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Ohne Kreuz keine Krone/Kap.12

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« Kap.11 William Penn
Ohne Kreuz keine Krone
Kap.13 »
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[226]
Zwölftes Kapitel.


§. 1. Charakter des Stolzen. Seine Eigenliebe ist unersättlich; er ist stolz auf seine Geburt. §. 2. Er ist trotzig und zänkisch; aber feige, und doch grausam. §. 3. Ein eben so schlechter Sohn als schlechter Unterthan und Diener. §. 4. Ein Feind der Gastfreundschaft. §. 5. Keines Menschen Freund. §. 6. Als Gewalthaber gefährlich und schädlich. §. 7. Vor allen Andern sind stolze Prediger zu tadeln. §. 8. Sie verlangen Vorrechte vor Andern. §. 9. Sie nennen sich die Klerisei; – ihre Herrschsucht und ihr Geiz. § 10. Der Tod verschlingt Alle. §. 11. Mittel, den bösen Folgen des Stolzes zu entgehen.


[227] §. 1. Um endlich diese lange Abhandlung über den Stolz zu beschließen, wollen wir noch in der Kürze untersuchen, worin im Ganzen genommen der Charakter eines stolzen Menschen an sich und in Beziehung auf Andere bestehet. Der Stolze ist eine Art selbstsüchtigen Schwelgers; denn er wird nie satt, sich selbst zu lieben und zu bewundern, während alles Andere in seinen Augen weder Liebe noch Bewunderung verdient. Das Verdienst, welches er allenfalls andern Gegenständen noch einräumt, bestehet bloß darin, daß sie seinen Zwecken dienen; als ob Alles nur für ihn geschaffen, oder vielmehr, als wenn er sein eigener Schöpfer wäre. So wie er daher andere Menschen deswegen verachtet, weil er seines Gleichen nicht dulden mag, so liebt er auch Gott nicht, weil er keinen Höheren über sich haben will. Der Gedanke, sein Daseyn einem Andern zuzuschreiben, ist ihm unerträglich, da dieser ihn in die Nothwendigkeit versetzt, ein höheres Wesen anzuerkennen. Er ist stolz auf die Ehre seiner Vorfahren, aber nicht auf die Tugenden, durch welche sie dazu gelangten; auch giebt er sich nicht die geringste Mühe, ihnen darin nachzuahmen. Seine Erzählungen von seinem Geschlechtsregister, von der uralten Herkunft, von den Besitzungen und Verbindungen seiner Vorfahren, nehmen kein Ende; aber er vergißt, daß sie nicht mehr sind, und daß auch er sterben muß.

§. 2. Wer ist wohl lästiger in der Gesellschaft, als der Stolze? Er bekritelt jede Kleinigkeit, und spricht gebieterisch über Alles ab. Giebt man ihm nicht nach, so wird er beleidigend und zänkisch; doch wenn es aufs [228] Aeußerste kommt, so zeigt er sich feige; aber grausam, sobald er siehet, daß er die Obermacht hat. Für das Elend hat er kein Mitgefühl; als wäre es unter seiner Würde, gefühlvoll zu seyn. Das Unglück eines Andern rührt ihn so wenig, als wenn er selbst kein Mensch wäre, oder als hielte er Mitleid für eine Sünde. Was nicht gerade ihn angehet, fesselt auch seine Aufmerksamkeit nicht. Er will sich über das Unglück Anderer keine unruhige Gedanken machen; ihm genügt die Ueberzeugung, daß sie es verdient haben, und er möchte es ihnen lieber gerade heraus sagen, daß es ihre eigene Schuld sei, als sich bereit finden lassen, sie zu bedauern oder ihnen zu helfen. Daher scheinen ihm Mitleid und Wohlthätigkeit eben so überflüssig zu seyn, als Demuth und Sanftmuth ihm verhaßt sind.

