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Sankt Stephan in Wien

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
CCCCXXXII. Die Fernsicht von Wien Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band (1843) von Joseph Meyer
CCCCXXXIII. Sankt Stephan in Wien
CCCCXXXIV. Die Löwenburg auf der Wilhelmshöhe bei Cassel
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SANCT STEPHAN IN WIEN

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CCCCXXXIII. Sankt Stephan in Wien.




„Wir stehen“ – schildert Duller – „auf dem Stephansplatze. Vor Dir siehst Du den altersgrauen Dom in seiner ehrwürdigen Pracht mit der Riesenpyramide wie ein erhabenes Epos. Du zweifelst, ob Du mehr die Kühnheit der Phantasie, oder die Zierlichkeit in der Ausführung bewundern; ob Du dem gewaltigen Menschenstolze, oder dem Wunderthäter: dem Glauben, die Kraft beimessen darfst, welche ein solches, fast übermenschliches Werk vollbracht hat. Der Bau ist aus Sandsteinquadern aufgethürmt, und doch gemahnt er Dich mit seinen zahllosen Giebeln und Nebenthürmchen, die wie frische Schößlinge und junge Zweige aus dem Stamme ranken, mit seinem durchbrochenen Laubwerk, aus welchem allerlei abenteuerliche Thiergestalten hervorspringen, mit jenem ungeheuern Schaft, dessen Blüthenkrone, der Sonne frei aufgeschlossen, Kreuz und Blüthe trägt, wie ein heiliger Hain, der aus einer Wurzel emporgewachsen. Trittst Du in sein Inneres, so wird dies Bild noch deutlicher. Ein in bunten Farben zersplittertes, magisches Licht belebt jenes steinerne Volk von Engeln, Heiligen, Aposteln und Kirchenfürsten; schlanke Säulenstämme wachsen aus dem Boden hinan zur hohen Decke und breiten, im farbigen Lichte zitternd, die Aeste auseinander; wunderliche Thiergestalten schauen Dich an, da und dort, Affen und Meerkatzen und geflügelte Bestien und fremde Schlingpflanzen siehst Du an den Aesten klettern; Du wähnst Dich in einem fernen Wunderland des Ostens, auf den Höhen, wo Christus wandelte und die Patriarchen dem Herrn ihre Dankopfer brachten.

[33] Die Stephanskirche hat im Grundriß die Gestalt eines lateinischen Kreuzes. Fünf Pforten führen in das Innere: das sogenannte Riesenthor, das nur selten, bei großen Ereignissen und besondern feierlichen Anlässen, geöffnet wird; das Primglöckleinthor unter dem ausgebauten, das Adlerthor unter dem unausgebauten Thurme, jedes mit einer prächtigen Vorhalle; zwischen beiden, von der Längenseite bis zur Stirnseite, sind zwei andere Eingänge. Die beiden Thürme sollten gleich hoch werden; doch der eine nur ist ausgebaut; der andere wurde bis zu ein Drittel seiner Höhe gebracht und dann mit einem haubenförmigen Dache eingedeckt. Das Kirchendach prangt, wie der Rücken eines geschuppten Drachen, mit glasirten, bunten Ziegeln, welche einen Adler mit ausgebreiteten Flügeln vorstellen. Es ist das größte Thierbild, das wohl je auf ähnliche Weise ausgeführt wurde; denn es mißt von einer Flügelspitze zur andern 188 Fuß.

Der erste Herzog von Oesterreich, Heinrich Casemirgott, hat 1144 an der Stelle einer alten Kapelle den Grundstein zum Dome gelegt. Erster Werkmeister war Octavian Wolzner aus Krakau. Ein Bischof von Passau machte den Plan. Von diesem ersten Bau sind noch das Riesenthor und die beiden kleinern Thürme vorhanden. Als Sankt Stephan 1258 und 1275 durch Feuersbrünste gelitten hatte, wurde der Plan zum Umbau des Tempels in seiner jetzigen Gestalt entworfen und bis 1511 mit mehren Unterbrechungen fortgeführt, wo man den Bau des zweiten Hauptthurms gänzlich aufgab. Pilgram aus Brünn war der erste Baumeister des Riesenwerks, und unter dem kunstreichen Hans Buchsbaum wurde das Hauptgewölbe des hohen Chors 1446 geschlossen. Anton Pilgram, Enkel des ersten Baumeisters, der zu dem großen Thurme 83 Jahre früher 80 Fuß tief unter der Erde den Grund gelegt hat, setzte 1433 den Adler auf dessen Spitze. 1449 schlug der Blitz in den Thurm und entzündete das Holzwerk; 1514 traf ihn abermals der Blitz; große Reparaturen wurden nöthig, deren Wiederherstellung 5 Jahre erforderte. Spätere Bauten betreffen blos das Innere und nicht sowohl seine Verzierung, als Verunstaltung. – Eitelkeit, Prunksucht und Kunstverwilderung haben Sankt Stephan mit geschmacklosen Altären und Grabmonumenten ohne Zahl angefüllt. Von den 31 Fenstern, die sämmtlich ehemals mit den schönsten Glasmalereien angefüllt waren, sind jetzt noch in dreien die Gemälde erhalten. Die übrigen haben die Geschosse des Kriegs bei den vielen Belagerungen, welche Wien auszustehen hatte, zertrümmert.

