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Die Fernsicht von Wien

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CCCCXXXI. Die Kettenbrücke über die Dordogne Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band (1843) von Joseph Meyer
CCCCXXXII. Die Fernsicht von Wien
CCCCXXXIII. Sankt Stephan in Wien
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FERNSICHT VON WIEN

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CCCCXXXII. Die Fernsicht von Wien.




„Wie gefällt Ihnen Wien?“ – Ich habe es noch nicht gesehen. „Wie? sind Sie nicht schon zwei Monate bei uns?“ – Bisher sah ich nur Fragmente Ihrer Hauptstadt. Der Totaleindruck fehlt mir noch. Ich kam mit dem Dampfschiff des Nachts an, und seitdem haben mich die interessanten Dinge und Menschen in meiner Nähe wie in einem Zauberkreise festgehalten. – „Warten Sie“ – sagte mein Freund – „morgen früh sollen Sie Wien sehen. Um 5 Uhr rufe ich Sie ab.“

Der Freund war pünktlich. Ehe noch die Sonne über die hohen Häuser schien, wanderten wir schon durch die schlummernden Straßen dem Wienerberge zu.

Ein prächtiger Maimorgen lachte uns entgegen. Wir gingen zwischen blühenden, sprossenden Gärten und an lichtgrunen Saaten hin, die Höhe hinan. Der zusammengesunkene Sonnenduft wallte und leichte Nebel zogen über die Erde hin wie silberne Schleier. In den Lüften jubelten die Lerchen, in den Büschen flöteten Nachtigallen, Zeisige zwitscherten, es schmetterte der rothbrüstige Fink, die Bienen summten und tausende von Käfern schwirrten voll Lust. Von den Baumwipfeln herab tönte Rauschen, als liefe die allmächtige Hand leise über das Saitenspiel der Schöpfung. Im Aether war Nachklang wie Jauchzen und die unsichtbaren Geister des Frühlings zogen als strömende Düfte vorüber. Die Wonne preßte unsere Seelen: – herrlich! herrlich! riefen wir einmal über das Anderemal aus, als der verstärkte Odem des Windes alle Düfte und alle Blüthen unter einander mengte und der ferne Wald mit seinem Baßbrausen hörbar wurde und Chorus machte zur allgemeinen Feier. So kamen wir zur Höhe, wo jene alle Denksäule steht, die unter dem Namen „die Spinnerin am Kreuze“ einen ganzen Sagencyklus um sich geschaart hat. Auf den Stufen des Monuments setzten wir uns nieder. Unsere Seelen waren trunken, unsere Körper ermüdet; wir suchten Ruhe.

Der Wind hatte sich gelegt; ein silberweißer Dunstschleier umhüllte die ganze Tiefe; das Auge suchte die Kaiserstadt vergeblich. Auf der Stelle ihres unermeßlichen Häuserchaos und des lachenden Donauthals sahen wir ein Nebelmeer, begrenzt von fernen Gebirgen. Glänzend und wallend hob es sich bald, bald senkte es sich wieder, wie ein zwischen Vorsatz und That schwankendes Menschenherz. Der Ruhe und des Genusses froh, [30] folgten unsere Blicke den Spielen des Nebels, und der Gedanke, daß wir den eigentlichen Zweck unsers Ausflugs missen könnten, beruhigte uns nicht.

Da rauschte es plötzlich in den Wipfeln, der Wind erhob sich, und vor dem frischen Hauche des Ostens zerriß der verhüllende Schleier im Nu. Aufgethan lag vor unserm Auge die Tiefe wie ein Tempel, über dem sich der blaue Himmel als Decke wölbt. Glänzend und funkelnd im Morgensonnenstrahle, wie eine reiche, geschmückte Braut, breitete sich die Stadt aus, und ihr zur Seite schimmerten die Silberfluthen der Donau und die grünenden, blühenden Auen, und auf der bethauten Ebene brach sich das Licht des Sonnenfeuers in allen Farben. Die Fernen umfaßte ein Alpengurt, und an den nähern Bergen hingen Wälder wie grünes Moos. Mein Freund ergriff meine Hand, ich drückte sie dankend, und er rief mit einem Blicke, in dem sich Stolz und Freude mischten: „Sehen Sie dort unser Wien: wie schön!“

Und in der That konnte kein Punkt besser gewählt seyn. Man übersieht vom Wienerberge aus die Metropole eines Blicks in ihrer ganzen Herrlichkeit und Pracht, man sieht sie in der Fülle ihres Lebens und fühlt die ganze Bedeutung ihres Daseyns. Zu drei Seiten umfangen von den Armen der waldgeschmückten, mit Schlössern und Landsitzen gekrönten Berge, gleicht sie der Arena eines ungeheuern Cirkus, wo ein ganzes Volk sich im Wett- und Kampfspiel des Lebens drängt. Die ragenden Thürme erscheinen wie die Marksäulen der Rennbahn und des Stephans grauer Riese wie das Ziel, hinter welchem die Richter die Preise vertheilen. Es liegt eine Wahrheit in diesem Bilde. Wie viele Tausende ziehen nicht fort und fort dieser Arena zu, von keckem Muthe und frohen Hoffnungen umflattert, oder vom Feuer der Ehrsucht durchglüht, um einen Standpunkt im äußern Leben zu gewinnen, wo sie im Nebel, in Glanz, oder in Regenbogenfarben gesehen werden können! Wie Viele auch betreten hier ihre Laufbahn, begeistert für Alles, was groß ist für den Menschen: für Pflicht, Vaterland, Freiheit, Ruhm, und mit dem Vorsatz, redlich nach dem einen, rechten Ziele zu ringen! Jedoch wie Wenige gehen bekränzt als Sieger aus jenen Kämpfen und von diesem Rennen für Schein oder Wahrheit! Wie Wenige erreichen ihren irdischen Zweck ganz, und wie noch viel Wenigere nehmen die Palme mit hinüber in das weite Land des Friedens! Doch haben diese vor jenen den Vortheil, daß, wenn auch das höchste Ziel nur Einzelne erreichen, dennoch kein Streben für’s Gute und Rechte im All nutzlos und fruchtlos ist, und es nicht ohne einen Antheil an der Zeit- und Völkerbeglückung bleibt. –