§. 3. Der Stolze ist sowohl ein schlechter Sohn, als schlechter Diener und Unterthan; er verachtet seine Eltern, seine Herren und seinen Fürsten. Sich zu unterwerfen, ist ihm unerträglich. Auch dünkt er sich zu weise, oder hält sich für zu alt, um sich vorschreiben zu lassen; als wenn Gehorsam Sklaverei wäre, und Freiheit darin bestände, daß man thun dürfe, was man wolle; welches jedoch alle Pflicht aufheben und alles Ansehn herabsetzen würde. – Ist der Stolze verheirathet, ist er Vater oder Herr; so ist es fast unmöglich, es bei ihm auszuhalten. Er ist so eigen und wunderlich, daß es wirklich eine Trübsal ist, mit ihm zu leben, weil es fast unmöglich ist, es ihm recht zu machen. Der kleinste Fehler in Betreff seiner Kleidung, Speise, Wohnung oder Aufwartung, bringt ihn ganz außer Fassung, besonders wenn er sich einbildet, daß man es mit [229] den Achtungs- und Ehrenbezeigungen, die er erwartet, nicht genau genug nehme. So zerstört der Stolze alle natürlichen Bande der Verwandtschaft, indem er auf der einen Seite Pflicht und Schuldigkeit verachten lehret, und auf der andern Liebe in Furcht verwandelt, aus seiner Frau eine Magd und aus seinen Kindern und Dienstboten Sklaven macht.

§. 4. Auch ist der Stolze immer ein schlechter Nachbar, weil er ein Feind der Gastfreiheit ist. Er haßt alle Freundschaftsdienste, aus Furcht, sie erwiedern zu müssen, oder damit es nicht das Ansehen haben möge, daß er derselben bedürfe. Ueberdieß kann er sich nicht damit abgeben, weil sie seinem Hochmuthe zu viel Gleichheit und Vertraulichkeit zu verrathen scheinen. Mit Größern wetteifern und seines Gleichen verkleinern, ist sein Element; denn er ist zu neidisch, um Andern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; damit nicht das Lob, das er ihren Verdiensten ertheilen müßte, dasjenige, auf welches er – wiewohl ohne allen Grund – Anspruch macht, verdunkeln oder vermindern möge. Er befürchtet, was er wünschen sollte, nämlich: daß Andere Gutes thun möchten. Aber dabei läßt seine Bösartigkeit es nicht bewenden; er giebt auch den tugendhaften Handlungen Anderer schlechte Namen, weil er sich unfähig fühlt, sie nachzuahmen, und ihnen den guten Ruf derselben mißgönnt. Fehlt es ihm an einer Gelegenheit, Schaden zu thun, so weiß er sich eine zu schaffen. Man hat ihn entweder schlecht behandelt, oder etwas Böses gegen ihn beabsichtigt; da oder dort hat man ihn nicht gegrüßt, den Hut nicht vor ihm abgenommen, oder ihm die Achtung und Ehre nicht erwiesen, die, seiner Meinung nach, [230] seinem Stande, seinen Verdiensten und seinen Eigenschaften gebühret. Es bedarf nur einer geringen Kleinigkeit, um den Stolzen zu Zank und Streit zu bewegen; denn er ist unter allen menschlichen Geschöpfen das eifersüchtigste, eigensinnigste, feindseligste und rachsüchtigste, und es ist ihm eben so unmöglich Beleidigungen zu vergeben, als er es unterlassen kann, sie Andern zuzufügen.

§. 5. Ueberdieß kann ein Stolzer nie Jemands Freund seyn. Denn sobald es seine Ehre oder sein Emporsteigen gilt, wird immer sein Ehrgeiz die Bande der Freundschaft zerreißen; und dann ist er auch zu ungesellig. Er nimmt weder Unterricht noch Rath, noch vielweniger Zurechtweisung an, und kann durchaus keinen Widerspruch ertragen. Auch ist er mit den Einsichten, die er zu besitzen glaubt, so geitzig, daß er Andern Nichts davon abgeben oder sich ihnen nicht mittheilen will. Kurz, er ist zu sehr von sich eingenommen und viel zu unbiegsam und empfindlich, als daß er irgend Jemand solche Freiheiten einräumen sollte, als wahre Freundschaft fordert. Eigentlich ist ihm der wahre Charakter der Freundschaft verächtlich; es scheint ihm zu viel Vertraulichkeit und Erniedrigung darin zu liegen. Seine erhabene Seele wünscht nur ihre eigene Größe zu kennen, und Alles um sich her in tiefer Abhängkeit zu sehen. Daher schätzt er die Menschen auch, wie man gewöhnlich das Vieh schätzt, nämlich nach Maßgabe des Nutzens, den es gewährt; und wenn er könnte, so würde er sie auch so behandeln; aber glücklicher Weise sind sie ihm an Anzahl und Kraft überlegen.

