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Die Gartenlaube (1881)/Heft 42

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[693]

No. 42.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.


Das Krüppelchen.
Erzählung von Karl Theodor Schultz.


(Schluß.)


„Da thue ich, als ging’ es nach Brasilien, und es sind nur drei Meilen,“ sagte Frau Förster, indem sie im Packen fortfuhr.

„Ja, solche Alten!“

Der Sohn, welcher ihre Hand noch festhielt, erwiderte:

„Und meinst Du, mir würde es leicht? Besinne ich mich bei all dem Glück einmal auf das, was gewesen, so werde ich die Empfindung eines – Unrechts nicht los.“

„Sprich mir so was nicht!“ fiel sie zärtlich ein. „Wenn Du dabei an mich denkst, so habe ich Dir schon neulich gesagt, daß davon keine Rede sein kann. Und selbst Rudi! Nun, da der Hans am Vormittag seine Stunden hat, überhaupt ganz beim Candidaten wohnen soll, bliebe das Kind sehr allein. Du hast keine Zeit für ihn; die junge Frau müßte sich doch auch erst einleben; er ist wirklich bei mir am besten untergebracht. Im Herbst fangen wir mit seinen Stunden an, für die Zukunft aber? Du weißt, auf fünfundzwanzig Jahre hinaus mag ich nicht sorgen. Und nun das Bräutigamsgesicht gemacht! Hier die Falten fort, wieder Dein altes Lachen! Gerade so will ich Dich in Erinnerung behalten. Ach, es sind aber und dürfen ja auch nur Gedanken sein, wie sie beim Abschied kommen und mit ihm gehen! Die Mutti hört dergleichen wohl und denkt sich das Ihrige – Jemand anders dürfte es nicht hören. Unrecht? wenn die Hochzeit schon bestimmt wird! Seid Ihr gestern denn einig geworden?“

„Ja!“ versetzte Förster lebhafter. „Diesmal ist mein Wille durchgedrungen: es wird nun doch Anfang April. Ende des Monats würde uns auch für Italien zu spät. Aber Hemmingens lassen es sich nicht nehmen, die Hochzeit auszurichten.“

„Im Ganzen ist das ja nur natürlich. Und da braucht hier mit Nichts geeilt zu werden. bis Juli läßt sich Alles bequem einrichten. O, dann ist keine Sorge. Die vier oder fünf Wochen hast Du nun aber zu thun. Wie gut also, daß ich fest war – schon jetzt zu gehen. Es kann wenigstens mit dem Tapeziren angefangen werden. Willst Du wirklich morgen schon sehen, wo wir geblieben sind?“

Er nickte. „Ich bespreche auch gleich alles Nöthige mit dem Baurath.“

„Ja, man wird Burgsdorf kaum wiedererkennen,“ sagte sie wie mit leisem Bedauern.

„Gefallen Dir meine Pläne nicht? Wünschest Du irgend Etwas anders?“

„Nichts, Bernhard,“ erwiderte sie rasch. „Es ist Alles ja so wohl überlegt und wird sich auch vortrefflich machen. Mein Seufzer galt nur dem Gewesenen: mit Deinem Vater, mit Dir! Ich war sehr glücklich in den alten Räumen. Doch wir vergehen ja – welches Recht also hätte unsere Umgebung, fortzubestehen?“

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür; höchst aufgeregt, mit ganz rothen Bäckchen trat Rudi aus die Schwelle und rief mit von Thränen erstickter Stimme: „Jetzt haben sie mein Bettchen genommen.“

„Lieber Rudi!“ wehrte die Großmutter ab, indem sie erschrocken auf den Sohn sah.

Das Kind, welches den Ausdruck von Tadel in ihrer Betonung empfinden hatte, besann sich auch sofort, was es unterlassen, und sagte, indem es eilig aus den Vater zustapfte: „Guten Morgen, liebes Vaterchen!“

Dieser küßte es ungestüm. „Wo hast Du denn eigentlich immer gesteckt?“

Rudi sah die Großmutter an, dann den Vater – wischte sich dabei die Tropfen aus den Augen und erwiderte nun energisch: „Du hast ja wo anders gesteckt. Ich bin blos hier gewesen. Und wenn ich zu Dir kommen wollte, hat mich die Großmutter nicht gelassen. Du hast ja sehr viel zu arbeiten gehabt – ja! Das hat sie immer gesagt. Jetzt komm’ aber – sie haben es gewiß schon im Wagen.“

Frau Förster wollte mit ihm gehen; er ließ sich jedoch nicht beruhigen und rief schließlich in einer Erregtheit, der man es anhörte, daß die Thränen bereits wieder im Anzuge waren; „Ich will blos heute noch mit meinem lieben Vaterchen gehen.“

Sein Vaterchen mußte das rührend finden; denn er willfahrte ihm, und Beide zusammen gingen nun, um zu sehen, wo das Bettchen untergebracht war. Das stand zu Beider Zufriedenheit; Rudi wollte nun aber bei dem Aufladen bleiben, hatte bald in den Zimmern, bald am Wagen sehr Wichtiges zu zeigen, und Förster vermochte es nicht, sich heute von dem Kinde vergeblich um etwas bitten zu lasten. Sie gingen zuletzt auch durch die Ställe; der kleine Landwirth hatte alle möglichen Thiere in sein großes Herz geschlossen, und von allen mußte er Abschied nehmen. Daß sein Vaterchen in solchem wichtigen Augenblicke bei ihm war, schien ganz selbstverständlich.

So wurde es Elf; der Möbelwagen war bereits fort und der elegante Landauer angespannt. Die Aussicht, in seinem Lieblingswagen zu fahren und gar nach der Stadt, bewog dann Rudi freilich, sobald der Landauer heranrollte – jeden Trennungsschmerz vor der Hand unnöthig zu finden. Ganz in derselben [694] Weise, die Augen fortwährend auf die Pferde gerichtet, gab er Hans, wie Vaterchen, wie dem Wirthschaftsfräulein seine Küsse und bettelte nur, rasch in den Wagen gehoben zu werden. Unter fröhlichem Gejauchze des Kindes fuhren sie ab.

Förster sah dem Wagen nach, so lange er ihn sehen konnte. An der Ecke des Gartens wehte ein Taschentuch heraus, bald auch ein kleineres daneben – dann verschwand der Wagen.

In sein Zimmer zurückgekehrt, trieb es Förster noch einmal durch die eben verlassenen Räume. Ueberall stiegen Erinnerungen auf: an die Eltern, an Rudi – an seine verstorbene Frau. Zu dem Bilde der Todten, seiner auch einst geliebten Margarethe, wagte er kaum hinaufzusehen; doch sie hatte darauf ja immer gelächelt, mußte also auch heute lächeln, wo ihr Krüppelchen aus dem Vaterhause gestoßen worden. O, nicht gestoßen – nur das nicht!

Da trat das Wirthschaftsfräulein herein und überreichte ihm einen Brief.

Müde fragte er: „Woher?“

„Aus Barten!“ antwortete dieselbe und ging wieder.

Zitternd – warum, wußte er nicht – öffnete er das Couvert, doch nur Rosenblätter fielen ihm entgegen, und er las mit aufleuchtenden Augen die Worte: „Ich bin bei Dir.“



6.

Völlig nach Wunsch war der Frühling und ein Theil des Sommers vergangen. Einem glänzenden Polterabend, bei dem die ganze Nachbarschaft erschienen, war eine stillste Hochzeitsfeier mit einer Trauung in der alten Dorfkirche gefolgt, der sich dann nach schlechter, trotzdem aber von Else protegirter Sitte sofort die Hochzeitsreise angeschlossen. Ueber Prag und Wien eilten die Neuvermählte direct nach Italien. Schon von Venedig aber vermochten sie sich kaum zu trennen, noch weniger von Florenz und Rom; so blieben für Neapel nur wenige Tage, da bereits Anfang Juni eine wahrhafte Glühhitze die Reisenden über den Brenner zurücktrieb. Das Innthal mit einigen Seitenthälern und schließlich Partien im Salzkammergut erfrischten geradezu nach all der italienischen Anstrengung, und so langte das junge Paar, von dem Erlebten und Gesehenen tief befriedigt, in der ersten Hälfte des Juli in Burgsdorf an.

Die nächste Zeit verging im freudigen Einleben in die neuen Verhältnisse; später machte man auf Else’s Anregung viel Besuche in der Umgegend, empfing die Gegenbesuche und hielt außerdem den regsten Verkehr nach Barten aufrecht. Förster beschränkte Else’s Leben nach außen somit in keiner Weise, empfand bei diesem ungewohnten und für seinen Geschmack allzu bewegten Treiben jedoch eine gewisse Leere, die sich mehr und mehr steigerte. Seine hauptsächlichste Erholung wurden Fahrten nach Königsberg, welche er in der Regel bei Morgengrauen antrat, um der Mutter und Rudi so lange wie möglich gehören zu können.

Diese Ausflüge, die sich nach und nach alle vierzehn Tage wiederholten, fanden bei Else keine besondere Befürwortung; nachdem sie aber einmal umsonst gebeten hatte, solche Fahrt einer Partie wegen, die sie an dem Tage unternehmen wollte, aufzugeben, war sie klug und tactvoll genug, nie mehr ein Wort gegen dieselben zu äußern. Doch in ihrem Innern häufte sich allmählich eine Art von Groll auf, der sich über Alles erstreckte, was mit Königsberg zusammenhing; es verletzte sie geradezu, niemals zur Mitfahrt aufgefordert zu werden, obgleich sie bei anderer Stimmung dafür wieder dankbar war, da sie bei ihrer Heimkehr Rudi gegenüber noch die gleiche unangenehme Empfindung gehabt hatte, obwohl das Kind ihr viel weniger launenhaft erschienen war. Selbst einmal um Mitnahme zu bitten, hätte Else’s Stolz nicht zugelassen obgleich sie ahnen mußte, welche Freude sie damit bereitet hätte. Vielleicht wurde eine solche Bitte längst erwartet, und nur um dieses steten Umsonst willen ließen die Fahrten oft einen wenn auch vorübergehenden, so doch sehr nachdenklichen Ernst bei Förster zurück.

Weihnachten kam heran, mit ihm die Erfüllung eines süßen Hoffens; nun wurde der laute Verkehr von selbst eingeschränkt, und die Gatten gehörten sich beinahe allein. Förster hatte aus zärtlicher Sorge für Else die regelmäßigen Fahrten zu den Seinigen unterbrochen und schien nur täglich auf Neues zu sinnen, was er ihr zu Liebe oder zur Erleichterung thun könnte. Und so durfte er denn auch in der Mitte des Januar den Verwandtenkreis wie die teilnehmende Umgegend mit der „frohen Botschaft“ überraschen: ein neuer Sproß!

Der momentan jüngste Sproß des Hauses concentrirte, wie das ja so zu sein pflegt, bald alle Gedanken und Sorgen – man konnte hier dreist behaupten, des ganzen Rittergutes Burgsdorf – auf seine erlauchte Person. Die junge Mutter, kaum ein wenig erholt, nahm die Hauptpflege des kleinen Herrn in die Hand und war darum am Tauftage ihres Karl, wie er nach seinem Pathen Hemmingen genannt wurde, der Gegenstand eines wahrhaften Cultus.

Besonders schwer wurde Else dabei die Erfüllung ihrer Pflichten nicht gemacht: der kleine Karl war in dem weißen Mäntelchen und der weißen Mütze das lieblichste Kind auf Erden, sobald er nicht schrie. Große, braune, glänzende Augen. dunkle Seidenhaare, ein Mäulchen, klein wie ein Pfennig, das süß lachen und noch süßer krahlen konnte, Grübchen im Kinn, rosige Hände und stets zappelnde Beinchen – das war Role oder der Burrgmeister mit doppeltem, schnarrenden „r“, wie ihn der Pathe seiner behaglichen Fülle wegen zu nennen pflegte.

Else hatte die liebende Sorge ihres Gatten, dieses unablässige Wachen über sie mit heißer Befriedigung hingenommen: Das, wovon sie unharmonisch oder weh berührt worden, schien ihr nun ausgelöscht. Sie nahm sich auch vor, späterhin allen zu regen Verkehr nach außen hin einzustellen, um sich ihrem Gatten, dessen Mißbehagen daran sie wohl empfunden hatte, recht dankbar zu beweisen. An der Wiege ihres Kindes dämmerte nach und nach etwas heraus, das sich wie ein Begreifen dessen ausnahm, was – Pflicht heißt. Das hatte ihr aber bisher vollständig gefehlt, da sie bis heute stets nur aus Eigenwillen, nicht aus dem Gefühle des Rechtes zu handeln pflegte.

In jeder Lage hielten die guten Vorsätze übrigens noch nicht Stand. Als eines Tages, wo Förster wieder von des Morgens an in Königsberg bei Mutter und Kind war, Role plötzlich vom Keuchhusten befallen wurde, der bereits einmal so gefährlich aufgetreten, und sich der Schlüssel zur Hausapotheke nirgends finden ließ kämpfte sie einen harten Kampf. Sie tadelte den Gatten schwer; er gehörte jetzt einmal zu ihr, zu dem Kinde, nicht immer zu den Anderen: sterbe konnte ihr Kind daran.

Erst spät in der Nacht, wie gewöhnlich, kehrte Förster heim. Else hatte sich gleich von Barten das nöthige Medicament holen lassen, und der Kleine schlief nun unter den Augen der Mutter sanft und ruhig. Als sie den Wagen kommen hörte, trat sie in das Wohnzimmer. Gespannt sah ihr Förster in die Augen und fragte, ihre Hand ergreifend:

„Es ist doch Nichts vorgefallen?“

Sie entzog ihm die Hand, während sie mit mühsam unterdrückter Erregung antwortete:

„Der Keuchhusten war wieder im Anzuge.“

„Laß mich sehen –“

„Nein!“ wehrte Else, indem sie sich vor die Thür zu ihrem Schlafzimmer stellte, „er schläft jetzt. – Und das Säftchen mußte ich mir aus Barten holen lassen. Du hattest natürlich in Deinem Eifer, wenn es nach Königsberg geht, den Schlüssel zur Apotheke bei Dir behalten. Was bedeuten wir auch – “

„Ich habe den Schlüssel nicht,“ unterbrach sie Förster, ging aber nach seinem Zimmer und öffnete ein Fach des Schreibtisches. Da lag der Schlüssel. „Verzeihe!“ sagte er zurückkehrend. „Wer denkt immer an das Aergste! Seien wir zufrieden, daß es so glücklich vorübergegangen!“

„Wer weiß, ob es das schon ist!“

„Wenn er ruhig schläft?“ Er war an den Sessel getreten, in welchen sie sich geworfen hatte, und versuchte ihren Blicken zu begegnen. Sie wandte sich ab und versetzte schroff:

„Wenn Du wüßtest, was Einem für Gedanken kommen, wenn man immer allein mit seinem Kinde bleiben muß!“

„Immer allein?“ fragte Förster in ebenfalls schärferem Tone. „Doch,“ fuhr er sich beherrschend fort, „Du hast heute einen schweren Tag gehabt; ich will nicht um Worte rechten. Ist Etwas für mich angekommen?“

„Die Postsache liege in Deinem Zimmer.“

Er war schon im Begriffe, dorthin zu gehen, kehrte aber wieder um.