Das räumliche Größen-Verhältniß von Sankt Stephan zur Peterskirche in Rom ist wie 1 zu 4. Seine äußere Länge mißt 321 Fuß; das Innere ist in 3 Schiffe getheilt, welche durch 18 freistehende 8 Fuß dicke und 86 Fuß hohe Säulen getragen werden. Der Thurm hat vom Straßenpflaster bis zur Spitze eine Höhe von 421 Fuß; von dem Grundstein an aber mißt er bei 500 Fuß und er steht also der großen Pyramide von Gizeh [34] an Höhe nur wenig nach, gehört überhaupt unter die 10 höchsten Gebäude der Erde. In den Türkenbelagerungen war der Thurm die gewöhnliche Zielscheibe des schweren Geschützes; er hat aber demselben jederzeit wie eine Felsmasse widerstanden. Nur die schwächere Spitze litt bei der letzten furchtbaren Belagerung Kara-Mustapha’s so sehr, daß sie sich neigte und vor einigen Jahren deshalb abgenommen und erneuert werden mußte.

Unter den unzähligen Werken kunstverdorbener Zeiten, von welchen Sankt Stephan voll ist, ragt Einzelnes hervor, welches die Bewunderung aller Zeiten verdient und erhalten wird. Zuerst die Kanzel. 28 Fuß hoch erhebt sie sich mitten im Hauptschiff der Kirche als eins der herrlichsten Denkmäler deutscher Steinbildnerei. Wenn man die Zierlichkeit und Beweglichkeit der Formen an dieser ungeheuern Steinmasse aufmerksam betrachtet, kann man sich des Gedankens nicht erwehren, daß die alten Meister die Kunst verstanden haben müssen, den Stein zu gießen, oder im erweichten Zustande zu modelliren: denn daß der Meißel so etwas hervorbringen könne, übersteigt den heutigen Begriff von der Technik der Kunst. Und doch war’s der Meißel allein, der das Wunderwerk gefertigt hat. Der Meister, (Hans Buchsbaum), hat sein Bildniß mitten unter Aposteln und Kirchenfürsten recht naiv und sinnig angebracht: eine ernste Gestalt ist es, mit Winkelmaß und Zirkel. Das Dach der Kuppel ist kunstvoll aus Holz geschnitzt, mit unzähligen Figuren; eben so das Treppengeländer. Garstiges und unfreundliches Ungeziefer: – Frösche, Eidechsen, Schnecken, Schlangen, – kriecht und windet sich hinan, alles so naturgetreu, als ob es lebte. Diese Schnitzarbeiten und jene eben so kunstvollen an den Chorstühlen, sind wahrscheinlich von der Hand Jörg Sürlins, der 1469 die schönen Chorstühle in Ulm verzierte. In gleichem Kunstwerthe steht das Grabmal Kaiser Friedrichs IV., von Niklas Lercher in Straßburg 1513 vollendet. Der Meister hatte zwanzig Jahre daran gearbeitet. Es befindet sich vor dem Altare im Passionschore.

Nach dieser kurzen Umschau im Innern des Tempels besteigen wir den Thurm.

Nicht weniger als siebenhundert Stufen führen von dem untersten Eingange bis zur Region, in der die Thurmwächter ihre Wohnung haben. Doch ehe wir in deren Hände überliefert werden, haben wir eine Menge andere zu passiren, und erst an der Spitze selbst, die man nur auf schwankenden Leitern zu erklimmen wagen kann, nimmt die Gefälligkeit der Thurmbewohner ein Ende. Ganz unten, im Niveau mit der Kirche, macht gewöhnlich ein junger Geistlicher den Cicerone. Weiter hinan, bis zum Kirchdach, herrschen die Küster. Dann kommt man in das Territorium der Glöckner; oben schalten die Thurmwächter, und im Innern der Spitze geben Fledermäuse in ungezählten Schaaren das Geleit. Diese machen die Honneurs umsonst; alle andern lassen sie sich tüchtig bezahlen. Auf jeder Treppe und jedem Absatz haben diese Leute etwas zu zeigen, oder geben dem Beschauer etwas zu bewundern; bald eine große Glocke, bald eine Inschrift; bald ein Schallloch, durch welches irgend ein Lebensmüder oder Wahnsinniger sich hinabgestürzt hat, und sie erzählen seine Lebensgeschichte in [35] Kauf. Die große Glocke wiegt 354 Centner, ihr Klöppel allein 1300 Pfund. Der Thurm wanke, sagt man, wenn sie geläutet werde.