§. 6. Wenn aber ein Stolzer Gewalt hat, so ist er höchst schädlich; denn sein Ehrgeiz wird durch seine Größe [231] um so gefährlicher, da er in Tyrannei ausartet. Er will allein regieren; ja, er möchte lieber nur allein leben, als Nebenbuhler haben: Aut Caesar, aut Nullus. Weder die Zügel der Vernunft, noch die Schranken des Gesetzes, können seinen Schritten Einhalt thun; denn er glaubt nichts Unrechts thun zu können, und hält es daher schon für Empörung, wenn über seine ungerechten Handlungen Klagen geführt werden. Solche Menschen wollen, man solle Nichts von dem, was sie thun, für Unrecht halten; wenigstens halten sie es für gefährlich, wenn Jemand ihren unrechten Handlungen die rechten Namen giebt, weil dieses anzeigen würde, daß sie geirrt hätten; und das darf ihre Politik nie zugeben. Nein! sie wollen lieber in ihrer Hartnäckigkeit umkommen, als durch Nachgeben eingestehen, daß ihre Untergebenen eine Sache besser als sie beurtheilt hätten; sollte selbst auch die Klugheit ihnen anrathen, dies einzuräumen. Und in der That, die einzige Genugthuung, welche die stolzen Großen für alles Unheil, das sie angerichtet haben, der Welt geben, besteht darin, daß sie, früher oder später, ihren wahren Vortheil hintansetzen, um irgend einer Laune ihren Stolzes zu folgen, und dadurch fast immer ihren Untergang sich selbst bereiten. So enden endlich die Stolzen in dem Umsturze ihres eigenen Gebäudes, nachdem sie lange genug Andern zur Strafe gedient haben.

§. 7. Vor allen Andern ist aber der Stolz bei Denen unerträglich, die auf Religion Anspruch machen, und unter Diesen vornehmlich bei Dienern der Religion; denn Religion und Stolz sind einander ganz widersprechende Dinge. Ich rede ohne Rücksicht, und ohne Eingenommenheit gegen irgend eine Person oder Partei; [232] ich greife nur das Böse in Allen an. Aber wie kann sich der Stolz mit der Religion vertragen, da diese ihn tadelt und verwirft? Oder wie läßt sich Ehrgeiz mit den Gesinnungen wahrer Diener der Religion vereinigen, deren Amt und Pflicht es ist, Demuth zu lehren und durch ihr Beispiel zu befördern? Und doch giebt es deren, leider! nur zu Viele, die nicht allein mit Andern an dem stolzen und eitlen Wesen der Welt Antheil nehmen, sondern sogar auf einen Namen und auf ein Amt stolz sind, das sie doch beständig an Selbstverleugung erinnern sollte. O! sie bedienen sich desselben nur, wie die Bettler des Namens Gottes und Christi sich bedienen, nämlich: um Etwas dadurch zu erlangen; indem sie die Vortheile dieses ehrwürdigen Standes sich zueignen, und so ihr Amt nur als ein politisches Hülfsmittel gebrauchen, um sich in der Welt hervorzuthun. Wie können Solche aber Diener Desjenigen seyn, der gesagt hat: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“[1] Giebt es in der Welt wohl Menschen, die mehr von sich eingenommen wären, als diese? Widerspricht man ihnen, so zeigen sie so viel Stolz und Anmaßung, daß man glauben sollte, diese gehörten zu ihrem Amte. Gieb ihnen guten Rath, so verachten sie dich. Wagst du es, einen von ihnen zu tadeln oder zu bestrafen, so ist er bereit, dich auf der Stelle in den Bann zu thun. ‚Ich bin Geistlicher, ein Aeltester der Kirche!’ ruft er aus; als ob diese Titel ihn gegen gerechten Tadel schützen könnten, da sie ihn doch in der That demselben nur um so vielmehr aussetzen, als Fehler und Verweigerung der Zurechtweisung bei einem [233] Religionsdiener strafbarer, als bei andern Menschen sind.