„Du regtest da Etwas an,“ sagte er mit einer gewissen Hast, „worüber ich mir längst vorgenommen hatte mit Dir zu sprechen. [695] Wer sich so genau kennt wie wir, fühlt dem Andern natürlich nach, wenn Der mit Diesem oder Jenem nicht einverstanden ist. Ich glaube aber, sobald ich Dich bitte, Deine Wünsche in bestimmte Form zu fassen, wird es Dir zum Bewußtsein kommen – was Du eigentlich verlangst.“

„Worauf beziehst Du –“

„Nein, Else! Wir wollen von vornherein ehrlich zu Werke gehen. Du weißt genau, was ich meine – nun sprich Dich aus!“

Eine jähe Blutwelle flog bis in ihre Stirn empor, doch antwortete sie mit nur anfangs gepreßter, bald wieder freier Stimme:

„Kannst Du’s mir verdenken, daß ich mich an solchen Tagen wie heute schmerzlich nach Deiner Gegenwart sehne? Und dabei kommst Du gerade von dort immer verstimmt, trübe nach Hause; man wagt dann schon mit Nichts mehr lästig zu fallen. Richtig ist das unbedingt nicht.“

„Und das nicht Richtige läge blos an mir?“

Sie schlug die Augen unwillkürlich vor seinem Blicke nieder.

„Ich will zugeben, daß ich vielleicht viel fordere, Du hast mich aber verwöhnt. Auch könnte meine Forderung nichts Anderes beweisen, als –“

Sie stockte.

„Nun?“

Aufspringend rief sie:

„Das möchtest Du hören. Doch warum auch nicht? Ich sollte ja ehrlich sein: Es beweist einfach, daß ich Dich viel zu lieb habe.“

Sie ging mit raschen Schritten durch’s Zimmer.

„Wenn Du mich wirklich so lieb hättest –“

„Was dann?“ fragte sie, plötzlich stehen bleibend, in herausfordernder Weise. Förster machte jedoch eine Bewegung der Abwehr.

„Wozu an Unmögliches rühren?“ fragte er. „Du hast meinen Wunsch, Bestimmtes zu fordern, noch nicht erfüllt.“

Sie schwieg und nahm ihr Gehen wieder auf.

„Du siehst, wie Recht ich hatte. – Darf ich es Dir erleichtern?“

Von Neuem blieb sie stehen und sagte nur:

„Ich bin begierig, was Du mir andichten wirst.“

„Ich brauche nichts zu dichten; ich fühle deutlich, daß Du mir die Fahrten zu meinem Kinde, meinem armen Kinde – ich will ein mildes Wort wählen – verdenkst. Und das ist so unrecht. Ich meine, Du dürftest längst wissen, was Du mir bist, habe ich doch nie ein Hehl daraus gemacht. Um so eher müßtest Du die paar Stunden denen gönnen, denen ich einst ganz gehörte. Daß ich in der letzten Zeit öfters hingefahren und ernst zurückgekommen bin? Rudi war recht krank – ich habe Dir nichts davon gesagt, weil Du nicht darnach gefragt hast.“

„Er ist nun aber auf dem Wege der Besserung?“

Förster nickte.

„Hättest Du mir gesagt daß Rudi krank gewesen –“

„So wäre heute allerdings kein bitteres Wort gefallen, darum jedoch Dein Unbehagen über diese Fahrten, das ja lange vorher bestanden hat, nicht aufgehoben worden. Gebietet es aber nicht schon die einfache Pflicht, seine Mutter, sein Kind dann und wann wiederzusehen? Und gar ein Kind, das vor Sehnsucht ganz träumerisch geworden ist! Ich schränke die Besuche nun ja auf’s geringste Maß ein. Du wußtest auch, ehe Du mein wurdest, daß ich kein völlig freier Mann war.“

„Bernhard!“ sagte Else wie beschämt.

„Trotzdem,“ fuhr dieser fort, „begreife ich Deine Empfindung bis zu einer gewissen Grenze. Ja, wir haben Dich alle verwöhnt; man verwöhnt Dich ja so gern. Wie Du aber bereits eingesehen hast, daß ich neben Dir und dem Vergnügen noch die Leitung unserer großen Wirtschaft in der Hand zu behalten habe, so müßtest Du auch einsehen, daß wir Gefühle, welche die Natur in uns gelegt, niemals los werden können. Ich hoffte sogar, Du würdest es, wenn Du recht darüber dächtest, gar nicht wünschen: eines Menschen, der das vermöchte, wäre ja Niemand sicher. Nicht wahr, Du lässest mir meine Art? Wirst sogar versuchen mich zu versöhnen?“

Sie sah ihn an.

„Und versuchen, gerade Dein allerfreundlichstes Gesicht zu machen, wenn ich von dort komme? Es wäre mitunter nöthig.“ Else schüttelte den Kopf

„Das verspreche ich noch nicht,“ sagte sie, „aber ich danke Dir für das immerhin Gute und Liebe, was ich eben gehört habe. Fahre nur – ich will mich nun schon gewöhnen. Und das ist nicht schwer, wenn man glauben darf, nicht vergessen zu –“

Sie brach ab und horchte. Ihr eben noch lächelndes Gesicht bekam einen Zug der Sorge; nach der Thür des Schlafzimmers eilend, rief sie angstvoll:

„Hörst Du den Husten?“

Der Anfall war jedoch vorüber, als nun auch Förster an die Wiege trat, und bald schlief Role wieder einen gesunden Schlaf. Dieser Friede war im Burgsdorfer Schlosse.



7.

Einige Tage darauf – Förster war nach einem benachbarten Gute gefahren, um eine Probe lebender Bilder mit anzusehen, die man am silbernen Hochzeitsfeste eines Bruders von Hemmingen stellen wollte – saß Else nach ihrer Gewohnheit vor der Wiege ihres Lieblings und hatte eben die letzten Stiche an einer Stickerei gethan. Leise aufstehend ging sie an ein Fenster, brachte ihre Stickarbeit in’s volle Licht und schien mit herzlicher Befriedigung – ihr Gesicht nahm seinen kindlichsten Ausdruck an – prüfend auf die gestickten Mohnblüthen zu sehen, die wohl irgend eine innere Seite eines Notizbuches schmücken sollten. Bald wurden ihre Mienen aber gedankenvoller; sie legte die Stickerei fort und nahm wieder ihren vorigen Platz ein. Ein linder Luftzug strich aus dem geöffneten Fenster bis zu ihr hinüber; sorglich ließ sie noch den jenseitigen Vorhang der Wiege nieder; dann versank sie in ein Halbträumen.

Die ruhigen Atemzüge des Kindes störten sie nicht; ihre Empfindungen wurden immer traumhafter, immer unbestimmter. Zuletzt erfüllte sie nur das Gefühl tiefen Wohlseins, mit weicher Müdigkeit gemischt.

Da stieg auf einmal, mitten aus solchen behaglichen Empfindungen heraus und wie durch den Lufthauch zum Fenster hereingeweht – ein Gedanke in ihr auf, der ihr augenblicklich alles Träumen verscheuchte. Hastig schloß sie das Fenster; der eindringende Erdgeruch, so kräftig er war, wie gern sie ihn sonst gehabt, heute machte er sie frösteln – sonderbar: sie hatte an den Tod denken müssen – plötzlich, sie wußte nicht, warum. Solcher Gedanke war selbst in ihrer schweren Stunde nicht gekommen; was wollte der Gedanke jetzt? Sterben! Sterben müssen?

Sie schritt das Zimmer auf und ab, hob den Kopf, als hätte sie sich von Umstrickendem zu befreien, ging rascher, gleichsam ihre Kraft erprobend; dann setzte sie sich mit halbem Auflachen über ihr törichtes Gebahren von Neuem nieder.

Doch höchstes Lebensgefühl und Tod müssen irgendwie geheimnißvoll zusammen hängen – vielleicht weil sie Zwillingsbrüder sind?

„Thörichter Gedanke!“ sagte sie zu sich selbst, und mit unsagbar anmuthiger Bewegung streckte sie die Arme nach dem Kinde aus; ihre Lippen flüsterten Zärtlichkeiten. Nein! hier war sie nöthig, und Gott wäre grausam, könnte er jetzt, nachdem sie die schwere Stunde überwunden, welche ihr dieses Kleinod schenkte, könnte er jetzt noch die Mutter von dem Kinde nehmen. O, der Gedanke, der sich ihrer so sonderbar bemächtigt, hatte nichts weiter gesollt, als ihr einmal recht herzensnahe zu bringen, was sie besaß. Fühlt sich das doch niemals klarer, als wenn ein Fürchten Alles in Frage stellt.

„Gott kann aber grausam sein,“ dachte sie weiter, „wie viele junge Mütter sterben! Hat nicht vielleicht hier, in demselben Zimmer, auch die andere Mutter an der Wiege gesessen und solche Gedanken gehegt? Und sie mußte sterben.“

Eiskalt überlief es Else. Sie entsann sich nicht, gehört zu haben, daß die Kinder in diesem Zimmer geschlafen hätten. Wahrscheinlich aber!

Dämmerung hatte sich unterdessen in die Ecken gelagert – grau und breit, gleichwie von unheimlichen Behagens; der Wind mußte noch mehr abgenommen haben; denn nur wie Seufzen rann es die Fenster nieder; über den ganzen Raum war etwas Bedeckendes gebreitet; selbst des Kindes Atem schien schwerer zu gehen. Und es wurde kaum besser, als sie nun eine Lampe anzündete und dieselbe so stellte, daß ein matter Schein auf die Züge des Kindes fiel.

[696] Sie vermochte es nicht wie sonst, sich dieses Anblicks zu freuen – immer mußte sie noch an die andere Mutter denken, an die todte Mutter. Sie hatte sie nicht gekannt, bei Doris aber Bilder von ihr gesehen; solche krankhaft zarte Erscheinung – Rudi das ganze Ebenbild! Und wie schwer mochte die Trennung von den Kindern gewesen sein! Was erzählte Doris nicht Alles! – Nicht weniger hatte auch Bernhard gelitten; dennoch waren kaum drei Jahre vergangen daß er eine Andere in sein Haus geführt, und diese Andere war sie, sie selbst. Stürbe nun auch sie – was dann? „Er bedarf einer Frau,“ sagte sie sich, „so führte er wohl –? Wenn die Neue aber – des Vaters Sache ist es nicht, für ein Kind zu sorgen – würde die Andere mein Kind lieben, wie ich es geliebt?“

Zu Worten war ihr Denken geworden; sie beugte sich mit ungestümer Bewegung über die Wiege, doch plötzlich zurückschreckend – rang sich ein Name von ihren Lippen; eine kleine bleiche Gestalt stand gleichsam faßbar da und sah mit den großen Augen anklagend zu ihr auf. Hatte denn sie Erbarmen gehabt – sie selbst? Hatte sie nicht das Kind aus dem Vaterhause gestoßen? Warum sollte Die, welche vielleicht nach ihr kam, nicht auch mit ihrem Kinde ebenso thun? Das – das hatten die Gedanken, die Todesgedanken, bedeutet.

„Rächen kann Gott an meinem Kinde, was ich an dem der Todten gesündigt, und das sollte ich wissen, ehe ich gehe, damit ich nicht in Verzweiflung gehe.“

Erschöpft lehnte sich Else zurück. Wirr, allzu wirr wurden ihre Gedanken aber aus dem Wirrsal rang es sich los, wie siegende Klarheit.

„Eines sühnt,“ sagte sie, „Eines: die Reue!“

Und wie leicht fiel ihr jetzt die Reue! Ist sie denn noch dieselbe, die sie früher gewesen? Erst so kurze Zeit – und so ganz anders ihr Empfinden? Mutterglück – wie läuterst Du die Herzen! – –

Als Förster heimkehrte, schlief Alles schon; selbst Else, welche sonst immer hören mußte, wie es ihm ergangen. So winkte er denn nur in stillem Segnen der geschlossenen Thür ihres Schlafgemachs einen Gruß zu.


8.

Bereits früh am Nachmittage war Förster von Hause aufgebrochen, da er noch einen befreundeten Gutsbesitzer zu dem Hemmingen’schen Feste abzuholen hatte. Umsonst hatte er Else zugeredet, ihn zu begleiten: sie lehnte freundlich dankend ab. Er sollte, meinte sie dagegen, bleiben, so lange es ihm gefiele. Würde es ihr zu spät, dann hörte sie morgen einen um so genaueren Bericht. Damit hatte sie von ihm Abschied genommen.

Kaum war er jedoch eine halbe Stunde fort, so fuhr der Landauer vor; Else schärfte dem Wirthschaftsfräulein noch zum zweiten und dritten Male Warnungen und allerlei Aufträge ein, die sich meistens auf Role bezogen; dann fuhr sie gleichfalls, aber in der Richtung nach Königsberg, ab – nach dem ihr sonst so verhaßten Königsberg.

Der Weg wurde ihr diesmal ein wenig lang: an den Rappen lag das aber nicht, deren Leistung jeden Sportsmann befriedigt hätte.

Ehe der Wagen noch vor dem Hause in der Münzstraße hielt, hatte ihn Rudi aus dem Seitenfenster entdeckt und jubelnd Lärm geschlagen. So sah ihn Else denn auch, als sie die Treppe zum zweiten Stock betrat, neben Frau Förster am Treppenabsatz stehen. Mit Verwunderung, ja Schrecken hatte diese die Emporsteigende erkannt, doch Else rief ihr schon von unten zu, daß Alle, Alle wohl wären und sie nur herüber gekommen, sich einmal nach ihrem Ergehen zu erkundigen.

Als die beiden Damen später allein im Salon saßen, mußte wohl auch noch Anderes, weniger Alltägliches zur Sprache gekommen sein; denn Beide wurden mit der Zeit sehr erregt, bis Frau Förster auf Else’s Ausruf: „Ich will endlich Bernhard glücklich, ganz glücklich sehen“ dieselbe sogar in die Arme schloß.

Hatte Frau Förster so an Else Freude erlebt, so gewann sich Rudi dafür ein großes Stück von Else’s Herz. Ihr war gleich bei Rudi’s erstem schüchternem Gruße auf’s angenehmste die Veränderung aufgefallen, welche mit ihm vorgegangen. Ruhiger, sinniger besonders, blieb jede seiner Aeußerungen und von dem, was ihr allein noch Sorge gemacht und ihr Vorhaben sehr erschwert hätte – war nicht der kleinste Zug zu finden: Man mußte über sie nur Gutes zu ihm gesprochen haben; denn er hatte sie gleich „Mutter“ genannt – wie das klang! O, wenn es Role erst sagen würde! –

Auch Frau Förster hatte Alles, was ihr nach dem Gespräche mit Else nöthig erschienen, in der kürzesten Zeit besorgt oder besorgen lassen, und so konnte der Landauer, von ihren wärmsten Wünschen begleitet, schon gegen Acht wieder das Königsthor der alten Königsstadt passiren

Vor Mitternacht war Else zu Hause. Ein Stündchen blieb ihr noch zu Anordnungen und stillen, lieblichen Gedanken; dann kam auch Förster heim. Es wunderte ihn natürlich nicht, sie noch wach zu finden; nur schloß er aus ihren glänzenden Augen, daß er etwas Neues über Role erfahren würde.

Sie setzten sich; Förster berichtete dies und das, ohne wie sonst eine besondere Theilnahme dafür zu finden; nur was ihm persönlich begegnet, fand lauteren Widerhall. Endlich war er mit dem Erzählen zu Ende und fragte nun gleich direct:

„Was hat Role denn wieder angegeben? Ich fange ernstlich an zu fürchten, daß er seinen Vater noch ganz verdrängen wird. Ob er da überhaupt sehr zu drängen hätte?“

Else sah ihn ebenfalls lächelnd an, erwiderte aber trotz der scherzhaften Wendung in ernstem Tone:

„Nach meinem Gedenken – sehr!“

„Hat er denn noch immer nicht ,Vaterchen’ gesagt?“ fragte Förster und zeigte dabei auf die Thür zum Nebenzimmer, wo Role schlief.

„Du verlangst zu viel. Anderswo habe ich heute freilich ,Vaterchen’ sagen hören.“

Da sie Rudi’s Stimme nachgeahmt hatte, wurde Förster aufmerksam, fragte jedoch nur zweifelnd: „Anderswo?“

„Gewiß!“

„So wärst Du ausgefahren?“

Sie hob leicht die Achseln.