Der Stephansthurm hat seine eigene Fauna und Flora, und sie ist merkwürdig genug. Letztere besteht meistens aus zahlreichen Cryptogamenarten, von welchen viele in ausgezeichneter Ueppigkeit an dem alten Gemäuer wuchern. Im Februar fängt die Wetterseite des Thurmes ordentlich zu grünen an, und sie dient den kundigen Wienern für ein Merkmal des kommenden Frühjahrs. Die Südseite hat dagegen wenig Pflanzen. – Krähen, Dohlen, Habichte machen den Stephan zu ihrem Spiel- und Sammelplatze; Eulen sind seltene Gäste, und selbst das Käuzchen soll nie heimisch seyn. Dagegen haben alle Arten von Fledermäusen unzählige Kolonien gestiftet, und sie machen die größte Plage der Thurmbewohner aus, die, zumal bei ihren Nachtpatrouillen, vor diesen Kobolden Laternen und Angesicht nicht genug schützen können. Eine andere Plage sind die Schnaken. Man sollte es kaum denken, daß diese kleinen Insekten der Niederung bis zur Spitze fliegen könnten; man sieht sie zu Tausenden zwischen den durchbrochenen Verzierungen des Abends im Sonnenschein spielen. Stuben- und Stechfliegen kommen auch hinan, eben so mancherlei Käfer und das zirpende Heimchen. Der Spinnen sind Legion, und sie finden reichliche Nahrung. Ratten und Mäuse führen ihre Niederlassungen bis zur Höhe des Kirchdachs; weiter oben trifft man sie nicht mehr. –

Furchtbar ist die Janitscharen-Musik der Winde auf dem Thurmriesen. Wenn Gott die Stürme entzügelt, wird jedes Schallloch zur Orgelpfeife und heult seinen eignen Schreckenston. Denke man sich dazu das Kreischen und Sausen in allen Steinlöchern, Ritzen und Winkeln, das Wanken und Knarren der Geländer und Treppen, das Schlagen und Rasseln der Fensterläden und Thüren, das wilde Heer der vorüberjagenden Wolken und Nebelgestalten, das Leuchten der Blitze, das Prasseln des Hagels, das Gepauke des Donners – und die Sage, daß ein Fremder, der von einem Gewitter auf dem Stephansthurme überrascht worden war, in dem Glauben, der Tag des Weltgerichts sey gekommen, von oben hinabsprang in der Angst seiner Seele, wird nicht unglaublich erscheinen. –

Die Aussicht von dem Stephansthurm ist großartig. Wiens Häuserlabyrinth, mit seinem Glück und seinem Elend, fließt in eine chaotische Masse zusammen; die Märkte erscheinen Tellergroß, die breiten Straßen wie schmale Furchen, die stolzen Paläste schrumpfen zu Kartenhäusern ein, die Menschen zu Ameisen; – aber weit öffnet sich das Land, bis an die Marken Ungarns dringt der Blick, über die Wahlstätten hin, wo so vielmal die Völker aus Ost und West mit einander um die Herrschaft der Welt gerungen, und in blauer Ferne thürmt sich das ewige Gemäuer der Alpen. Die Vista ist schöner, als selbst vom Wienerberge aus, und lohnt den ermüdenden Gang reichlich.

[36] Nun hinab in die Katakomben des Sankt Stephan!

Eine kleine Pforte an der Außenseite der Kirche bildet den Eingang in diese weiten Hallen des Todes; ein zweiter führt aus der Wohnung des Pförtners dahin, und dieser letztere ist der gewöhnliche. Der Führer reicht jedem Fremden ein Licht; er selbst zündet eine Wachsfackel sich an, und so gerüstet beginnt die Fahrt. Ein schmaler, schlechtgewölbter Gang führt zuerst zu einer großen steinernen Treppe. Man steigt hinab und es öffnen sich weite, kellerartige Gewölbe. Zu deren Seiten sind Gerippe, Schädel, Knochen in schöner Ordnung hoch bis an die Decke aufgeschichtet und fort geht der Zug zwischen Wänden menschlicher Gebeine.