§. 8. Aber er beruft sich darauf, daß er, vermöge seines Amtes, eine Ausnahme mache. Denn, sollte er die Küchlein dazu aufgezogen haben, daß sie ihm die Augen aushacken könnten? Soll er Tadel oder Zurechtweisung von einem Laien oder von einem seiner Pfarrkinder annehmen? oder von Jemand, der vielleicht jünger, nicht so gelehrt und weniger talentvoll als er ist? Das kann man nicht erwarten. Wir müssen wissen, daß das Vorrecht seines Amtes ihn über allen Tadel des Volks erhebt, und er folglich der Beurtheilung gewöhnlicher Menschen nicht unterworfen ist. Selbst Fragen über religiöse Gegenstände sind schon Ketzerei. Glaube was er sagt, und sey nicht so neugierig, daß du in die Geheimnisse der Religion zu schauen begehrest! Seitdem die Laien sich so viel um die Angelegenheiten der Geistlichen bekümmern, stehen die Sachen nicht mehr, wie sie sollten! – Armer Mann! du denkst wohl nicht, daß gerade das Gegentheil der Fall ist? Daß, seitdem die Geistlichkeit sich so sehr in die Angelegenheiten der Laien mischet, die Sachen schlecht stehen? wiewohl eigentlich zwischen den Religionsdienern und sogenannten Laien kein weiterer Unterschied Statt finden kann, als in so fern die Erstern durch geistliche Gaben, und durch deren Ausbildung und fleißige Anwendung zum Besten ihrer Mitmenschen sich von den Letztern unterscheiden.

Solche heilsame Worte als diese: „Seid lehrhaft, freundlich gegen Jedermann, lasset einen Jeden reden, [234] nach der Gabe Gottes, die in ihm ist. Wenn aber ein Anderer, der da sitzet, eine Offenbarung hat, so schweige der Erstere. Seid nicht als Solche, die über das Erbe Gottes herrschen; sondern seid sanftmüthig und demüthig; bereit Andern die Füße zu waschen, wie Jesus seinen armen Jüngern die Füße wusch;“[2] solche treffende Worte werden von Einigen, die sich zu der Geistlichkeit rechnen, als unanwendbare, veraltete Vorschriften betrachtet, und es wird heutiges Tages fast für Ketzerei gehalten, wenn man sie daran erinnert; ja, man zeigt sich dadurch, ihrer Meinung nach, nur als einen Feind der Kirche. Denn ihr Stolz hat sie nun schon so weit gebracht, daß sie sich selbst als die Kirche, und das Volk etwa nur als die Vorhalle derselben betrachten. Ja, sie sehen dasselbe gleichsam wie eine Null an; denn so wie diese ohne ihr vorgesetzte Grundzahlen nichts gilt, so ist auch das Volk in ihren Augen Nichts, wenn sie ihm nicht voranstehen. Sie sollten aber bedenken, daß sie, wenn sie wirklich wären, was sie seyn sollten, doch nur Diener, Haushalter, Unterhirten, nämlich Diener der Kirche, der Haushaltung, der Heerde oder des Erbes Gottes seyn könnten, und folglich diese Kirche, diese Haushaltung, diese Heerde und dieses Erbe nicht selbst sind. Auch müßten sie sich erinnern, daß Christus ausdrücklich gesagt hat: „Wenn Jemand unter euch gewaltig seyn will, der sei euer Diener; und wer der Vornehmste seyn will, der sei euer Knecht.“[3] "

§. 9. Es findet sich in der heiligen Schrift nur eine Stelle, wo das Wort Clerus, eigentlich auf [235] die Kirche angewendet werden kann, und diese haben sie sich zugeeignet. Daher nennen sie sich die Klerisei, d. h. das Erbgut oder Erbe Gottes. Hingegen ermahnt Petrus die Diener des Evangeliums mit den Worten: „Weidet die Heerde Christi nicht um schändlichen Gewinns willen. – Nicht als Solche, die über das Volk (oder Erbtheil des Herrn) herrschen.“ Wahrscheinlich sah es Petrus voraus, daß Stolz und Geiz den Kirchendienern zur Versuchung gereichen würden; auch haben sie in der That sich nur zu oft in diesen beiden Schlingen fangen lassen, und in schlimmere hätten sie, in Wahrheit, nicht gerathen können. Und was sie auch in beiden Hinsichten zu ihrer Rechtfertigung vorbringen mögen, so wird immer die Entschuldigung eben so schlimm als der Fehler selbst seyn. Denn, wenn sie sagen, daß sie nicht über das Erbe oder das Volk des Herrn herrschten, so ist es nur darum nicht der Fall, weil sie sich selbst als dieses Erbe betrachten und das Volk seines Rechts entsetzt haben. Auf diese Weise könnten sie denn freilich Herren des Volks seyn, und von den Ermahnungen des guten alten Petrus eine Ausnahme machen.

