Die Löwenburg auf der Wilhelmshöhe bei Cassel
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Das schöne Cassel hat nicht allein den Vorzug vor andern kleinern deutschen Residenzen, mit vielen Prachtgebäuden zu prangen, auch in seiner Umgebung hat die Kunst mit einer freundlichen Natur zu seinem Schmucke sich vereinigt. In einem Umfange von 3 Stunden sind der Lust- und Jagdschlösser für die fürstliche Familie so viele, als Tage in der Woche. Die Krone aller ist Wilhelmshöhe, ein Palast, der mit seinen Parkanlagen einem Herrscher ziemen möchte, zu dessen Hofhalt so viele Millionen beizusteuern haben, als ein Kurfürst von Hessen der Unterthanen Zehntausende zählt.
[38] Eine von einer Lindenallee beschattete, sechzig Fuß breite Straße führt zwischen den Landhäusern und Gärten von Kassel zu dem Fuße des Habichtswaldes, wo die Anlagen beginnen, die sich stundenlang bis zur Höhe des Gebirges hinziehen und Meiereien, Burgen, Schlösser, Wasserfälle, Felsen, Thäler, Berge, Auen und ganze Wälder einschließen. Fürstlicher Luxus hat hier getrachtet, ein irdisches Paradies zu schaffen, und wenn seinen Besitzern der süße Schlummer des Gewissens nicht gefehlt hat, so konnten sie es auch wohl finden. Das Lustschloß Wilhelmshöhe hat eine Fronte von 750 Fuß, viel größer als die der königlichen Residenz in Berlin, oder der Kaiserburg in Wien. Es besteht aus einem Hauptgebäude mit zwei Flügeln und ist in jenem italienischen Prachtstyl gebaut, der in den letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts bei dem Bau fürstlicher Schlösser Sitte war. Breite, gebahnte Wege umgeben die imposante Gruppe. Es ist schon etwas Königliches in diesen magnifiken Pfaden, welche von Palast zu Palast führen. Reicher architektonischer Schmuck bedeckt die Façaden der Flügel, und den Mittelbau zieren auf beiden Seiten Frontons, jeder von 6 colossalen Säulen, die 47 Fuß hoch sind und 5 Fuß Durchmesser haben, getragen. Der hintere Fronton hat die Inschrift: Wilhelmus Elector conditit. Ueber der Mitte des Schlosses ragt, wie eine Krone, eine runde mit Kupfer gedeckte Kuppel, die eine 62 Fuß im Durchschnitt große Rotunde deckt, deren gewölbte, cassettirte Decke 12 freistehende corinthische Säulen stützen. Hier prangen die Bildnisse aller Ahnen des Kurhauses in Lebensgröße. Wer eine glückliche, aristokratische Anlage mitbringt, kann sich wie ein Fürst fühlen in der Mitte dieser fürstlichen Schaar, die unter dem Baldachin des gemalten Himmels mit den eisernen Wämsern und den ernsten, eisernen Blicken auf ihn herabschaut.
Das Schloß hat Stoff zu einem Buche; wir aber halten uns nicht länger auf, sondern wandern in den Park, zur Löwenburg. Sie liegt auf einem hohen Felsen und verbirgt unter der Außenseite einer Burgruine eine zwar beschränkte, aber gar reizende, fürstliche Wohnung im Geschmack des Mittelalters. Zugbrücken, die in schweren Ketten hängen, führen über die tiefen Felsgräben durch gewölbte Thore in den Burghof. Die Kunst des Steinmetzen hat die Pforten und Hallen reich ausgeschmückt; prachtvoll sind Ritter- und Speisesaal, in allen Fenstern leuchten die bunten Wappenschilder, hellpolirter Waffenschmuck der fürstlichen Ahnen und ihrer Ritter und Knappen steht und hängt an den getäfelten Wänden. Man sieht alte Tapetenmalereien in den Zimmern, die Corridors sind mit den Trophäen des edlen Waidwerks ausstaffirt, und selbst eine mittelalterliche Bibliothek fehlt nicht, mit Incunabeln und Meßbüchern in Schweinsleder und Pergamenten. In der Burgkapelle schläft der Erbauer – Kurfürst Wilhelm; er ruht in einem Marmorsarkophage von der Lust aus, die er hier aus vollen Bechern geschlürft hat. Ruhl’s geschickte Hand fertigte sein Grabmal, an dem die Kunst besser ist, als die Idee: – denn die Darstellung bezieht sich auf den feierlichen Empfang des Kurfürsten im — Elysium! [39] Dabei fällt mir der Bauer ein, der von seinem verstorbenen Amtmanne allerhand Streiche erzählte, und bei jedem Punktum in der Erzählung allemal an seine Mütze griff und ausrief: „Gott hab’ ihn selig!“
„Gott hab’ ihn selig!“ ruft auch das Volk dem Fürsten über dem Sarge nach; denn das Volk ist mild, es erwidert nie erlittene Kränkungen, und nach dem Tode eines Fürsten, wie bald hat es solche vergessen! Nur im offenen Kampfe verwundet es – nach dem Kampfe reicht es dem Gegner fast immer willig, gutmüthig, mitleidig und versöhnend den Arm hin. Das Volk mordet nicht wehrlose Gefangene, quält nicht die Ueberwundenen, verfolgt nicht Geflüchtete, sucht nicht Versteckte auf, beunruhigt nicht Verdächtigte. Es kennt keine Rache! – Wären alle Mächtigen so, wie viel Jammer weniger wäre auf Erden! Und wären jene Buben nicht, welche die Rachsucht stets als Gerechtigkeit preisen, die Regeln der Gewalt als heilige Gesetze auf den Altar stellen und die Völker für Tiger ausgeben, welche man bändigen müsse mit allen Mitteln der Gewalt, wenn man nicht von ihnen zerrissen worden wolle, – so wären gewiß auch Erscheinungen viel seltner, wie sie bis auf den heutigen Tag in so vielen Ländern, nah und fern, das Auge des Menschenfreundes schmerzen, sein Gefühl empören und sein Herz mit Trauer füllen.