Das Pariser Rathhaus
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Paris ist das aufgeschlagene Buch der neuern Geschichte. Man liest es, indem man durch seine Straßen wandelt, und der Name jedes Platzes, jedes Markts, jeder Brücke, jedes Palastes wird zur Ueberschrift eines inhaltschweren Kapitels. Wie in Paris das Leben selbst keinem ruhigen Strome, oder stillen See, gleicht, sondern einem Wasserfalle, der mit betäubendem Geräusch von Stufe zu Stufe stürzt: – so verliert auch der Strom der Geschichte, sobald er die Ringmauern von Paris berührt, die ruhige Bewegung, er thürmt und kräuselt seine Wogen und bildet bald Strudel, bald Katarakte.
Am wildesten tosen sie im Centrum der ungeheuern Stadt, welches die Tuilerien, das Louvre, dasRathhaus, das Palais Royal, den Justizpalast und die Kaien von dem Pontneuf bis zum Palast des gesetzgebenden Körpers begreift. Es umfaßt zugleich den ältesten Theil von Paris: die Cité, wo schon Julius Cäsar Geschichte machte. Sie ist sehr unregelmäßig gebaut, häßlich, schmutzig; voll enger, dunkler Gassen und schmaler Durchgänge. Die Bevölkerung ist unglaublich dicht; auf allm Straßen drängen sich die Wagen und Menschen; denn hier, im Mittelpunkt der Stadt, kreuzen sich und berühren sich die Verbindungen aller Quartiere.
Alle Centralanstalten des Reichs sind um den Mittelpunkt von Paris versammelt: Hof, Kammern, Börse, Bank, Academie, Ministerien, Gerichtshöfe, Münze; die großen Hospitäler und die Verwaltung der [15] Stadt selbst. Letztere ist ausgedehnter und verzweigter als die manches Königreichs; denn Paris hat ein Budget von 55 Millionen Franken, also größer als das Budget Bayerns.
Der Sitz der Verwaltung ist das hôtel de ville, das Rathhaus, ein alter, stattlicher Bau noch aus Franz des Ersten Zeit. Es steht am Greveplatz, der auf zwei andern Seiten mit Gebäuden umschlossen ist, seine vierte aber frei der Seine zukehrt.
Auf diesem Platze wimmelt eine Welt von Ereignissen und jeder Pflasterstein erzählt von einer großen oder schaudervollen Begebenheit. Die furchtbarsten Erinnerungen der Revolution drängen sich an dieser ihrer Richtstätte zusammen. Die entsetzlichsten Thaten, die größten Katastrophen, die größten Umwälzungen, die größte Hingebung, die ärgste Schuld, die vollendetste Bosheit, das schauderhafteste Verbrechen, – alle Tugenden und alle Niederträchtigkeiten sind abwechselnd über diese Bühne gegangen. Wenn du auf dem Greveplatz stehst, stehst du gleichsam im Mittelpunkt der neuern Geschichte; du siehst weltbewegende Begebenheiten über dir, um dich, unter dir, alle treibend, oder getrieben, alle brütend und mit Fortwirkung ohne Ende.
Das Pariser Rathhaus steht hier ganz an seinem Platze; denn welche Szenen haben seine Säle gesehen, welche Begeisterung und Aufopferung für das Herrlichste und Edelste auf Erden, und welche Auftritte cannibalischer Mordlust, teuflischer Intrike und superlativer Thorheit! An jenem Mittelfenster wurde Ludwig XVI., nachdem ihn der Pöbel von Versailles geholt hatte, dem Volke vorgestellt als neuer Kustos der jungen Freiheit, und an demselben Orte präsentirte Lafayette den Ludwig Philipp als – die beste Republik! Hier hatte die Revolution ihr Hauptquartier viele Jahre. Hier saß sie zu Gericht und stürzte ihr blutiges Beil auf Schuldige und Unschuldige herab; hier machte sie ihre Verwandlungen, hier wurde sie geschändet und verrathen, hier verkauft und verhandelt; hier hat man die Freiheit als Sklavin dem Kaiserthum überantwortet, das Kaiserthum der Restauration geopfert und diese der zweiten Revolution. Wenn man die Gesetzgebung in die Narrenhäuser verlegte, Aergeres könnte nicht zu Tage kommen, als aus diesem Hause hervorging. 1793 beschloß die Stadtgemeinde, die Pariser Zuckerbäcker sollten bei Todesstrafe ihre Süßigkeiten ohne Zucker backen; denn Zuckergebackenes mache aristokratische Gesinnung; ein anderes Dekret des Gemeinderaths erklärte alle Personen für des Royalismus verdächtig, welche bei den Speisewirthen nur die Kruste vom Brode äßen, und die Krume liegen ließen; ein anderes Dekret in demselben Jahre beschuldigte des Aristokratismus alle Haarkräusler, welche das Haar der Guillotinirten kaufen würden, um Perücken daraus zu machen, und wer von einem Hingerichteten Haare auf seinem Kopfe trüge, der solle selbst zur Guillotine. In Folge dieser und ähnlicher Gesetze wurden noch an denselben Tage 7090 Personen eingezogen. Am 21. Floreal des nämlichen Jahres wurde beschlossen, ein Ehrenprotokoll darüber aufzunehmen, daß man 1687 Franzosen guillotinirt habe; und in dem nämlichen Jahre wurde der Beschluß gefaßt, [16] die große Nation solle ein höchstes Wesen anerkennen! Hier wurden den Robespierres, den Marats und andern Männern des Schreckens Bürgerkronen votirt, hier hatten alle Häupter der Revolution nach einander ihre Stützen; aus diesen Sälen gingen sie hervor, und in diesen Sälen wurden sie verlassen und geopfert. Hier gab die gute Stadt Paris Napoleon, nachdem er dieFreiheit erwürgt hatte, die glänzendsten Feste; hier legte sie sich ihm demüthig zu Füßen und goß die Schale der Vergötterung über ihn aus, und hier wurde von der nämlichen guten Stadt Paris seine Absetzung 1814 mit Jubel empfangen. Hier hat man die fremden Eroberer begrüßt, hier für Ludwig XVIII. die Beinamen: Ersehnter und Vielgeliebter – votirt, kurz nachher Ehrenpforten und Adressen der Unterwürfigkeit und Treue für den Kaiser, als er von Elba wiederkam, und ehe noch die Tinte des Protokolls darüber trocken war, da ward, nach der Waterlooschlacht, Napoleon’s abermalige Absetzung vorgeschlagen. Hier machte man Ehrenadressen an Karl X., hier stieß man die ältern Bourbons vom Throne, und hier ward Ludwig Philipp auf den Thron erhoben.
So ist Paris, so ist Frankreich; – aber über die Erscheinungen steht die ewige Weisheit und lenkt mit Gerechtigkeit und Liebe. Sie, die auf dem Schneehügel des Grabes neues Leben weckt, knüpft auch die Faktoren der Weltgeschichte, so nichtig und verwerflich sie einzeln seyn mögen, in einen Strauß zusammen, der die Menschheit schmücken und verschönern kann, so wie er schädliche Nebel zusammenschaart, oder schwarze Feuerwolken, wenn er seine Erde mit befruchtendem Regen erquicken will. Darum sollen wir, geschieht auch Arges vor unsern Augen, nicht verzagen, sondern Vertrauen behalten zu Dem, der die Gestirne in ihre Bahnen weist, und nur selbst vom Streit für das Rechte und Gute nicht lassen, wenn auch das Schlechte zuweilen siegt und das Unrecht vorübergehende Triumphe feiert.