Was den andern Punkt, nämlich, das Laster des Geizes betrifft, so können Einige der Beschuldigung desselben nicht anders ausweichen, als wenn sie mit Wahrheit sagen, man könne ihnen, da sie sich um die Heerde gar nicht bekümmern, nicht zur Last legen, daß sie dieselbe um schändlichen Gewinns willen weideten; woraus dann aber folgt, daß sie das Geld von den Leuten umsonst nehmen. Davon finden wir treffende Beispiele in der Schrift, wo Gott selbst sich über das stolze und [236] habsüchtige Benehmen der vormaligen falschen Propheten beklagt, wenn er z. B. durch Jesaias sagt: „das Volk zähle sein Geld für Etwas dar, das kein Brod sei, und wende seine Arbeit an das, wovon es nicht satt werden könne.“[4] Und was war die Ursache davon? – „Die Hirten hatten keinen Verstand, ein Jeder sah auf seinen Weg, und geizte für sich in seinem Stande,“[5] und „die Priester und Propheten hatten keine wahre Gesichte,“[6] welche auch heutiges Tages nur zu Viele verachten.

§. 10. Aber ach! wie viel Thorheit und Mangel an Religion verräth nicht endlich der Mensch, der von sich selbst eingenommen oder auf irgend Etwas, das er besitzt, stolz ist? Kann er doch mit allen seinen hohen Gedanken seine Gestalt nicht um einen Zoll vergrößern! Welche Widerwärtigkeiten kann sein stolzer Sinn abwenden? Welchem Unfalle kann er abhelfen, welchem Uebel vorbeugen? Er ist nicht vermögend, nur vor einem der Schläge zu schützen, denen alle Menschen ohne Ausnahme ausgesetzt sind. Eine Krankheit entstellt, Schmerz und Leiden verändern die Züge, und der Tod zerstört den ganzen schönen Körperbau auch des Stolzesten unter den Sterblichen. Ein kleiner Haufen kalter Erde schließt nun den Leichnam des Mannes ein, dessen hochfahrende Gedanken keine Grenzen kannten. Seine zarte Person, der – vielleicht noch vor Kurzem – kein Ort und keine Gesellschaft gut genug war, muß sich jetzt in dem engen Raume einer kleinen finstern Höhle behelfen und sich die Gesellschaft der geringsten Geschöpfe gefallen [237] lassen, der Würmer nämlich, denen sie bald zur Speise dienen soll. So nehmen die Stolzen und Prachtliebenden ein gleiches Ende mit allen Andern; jedoch mit dem Unterschiede, daß sie von den Ueberlebenden weniger bedauert werden, und im Sterben eine furchtbare und peinvolle Aussicht in die Ewigkeit haben. Denn so wenig den Stolzen seine vornehme Abkunft vor dem Tode schützen kann, eben so wenig ist auch sein Geschlechtsregister vermögend, ihn vor dem Gerichte zu schützen, daß ihn nach dem Tode erwartet. Die schauerliche Stunde des Hinscheidens löst alle seine Titel und Ehrenzeichen in ein Nichts auf, und keine irdische Macht, weder Reichthum noch Hoheit oder Ansehn, ist vermögend, ihn zu erretten oder in Schuz zu nehmen. „Wie der Baum fällt, so wird er liegen,“ und wie der Tod den Menschen verläßt, so findet ihn das Gericht.