„Es schien mir,“ fuhr er sie gespannt ansehend fort, „als sollte das Rudi’s Stimme bedeuten – wie wäre das aber möglich?“

„Vielleicht doch!“

„Wie Du grausam scherzen kannst! Und dennoch: ich bin Dir dankbar.“

„Wofür?“

„Es war zum ersten Mal, daß Du – wenn auch nur im Scherz, an das Kind dachtest.“

„Und wenn das nun eine ganz abscheuliche Unwahrheit wäre?“ rief Else in vollem Eifer. „Ja, Du Erzvertheidiger der Wahrheit! Wenn ich nun seit vorgestern, o bereits, seit ich neulich Nachts mit Dir gesprochen, wo ich nichts fühlen und hören mußte, als wie Du an Rudi hängst – wenn ich von da an immerfort an das Kind gedacht hätte?“

„Else!“

„Bernhard, keine Ruhe hat es mir gelassen. Was ich auch dachte und that, ich fand keine Ruhe. Bis in den Tod hat es mich geängstigt. Als Du vorgestern fort warst, saß ich an der Wiege – und mir war so wohl, so unendlich wohl. Da auf einmal wurde mir – ich weiß noch heute nicht, was es war – als sollte ich von Euch gehen. Und nun kamen Gedanken, Bernhard, als hätte plötzlich Alles Stimmen bekommen, was mir von Anfang an im Herzen gelegen von Anfang an; denn ob Du mir es auch nicht glaubst – ganz, ganz tief innen lag das wohl schon immer: ich empfand das auch. Da schenkte uns Gott – unsern Role. Ach, Keine von uns soll vorher sagen, wie sie ihr Leben sich einrichten will: mit dem ersten Schrei ihres Kindes wird ja doch Alles anders. Auch ich bin keine Ausnahme meines Geschlechts; o mit Stolz, mit wahrem Herzensvergnügen nahm ich auf mich – Du weißt es – was für ihn täglich und stündlich zu thun. Was galt es jetzt, was das Mädchen früher beglückt hatte? Nichts – nichts! Dort in dem kleinen Raum wohnt mir nun Geist und Glück und alle Freude.“

Sie waren aufgestanden; Förster zog sie stürmisch an die Brust, vermochte aber vor Erschütterung kein Wort zu sprechen.

„Von dieser Erkenntniß,“ fuhr sie fort, „konnte der Schritt bis zu Rudi nur klein sein. Sah ich doch, wie schwer Du noch immer an dieser Trennung trugst. Ich sah, daß selbst Deine Mutter, die liebe, gute Mutter, litt – und Alles nur um meinetwillen! So fuhr ich heute nach Königsberg.“

„Du –“

[697]

Album schöner Frauenköpfe: 1. Junge Patricierin.
Nach dem Oelgemälde von Hermann Schmiechen.

[698] „Ja! ich mußte ihn doch erst wiedersehen! Und wie rührend war Dein Rudi vom ersten Augenblick an! Selbst, daß ich sein Krückchen nicht mehr hörte – warum habt Ihr das nicht längst polstern lassen? Selbst das, o Alles und Jedes rührte mich so, daß ich –“ sie machte sich los und winkte ihm , „komm’ , aber leise – leise!“

Nun öffnete sie die Thür zu ihrem Schlafzimmer, und Förster sah hinter Role’s Wiege, an der gegenüberliegenden Wand, ein Bett stehen, das dort vorher nicht gestanden, und darin lag ein Schläfer.

„Nur bis morgen!“ flüsterte Else. „Dann, denke ich, zieht er zu Frau Hannisch in’s blaue Zimmer.“

„Mein Weib! Mein einziges Weib!“

„Es ist ja gar nichts!“ lachte und weinte Else. „Ich mußte doch einmal erfahren, daß es auch Pflichten giebt, nicht blos Scherz und Lachen.“

Die Glücklichen hatten es nicht bemerkt, wie sich der kleine Mann im Bette aufgerichtet und nun schlaftrunken um sich sah. Plötzlich erkannte er aber den Vater und rief in seinen hellsten Jubeltönen:

„Mein Vaterchen! Mein liebes Vaterchen!“





Das Leuchten lebender Wesen.

Von Carus Sterne.
1. Die Phosphorescenz im Pflanzenreiche.

In dunkler Nacht, wenn Stern und Mond nicht glänzen
Umquillt phosphorisch Licht den morschen Baum;
Traun, ihn umwallt von seinen todten Lenzen
Ein leuchtender und schöner Grabestraum.
                                        Anastasius Grün.

Zu den die bewegliche Phantasie des Menschen am stärksten erregenden Naturerscheinungen gehört sicherlich auch die Lichtausstrahlung zahlreicher lebender Wesen, deren Erklärung bis vor wenigen Monaten aller Bemühungen der Naturforscher gespottet hat. Man hat früher wohl angenommen, daß die Lichtentwickelung an todtem Fleisch, gesalzenen Seefischen, faulem Holz u. dergl. m. nicht zu derselben Classe von Erscheinungen gehöre, und durch die Verwesung dieser Stoffe, die ja ein langsamer Verbrennungsproceß ist, bedingt werde, ja daß selbst das Meerwasser nur in Folge der Anhäufung verwesender organischer Materie in ihm leuchte. Allein seit längerer Zeit bereits weiß man, daß auch in diesen Fällen stets lebende Organismen, oft der allerniedersten Organisation, die sich bei der Zersetzung einfinden und sie befördern, die unmittelbaren Ursachen der Lichtentwickelung bilden.

Einen der interessantesten Fälle dieser Art beobachtete Dr. Rüësch in Bern vor vier Jahren. Im April 1877 wurde er nämlich durch einen Schreckensruf, der ihm aus der Vorrathskammer entgegentönte, veranlaßt, nachzusehen, was es gäbe, und er fand sein Dienstmädchen erschrocken vor einer Schüssel stehen, in welcher etwa ein Dutzend durchaus nicht übel riechender, frischer Schweinscotelettes so lebhaft in grünlichem Lichte leuchteten, daß die Gesichter der Umstehenden zu erkennen waren, ja daß er die Bewegung des Secundenzeigers an seiner Taschenuhr verfolgen konnte. Das Mikroskop zeigte als Ursache dieser leuchtenden Erscheinung eine Menge kugelförmiger Bakterien die sich leicht auf anderes rohes Fleisch übertragen ließen und daselbst sich ausbreitende Leuchtflecken bildeten, bis nach einigen Tagen mit eintretender Fäulniß das Licht erlosch.

Der Metzger, aus dessen Laden die Cotelettes geholt worden waren, theilte mit, daß seit mehreren Wochen alle Sorten rohen Fleisches in seinen Verkaufsräumen leuchtend würden, und dieser Spuk dauerte, trotz aller Reinlichkeitsmaßregeln und Desinfectionen, von Ostern bis Pfingsten fort. Aehnliche Erscheinungen sind schon in älterer Zeit öfter beobachtet und zum Grunde abergläubischer Meinungen gemacht, worden; aus der Anatomie in Heidelberg sah man auch einmal die menschlichen Leichen leuchten. Auch hatte schon früher Florian Heller bemerkt, daß es sich um einen kleinen lebenden Organismus handele, der mit der Fäulniß selbst nichts zu thun habe und den er Sacrinoma noctiluca nannte. In allen diesen Fällen sah man, daß mit der beginnenden Fäulniß das Leuchten aufhörte, und schon vor mehreren Jahrhunderten hatte Boyle erkannt, daß Flüssigkeiten, welche lebende Organismen tödten, wie z. B. Weingeist, das Leuchten von todtem Fleische oder todten Seefischen sofort auslöschen. Man sieht also, daß das Leuchten hier mit dem Lebensproceß eines mikroskopischen Wesens zusammenhängt, welches so winzig und so einfach organisiert ist, daß die modernen Forscher es als sogenanntes Urwesen (Protist) betrachten weil sie es weder zu den echten Pflanzen, noch auch zu den niedern Thieren zu stellen wagen.

Sehr viel häufiger beobachtet man gewöhnlich dieselbe Erscheinung an dem morschen Holze abgestorbener Bäume, und der hohe entrindete Stumpf eines solchen mag gar häufig, wie es in einem bekannten Gedichte geschildert wird, furchtsamen Personen als leuchtendes Gespenst erschienen sein und sie in’s Bockshorn gejagt haben. Wie mikroskopische Untersuchungen gezeigt haben, handelt es sich hier ebenfalls nicht um das verwesende Holz, sondern um die Fäden eines Pilzes, des sogenannten Byssus phosphoreus, welcher gleich dem in der Unterlage aller Pilze schmarotzenden Nährgewebe (Mycelium) schimmelartig das morsche und feuchte Zellgewebe des Holzes durchwuchert und ihm seinen Nahrungsstoff entzieht. Die Pilze neigen überhaupt in sehr verschiedenen Formen dazu, ein phosphorisches Licht zu verbreiten und in dumpfigen Brunnen und feuchten Bergwerken sieht man das alte morsche Holz der Zimmerung nicht selten von einem Netz ziemlich derber und fester Pilzstränge bedeckt, die auch, einem Wurzelgeflecht vergleichbar, frei von den Stollen herabhängen und über und über, oder wenigstens an den jüngern Trieben leuchtend, phantastische Vorhänge weben die dieser unterirdischen Räumen das Aussehen verzauberter Gnomenpaläste geben. In manchen Gegenden, wo dieses Leuchten seltener vorkommt, sah der zu allerlei Aberglauben neigende Bergmann, und diesmal nicht ganz ohne Grund, in diesen Lichterscheinungen geheimnißvolle Warnungszeichen des nahenden Einsturzes der Zimmerung, aber an andern Orten sind sie eine alltägliche Erscheinung, und in einigen feuchtwarmen Gruben bei Pilsen soll der Lichtschimmer zuweilen so stark geworden sein, daß man die Grubenlichter auslöschen und dabei arbeiten, ja sogar grobe Druckschrift lesen konnte. Ueber die Eigenart dieses Rhizomorpha subterrana genannten Pilzes ist man noch nicht völlig im Klaren, und es ist behauptet worden, daß sie nur eine Art unfruchtbarer Wucherungen der sonst zu Feuerschwamm verarbeiteten Baumschwämme seien, wie sie in ähnlicher Weise auch unter der loser Rinde absterbender Bäume vorkommen.

Aber nicht blos in der Unterwelt giebt es derartige, dem bloßen Auge sichtbare Glühpilze, sondern auch, wenigstens in wärmeren Ländern, auf der Oberwelt. Im südlichen Frankreich und in den übrigen Mittelmeerländern findet man im Frühjahr und Spätherbst einen auf den Wurzeln der Oliven und anderer Bäume schmarotzenden, meist Gruppen bildenden, rothgelben Hutpilz (Agaricus olearius), dessen blattreiche Unterseite des Nachts, ohne übrigens einen besonderen Geruch zu verbreiten lebhaft phosphorescirt und auch die Finger beim Anfassen leuchtend macht.

Solche phosphorescirende Hutpilze scheinen in den meisten warmen Ländern vorzukommen, und mehrere derselben, wie Agaricus ignarius auf Amboina, A. noctilucens auf Manila, A. limpidus auf Java und A. Gardneri in Brasilien, strahlen [699] ein ganz intensives Licht aus. Natürlich haben diese pflanzlichen Kobolde einen lebhaften Sagenkreis um sich hervorgerufen, und auf sie bezieht sich augenscheinlich, was der alte Aelianus von der Pflanze Aglaophotis erzählt, „die sich am Tage unter den andern verbirgt und durchaus nicht in die Augen fällt, zur Nachtzeit aber sich auszeichnet und wie ein Gestirn strahlt; denn sie ist leuchtend und gleicht dem Feuer. Die Leute stecken deshalb ein Zeichen an der Wurzel ein und entfernen sich; denn wenn sie dies nicht thun würden, könnten sie sich am Tage weder der Farbe erinnern, noch der Gestalt.“

Die Einsammlung dieser Pflanze, der man die wunderbarsten Eigenschaften zuschrieb, mußte nach Aelian mit derselben Vorsicht wie bei der berühmten Mandragorawurzel geschehen: man ließ sie durch einen schwarzen Hund, den man mit Fleisch lockte, herausziehen; der Hund starb augenblicklich. Noch abenteuerlicher beschreibt der jüdische Historiker Josephus die Einsammlung derselben Pflanze, die er Baaras nennt und als von Dämonen besessen schildert.

„Sie hat eine flammendrothe Farbe,“ sagt er, „und schießt des Nachts Strahlen von sich; will man sie nehmen, so ist sie sehr schwer mit der Hand zu fassen, indem sie gleichsam entschlüpft,“ was Alles nur auf diese schlüpfrigen Leuchtpilze zu passen scheint. In neuerer Zeit wurde dem Orientreisenden Seetzen von einem Augenzeugen über eine ähnliche, „des Nachts im Feuer stehende Pflanze“ berichtet, die im Frühjahre bei den alten Libanoncedern wachse und nur eine kurze Dauer haben sollte, da sie alsbald von den Ameisen und Ziegen, deren Zähne sie mit einem goldglänzenden Firniß überziehe, gefressen würde. Die Bewohner der Umgegend trachteten eifrig nach dem Besitze dieser Wunderpflanze, die in dem Rufe steht, auch unechte Metalle, wie die Zähne der Ziegen, in Gold zu verwandeln, und wenn man auch, um der Neugierde Seetzen’s zu genügen, ihm ein getrocknetes Exemplar eines andern Gewächses gezeigt zu haben scheint, so dürfte es sich hier doch ebenfalls um einen der aus den Wurzeln der Cedern schmarotzenden, leuchtendenen Hutpilz handeln. Man wird an diese kleinen, ebenso schnell abschießenden wie verschwindenden Gestalten auch durch die Sagen von den brennenden Schätzen und dem leuchtenden Golde erinnert, welches sich für Den, der das rechte Wort nicht weiß, in Koth oder ein Häufchen schwarzer Kohlen verwandeln sollte; denn bekanntlich lösen sich die Pilze nach wenigen Tagen in Schleim auf, der sich in eine schwarze Masse umwandelt.

Auch unter den mikroskopischen Brandpilzen scheint es einige leuchtende Arten zu geben, wenigstens wurde der Reisende und Naturforscher Richard Schomburgk auf diese Vermuthung geführt, als er aus seinen Reisen in Britisch Guyana in einer Nacht sein ganzes, aus welken Blättern bereitetes Lager in einem schönen bläulichgrünen Lichte strahlen sah. Unter den Algen giebt es ebenfalls phosphorescirende Arten, und zwar sowohl unter den im Wasser als unter den auf feuchtem Laude vorkommenden Gallertalgen. Die ersteren können wir übergehen, zumal sie bei dem prächtigen Phänomen des Meeresleuchtens den Thieren gegenüber doch nur eine untergeordnete Rolle spielen, die letzteren aber haben eine gewisse Berühmtheit erlangt, da man sie theils für leuchtend herabgefallene Sternschnuppen, theils für das Substrat der Irrlichter gehalten hat.

Der deutsche Naturforscher Chladni, welcher nicht nur die Klangfiguren entdeckt, sondern auch zuerst und unter dem Spotte seiner Zeitgenosse die Natur und den Ursprung der Meteorsteine richtig erklärt hatte, sah im Jahre 1781 während der Dämmerung eines Sommerabends in einem Dresdener Garten viele leuchtende Pünktchen im nassen Grase hüpfen, die sich mit dem Winde bewegten und an den Wagenrädern festklebten, aber schließlich als kleine gallertartige Massen, dem Froschlaich oder gekochtem Sago ähnlich, sich auswiesen, sodaß man versucht wird, dabei an eine bekannte Gallertalge, den sogenannten Nostoc, zu denken.

