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Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band |
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Freien sind dann das Ziel; man servirt sich einander die selbst mitgenommenen Speisen und Getränke und kehrt heim mit leichten Körben und leichten Herzen am späten Abend. Es ist nicht Rohheit, nicht sinnliches Wohlleben, was den Wiener für den Genuß solcher einfachen Freuden so empfänglich macht; seine Lust daran geht aus dem größten Schmuck seines Wesens und dem Zauber des Wiener Lebens – seinem Gemüthe – hervor, das, allen widerstrebenden Einflüssen einer selbstsüchtigen, berechnenden Zeit zum Trotz, sich aus sich selber verjüngt von Geschlecht zu Geschlecht.
„Wir stehen“ – schildert Duller – „auf dem Stephansplatze. Vor Dir siehst Du den altersgrauen Dom in seiner ehrwürdigen Pracht mit der Riesenpyramide wie ein erhabenes Epos. Du zweifelst, ob Du mehr die Kühnheit der Phantasie, oder die Zierlichkeit in der Ausführung bewundern; ob Du dem gewaltigen Menschenstolze, oder dem Wunderthäter: dem Glauben, die Kraft beimessen darfst, welche ein solches, fast übermenschliches Werk vollbracht hat. Der Bau ist aus Sandsteinquadern aufgethürmt, und doch gemahnt er Dich mit seinen zahllosen Giebeln und Nebenthürmchen, die wie frische Schößlinge und junge Zweige aus dem Stamme ranken, mit seinem durchbrochenen Laubwerk, aus welchem allerlei abenteuerliche Thiergestalten hervorspringen, mit jenem ungeheuern Schaft, dessen Blüthenkrone, der Sonne frei aufgeschlossen, Kreuz und Blüthe trägt, wie ein heiliger Hain, der aus einer Wurzel emporgewachsen. Trittst Du in sein Inneres, so wird dies Bild noch deutlicher. Ein in bunten Farben zersplittertes, magisches Licht belebt jenes steinerne Volk von Engeln, Heiligen, Aposteln und Kirchenfürsten; schlanke Säulenstämme wachsen aus dem Boden hinan zur hohen Decke und breiten, im farbigen Lichte zitternd, die Aeste auseinander; wunderliche Thiergestalten schauen Dich an, da und dort, Affen und Meerkatzen und geflügelte Bestien und fremde Schlingpflanzen siehst Du an den Aesten klettern; Du wähnst Dich in einem fernen Wunderland des Ostens, auf den Höhen, wo Christus wandelte und die Patriarchen dem Herrn ihre Dankopfer brachten.
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zehnter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1843, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_10._Band_1843.djvu/58&oldid=- (Version vom 3.2.2025)