeine Bildung wird durch die vorhandenen zahlreichen Sammlungen und Lehranstalten unterstützt und gepflegt, und sie äußert sich in einer Menge Vereine zu wissenschaftlichen oder philanthropischen Zwecken, welche ohne jene weder entstehen, noch dauern könnten. So besteht hier ein landwirthschaftlicher Verein mit einer über das ganze Königreich sich erstreckenden, fruchtbaren Wirksamkeit; ein botanischer Reiseverein, der zum Zweck hat, junge Naturforscher auf Untersuchungsreisen auszusenden; ein Centralverein für Handel und Gewerbe, welcher der Industrie und dem Verkehr in weiten Kreisen Vorschub leistet; eine Gesellschaft zur Verbesserung des Weinbaus, und ein pomologischer Verein mit Musteranlagen für Obst- und Rebenkultur; ein Wettrennverein für die Hebung würtembergischer Pferdezucht, der jährlich an [25] dem landwirthschaftlichen Feste zu Cannstadt Pferderennen veranstaltet; ein Creditverein, dessen Anleihen mit successiver Capitaltilgung der Industrie mannichfach unter die Arme greifen und der sich eines großen Zutrauens erfreut; Versicherungsgesellschaften gegen Hagel, Feuer etc., und eine allgemeine Rentenanstalt. Für religiöse und philanthropische Zwecke wirkt die große Bibelgesellschaft höchst gesegnet und ausgebreitet, und greifen die Frauenvereine thätig ein. Es bestehen welche für die Erziehung und Unterbringung verwahrloster und armer Kinder; für arme Jungfrauen aus den gebildeten Ständen; für dürftige israelitische Kinder; ein Verein für die fortgesetzte Besserung und Beschäftigung entlassener Strafgefangener, und der allgemeine Wohlthätigkeitsverein. Ungewöhnlich reich ist Stuttgart an literarischen Hülfsmitteln zur allgemeinem Benutzung. So haben fast alle Centralstellen ihre bedeutenden, möglichst vollständigen Fachbibliotheken; auch die Landstände haben ihre eigene, das Gymnasium, die Realschule und mehre gelehrte Gesellschaften. – Für Kunstbildung ist ebenfalls reichlich gesorgt. Außer dem königlichen Museum sind eine Menge Privatsammlungen durch die Liberalität ihrer Besitzer zugänglich geworden. Neben dem Sinn für das Schöne und für die Wissenschaft ist auch der für Industrie sehr entwickelt; eine Menge Fabriken gedeihen und nehmen zu mit jedem Jahre. Der Buchhandel ist hier das größte Gewerbe. Das Cotta’sche Haus, mit einem Wirken und einem Rufe, der über die Erde reicht, beschäftigt allein halb so viel Kräfte zur Hervorbringung und Vervielfältigung der Werke des menschlichen Geistes, als die Verleger Berlins zusammen genommen. Es leben an dritthalbhundert Schriftsteller in Stuttgart, und wenn auch viele Fabrikarbeiter darunter sind, so wird doch auch sehr Tüchtiges erzeugt, was der deutschen Wissenschaft und Literatur zur bleibenden Ehre gereicht. Neben dem Verlagsgeschäft blüht der Kunsthandel und gedeihen seine Hülfsgewerbe: Buch- und Steindruckerei, Kupferdruckerei, Schriftgießerei etc. in zum Theil großartigen Anstalten. Bijouterie-, Gold- und Silberwaarenfabrikation, die Tuch-, Seiden-, Baumwollen- und Handschuhmanufaktur, Goldstickerei, Bandwirkerei werden lebhaft betrieben. Auch der Handel hat sich in neuerer Zeit sehr gehoben und er wird noch weit mehr Bedeutung gewinnen, sobald das Eisenbahnnetz gelegt ist, von welchem Stuttgart der Centralknoten werden soll. Dieses wahrhaft große Unternehmen, welches 27 Millionen Gulden zu seiner Ausführung bedarf, ist das sprechendste Zeugniß von der Einsicht, der Eintracht und der Kraft, welche in Würtemberg alle Elemente des Staats beleben, und das kleinste Königreich in Europa stellt damit, wie durch seine Zustände im Allgemeinen, ein Beispiel auf, beschämend für viel größere Reiche und der Nachahmung aller würdig.