Diese Beobachtung, der eine ähnliche des englischen Theosophen Robertson Fludd († 1637) zur Seite steht, hatte Goethe im Auge, als er im Faust die Verse schrieb:

„Irrlichter fort! Du leuchte noch so stark,
Du bist gehascht, ein ekler Gallertquark.
Was flatterst du, willst du mich packen?
Es klebt wie Pech und Schwefel mir im Nacken.“

Unter den grünen und beblätterten Pflanzen giebt es nur wenige, bei denen ein nächtliches Leuchte wirklich festgestellt worden ist, obwohl nicht wenige von ihnen in dem Rufe Leuchtpflanzen zu sein gestanden haben. So ist z. B. die grüne Keimpflanze eines kleinen zierlichen Mooses, welches hier und da in Deutschland z. B. an Felsen der sächsischen Schweiz und des Thüringer Waldes vorkommt, des Wedelmooses (Schistostega osmundacea), unschuldig in den Ruf gekommen, zu phosphoresciren. Und es ist wahr, wenn man diese zarten grünen Fäden in der Dämmerung oder im Halbdunkel einer Felsenhöhlung betrachtet, so scheinen sie ein prächtiges smaragdgrünes Licht auszustrahlen, deutlich handelt es sich dabei nur um eine Reflexerscheinung, wie bei dem bekannten Leuchten der Thieraugen.

Die Rückwände der Zellen, aus denen diese Fäden bestehen, wirken nämlich wie kleine Hohlspiegel, die das spärliche Licht der Steinklüfte sammeln, und darum meinte der erste Erforscher dieses reizenden Schimmers der Felsspalten, der Botaniker Plaubel, die Pflanze habe sozusagen ihre eigenen Spiegelvorrichtungen, die das Sonnenlicht sammelten und wie Monde der Pflanze zuwürfen, damit sie noch im Halbdunkel gedeihe könne. Er nannte die junge, dem erwachsenen Moose sehr unähnliche Keimpflanze, die er für ein besonderes Gewächs hielt, deshalb auch den Smaragdspiegel (Catoptridium smaragdinum).

Aehnliche Reflexerscheinungen sieht man auch bei anderen Moosen, und eine bekannte Gartenblume, die Mondviole, läßt nach dem Verblühen und Fruchtreifen in den stehenbleibenden Scheidewänden ihrer Schötchen silberglänzende Spiegelchen zurück, die im Mondschein lebhaft schimmern, und in einem Schriftchen des deutschen Naturforschers Conrad Gesner „über die seltenen und bewunderungswürdigen Pflanzen, welche entweder, weil sie bei Nacht leuchte, oder aus anderen Ursachen Mondpflanzen (Lunariae) genannt werden“, die Hauptrolle spielen.

Ebenso wenig Anspruch auf den Name der Phosphorescenz hat eine andere, sehr viel besprochene Erscheinung, welche zuerst voll der Tochter des großen Linné, Elisabeth Christine, an einem Juli-Abende 1762 in Upsala beobachtet worden ist. Linné berichtete in den „Schwedischen Jahrbüchern der Wissenschaften“, daß seine Tochter und darauf auch er selbst an den Blüthen der Kapuzinerkresse (Tropaeolum), jener in den gewöhnlichsten Bauergärten verbreiteten Zierpflanze, eine eigentümliche Lichterscheinung wahrgenommen habe, die er nicht zu erklären wage und die vielleicht von dem Widerschein eines unsichtbaren Nordlichtes an der feuerfarbenen Blume herrühre möchte. „Das Leuchten,“ sagt er, „besteht in einem so schnellen Aufblitzen eines Scheines, daß er nicht flüchtiger gedacht werden könnte.“ Denselben bläuliche Schein haben zahlreiche andere Beobachter später in der Dämmerung auch an den Blumen der Feuerlilie, Sonnenblume, Ringel- und Studentenblume, sowie des orientalischen Mohnes bemerkt, kurz all lauter Blumen von lebhaft gelber, orange- und feuerrother Farbe. Die botanische Verschiedenheit der hier in Betracht kommenden Blumen genügt schon, um die von Goethe und anderen Naturbeobachtern ausgesprochen Vermuthung zu unterstützen, daß es sich hier nur um das bläuliche Nachbild dieser Blumen handeln möchte, welches in der Nähe derselben auftaucht, sobald man das Auge wendet, ebenso wie man überall grüne und violette Nachbilder der untergehenden Sonne erblickt, wenn man dieselbe einen Augenblick betrachtet hat. Der Umstand, daß man jenes Leuchten nur in der Dämmerung (und nicht bei Nacht) und nur bei Blumen von der bekanntlich sehr energisch auf die Netzhaut wirkenden orangegelben Farbe erblickt, unterstützt obige Vermuthung in jeder Beziehung.

Im Uebrigen ist zu wiederholte Male auch zweifellose Phosphorescenz bei höheren Pflanzen beobachtet worden, so von K. von Szyts, der die Blätter der Kermespflanze (Phytolacca) des Nachts beobachtete, wie sie bald in gelblich, bald in bläulich grünem Lichte schimmerten, und durch den berühmte Reisende von Martius, der in Brasilien eines Abends den Milchsaft einer darnach Eupornia phosphorea) getauften Wolfsmilchart in dem Augenblicke leuchten sah, wo er beim Abbrechen eines Zweiges aus der Wunde trat. Die Luft war gewitterhaft und das Thermometer zeigte 20 Grad Réaumur, nachher, als es auf 16 Grad gesunken war, hörte das Leuchten auf, und wurde auch in der Folge nicht wieder beobachtet.

[700] Ueber die Ursache des Leuchtens der niederen Gewächse sind eine große Anzahl von Untersuchungen angestellt worden, die den verschiedensten Forschern ziemlich übereinstimmende Resultate ergeben haben. Das Leuchten aller dieser Lebewesen wird von Feuchtigkeit und Wärme begünstigt und erfordert vor Allem den Zutritt von Sauerstoff oder atmosphärischer Luft. Im stark luftverdünnten Raume leuchten alle diese Pflanzen schwach, dagegen stärker in reinem Sauerstoff oder in verdichteter Luft. In Wasserstoff-, Stickstoff- oder Kohlensäuregas hört das Leuchten auf. Besonders interessant sind die Versuche, die Bischof mit den Rhizomorphen und Fabre mit dem südeuropäischen leuchtenden Hutpilz angestellt haben. Sie schlossen lebende und mit genügender Feuchtigkeit versehene Exemplare luftdicht in Glasgefäßen ein und beobachteten ihr Verhalten und ihre Ausscheidungen. Bischof sah hierbei die weißen Triebspitzen der Rhizomorphen neun Tage lang weiterleuchten, und als er nach dem Aufhören des Leuchtens die Luft des Gefäßes untersuchte, fand er den gesammten Sauerstoff derselben verzehrt und in Kohlensäure verwandelt. Fabre beobachtete obendrein, daß der leuchtende Hutpilz der Oelbäume während des Leuchtens bei weitem mehr Kohlensäure erzeugt, als wenn er zu leuchten aufgehört hat.

Da leuchtendes Holz, leuchtendes Fleisch etc. sich ganz ähnlich verhalten, so kam man zu dem sehr einfachen Schlusse, daß allen diesen verschiedenartigen Leuchtprocessen ein dem Leuchten des Phosphors entsprechender Vorgang zu Grunde liegen müßte, nämlich die langsame Verbindung eines bestimmten organischen Körpers mit dem Sauerstoff der Luft. Daß diese Substanz nicht mit dem Phosphor einerlei ist, ergaben die in beiden Fällen verschiedenartigen Oxydationsproducte, die beim Phosphor aus phosphoriger Säure, bei den leuchtenden Pflanzen aus Kohlensäure bestehen. Es ist also klar, daß durch den Lebensproceß der Pflanze unter Umständen eine kohlenstoffhaltige Substanz gebildet wird, die sich unter Lichtentwickelung langsam mit dem Sauerstoff verbindet und darum ebenso wie der leuchtende Phosphor keine fühlbare Wärme spüren läßt. Im Gesammtverhältniß mag jedoch bei dieser langsamen Verbrennung ebenso viel Wärme frei werden, wie bei der mit Flamme verbundenen stürmischen Verbrennung, aber dasselbe Stückchen Phosphor, welches entzündet unter bedeutender Wärmeentwickelung in wenigen Secunden verbrennt, würde Wochen und Monate gebrauchen, um sich unter bloßer Phosphorescenz zu oxydiren; die in jedem Augenblick bei dieser langsamen Verbrennung frei werdende Wärme ist daher zu gering, um empfunden zu werden, und gleicht sich im Entstehen schon wieder mit der Temperatur der umgebenden Körper aus.

Wie wir im folgenden Artikel genauer sehen werden, bestehen noch andere bedeutsame Aehnlichkeiten zwischen dem Leuchten des Phosphors und dem der organischen Körper, aber die sich früh aus diesem Vergleich der beiden Vorgänge aufdrängende Erkenntniß der wahren Ursachen der Phosphorescenz lebender Wesen wurde durch das von vorgefaßten Meinungen ausgehende Studium der Leuchtthiere eher gehemmt als gefördert.




Bilder aus dem Stillen Ocean.

1. Kriegsführung auf den Marshall-Inseln.
Für die „Gartenlaube“ mitgetheilt von Dr. O. Finsch (Bremen).

Dem geist- und gemüthvollen Verfasser des weltberühmten „Peter Schlemihl“, Adelbert von Chamisso, haben wir die ersten ausführlicheren Nachrichten über die Bewohner der Marshall-Inseln zu verdanken, die er bei Gelegenheit der denkwürdigen Weltfahrt der russischen Corvette „Rurik“ (1815 bis 1818) auf kurze Zeit kennen lernte. Voll aufrichtiger Theilnahme für die braunen Naturkinder und mit wahrer Liebe für sie erfüllt, entwarf er von seinen neuen Freunden so günstige Schilderungen, daß diese seitdem fast zu den am bester beleumundeten Völkern der ganzen Südsee gehören. Hätte Chamisso so viele Monate wie Wochen unter den Eingeborenen weilen können, so wäre sein Urtheil ohne Zweifel in vielen Stücken ganz anders ausgefallen; denn dann würde der dem Dichter angeborne Idealismus doch in mancher Hinsicht einer auf genauere Kenntniß basirenden gründlicheren Anschauung gewichen sein.

Außerdem waren die kindliche Natur Chamisso’s und seine ausgesprochene Philanthropie bemüht, wenn auch nicht gerade die Schattenseiten des von ihm Geschauten zu verbergen, so doch das Gute an denselben möglichst in den Vordergrund zu stellen. Freilich mögen vor mehr als sechszig Jahren die Verhältnisse in den Marshalls ganz anders als heutigen Tags gewesen sein. Das große Schiff mit seinen damals auf diesen Inseln kaum bekannten Feuerwaffen erregte Furcht unter den Eingebornen, obschon die Fremdlinge in der Ausführung ihrer philanthropischen Mission nur Gutes thaten und ihnen zuerst unschätzbare Dinge, wie Eisen und eiserne Geräthe, großmüthig überließen, sowie sie mit neuen Culturgewächsen und Hausthieren beschenkten. Von letzteren Gaben hat sich keine auf den Inseln eingebürgert, hauptsächlich aus dem Grunde, weil die Eingebornen den Werth derselben nicht zu verstehen vermochten. Der zuerst im Verkehr mit Walfischfahrern angebahnte Handel hat auch diese Insulaner mit allerlei bis dahin unbekannten Waaren versehen, und später, etwa seit fünfundzwanzig Jahren, verstärkte und befestigte die Mission auf einigen Inseln den Einfluß der Weißen, ja wußte sich nicht selten eine gewisse Machtstellung zu erringen, die indeß meist nur von kurzer Dauer blieb. Sie lehrte die Insulaner nicht nur eine neue Weltordnung, sondern bemühte sich selbstredend auch, ihnen praktische Fertigkeiten beizubringen; die Mission spendete die Segnungen des Christenthums nicht umsonst, sondern verstand es sehr wohl die Kirchenmitglieder tributpflichtig zu machen, um sowohl die Kirche zu bereichern, wie gegen Waaren entsprechende Tauschartikel zu empfangen.

Dadurch gerieth die Mission, wie leicht begreiflich, nicht selten mit dem Kaufmann von Beruf in Conflict, und aus dieser Ursache entspringen so viele Anklagen, welche beide Parteien, nicht immer ohne Grund, gegen einander erheben. Wir wollen auf dieses ohnehin unliebsame Capitel hier nicht eingehen, so sehr dasselbe auch einer objectiven Darstellung bedürftig ist. Ein Vergleich der Marshall-Insulaner von damals, d. h. von den Zeiten Chamisso’s, und heute erscheint dagegen nicht uninteressant. Da drängt sich uns zunächst die Frage auf: Haben diese Menschen, welche uns Chamisso fast durchgehends als gute schildert, wirklich, wie die Einen wissen wollen, durch civilisatorische Einmischungen der weißen Rasse geistig und sittlich gewonnen oder sind sie, wie Andere behaupten, durch den Einfluß weißer Trader (Händler), die ihnen den Schnaps und den Tabak brachten, moralisch verderbt und physisch entnervt worden?

Nach meinen Erfahrungen ist weder das Eine noch das Andere der Fall. Wie es bei der Einförmigkeit der Natur und dem Charakter der einsamen Koralleninseln nicht wohl anders zu erwarten ist, gehören die Marshallaner, wie alle Bewohner von Atollen (Ring- oder Laguneninseln) nicht einer geistig hoch veranlagten Menschenrasse an, und schon aus diesem Grunde wird ihre Entwickelung stets an einer gewissen enggezogenen Grenze stehen bleiben. Gegenwärtig sind die Marshallaner noch weit davon entfernt dieselbe erreicht zu haben; denn thatsächlich läuft ihre ganze jetzige Civilisation wie ihr Christenthum auf Aeußerlichkeiten hinaus.

Wie die harmlosen, von Gesang und Trommel begleiteten mimischen Volksbelustigungen, unrichtig wohl Tänze genannt, von den Missionären verpönt wurden, so fielen auch das lange, schöne, schwarze Haar und zum Theil die eingeborene Tracht dem Missionseifer zum Opfer. Dadurch erreichte man allerdings, daß Bekehrte an ihrer europäischen Kleidung zu erkennen sind, und so entstanden die sogenannten „Callicochristen“, wie sie ein Missionsbericht zuerst als solche bezeichnet. Freilich sind dieselben zum Theil sehr regelmäßige Kirchengänger, aber auch bei den eifrigsten kann von einem tieferen Verständniß der Wahrheiten und der Moral des Christenthums nicht die Rede sein; denn ihre ganze Kenntniß beruht auf einigen auswendig gelernten Hymnen und Psalmenversen, und nur [701] ein sehr geringer Procentsatz hat es weiter gebracht, als mühsam den eigenen Namen zu kritzeln.

Fassen wir Alles zusammen, so beschränkt sich das, was die heutige Civilisation den Bewohnern der Marshallsinseln gebracht hat, abgesehen von der dürftigen Kleidung auf einige nützliche eiserne Geräthe, unter denen Messer, Beile, Nähnadeln, Fischhaken, Kochtöpfe, Kisten und Kasten die wichtigsten sind, und auf eine Menge Tand, wie Glasperlen, Bänder, Haaröl, Fingerringe etc., außerdem auf allerlei Schuß- und Hiebwaffen. Unter den Genußmitteln nehmen Reis und Hartbrod die Hauptstelle ein, wozu hier und da noch Salzfleisch und vielleicht einige Conserven kommen, ganz besonders aber Getränke, unter denen namentlich Bier beliebt ist. Da aber die Flasche Bier 2 Mark kostet, so verbietet sich der häufigere Genuß desselben von selbst, und der Eingeborene greift, wie fast alle Weißen, zu dem landesüblichen Getränk: Gin, das billiger und dabei wirkungsvoller ist. Trotzdem läßt sich nicht behaupten, daß Trunksucht unter den Eingeborenen herrsche; man sieht vielmehr nur selten Betrunkene, und in diesem Falle sind es meist nicht die gemeinen Kanaker, sondern die Herren Vorgesetzten.

