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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
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Gruft von großem Umfang, hält seine Leuchte niedrig und bittet Dich, hinunter zu sehen. „Da liegen viele Tausende,“ bemerkt er, „denn das Loch ist hundert Ellen tief.“ In geringer Entfernung davon gähnt eine weite Spalte im Gemäuer und ein Schacht geht hinauf bis zum Fußboden der Kirche, mit der er durch eine eiserne Fallthür communizirt. Der Führer hält seine Fackel in den Riß der Mauer und bemerkt, sie sey geborsten vom Drucke der Leichenmassen. In diesen Schacht wurden noch vor 50 Jahren die Todten begraben, oder vielmehr nicht begraben, denn man ließ die Särge durch die Fallthüre mit Stricken ein Stück Wegs hinab- und dann vollends hinunterstürzen. Noch sieht man zerbrochene Särge, aus denen Gerippe gähnen; manche hängen kopfüber, kopfunter, oder gucken halb unter den klaffenden Deckeln hervor. Eine Leiche hat sich im Sturze sogar zwischen die Mauerspalte hinein gezwängt und streckt Dir ihre Arme entgegen, auf denen Fledermäuse trappeln, aufgestört von der Leuchte des Führers.
Doch genug. – Auch Joseph II. hatte sich einst in die Katakomben führen lassen, um die irdischen Reste von Oesterreichs großen Männern und Geschlechtern bei einander zu sehen; entsetzt über den Gräuel, den er gefunden halte, schrieb er in derselben Stunde jenen denkwürdigen Befehl, welcher das Begraben in den Kirchen durch’s ganze Reich verbot, und seit der Zeit erhalten die Grüfte von St. Stephan keine neuen Bewohner.
Das schöne Cassel hat nicht allein den Vorzug vor andern kleinern deutschen Residenzen, mit vielen Prachtgebäuden zu prangen, auch in seiner Umgebung hat die Kunst mit einer freundlichen Natur zu seinem Schmucke sich vereinigt. In einem Umfange von 3 Stunden sind der Lust- und Jagdschlösser für die fürstliche Familie so viele, als Tage in der Woche. Die Krone aller ist Wilhelmshöhe, ein Palast, der mit seinen Parkanlagen einem Herrscher ziemen möchte, zu dessen Hofhalt so viele Millionen beizusteuern haben, als ein Kurfürst von Hessen der Unterthanen Zehntausende zählt.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/67&oldid=- (Version vom 3.2.2025)