§. 11. Aber ach! wie kann man nun einem so elenden Ende vorbeugen? Was für ein Mittel giebt es gegen diese bejammernswerthe Abweichung und Entfernung von der Demuth, Sanftmuth und ächten Frömmigkeit, von jenem heiligen Leben der Gläubigen in den ersten und reinsten Jahrhunderten des Christenthumes, und von der göttlichen Kraft, die sich so fühlbar und augenscheinlich sowohl in ihrem mächtigen Predigen, als auch in ihrem musterhaften Betragen bewies? Wahrlich kein anderes, als daß man zu dem Zeugnisse des Geistes Jesu in sich selbst einkehre, und in seinem heiligen Lichte den Zustand seines eigenen Herzens untersuche, und prüfe, in wiefern man ihm ähnlich sei oder nicht; und daß man zu diesem Zwecke die in den Urkunden der heiligen Schrift enthaltenen Lehren und Beispiele mit genauer [238] Aufmerksamkeit betrachte. Christus führte einst selbst die Klage, „daß das Licht in die Welt gekommen sei; daß aber die Menschen die Finsterniß mehr als das Licht liebten, weil ihre Werke böse wären.“[7] Willst du nun ein Kind Gottes seyn; ein Gläubiger, der an Christum glaubt; so muß du erst ein Kind des Lichts werden. Du mußt deine Werke an das Licht in deinem Innern bringen, und sie bei dieser heiligen Lampe deiner Seele prüfen. Denn es ist das Licht des Herrn, das dir deinen Stolz und deine Anmaßung zu erkennen giebt, und dich über das Vergnügen, welches du an den eitlen Moden und Gebräuchen der Welt findest, ins Geheim bestraft. Wahre Religion ist Selbstverleugnung; ja, und auch Verleugnung aller selbsterwählten Religion und eigenwilligen Frömmigkeit. Sie ist ein starkes Band der Seele, welches die Menschen zu einem heiligen Leben verbindet, das zur Glückseligkeit führt. Denn dadurch gelangen sie zum Anschauen Gottes; wie Jesus sagt: „Selig sind die, welche reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.“[8] Wer einmal dahin gelangt ist, daß er das Joch Christi standhaft trägt, der läßt sich von den Lockungen des Feindes seiner Seele nicht hinreißen. Er findet höhere Freuden in der Wachsamkeit über sein Herz und im Gehorsame gegen das Gesetz Christi, als die Vergnügungen der Welt ihm darbieten können. Wenn die Menschen wirklich das Kreuz Christi, seine Gebote und Lehren, liebten, so würden sie ihren eigenen Willen kreuzigen, der sie verleitet, dem heiligen Willen Christi entgegen zu leben, und den Willen des Feindes ihrer Glückseligkeit zu thun, wodurch [239] sie sich um das Heil ihrer Seelen bringen. Hätte Adam im Paradiese nicht auf die Lockspeise der Schlange, sondern auf das göttliche Licht in seiner Seele geachtet, und sein Gemüth auf seinen Schöpfer, den Vergelter der Treue, gerichtet, so würde er die Schlinge des Feindes gesehen und ihm in seinen listigen Versuchungen widerstanden haben. O darum ergötze dich nicht an verbotenen Dingen. Siehe das Böse nicht an, wenn du nicht davon gefesselt werden willst. Belaste deine Seele nicht mit der Schuld, gegen deine Erkenntniß zu sündigen. Unterwarf nicht Christus seinen Willen dem Willen seines himmlischen Vaters? Erduldete er nicht um der ihm bevorstehenden Freude Willen das Kreuz? und verachtete er nicht die Schmach und Schande des neuen unbetretenen Weges zur Herrlichkeit?[9] So mußt auch du deinen Willen dem heiligen Gesetze und Lichte Christi in deinem Herzen unterwerfen, und um der Belohnung willen, die er dir vorhält, sein Kreuz erdulden und die Schande desselben nicht achten. Alle möchten gern mit Christo sich freuen, aber Wenige wollen mit ihm oder um seinentwillen leiden. Viele sind bereit, an seinem Tische Theil zu nehmen; Wenigen aber gefällt seine Enthaltsamkeit. Seiner Austheilung des Brodes wollen sie nachfolgen; aber den Kelch seiner Todesangst lassen sie stehen. Dieser ist ihnen zu bitter, als daß sie ihn trinken möchten. – Manche erheben seine Wunder, und ärgern sich doch an der Schmach seines Kreuzes. Darum höre, o Mensch! Was er zu deinem Heile für dich that, das mußt auch du aus Liebe zu ihm thun. Du mußt dich demüthigen, [240] und es dir gefallen lassen, um seinetwillen Verachtung zu leiden, damit du ihm wahrhaft nachfolgen könnest; nämlich nicht auf eine bloß förmliche leblose Weise, oder nach den Erfindungen und Vorschriften eitler Menschen, sondern, wie der heilige Geist durch den Apostel sich ausdrückt: „auf dem neuen und lebendigen Wege,“[10] den Jesus geheiligt hat, der Alle, die auf demselben wandeln, zu der ewigen Ruhe Gottes führet, zu welcher Er, der allein heilige und glorreiche Erlöser, selbst eingegangen ist.

  1. Joh. 18, 36.
  2. 2. Tim. 2, 24. 25. Kor. 14, 30.
  3. Matth. 20, 26. 27.
  4. Jes. 55, 2.
  5. Kap. 56, 11.
  6. Ezech. 13.
  7. Joh. 3, 19.
  8. Matth. 5, 8.
  9. Ebr. 12, 2.
  10. Ebr. 10, 20.
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