Wenn durch die Dazwischenkunft der Weißen das Leben der Eingeborenen unleugbar in mancher Beziehung verbessert wurde, so muß dabei doch ausdrücklich bemerkt werden, daß die Letzteren dies keineswegs ihrer eigenen Kraftanstrengung verdanken. Im Bau der Häuser haben sie nur in Ausnahmefällen europäische Verbesserungen angenommen, nur selten sich bemüht, Bananen und andere Nutzpflanzen, welche unter der sorgsamen Pflege des weißen Mannes gedeihen, zu cultiviren, und so bleibt ihnen fast nur das Verdienst, ihre ursprüngliche Geschicklichkeit in Flechtarbeiten auf die Herstellung von Hütten nach europäischer Form übertragen zu haben. Dagegen sind ihnen andere Fertigkeiten abhanden gekommen, wie auch ihre so hoch entwickelte Kunst im Bau von Canoes immer mehr verloren geht und nur noch von alten Leuten gründlich verstanden wird.

Marshall-Insulaner im Krieg.
Nach der Natur für die „Gartenlaube“ gezeichnet von O. Finsch.

Der conservative Zug im Charakter des Marshallaners, wie fast aller Südsee-Insulaner, hat auch die alten Rangordnungen erhalten, und noch heute giebt es in der ganzen Marshallgruppe, sowohl der Ratak- als Ralikkette vier Stände, die sich von mütterlicher Seite vererben. Es sind dies die Armidsch-kajur, oder die niedrigste Classe, welche kein Eigenthum besitzt, sondern nur Lehnsdienste verrichtet, die Leotakatak, mit erbberechtigtem Eigenthum, die Burak, größere freie Grundbesitzer, und die Iroidsch oder Häuptlinge. Aus den letzteren wird der Iroidsch-lablab, das heißt der große Häuptling oder sogenannte König, gewählt, von dessen Macht man sich aber keine allzu große Vorstellung machen darf. Wenigstens ist der jetzige Herrscher Kabua, oder „der Oberhäuptling Lebon, der Herr der Ralikkette“, wie er in dem mit der deutschen Regierung abgeschlossenen Vertrage pomphaft genannt wird, ein kläglicher Herrscher. Kabua versteht nur mühsam seinen Namen zu schreiben, kann kaum ein paar Worte englisch sprechen und ist ein indolenter beschränkter Kopf, dessen einzige Gabe in Lüge und Verstellung besteht. Obwohl er nicht Kirchenmitglied ist, hält er es doch mit der Mission und geht, wenn es vortheilhaft für ihn scheint, selbst gelegentlich einmal mit zur Kirche.

Da Kabua nur wenig Land besitzt, so ist er arm und aus diesem Grunde habsüchtig. Von allen und jeden Einnahmen seiner Unterthanen nimmt er den größten Theil für sich, und dies hat ihn vielfach unpopulär gemacht. Sein Einfluß ist daher auch sehr unbedeutend. Nächst Kabua ist Loiak der bedeutendste Häuptling und ein Rival, der an geistiger Begabung Kabua offenbar übertrifft, wenn er auch sonst nicht eben vortheilhaft beleumundet ist. Zwischen beiden Häuptlingen herrschte schon längst Eifersucht, die unerwartet zum Kriege führte.

Wie uns Chamisso lehrt, lagen die Marshallaner schon zur Zeit seines Aufenthaltes auf diesen Inseln mit einander im Kriege. Diese Kriege, obwohl nicht sonderlich verheerend, forderten ohne Zweifel Opfer; denn bei der damaligen Art der Waffen mußte es meist zum Einzelkampf kommen. Die Waffen bestanden in Lanzen, einfachen, circa sieben Fuß langen, zugespitzten Stäben aus Palmholz, die nur ausnahmsweise mit Haifischzähnen besetzt waren, wie dies noch heute in den Gilberts üblich ist, und in Schleudern, das heißt einem breiten Bande aus Cocosfaser, mittelst dessen ein rundes Korallstück geschickt geworfen wurde. Bogen und Pfeile besaßen die Marshallaner, wie fast alle Südseebewohner, nicht. Mit diesen [702] unvollkommenen Waffen, zu denen später noch durch Tausch erlangte Messer und andere eiserne Geräthe kamen, scheuten sich die Eingeborenen selbst nicht, in einzelnen Fällen Weiße anzugreifen. Diese Zeiten sind nun vorbei; denn wenn die Eingeborenen Weiße auch nicht mehr, wie die ersten, für höhere Wesen, für Götter halten, so haben sie deren Ueberlegenheit doch zur Genüge kennen gelernt und begnügen sich mit Stehlen.

Das Atoll von Jaluit oder Bonham besteht aus achtundfünfzig Inseln, von denen siebenundzwanzig bewohnt sind und zusammen ungefähr 1500 Seelen zählen. Unter diesen Inseln ist Dschabwor (Jabwor) nicht die größte, aber deshalb die mächtigste, weil sich hier die fremden Handelsniederlassungen befinden. Das Dorf besteht aus etwa zwanzig meist elenden Hütten; denn nur Kabua und Loiak bewohnen ziemlich anständige Bretterhäuser.

Am 14. Mai 1880 verbreitete sich plötzlich die Nachricht, Loiak habe sich mit seinen Leuten auf eine andere Insel des Atolls zurückgezogen, rüste hier und werde demnächst Dschabwor mit Krieg überziehen. Wir durften also auf das Schlimmste gefaßt sein, und die Eingeborenen waren in ziemlicher Aufregung. Zugleich erschienen die wohlbekannten Typen der Dorfbewohner äußerlich total verändert; denn Alle hatten die auf Dschabwor ziemlich verbreiteten europäischen Bekleidungsstücke abgelegt und erschienen in der zum Theil phantastischen Nationaltracht, die nackten Körpertheile und das mit Blumen und Federn geschmückte Haar reichlich mit Oel getränkt. Der nationale Aufputz hatte übrigens bei den Meisten europäische Beigabe erhalten, und namentlich durfte rothes Zeug als Kopf- oder kreuzweise Brustbinde zum vollständigen Staate eines Kriegers keinesfalls fehlen. Auch das weibliche Geschlecht hatte die feinsten Matten – eine Art Tücher – herausgesucht. Einige hatten die ihnen im Grunde doch lästigen Jäckchen abgelegt und zeigten sich ebenfalls in Nationaltracht und, nebenbei bemerkt, nicht unvortheilhafter. Kabua bemühte sich zunächst, zum Theil auf Credit „Bu“, das heißt Gewehre, zu kaufen, und seine Hülfstruppen von den benachbarten Inseln zusammenzuziehen, über deren Zahl er übrigens so wenig unterrichtet war wie über die seines Gegners.

Schon am andern Morgen konnte er Heerschau abhalten und uns das Schauspiel einer Strandvertheidigung zum Besten geben. Dasselbe bestand im Wesentlichen darin, daß die in zwei Gliedern aufgestellten Krieger unter wüthendem Geheul, Gesten und Augenverdrehen einige Schritte vorrückten, planlos ihre Gewehre abfeuerten und wieder nach Haus gingen. Kabua, mit Säbel und Lanze bewaffnet, begleitet von seinem zwölfjährigen Sohne Lailing, commandirte, wobei ihn seine Hauptfrau kräftigst unterstützte. Nach dieser Waffenübung gaben die Häuptlinge einen sogenannten Tanz zum Besten, das heißt eine jener mimischen Darstellungen, bei welchen die Vortragenden, unter Gesangs- und Trommelbegleitung und in sitzender Stellung, ihre größte Kunst in zitternden Armbewegungen und pagodenhaften Kopfdrehungen mit wildem Augenrollen auszudrücken bemüht sind.

Obwohl Kabua weit besser bewaffnet war als sein Gegner, da seine Truppen meist Hinterlader (Tabatieregewehre) führten, während sein Gegner nur eine geringere Zahl Vorderlader besaß, so unterließ er es doch, zuerst anzugreifen; denn nach Landessitte kommt dies Dem zu, welcher den Krieg erklärte.

Loiak ließ denn auch nicht lange auf sich warten, sondern erschien schon am dritten Tage, dem Pfingstsonntage, mit seiner Flotte, was natürlich große Aufregung hervorrief. Es war ein äußerst malerisches Bild, als zwanzig, große, dicht mit Menschen vollgepackte Canoes in langer Reihe aufsegelten oder besser vorübersegelten; denn auch Loiak wagte keinen Angriff, sondern landete am Nordende der Insel Dschabwor. Selbstredend erwartete man jeden Augenblick den Anmarsch des Feindes. Wirklich zeigten sich auch bald darauf in den Büschen unterhalb des Dorfes ein paar verdächtige Gestalten, ohne Zweifel Tirailleure oder Spione, und Kabua gab jetzt das Zeichen zum Angriffe. Eingedenk seiner Würde als Höchster, stellte er sich mit lobenswerther Bravour persönlich an die Spitze; sein treues Volk folgte ihm, und zwar nicht blos die Krieger, sondern Alle ohne Ausnahme; denn nach dem Wehrgesetze in den Marshalls sind im Kriegsfalle höchstens Säuglinge und Schwerkranke frei; alle Uebrigen, vom Knaben bis zum Greise am Stabe und vom kleinsten Mädchen bis zur ältesten Matrone, haben dem Heerbanne Folge zu leisten. Der Aufmarsch dieses buntscheckigen und geschmückten Volksheeres war in der That sehr malerisch und der einzige bemerkenswerthe Moment des ganzen Krieges. Selbstredend marschirten die Tapferen nicht in Colonnen oder Sectionen auf, sondern einzeln in langer Gänsemarschreihe, hier und da Gruppen bildend, in denen Weiber und Mädchen die Mehrzahl waren, wie dieselben überhaupt den überwiegenden Theil des Heeres ausmachten, dessen männlicher Kern, inclusive der Jungen und Krüppel, ungefähr 180 Köpfe betragen mochte.

Kabua selbst war übrigens nicht von einer Leibgarde seiner besten Kämpen umgeben, sondern vier seiner Weiber folgten ihm als Escorte, und erst viel weiter nach rückwärts kamen die Krieger angezogen. Wie in den früheren Kriegen die Frauen ihre Männer begleiteten, so auch jetzt. Nur sind es nicht mehr Schleudersteine, welche sie in Körben nachtragen, sondern Patronen, Pulver, Blei, außerdem Lebensmittel, als Cocosnüsse, Reis, Wasser in Cocosschalen, Gin- und anderen Flaschen, sowie endlich Haaröl und jenes amerikanische Medicament, welches unter dem Namen „painkiller“ (Schmerztödter) in der Südsee allgemein bekannt und beliebt ist. Auch für Verwundungen war man somit vorgesehen. Die meisten Männer waren mit Gewehren bewaffnet; einzelne führten außerdem Revolver und Pistolen, aber auch alte längst vergessene Speere und andere Waffen, z. B. Walfischspaten, waren hervorgesucht worden.

Die Krieger folgten ihrem Heerführer übrigens in möglichster Gemächlichkeit; wo man konnte, wurde noch eine Cocosnuß geleert, etwas gegessen, eine Pfeife angezündet oder ein Gespräch geführt, ganz wie sonst. Als Kabua auf dem Kampfplatze anlangte, machte er sich, obwohl noch fast gänzlich allein stehend, doch gefechtsbereit. Wie der erzürnte Löwe vor dem verderblichen Sprunge zum Angriff wild seine Mähne schüttelt und mit dem Schweife rollt, so wedelte er mit den langen Fasern seines crinolinenartigen Grasrockes, fuchtelte unter drohendem Kriegsgeschrei mit seinem Spencerrifle in der Luft umher, um sich bald darauf siegreich rückwärts zu concentriren, wobei ihm seine Tapfern in beschleunigtem Tempo folgten.

Die feindlichen Kundschafter waren inzwischen in’s Dorf gedrungen, nicht um zu spioniren, sondern um etwas Pulver und Tabak zu kaufen; sie zogen, unbehelligt von den Kriegern Dschabwors, die dabei zugegen waren, wieder heim in ihr Lager.

Am andern Tage ließ Kabua unterhalb des Dorfes, da, wo die Insel am schmalsten ist, eine Schanze aus Korallsteinen zusammentragen, die allerdings in bewundernswerther Eile beendet wurde und die letzte That in diesem Kriege war. Hier bezogen Wachmannschaften ein kleines Lager und erwarteten ungeduldig, aber kühn den Feind. Die einzige Beschäftigung der Krieger bestand nun darin, zu essen, sich zu putzen und in die Luft zu schießen, wobei keinerlei Unglücksfall vorkam; merkwürdig genug; denn von Handhabung einer Schießwaffe haben die meisten keine Idee.

Selbstredend wagte Loiak diesem heldenmüthigen Auftreten gegenüber keinen Angriff, und als in etlichen Tagen die Cocosnüsse an seinem Lagerplatze aufgegessen waren, ging er mit seinem, übrigens stärkeren, Heere nach einer anderen Insel. Hier wurden nicht allein die ihm nicht gehörenden Naturproducte aufgezehrt, sondern man fing in praktischer Weise auch an, Copra zu schneiden und diese zu verkaufen. So stehen die Sachen heute noch.

Ob es nun wirklich noch zu ernstem Streite kommen wird, ist sehr zu bezweifeln. Vorläufig hat das planlose Schießen sehr nachgelassen; denn mit den Patronen wurde zugleich das Geld verschossen. Beide Häuptlinge wünschen den Frieden, behaupten am Kriege nicht schuld zu sein und antworten, über die Ursache des Streites befragt, mit dem stereotypen „idschadsche“ (ich weiß nicht), womit namentlich Kabua seinen Standpunkt sehr richtig bezeichnet, da er in der That zu den „Nichtswissern“ von Perfection gehört. Vom humanistischen Standpunkt aus betrachtet, bestätigt der jüngste Krieg auf Jaluit die auch anderorts in Mikronesien gemachte paradox klingende Thatsache, daß seit Einführung von Feuerwaffen in diesen Regionen nur noch unblutige Kriege geführt werden.

Das beifolgende Bild wurde bei Gelegenheit der Besichtigung der „Korallenschanze“ nach der Natur von mir aufgenommen. Es führt uns die Marshallkrieger in vollem Staate vor und bedarf des besseren Verständnisses halber einer kurzen Erklärung.

Der kleine corpulente Herr in der Mitte des Bildes, mit der Lanze in der Hand, ist Lebon Kabua selbst. Er hat sich, wie seine Unterthanen, seit Beginn des Krieges der lästigen europäischen Kleidung [703] entledigt und den landesüblichen „Ihn“ angelegt. Es ist dies ein aus schmalen Streifen einer Kriechpflanze verfertigter, dichter und bauschiger, fast bis zum Knie herabreichender Bastfaserrock, der mittelst eines Gürtels aus Pandanusblatt, dem Kangr, festgehalten wird. Er verleiht dem Träger einen unverhältnißmäßigen Umfang, wie dies namentlich der junge, noch mit einem Kittel versehene Krieger rechts zeigt. Ueber dem Ihn trägt Kabua noch als besondere Zierde ein aus verschiedenen Kleiderresten zusammengenähtes buntes Tuch. Sein lockiges Haupthaar ist von einem schmalen mit weißen Muscheln besetzten Bande festgehalten und mit einigen Federn geschmückt. Die reiche Tätowirung Kabua’s, welche in mattblauem Tone sich auf der braunen Haut sehr vortheilhaft abhebt, kommt in vollstem Maße zur Geltung. Neben Kabua links steht sein Feldhauptmann, ein alter würdiger Kanaka, dem schon die durch einen Ring aus Pandanusblatt enorm ausgedehnten Ohren, noch mehr aber der mächtige Kopfputz aus Federn des Fregattvogels ein besonders phantastisches Aussehen verleihen. Die zwei sitzenden Krieger, ebenfalls nur mit dem Ihn bekleidet, zeigen die alte Weise des auf dem Hinterkopfe zu einem Knoten gebundenen Haares. Zwar trägt der junge, auf dem Stumpfe einer Palme sitzende Freiwillige ebenfalls einen Zopf, er stammt aber von einer der nördlichen Inseln der Gruppe, deren Bewohner sich noch ursprünglicher erhalten haben. Die feine aus Pandanusfaser geflochtene Matte, welche er um die Schenkel geschlungen hat, bildet eine sehr gefällige Tracht für diese nackten braunen Gestalten. Ganz links erblickt man zwei Mädchen in dem auf Jaluit am meisten üblichen Costüm, indem nämlich den nationalen Matten für die untere Körperhälfte noch ein Kattunjäckchen nach europäischem Schnitt hinzugefügt wurde. Sie halten die Adscha, die sanduhrförmige, an einer Seite mit Haifischhaut überzogene Trommel, das einzige Musikinstrument der Marshaller, im Arm, nicht um in ähnlicher Weise wie in unseren Kriegen mit derselben zum Kampfe anzufeuern, sondern nur damit den Tanzvorstellungen nicht die Begleitung fehlt. Die zwei holden Damen im Hintergrunde führen uns die eigentliche Nationaltracht dieser Insulanerinnen vor mit der beim weiblichen Geschlecht auf Arme und Schultern beschränkten Tätowirung, welche jetzt, wie die enorme Erweiterung der Ohrläppchen, immer mehr abkommt.

