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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
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Kauf. Die große Glocke wiegt 354 Centner, ihr Klöppel allein 1300 Pfund. Der Thurm wanke, sagt man, wenn sie geläutet werde.
Der Stephansthurm hat seine eigene Fauna und Flora, und sie ist merkwürdig genug. Letztere besteht meistens aus zahlreichen Cryptogamenarten, von welchen viele in ausgezeichneter Ueppigkeit an dem alten Gemäuer wuchern. Im Februar fängt die Wetterseite des Thurmes ordentlich zu grünen an, und sie dient den kundigen Wienern für ein Merkmal des kommenden Frühjahrs. Die Südseite hat dagegen wenig Pflanzen. – Krähen, Dohlen, Habichte machen den Stephan zu ihrem Spiel- und Sammelplatze; Eulen sind seltene Gäste, und selbst das Käuzchen soll nie heimisch seyn. Dagegen haben alle Arten von Fledermäusen unzählige Kolonien gestiftet, und sie machen die größte Plage der Thurmbewohner aus, die, zumal bei ihren Nachtpatrouillen, vor diesen Kobolden Laternen und Angesicht nicht genug schützen können. Eine andere Plage sind die Schnaken. Man sollte es kaum denken, daß diese kleinen Insekten der Niederung bis zur Spitze fliegen könnten; man sieht sie zu Tausenden zwischen den durchbrochenen Verzierungen des Abends im Sonnenschein spielen. Stuben- und Stechfliegen kommen auch hinan, eben so mancherlei Käfer und das zirpende Heimchen. Der Spinnen sind Legion, und sie finden reichliche Nahrung. Ratten und Mäuse führen ihre Niederlassungen bis zur Höhe des Kirchdachs; weiter oben trifft man sie nicht mehr. –
Furchtbar ist die Janitscharen-Musik der Winde auf dem Thurmriesen. Wenn Gott die Stürme entzügelt, wird jedes Schallloch zur Orgelpfeife und heult seinen eignen Schreckenston. Denke man sich dazu das Kreischen und Sausen in allen Steinlöchern, Ritzen und Winkeln, das Wanken und Knarren der Geländer und Treppen, das Schlagen und Rasseln der Fensterläden und Thüren, das wilde Heer der vorüberjagenden Wolken und Nebelgestalten, das Leuchten der Blitze, das Prasseln des Hagels, das Gepauke des Donners – und die Sage, daß ein Fremder, der von einem Gewitter auf dem Stephansthurme überrascht worden war, in dem Glauben, der Tag des Weltgerichts sey gekommen, von oben hinabsprang in der Angst seiner Seele, wird nicht unglaublich erscheinen. –
Die Aussicht von dem Stephansthurm ist großartig. Wiens Häuserlabyrinth, mit seinem Glück und seinem Elend, fließt in eine chaotische Masse zusammen; die Märkte erscheinen Tellergroß, die breiten Straßen wie schmale Furchen, die stolzen Paläste schrumpfen zu Kartenhäusern ein, die Menschen zu Ameisen; – aber weit öffnet sich das Land, bis an die Marken Ungarns dringt der Blick, über die Wahlstätten hin, wo so vielmal die Völker aus Ost und West mit einander um die Herrschaft der Welt gerungen, und in blauer Ferne thürmt sich das ewige Gemäuer der Alpen. Die Vista ist schöner, als selbst vom Wienerberge aus, und lohnt den ermüdenden Gang reichlich.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/63&oldid=- (Version vom 3.2.2025)