Selbst bei hellem Wetter ist schwer zu unterscheiden, wo eigentlich die Marken der Hauptstadt beginnen, oder endigen. Bei der Entfernung des Standpunktes rücken nämlich alle die vielen Orte, welche 1 bis 2 Stunden von Wien liegen, mit ihren Gärten und Saaten und Rebenhügeln den Vorstädten so nahe, daß sie dem Auge als ein zusammengehörendes Ganze erscheinen. So stellt sich Wien, gleichsam prophetisch, schon als das dar, [31] was es im Laufe von ein paar Jahrhunderten ohne Zweifel werden wird: eine Stadt von mehr als doppelter Größe, deren weitgestreckte Arme die umliegenden Orte erfassen und ihrem Körper in ähnlicher Weise einverleiben werden, wie solches z. B. von London geschehen ist. Wien mit seinen 400,000 Einw. ist noch viel zu klein im Verhältniß zu der großen Monarchie voll Kraft und strotzenden Lebens, deren Herz es ist, und wo die großen Schlagadern zusammenlaufen, welche den Kreislauf der Säfte durch das colossale Reich bedingen. Oesterreich ist viel volkreicher als Frankreich, und Paris hat 1,200,000 Einwohner; es ist dreimal so groß, als Preußen, und Berlin kömmt an Bevölkerung Wien ganz nahe. Wien liegt überdies günstiger als alle Hauptstädte Europa’s: an dem großen Strome, der die Verbindung des Morgen- und Abendlandes vermittelt; es ist der große Markt, wo sich die materiellen und geistigen Güter des Verstandes mit denen des Ostens naturgemäß tauschen; es ist der Ort, dessen ungeheuere commerzielle und industrielle Bedeutung kaum von der Gegenwart geahnet, erst von der Zukunft ganz erkannt und begriffen werden wird. Schon streckt es seine Verbindungen, als so viel Hebel seines Wachsthums und seiner Größe, mit jedem Jahre weiter gegen Ost und West; der Kanal, der die Donau und den Main verbindet, öffnet ihm die nördlichen Meere; die Eisenbahn nach Triest rückt die südlichen Wasserstraßen an seine Thore, und die großen Linien des mitteleuropäischen Eisenbahnnetzes laufen in ihm, als in ihrem südlichen Mittelpunkt, zusammen; nichts drückt die Mission, welche der österreichischen Kaiserstadt für die Zukunft vorbereitet wird, deutlicher, großartiger aus, als diese Verhältnisse, und in ihnen liegt auch die Gewährschaft für Wiens glänzendes Gedeihen und sein weiteres Wachsthum.

Nur im Westen läßt der Blick vom Wienerberge aus eine Reihe anmuthiger Orte in der Umgebung Wiens deutlich abgegrenzt unterscheiden: so Kloster-Neuburg, Döbling, Heiligenstadt, Geinzing, Sievering, Dornbach, Schönbrunn, Hietzing, Mödling und Laxenburg, der gemüthliche Sommersitz des österreichischen Herrschers. Alle diese Orte und noch zwanzig andere wimmeln im Sommer von Wiener Familien, welche mit glücklicher Empfänglichkeit dem Landleben leicht diejenigen Reize abgewinnen, welche der Städter allein auffindet,. die aber Denen verloren gehen, welche sie alltäglich und ohne Abwechselung vor Augen haben. Die sömmerliche Emigration beginnt in den ersten Maitagen, und wenn die letzten Trauben gekeltert sind, dann kehren auch die letzten Auswanderer in die Stadt zurück. Die Bevölkerung Wiens ist daher im Winter immer um 20 bis 25,000 Seelen größer, als in der schönen Jahreszeit.

Wer aber nicht auf dem Lande wohnen kann, der verschafft sich die ländlichen Freuden auf eine wohlfeilere Weise. Der Wiener braucht keine weitläufigen, kostspieligen Voranstalten; macht der Himmel ein heiteres Gesicht, so sind ein paar fröhliche Herzen, oder gleichgesinnte Familien bald gefunden, und gemacht wird die Landpartie in derselben Stunde, wo man sie beschlossen hat. Ein grüner Rasenfleck, ein schattiger Baum im [32] Freien sind dann das Ziel; man servirt sich einander die selbst mitgenommenen Speisen und Getränke und kehrt heim mit leichten Körben und leichten Herzen am späten Abend. Es ist nicht Rohheit, nicht sinnliches Wohlleben, was den Wiener für den Genuß solcher einfachen Freuden so empfänglich macht; seine Lust daran geht aus dem größten Schmuck seines Wesens und dem Zauber des Wiener Lebens – seinem Gemüthe – hervor, das, allen widerstrebenden Einflüssen einer selbstsüchtigen, berechnenden Zeit zum Trotz, sich aus sich selber verjüngt von Geschlecht zu Geschlecht.