     Jaluit (Bonham), Marshall-Inseln, im October 1880.




Resignation.

„Sehsuchtsschwer, voll süßer Ahnung
Liegt das Herz mir in der Brust;
Möchte schwelgen, möchte schlürfen
Durstig an dem Kelch der Lust.

5
Einen Kelch voll Feuerlabe

Füllt, o füllt, ihr Mächt’gen, mir!
Was an Wonnen lebt hienieden,
Schenkt es jählings mir – und ihr!

Zage Küsse, blasse Freuden,

10
O ihr Götter, gebt uns nicht!

Gebt auf einmal alle Leiden,
Allen Schatten, alles Licht!

In der Liebe Tempel trinken
Laßt uns süße Götterlust,

15
Laßt wie Blitze sie durchzucken

Die entzückte, junge Brust!

Ist die Wonne dann verrauschet,
Komme, was da kommen soll!
Donnernd stürze ein der Tempel,

20
Noch in Aschen feuervoll!“ – –


Da – wie ich noch brünstig flehe,
Flammt um mich ein magisch Licht,
Und vom Himmel eine Stimme
Also mahnend zu mir spricht:

25
„Mäß’ge, ruheloses Herze,

Deinen ungestümen Schlag!
Denn dein Loos ist Lust und Schmerzen,
Wie da wechselt Nacht und Tag.

Schwachen, staubgebund’nen Sinnen

30
Ziemt nicht volles Sonnenlicht;

Nur uns Göttern kann es taugen –
Sterbliche ertragen’s nicht.

Dann nur ward dir höchster Adel,
Wenn dich läutert herber Schmerz,

35
Wenn dich bessert weiser Tadel –

Edles Maß beglückt das Herz.“

C. del Negro.




Die Sieger auf der Hunde-Ausstellung zu Cleve.

Die in reizender Umgebung gelegene einstmalige Hauptstadt des Herzogthums Cleve, die durch die Sage von Lohengrin weitberühmte Dreihügelstadt, ist den Lesern der „Gartenlaube“ aus früheren Jahrgängen (vergl. Jahrgang 1879, S. 586) zur Genüge bekannt. In Cleves Straßen herrschte im Anfang des verflossenen Sommers ein buntes Treiben; man traf emsig Vorbereitungen zu der großen Jagdausstellung (wir werden über dieselbe in einer unserer nächsten Nummern berichten. – D. Red.), welcher eine Hunde-Ausstellung voranging. Das schnaubende Dampfroß brachte aus aller Herren Ländern in das stille Städtchen gar seltene Gäste, nicht etwa in den Coupés erster bis vierter Classe – sie wurden vielmehr in eigenartig eingerichteten Behältern und Transportkasten vorschriftsmäßig unter der Obhut des Bahnpersonals bis Station Cleve befördert und hier von dem Ausstellungscomité in Empfang genommen: Hunde waren es, Hunde aller Rassen von dem klugen, in Gefahr und Noth Hülfe leistenden Sprossen des St. Bernhard herab bis zu der nichtsnutzigen faulen Art der seidenhaarigen Schooßhündchen der Salonwelt.

In unserer ein wenig an Ausstellungswuth leidenden Zeit ist bei dem großen Pubiicum das Interesse für derartige Fachausstellungen ein ziemlich kühles; wir sind einigermaßen abgestumpft gegenüber dem uns allzu oft gebotenen Genusse des Schauens; denn keine Stadt im deutschen Lande unterläßt es heutzutage, im Laufe von wenigen Jahren eine Industrie-, Gewerbe- oder landwirthschaftliche Ausstellung in ihren Mauern zu beherbergen. Und nicht nur die große Zahl solcher Ausstellungen erschlafft unser Interesse an denselben, sondern es liegt vielfach auch in der Natur dieser Schaustellungen selbst, daß sie uns kalt lassen; denn wer da erwartet, sie müßten immer eine Art von Theater bilden, in dem man Interessantes, Neues, Großartiges zu sehen bekommt, der irrt nur allzu oft. Die blendende Effectwirkung läßt sich aber am allerwenigsten bei den ihrer Natur nach ziemlich monotonen Fachausstellungen erzielen, und daher ist auf ihnen das schaulustige Publicum stets in geringer Menge vertreten.

Aber die hohe Ziffer der Besucher ist keineswegs der richtige Maßstab für die Beurtheilung des Werthes einer Ausstellung, die ernstere Ziele, als die Befriedigung eines verwöhnten Auges zu erstreben hat. Ihre Hauptaufgabe besteht vielmehr darin, ein getreues Bild der Fortschritte unserer culturellen Thätigkeit zu bieten und theils dem anerkannt Guten allgemeinere Verbreitung [704] zu verschaffen, theils für die Aufstellung neuer Gesichtspunkte sowie die Betretung bisjetzt unterlassener fortschrittlicher Bahnen anregend und befruchtend zu wirken.

In dieser Beziehung ist nun die Hunde-Ausstellung in Cleve als ein glückliches Unternehmen zu betrachten. Mag man gegen den Hund im Allgemeinen als den Träger verschiedenartiger tödtlicher Krankheiten oder aus irgend welchen anderen Gründen eifern wie man will, man wird trotz alledem zugestehen müssen, daß er uns ein unentbehrliches Hausthier geworden ist. Dabei muß man noch im Auge behalten, daß keines unserer gezähmten Thiere uns nach so verschiedenartigen Richtungen hin ein nimmer müder Helfer und treuer Arbeitsgenosse ist, wie gerade der Hund; benutzen wir das Pferd als Last- und Zugthier, züchten wir Rindviehheerden, um von ihnen Fleisch und Milch zu erhalten, so hilft uns der bei weitem vielseitigere Hund eine lange Reihe von Aufgaben lösen. Er bewacht das Haus des Landmanns und hütet seine Heerde; er findet die Spuren des Wildes und stellt dasselbe dem Jäger; aus den Schneewehen der Bergschluchten und aus den brandenden Wogen der See rettet er die Verunglückten; muthig vertheidigt er seinen Herrn gegen feindlichen Angriff, und selbst die Pflichten eines Kindermädchens werden ihm anvertraut. Im hohen Norden aber zieht er sogar – freilich mißbräuchlicher Weise (vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1879, S. 586[WS 1]) – den Schlitten des Eskimo und in den civilisirten Ländern den kleinen Wagen des Hökerhändlers. Diesen zahlreichen Anforderungen entspricht auch die Fülle der inneren Anlagen und äußeren körperlichen Eigenschaften, die wir all dem Hunde kennen lernen.

Bekanntlich ist aber die Summe dieser Anlagen niemals in einem einzigen Hunde-Individuum vereinigt, sondern dieselben vertheilen sich auf die verschiedenen Hunderassen. Die eine Art ist wachsam; die andere zeichnet sich durch ihren verwegenen Muth aus; diese versteht das Wild aufzuspüren, jene es zu stellen. Die Aufgabe des Hundezüchters ist es nun, die einzelnen Rassen zu erhalten oder sie zu vervollkommnen und dadurch den Werth des Thieres für den Menschen immer höher zu steigern.

Bis vor Kurzem war nur der Jäger sich dieser Aufgabe bewußt, während man im Uebrigen der Hundezucht keine Beachtung schenkte und kluge, werthvolle Rassen durch Kreuzung mit weniger edlen fast gänzlich zu Grunde gehen ließ. Erst in Folge der Anwendung der Darwinschen Entwickelungstheorie auf die praktische Landwirthschaft wurde auch hier Licht und Klarheit geschaffen, und es bildeten sich bald kynologische Vereine, welche für die Züchtung reiner Hunderassen immer weitere Kreise gewannen.

Als der wirksamste Hebel für diese Bestrebungen sind indessen in erster Linie die Hunde-Ausstellungen zu betrachten, auf welchen die Gebrauchshunde gleichzeitig von den Sachverständigen auf ihre Leistungen geprüft werden.

Die letzte Hunde-Ausstellung zu Cleve, welche dank der Initiative des Comités für die Jagd-Ausstellung in’s Leben gerufen wurde, bot in dieser Hinsicht dem Fachmanne ein sehr ausgewähltes und reichhaltiges Material, welches umsomehr zur Belehrung und Klärung der Ansichten dienen konnte, als dieselbe durchweg nur mit vorzüglichen Exemplaren von den Hundezüchtern beschickt wurde.

Die Prüfung und Zusammenstellung der einschlägigen hier erzielten Resultate müssen wir jedoch den Fachblättern überlassen und beschränken uns nur auf die Vorführung einiger Prachtstücke, welchen unter der bellend-knurrenden Menge die Siegerpalme zuerkannt wurde und die der geniale Thiermaler Ludwig Beckmann in seiner gewohnten meisterhaften Weise für die „Gartenlaube“ zu zeichnen die Güte hatte.

Zunächst fallen uns in der oberen Gruppe unserer heutigen Abbildung die beiden Gegensätze der Wildhundrasse in’s Auge, und zwar der rauhhaarige schottische Deerhound, welcher in Schottland zum Hetzen des Edelwildes gebraucht wird, und der seidenhaarige russische Windhund. Nr. 1 ist der „Duncan“ des Lieutenant Rüdiger, der, bereits mit zwei ersten und drei zweiten Preisen belohnt, in Cleve ein drittes Blatt in den Kranz. seiner Siege einflocht. Nr. 2. stellt den russischen Windhund „Odar“ vor, welcher sich im Besitze der Frau Dr. Bodinus befindet. Die dicht daneben stehenden „Mylord“ und „Boncoeur“ sind zwei würdige Repräsentanten der deutschen Hühnerhunde. Diese ebenso edle wie unseren Verhältnissen angepaßte und brauchbare Hunderasse schien durch die unglückseligen Kreuzungsgelüste mit englischen Vorstehhunden fast verschwinden, und erst den Bestrebungen Ludwig Beckmanns und einiger seiner eifrigen Gesinnungsgenossen, wie des Herrn von der Bosch, Baron Rauch und Anderer, ist es zu danken, daß wir den alten Typus wieder aufgefunden haben; auch die „Neue deutsche Jagdzeitung“ hat redlich beigetragen, das Interesse für diesen von unseren Voreltern so gefeierten Stamm von Neuem anzufachen.

„Mylord“ (Nr. 3) ist ein langhaariger deutscher Hühnerhund, im Besitze des Herrn Borchers und wurde in Cleve in Folge der erworbenen ersten Preise in die Siegereclasse rangirt. In „Boncoeur“ (Nr. 4), aus der Zuchtstation Eberswalde, kurzhaarig, lernen wir einen Sohn der berühmten, vielfach prämiirten Auerbach’schen „Diana“ kennen. Dieser schöne Hund, der in Berlin mit dem ersten Preise bedacht warben war, trug hier den Ehrenpreis des Comités davon.

Außer diesen interessanten Typen bringt uns unser oberes Bild noch einen in den betheiligten Kreisen weit und breit berühmten Hund, und zwar in liegender Stellung, zur Anschauung. Es ist „Solo“ (Nr. 5), ein Schweißhund, welcher dem königlichen Förster Herrn Bühmann gehört und der, wie im vorigen Jahre in Elberfeld, so auch hier den Ehrenpreis seiner Classe heimbrachte.

Ungleich lebendiger ist das Bild der unteren Gruppe. Alle seine Stammesgenossen überragt hier „Nero“ (Nr. 8), eine deutsche Dogge, Tigerdogge des Herrn Wüster jun., welche, ebenfalls bereits in Elberfeld mit einem Ehrenpreise prämiirt, hier die gleiche Anerkennung fand.

Ueber keine Hunderasse sind die Ansichten im Publicum so unklar, wie über die „deutschen Doggen“, man findet heute selbst in guten Lehrbüchern, wie in L. Martins „Illustrirte Naturgeschichte der Thiere“, die Bezeichnung „dänische Dogge“; in Brehm’s trefflichem Werke ist sogar die von Ludwig Beckmann gezeichnete „deutsche Dogge“ mit dem Namen „dänischer Hund“ bezeichnet. Ebenso falsch ist die ziemlich verbreitete Benennung „Ulmer Dogge“; denn in der Kynologie kennen wir nur „deutsche Doggen“ und können hier nur einen „leichteren“ oder einen „schwereren Schlag“ gelten lassen.

Aehnliches gilt von den Alpenhunden (Bernhardiner); die hier herrschende Confusion ist von einem Stuttgarter Hundehändler verursacht worden, der unter dem Namen Leonberger oder Berghunde eine Verbastardirung des Alpenhundes als eigene constante Rasse einführen und an den Mann bringen wollte. Der Künstler hat auf unserer Skizze in Nr. 7 ein den Typus dieser Rasse besonders charakterisirendes Thier, „Geßler“, Eigenthum des Prinzen A. zu Solms-Brunnfels, dargestellt. „Geßler“ ist ein langhaariger Bernhardiner, der in Cleve den dritten Preis erhielt.

Zwei weitere Repräsentanten specifisch deutscher Rassen finden wir ferner in Nr. 9 und 10 unserer Abbildung.

Ersterer, „Mohr“ mit Namen, ist ein wolfsgrauer Spitz des Herrn Scheurer, letzterer ein schöner Schnürenpudel, „Solo“, im Besitz des Herrn Meschenmoser.

Der echte alte Spitz (Fuhrmannsspitz, Schiffspommer, auch Pommer genannt) war einfach wolfsgrau an den Läufen und der Unterseite lichter gelblich-grau und sind von ihm die weißen und schwarzen Spitze als Varietäten ausgegangen. Der echte Spitz ist stets einfarbig, niemals gefleckt, und an Wachsamkeit und Klugheit nimmt er einen hohen Rang unter den Hausthieren ein, aber wie verbreitet diese nützliche Rasse auch früher in Deutschland war, heute droht sie fast gänzlich zu verschwinden, und es bedarf energischer Anstrengungen, um den echten Spitz zu erhalten.

Keine Hunderasse der Welt übertrifft an Klugheit und Fassungsvermögen den Pudel, und wir können es Zoroaster kaum verdenken, wenn er in diesem Thiere den Begriff alles thierisch Edlen und Vollkommenen verewigt sieht. Wir theilen den Pudel nach seiner Behaarung in den kraushaarigen und den Schnürenpudel. „Solo“ gehört zur letzteren Species.