Plötzlich hält der Führer still. Er warnt, vorsichtig nähert er seine Fackel dem weiten Rande einer ungeheuern Gruft, die senkrecht in unbekannte Tiefen hinab führt. Das Licht fällt hinein: welch ein Anblick! nackte Todtengerippe, ohne Särge, in unendlicher Zahl, grinzen im wilden Durcheinander aus der Tiefe. Noch decken die Häute, zu Pergament verwandelt, die Glieder, denn in dieser Gruft verwesen die Leichen nicht, sie vertrocknen blos, wie unter dem Bremer Dom. Man erkennt noch die Züge, den Ausdruck, den Charakter der gespenstigen Gestalten, und während Du mit Schauergefühl in den Abgrund starrst, bückt sich der alte Mann über den Rand der Gruft hinab, und faßt eines der Gerippe, hebt es hoch empor und schwenkt seine Fackel so, daß Du alle Formen der Schreckensgestalt gewahren magst; – dann schleudert er sie wieder hinab in den Abgrund, und das Mark in den Knochen erbebt Dir vor ihrem Rasseln. Er nimmt ein zweites und drittes und viertes auf – einen Mann, ein Weib, ein Mädchen – und ladet ein, die Haut zu betasten, da sie noch nachgiebig sey, oder trommelt mit dem Finger auf der hohlen Brust. Während dieser Demonstrationen flattern aufgescheuchte Fledermäuse um die Lichter und der Mann warnt, die Hand vorzuhalten, daß sie nicht erlöschen. – Weiter geht’s durch lange Gänge voll Gebeine, bis zu einer Halle, die wahrscheinlich in ältester Zeit als Todtenkapelle gedient hat. Undeutliche Massen von Schutt erheben sich vom Boden – lange dauert’s, ehe das Licht den weiten Raum erhellt und das Auge die Gegenstände unterscheiden kann; – kletternd folgt man dem Führer auf eine Schutthaufenspitze und schaut um sich: welche gräßliche Scene! Du siehst Dich auf Menschen stehen, denn aus Menschengerippen bestehen alle diese Haufen – und Leichname, noch mit der Haut bekleidet, grinzen aus jeder Ecke und von allen Wänden in allen Stellungen Dich an. Wer das jüngste Gericht Michel Angelo’s in der Peterskirche mit Schaudern sah, – hier findet er eine tausendmal gräßlichere Wirklichkeit wieder. Abermals treibt der alte Mann seine Kurzweil mit den Todten: bald zeigt er Dir einen „schönen Mann,“ bald ein „schönes Weib“ – und er sucht und wühlt in den Gerippen umher, Dir noch mehr zu zeigen, bis Du, voll Ekel und Entsetzen, es ihm wehrst, und ihn zum Aufbruch treibst. Ehe er Dich aber den Rückweg leitet, führt er Dich zu einer zweiten, tiefen [37] Gruft von großem Umfang, hält seine Leuchte niedrig und bittet Dich, hinunter zu sehen. „Da liegen viele Tausende,“ bemerkt er, „denn das Loch ist hundert Ellen tief.“ In geringer Entfernung davon gähnt eine weite Spalte im Gemäuer und ein Schacht geht hinauf bis zum Fußboden der Kirche, mit der er durch eine eiserne Fallthür communizirt. Der Führer hält seine Fackel in den Riß der Mauer und bemerkt, sie sey geborsten vom Drucke der Leichenmassen. In diesen Schacht wurden noch vor 50 Jahren die Todten begraben, oder vielmehr nicht begraben, denn man ließ die Särge durch die Fallthüre mit Stricken ein Stück Wegs hinab- und dann vollends hinunterstürzen. Noch sieht man zerbrochene Särge, aus denen Gerippe gähnen; manche hängen kopfüber, kopfunter, oder gucken halb unter den klaffenden Deckeln hervor. Eine Leiche hat sich im Sturze sogar zwischen die Mauerspalte hinein gezwängt und streckt Dir ihre Arme entgegen, auf denen Fledermäuse trappeln, aufgestört von der Leuchte des Führers.

Doch genug. – Auch Joseph II. hatte sich einst in die Katakomben führen lassen, um die irdischen Reste von Oesterreichs großen Männern und Geschlechtern bei einander zu sehen; entsetzt über den Gräuel, den er gefunden halte, schrieb er in derselben Stunde jenen denkwürdigen Befehl, welcher das Begraben in den Kirchen durch’s ganze Reich verbot, und seit der Zeit erhalten die Grüfte von St. Stephan keine neuen Bewohner.