Der einzige Repräsentant Alt-Englands auf unserem Bilde ist schließlich „Prinz“ (Nr. 8), der mürrische Mastiff des Herrn Alexander Leymann. Der Mastiff ist nicht zu verwechseln mit der Bulldogge; er gilt für ein wüthendes, bösartiges und ungeselliges Thier, ist jedoch seinem Herrn, sobald er denselben genau kennt, treu ergeben und einer der sichersten Hüter von Haus und Hof. Sein Muth grenzt an Tollkühnheit, und er greift, ohne sich zu besinnen, Alles an, worauf er gehetzt wird.

Es ist nicht unsere Aufgabe, hier auf eine detaillirtere Behandlung der obenerwähnten Rassen einzugehen, wie auch eine

[705]

Prämiirte Hunde auf der Hunde-Ausstellung zu Cleve. Originalzeichnung von L. Beckmann.
1. Duncan (schottischer Deerhound). – 2. Odar (russischer Windhund). – 3. Mylord (langhaariger deutscher Hühnerhund, Siegerclasse). – 4. Boncoeur (glatthaariger deutscher Hühnerhund, Ehrenpreis des Comités). – 5. Solo (Schweißhund, Ehrenpreis). – 6. Nero (deutsche Dogge, Tiger, Ehrenpreis). – 7. Geßler (Alpenhund, Bernhardiner). – 8. Prinz (englischer Mastiff). – 9. Mohr (wolfsgrauer Spitz). – 10. Solo (Schnürenpudel).

[706] Besprechung der heutigen kynologischen Verhältnisse Deutschlands an dieser Stelle unterbleiben muß. Nur Folgendes möchten wir noch besonders hervorheben: Die eigentümlichen Anforderungen, welche mit unerbittlicher Strenge an die Züchtung einzelner Hunderassen gestellt werden müssen, dürfen nicht von der Laune Einzelner abhängen. Nur gemeinsames Studium und gemeinsames Vorgehen können hier auf den richtigen Weg führen. Die heutige Richtung in unserer Kynologie verfolgt den Zweck, die sämmtlichen schönen, edlen und wertvollen Rassen der Vergessenheit zu entziehen, sie zu erhalten und zu veredeln. Die Engländer haben uns die richtigen Wege der Züchtung gewiesen. Benutzen wir diese Lehre, um unsere guten deutschen Hunde zunächst wieder auf den ihnen gebührenden Platz zu erheben! Dann wird es nicht schwer halten, das englische Material zu überflügeln, und wir werden die nicht unbedeutenden Summen, welche heute für edle Hunderassen nach England wandern, dem Lande erhalten.




Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


Die Gesellschaft landete an einer kleinen Halbinsel, um Mittag zu machen, und alle Register fröhlicher Stimmung wurden vor der Tafelrunde aufgezogen; als man sich wieder einschiffte, und dem letzten Ziele der Fahrt, dem äußersten See-Ufer, zuzurudern, war sogar ein gewisser Uebermuth mit an Bord gegangen und ließ bald die Aussicht auf freiere Bewegung, als sie dem Einzelnen während der Seefahrt möglich war, sehr willkommen erscheinen, Schon begann die Sonne sich abwärts zu neigen, als die Gesellschaft landete und den Spaziergang über eine leicht ansteigende Landzunge unternahm – in langer Reihe; denn der zwischen Felstrümmern über nacktes Geröll führende schmale Weg gestattete höchstens paarweises Gehen.

Die Herren ließen ihren Damen den Vortritt. Siegmund war Einer der Letzten. Langsam nachschlendernd, gewahrte er im spärlichen Grase eine Blume, die er pflückte. Sein scharfes Auge suchte nun Margarita. Zwischen den Felsblöcken, die über das Uferland ausgestreut lagen, erhob sich eine schöne Esche; dort stand sie, den linken Arm um den Stamm geschlungen, der Hut hing ihr am Arme; ihr lockiges Stirnhaar bewegte sich schimmernd im Winde. Etwas Leuchtendes und zugleich Edles sprach aus ihrem Gesichte wie immer, wenn sich Schönes ihr auftat. Siegmund zögerte einen Augenblick, trat aber dann rasch näher. Die Augenblicke waren kostbar; er wollte sich die Erinnerung gönnen, hier, an seiner Lieblingsstelle, neben ihr gewesen zu sein.

Beide tauschten nur einen Blick und schauten dann auf den – kleinen, wie Jaspis schimmernden See, dessen Dreieck von phantastisch getürmten Felsen eingeschlossen war. Rötliche, hoch aufragende Hörner im Hintergrunde, starre Wände, von denen allerwärts glitzernde Wasserfäden niederrieselten, zur Rechten und Linken. Das dazwischen ruhende Wasser. war so wundersam klar, daß selbst die seichtesten Stellen am Strande das Blau des Himmels, die feinen Ufermoose rein wiederspiegelten. Weltentfremdet und erhaben war das ganze Bild.

„Wie göttlich!“ sagte Margarita leise.

Siegmund sah in ihre warmen Augen.

„Dieser See ist mir besonders lieb, seit Jahren,“ sagte er. „Wollen Sie in Erinnerung behalten, daß ich Ihnen nahe sein durfte, als Sie zum ersten Male hierher kamen? Sehen Sie, was ich hier gefunden habe!“

Sie nahm die kaum erschlossene blaue Gentiane, die er ihr bot, und berührte damit ihre Lippen. Obgleich ihre Augen nicht auf Siegmund gerichtet waren empfand sie den Blitz, der in den seinen aufflammte, und wurde purpurrot, während sie die Blume an ihrem Mieder befestigte. Wie im Bedürfniß, ihr glühendes Gesicht abzuwenden schwang sie sich leicht auf den Felsblock, neben welchem sie stand, bog einen Ast der erst schwach belaubten Esche abwärts, brach einen kleinen Zweig und reichte ihn Siegmund, ohne ein Wort zu sprechen.

„Wissen Sie auch, was Sie mir da geben?“ fragte er und sah sie an. „Die Esche ist ein heiliger Baum. Schlangen gehen lieber durch das Feuer, als durch den Schatten einer Esche; darum schützt ein Eschenblatt vor allem Bösen. Gönnen Sie mir noch diesen zweiten Talisman?“

„Alles!“ sagte das junge Mädchen innig.

Siegmund war im Begriffe, lebhaft ihre Hand zu erfassen; da besann er sich auf alle die Menschen umher; zugleich durchzuckte ihn die Erinnerung an die Rüge, welche ihm zu Theil geworden, als er sich neulich ebenso wie jetzt mit Margarita isolirt hatte. Sein Blick überflog die Gruppen schnell und scharf. Die Generalin stand abgekehrt – das einzige aus ihn gerichtete Augenpaar gehörte Max Friesack. Er bot Margarita unwillkürlich die Hand um ihr von dem Steine niederzuhelfen, auf dem sie noch stand, und ließ dann diese liebe Hand sogleich los, ohne sich den leisesten Druck zu gestatten.

Die Gesellschaft war im Aufbruche begriffen, und das rasche Sinken der Sonne mahnte, daß es Zeit war, sich einzuschiffen. Oberst Friesack bot der Generalin seinen Arm; sie nahm ihn nicht an und bezeichnete mit den Wimpern ihre Schwägerin. Der Oberst setzte sich mit der alten Dame in Bewegung, während Ottilie ein paar Schritte seitwärts trat um einen Theil der Gesellschaft an sich vorbei passiren ließ. Siegmund befand sich jetzt in ihrer Nähe; sie richtete eine Bemerkung an ihn, die ihn an ihre Seite führte. Margarita war schon voraus. Als die Gräfin nun auch folgte, behielt sie den jungen Officier neben sich, allerlei Gleichgültiges berührend. Schon war das Schiff in Sicht und die Vordersten im Einsteigen begriffen, als Ottilie ihren Begleiter ersuchte, ihr den Shawl umzugeben, und zugleich, um die noch Folgenden nicht aufzuhalten von dem schmalen Wege ob in das angrenzende Feld trat.

Während er ihr den kleinen Dienst leistete, wandte sie ihm ihre festen blauen Augen zu und sagte ganz ohne Strenge, in gelassenem Tone:

„Lieber Riedegg, ich möchte Ihnen etwas zu bedenken geben. Wir legen Werth auf Ihren Verkehr mit uns, mein Mann und ich. Lassen Sie diesen Verkehr nicht durch Unüberlegtheiten zur Unmöglichkeit werden! Wir verstehen uns, nicht wahr?“

Eine schnelle Flamme blitzte ihr aus Siegmund’s Augen entgegen; die rasche, unwillkürliche Bewegung seiner Hand schien ebenso raschen Worten auf seinen Lippen voranzugehen, doch wurden solche, wenn gedacht, nicht ausgesprochen. Er wechselte die Farbe und antwortete nur durch schweigende Verbeugung. Auch schien die Gräfin keine andere Erwiderung erwartet zu haben; nach kaum merklichem Zögern legte sie die kurze Strecke bis zum Ufer zurück und stieg ein. Siegmund setzte sich neben den Steuermann. Hier durfte er schweigen. Während das Fahrzeug im beginnenden Dämmer des Abends heimwärts ruderte, unterschied sein scharfes Auge ein rotes Krenz, das von der Platte eines der Gebirgsriesen aufragte. Dies war die Stelle, wo der kleine Nachen heute früh an dem Schiffe vorüber gefahren war und die Phantasie einer Genossin der Fahrt den Schluß einer Novelle in die Luft gezeichnet: zwei Menschen, die zusammen gehören – geschieden werden – nach Jahren sich wieder begegnen, nahe und doch unerreichbar – wie müßte Denen wohl zu Muthe sein?

Es war tiefe Nacht, als Wagen und Reiter in S. eintrafen Auf dem Residenzplatze trennte man sich. Siegmund’s Weg führte ihn über den Strom, und als er sich verabschiedete, schloß Max sich ihm an. Dies war nichts Ungewöhnliches, obgleich Friesack’s in anderer Richtung wohnten; heute war die Begleitung des Freundes aber Siegmund unwillkommen; nachdem er sich so lange Zeit Gewalt angetan hatte, empfand er glühende Sehnsucht noch Einsamkeit. Doch schien auch Max in schweigsamer Stimmung, gegen seine Art, die gewöhnlich jede erlebte Anregung wortreich austönen ließ. Erst als Beide über die schon menschenleere Brücke kamen, sagte er dicht neben dem Freunde in gepreßtem Tone:

„Siegmund!“

Die eigentümliche Betonung seines Namens riß diesen aus seiner Zerstreuung.

„Was ist Dir?“ fragte er, als er nun im hellen Schein der Gaslaterne den Ausdruck von Max’ Gesicht wahrnahm.

[707] „Ich muß Dir etwas sagen. Denke nie an mich – ich gönne sie Dir.“

„Was gönnst Du mir?“

„Sie – Margarita! Ich sah Euch heute beisammen stehen; da wußte ich es auf einmal; gerade da schautest Du Dich nach mir um. Nachher bist Du nicht wieder in ihre Nähe gekommen, vielleicht nur, weil Du mir nicht wehe thun wolltest. Das darf aber nicht sein, und deshalb wollte ich Dir heute noch sagen, daß ich sie Dir gönne, gleich Allem.“

Da legte Siegmund die Hand auf seinen Arm.

„Einen Augenblick noch!“ sagte er; „Du irrst. Margarita Seeon kann niemals mein werden, Max; das ist es, was ich seit heute weiß. Gute Nacht!“

Die Freunde tauschten einen Händedruck; dann schieden sie.

„Auch das noch!“ dachte Siegmund. Nie hatte er des Freundes Huldigung für Margarita anders betrachtet, als wie vorübergehende Schwärmerei. Nun wußte er: auch dieser gute Mensch liebte und litt. Die eben vernommenen Worte trieben ihm das Blut in die Wangen, als er ihnen nachsann. Was Max für ganz selbstverständlich hielt: daß er bereit gewesen, eigenen Ansprüchen auf Liebesglück zu entsagen, nur um dem Freunde nicht wehe zu thun, wäre ihm, für den stets nur Alles oder Nichts galt, niemals in den Sinn gekommen. Und es überkam ihn mit schmerzlicher Bitterniß, wie fern er gerade heute jeder Gelegenheit stand, solchen Großmuth zu üben. Gräfin Seeon hatte deutlich gesprochen. Keine Illusion war hierüber möglich!

Und doch begriff er sie nur halb, begriff wohl ihre Meinung, nicht ihre Handlungsweise. Warum beharrte sie darauf, mit ihm zu verkehren, während sie offenbar seine nähere Beziehung zu Margarita durchschaute und nicht dulden wollte? Weshalb entfernte sie ihn dann nicht lieber ans ihrem intimeren Umgangskreise? Trotz der Güte, die sie ihm bisher erwiesen, war doch die Dauer, der Charakter des Verkehrs der hochgestellten Frau mit ihm, dem jungen, alleinstehenden Officier, nicht der Art, um demselben einen Werth für sie zu geben, den sie höher anschlug, als eine Herzensgefahr für ihre Tochter. Trotz der Schranke, die ihr Wort ihm heute unübersteiglich gezogen, trotz der Ueberzeugung, die sie hegen konnte, ihn fortan diese Schranke einhalten zu sehen, mußte diese kluge Frau wissen, daß solche Gefahr für ihr Kind bestand. Anderen Sinn konnte ihr Appell an ihn nicht haben. Es gab also etwas, das ihn wichtig genug für sie machte, um ihn nicht fallen lassen zu wollen. Wieder trat der furchtbare Gedanke vor ihn hin, den zu denken er stets als Sünde und Schmach empfand, und wuchs und wuchs. Es mußte so sein; er trug einen Namen, auf den er kein gesetzliches Recht hatte; die Gräfin wußte darum – wahrscheinlich hatte sein Vater ihr nahe gestanden, und der Antheil, den sie ihm gewährt, beruhte von Anfang an auf Mitleid.

Bei dieser Vorstellung bäumte sich die stolze junge Seele schmerzlich in ihm auf. Margarita’s Bild wich zurück; das bisher über Alles geliebte Bild seiner Mutter allein schwankte vor ihm her, aber kaum erkannte er es noch. Seine nagenden Zweifel entstellten die leuchtenden Züge.

Als Siegmund sein Zimmer betrat, traf sein erster Blick einen ans dem Tische liegenden Briefe. Jeder Blutstropfen drängte sich ihm zu Herzen; da war, was er Tag um Tag so fieberisch erwartet hatte. Er zögerte, das Siegel zu erbrechen; ihm war, als sei sein Wohl und Wehe hier eingeschlossen. Das Blatt, welches er endlich hervorzog, war nur auf einer Seile beschrieben.

„Paris, 6. April 1867.
Mein theurer Siegmund!

Dein Brief gelangte erst heute in meine Hände. Du verlangst Alles zu erfuhren, was Dich angeht, und ich gestehe Dir dieses Recht zu, Dennoch erbitte ich zunächst noch Deine Geduld. Ich behielt mir eine Mitteilung, welche uns Beide betrifft, nur bis zu einem bestimmten Termin vor, der, wenn nicht Alles täuscht, jetzt nahe ist.

Gräfin Ottilie Seeon betreffend, antworte ich Dir: Ja die Familie dieser Frau ist uns nahe verwandt. Mir ward von deren Haupt einst unwürdig begegnet. Da Ottilie hieran nicht persönlich betheiligt war, untersagte ich Dir nicht einen Verkehr, der Dir jetzt erwünscht ist und für Deine Zukunft werthvoll sein kann. Welcher Grund auch Deine Fragen dictirte, halte Eines fest: ertrage Nichts von dieser Seite! Bald erhältst Du volle Aufklärung; dann, mein geliebter Sohn, sehen wir uns wieder. Darnach sehnt sich noch heißer als Du

Deine treue Mutter Genoveva.

Richte Deinen nächsten Brief nach Paris, poste restante!“

Siegmund versank in tiefes Sinnen, ohne nur zu merken wie Stunde nach Stunde verrann. Als der Tag graute, war sein Entschluß gefaßt, nach Paris zu reisen und seine Mutter Auge in Auge um sein Leben zu befragen.




29.

Der von Lieutenant Riedegg zur Regelung einer Fanlilienangelegenheit nachgesuchte vierwöchentliche Urlaub war von seinem Regiments-Commandeur bewilligt worden. Mit der Gewißheit, seine Mutter nach wenigen Tagen zu sprechen, kehrte mehr Ruhe in Siegmund’s Gemüth zurück.

Der Reisepaß war ausgefertigt, der Koffer gepackt; Siegmund wollte mit dem Nachtzuge abreisen. Im Laufe des Nachmittags begab er sich nach der Commandantur, um den Damen Mittheilung zu machen und sich zu verabschieden. Der Gang fiel ihm nicht leicht, war aber unerläßlich.

Als er den Portier fragte, ob die Gräfin daheim sei, antwortete dieser zu seiner Ueberraschung:

„Excellenz ist mit dem Mittagszuge nach Riedegg abgereist, einer Erkrankung des alten Herrn Grafen wegen. Soll ich den Herrn Lieutenant bei der Frau Präsidentin melden? Comtesse Margarita ist auch zu Hause.“

Siegmund zögerte einen Moment; dann übergab er dem Manne seine Karte mit dem Bemerken er wolle unter solchen Umständen nicht stören. Im Begriffe zu gehen, besann er sich, ließ sich die Karte zurückstellen und nahm den Bleistift aus seinem Notizbuch, um ein p. p. c. beizufügen, Ehe er damit zu Stande gekommen war, öffnete sich die Thür des kleinen Parterresaales, in welchem sich die Damen am Tage aufzuhalten pflegten, und Margarita erschien auf der Schwelle.

Als sie den jungen Mann erblickte, flog ein rosiger Hauch über ihr Gesicht; sie machte eine Bewegung, auf ihn zuzugehen, blieb dann stehen, öffnete die eben hinter sich geschlossene Thür und forderte ihn durch eine leichte Handbewegung zum Eintritte auf. Er folgt, sprach aber nicht; eine herzklopfende Erregung überkam ihn, als er sich mit der Geliebten, die er hatte meiden wollen, so unerwartet allein sah. Beide standen sich einige Augenblicke wortverlegen gegenüber, bis das junge Mädchen plötzlich die Augen erhob und treuherzig sagte:

„Wie lieb, daß Sie kommen!“

„Ich fürchte nur zu stören.“

„O nein, ich bin so froh, Sie zu sprechen, auch der Tante, die gleich herunter kommen wird, ist Ihr Besuch gewiß recht angenehm. Sie ist etwas verstimmt; ich glaube, es ist ihr nicht besonders erwünscht, mit mir allein hier zu bleiben.“

„Ich hörte eben – Sie erhielten unerfreuliche Nachrichten?“-

„Heute in aller Frühe kam das Telegramm vom Arzt des Urgroßpapas, der recht krank zu sein scheint. und er ist schon so alt! Mama hat gleich an Papa telegraphirt; seine Antwort traf zum Glück noch ein, ehe der Mittagszug abging. Er will in Kufstein mit Mama zusammentreffen und dann reisen Beide weiter nach Riedegg. Tante Seeon versprach ihre Abreise aufzuschieben und bei mir zu bleiben, bis die Eltern zurückkommen Es thut mir so leid, daß ich nicht mit Mama reisen durfte. Nun erlebt sie vielleicht Trauriges, und ich bin nicht bei ihr.“

Die lieben Augen füllten sich mit Thränen. Siegmund ward von der weiblich zarten Empfindung, die aus ihren letzten Worten klang, von der Blässe, welche heute auf ihrem Gesichte lag, tief gerührt. Ihn überkam die Ahnung, wie schwer dieses innige Gemüth, das bisher nur Freuden kannte, an seinen ersten Schmerzen tragen, wie leicht ihr Lachen verstummen konnte. Und es schmerzte ihn, jetzt von ihr zu gehen. Aus dieser Empfindung heraus antwortete er:

„Und ich, Comtesse Margarita, werde spät erfahren, wie Sie diese trüben Tage des Alleinseins verleben; denn auch ich stehe im Begriff abzureisen. Nach einigen Stunden schon.“

„Sie gehen fort wohin?“

Unverhohlener Schreck lag in ihrem Tone.

[708] „Nach Paris; ich besuche meine Mutter.“

Die großen Tropfen, welche noch in des Mädchens Augen standen, glitten zwischen ihre Wimpern und rollten dann langsam. einzeln nieder. Sie blickte unverwandt in Siegmund’s blasses Gesicht und sagte sanft:

„Zu Ihrer Mutter – das ist schön; das wird sie freuen. Und wann kommen Sie wieder?“

Er antwortete nicht gleich; heißes Abschiedsweh quoll in ihm auf, und alle seine Sorgen und Zweifel, Alles, was ihn so unübersteiglich von ihr schied, über die weitesten Wege hinaus schied, die er je durchmessen, von denen er je zurückkehren konnte das volle, herzzerreißende Bewußtsein eines Getrenntseins, das für heute und morgen und für immer bestehen blieb, drängte sich in das Wort: „Ich weiß es nicht.“

Margarita verstand seine Meinung. Aus dem zugleich furchtsamen und dringenden Blick, den sie auf Siegmund heftete, sprach so unschuldige, bedingungslose Hingabe, daß er Alles Vergaß, nur nicht, daß die Geliebte vor ihm stand und er von ihr scheiden sollte. Ehe er sich besonnen hatte, lag ihre Hand in der seinen; er neigte den Kopf zu ihr hinab, und der warme Hauch seines Athems berührte ihre Stirnlöckchen, während er schnell und leise sagt: „Am besten wär’ es, ich käme gar nicht wieder.“

Er hob die kleine zitternde Hand an seine Lippen und preßte einen langen Kuß darauf. Dann, indem er sie plötzlich losließ, sagte er, heftig erröthend:

„Vergeben Sie. Jetzt habe ich mir wirklich das Recht verscherzt, dieses Haus wieder zu betreten. Ihre Mutter gab mir ein Gesetz – und ich brach es. Es war zu schwer, zu schwer.“

Die Hand, welche er eben freigelassen, berührte leise seinen Arm. Margarita’s feines Gesicht war durchgeistigt, wie er es nie gesehen, um die weichen Kinderlippen lag ein fester Zug. Wie nahe war sie seinem Herzen, als ihre Augenlider sich sanft erhoben, und die goldbraunen Sterne ihn so wunderbar anleuchteten!

„Ich bin treu,“ athmete sie kaum vernehmlich. Dann war sie hinaus.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Harder's Jahresuhr. In der Ausstellung der deutschen Kunstgewerbehalle im „Rothen Schloß“ in Berlin, wo sich die sogenannten „kleinen Künste“ ein für die Augen der Besucher berückendes und für ihre Geldbeutel oft gefährliches Stelldichein geben, zieht seit längerer Zeit eine neuere deutsche Erfindung, die sogenannte „Schwesteruhr“, die Aufmerksamkeit der Kenner auf sich. Sie ist eine fast unhörbar gehende Standuhr, die im Jahre nur ein einziges Mal, also etwa in der Silvesternacht, aufgezogen zu werden braucht, und deren Regelung auf einer neuen Art von Pendel beruht, von dessen allgemeinerer Einführung kundige Beurtheiler einen neuen Aufschwung der Uhrmacherkunst erwartet. Die Gleichmäßigkeit des Ganges unserer Zimmeruhren beruht bekanntlich auf einer Anwendung der Pendelgesetze, welche Galileo Galilei vor drei Jahrhunderten entdeckte, als er im Dome von Pisa, augenscheinlich etwas zerstreut, die Schwingungen der Kronleuchter beobachtete, welche an längeren Ketten vom Gewölbe herabhingen. Sein erstes für die Verbesserung der Uhren wichtig gewordenes Gesetz lautet, daß die Schwingungen eines und desselben Pendels gleichlangzeitig (isochron) ausfallen, wenn auch der Ausschlag (in gewissen Grenzen) größer oder kleiner ist, so lange sich weder die Länge des Pendels noch die Anziehungskraft der Erde verändert.

Galilei bereits bediente sich deshalb des Pendels als eines Zeitmessers bei astronomischen Beobachtungen, und dem berühmten niederländischen Physiker und Mathematiker Christian Huygens gelang es 1657 zuerst, durch die Verbindung mit dem Pendel den Gang einer Uhr gleichmäßig zu machen, was Galileis Sohn Vincenzo angeblich lange ohne Erfolg angestrebt haben soll. Die Wirkung des Pendels auf die Uhr, wie sie sich in späteren Verbesserungen herangebildet hat, ist bekanntlich die eines Tactschlägers von unbestechlicher Genauigkeit, der bei jedem Ausschlage nach rechts und links in das von Gewichten oder Federn getriebene Zahnrad einfällt und es zwingt, sich ganz gleichmäßig zu bewegen. Nun verlangt aber ein solcher Pendel von der Triebkraft der Uhr eine erhebliche Nachhülfe, um im Gange zu bleiben, da der Widerstand der Luft und die Reibung am Aufhängungspunkt des Pendels beständig die ihm mitgetheilte Kraft vermindern, und daher kommt es, daß man solchen Uhren durch Federn oder Gewichte höchstens auf acht bis vierzehn Tage den ihnen erforderlichen Kraftvorrath mitzutheilen im Stande ist.

Nun ist aber gerade das häufige Aufziehen, sowie das damit verbundene Vergessenwerden und Nachstellen der Pendeluhren die gewöhnliche Gelegenheitsursache zur Beschädigung des Mechanismus, und schon mancher Uhrmacher mag darüber gegrübelt haben, wie ein weniger Kraft verbrauchendes Pendel hergestellt werden könnte. Um so überraschender ist es, daß eine befriedigende Lösung dieses Problems nicht einem Uhrmacher von Fach, sondern einem sogenannten Dilettanten, der sich aus bloßer Liebhaberei mit mechanischen Problemen beschäftigte, gelungen ist, nämlich dem Rittergutsbesitzer Harder auf Ransen bei Steinau an der Oder. Seine Erfindung besteht in dem sogenannten rotirenden Pendel, richtiger: Torsionspendel oder rotirende Scheibe genannt, einer wagerechten Scheibe, die in ihrem Mittelpunkte an einer dünnen und schmalen, senkrecht von einem festen Punkte herabhängenden Feder befestigt ist und, ohne ihre Lage zu verändern, vorwärts und rückwärts schwingt. Da diese Scheibe bei ihrer immer gleichbleibenden Lage keine Luft verdrängt und nicht gehoben wird, so ist es begreiflich, daß sie durch denselben Kraftaufwand unter sonst ähnlichen Verhältnissen fünfzig Mal länger im Gange erhalten wird als ein Pendel, also statt einer Woche ein ganzes Jahr.

Natürlich bestand die Hauptaufgabe zunächst darin, festzustellen, ob die Schwingungen des Torsionspendels wirklich ebenso gleichlangzeitig (isochron) sind, wie die eines gewöhnlichen Pendels, und nachdem die dahingehende Vermuthung sich bestätigt hatte, mit Hülfe der netten Erfindung eine Uhr zu construiren. Der auf dem Gebiete der Uhrmacherkunst völlig unbewanderte Dilettant brauchte nun allerdings Jahre, bevor es ihm gelang, eine Uhr von befriedigender Leistung herzustellen, und als ihm dies im Jahre 1871 wirklich gelungen war und er auf Drängen seiner Freunde um ein Reichspatent nachsuchen wollte, da ereignete sich der in der Geschichte der Entdeckungen und Erfindungen nicht seltene Zufall, daß ein badischer Uhrmacher denselben Gedanken gehabt und bereits ein Patent darauf erhalten hatte. Die Ausführung dieses Patentes geschah indessen in so unvollkommener Weise, daß sie sich als verfehlt erwies. Herr Harder hat daher neuerdings das damals verdrängte Kind seiner langjährigen Studien wieder hervorgesucht und nunmehr auf dem Wege der Vereinbarung den Patentschutz des deutschen Reiches und der österreichisch-ungarischen Monarchie für seine Uhr ohne weitere Schwierigkeiten erlangt. Man darf dem Erfinder diesen schließlichen Erfolg von Herzen gönnen, denn eine Standuhr, die bei gleich genauer Arbeit nicht theurer ist als die bisherigen, dagegen den Vorzug besitzt, alle Jahre nur einmal aufgezogen und deshalb nicht so leicht vergessen zu werden, ist sicher eine der allgemeinen Anerkennung würdige Errungenschaft, falls sie sich so bewährt, wie es den Anschein hat.





Zur Feier des hundertjährigen Jubeltages der Kant’schen „Kritik der reinen Vernunft“ hat Dr. H. Romundt das Publicum mit einer Schrift unter dem Titel „Antäus, neuer Aufbau der Lehre Kant's über Seele, Freiheit und Gott“ (Leipzig, Veit u. Comp.) beschenkt – eine Festgabe, die den Dank aller Derjenigen verdient, denen die Philosophie mehr ist, als unfruchtbare Scholastik und „graue Theorie“, aller Derjenigen, die in der Anpassung speculativen Denkens an die Aufgaben des praktischen Lebens eines der wichtigsten Ziele aller Wissenschaft erblicken. Die geistvolle Schrift ist eine Art Popularisirung und eigenartige Interpretation gewisser Hauptabschnitte der Kant’schen Lehre, und wenn sie unseres Erachtens ihrer Form nach auch nicht als das Ideal gemeinverständlicher Auslegung der Fundamentalgedanken des großen Königsbergers bezeichnet werden kann, wenn sie vielmehr hier und da an jenen undurchsichtigen und umständlichen Gedanken- und Darstellungsgängen leidet, welche die deutsche Gelehrsamkeit nun einmal nicht abstreifen kann – eines steht doch ohne Frage fest: die Romundt’sche Schrift nähert uns wegen der klaren Anordnung ihres reichen sachlichen Inhaltes und der freien selbstständigen Art, in der sie Kant’sche Ideen verarbeitet, um einen anerkennungswerthen Schritt der intimeren Einbürgerung des eminenten Denkers in den breiten Schichten des deutschen Volkes; sie erreicht nicht das letzte Ziel in der Popularisirung Kant’s, aber sie kommt, gemessen mit den bisherigen Versuchen dieser Art, dem Ziele erheblich nahe. Hervorgegangen aus dem eingehendsten Studium des Meisters und ausgeführt mit dem Aufwande eines ungewöhnlichen kritischen Vermögens und seltenen Fleißes, muß Romundt's „Antäus“, der in philosophischen Kreisen sicher ein gerechtfertigtes Aufsehen erregen wird, den denkenden unter unsern Lesern mit der Bitte an's Herz gelegt werden: Laßt eine Schrift nicht unbeachtet, die sich die schöne und dankenswerthe Aufgabe stellt, das Sonnenlicht Kant’schen Geistes gleichsam in einem Hohlspiegel aufzufangen und es so, leuchtend und klärend, hinabzuwerfen in die bisher noch dunklen, weil philosophischem Denken unzugänglichen, Schichten unserer Nation!




Berichtigung. Leider hat sich in unserem Artikel „Zur praktischen Lösung der Frauenfrage“ Nr. 37, S. 616 ein sinnentstellender Druckfehler eingeschlichen. Es muß dort Zeile 22 von unten „Handarbeitslehrerinnen“ heißen, statt „Handarbeiterinnen“.



Kleiner Briefkasten.


G. D. in Hannover. Sie fragen, ob es eine Zeitschrift giebt, welche ihre Leser durch populäre Abhandlungen über die neuesten Entdeckungen und die wichtigsten Vorgänge am Sternenhimmel auf der Höhe der Wissenschaft erhält? Solche Zeitschrift existirt allerdings: es ist die für Gebildete aller Stände von Dr. Hermann J. Klein herausgegebene und im Verlag von Karl Scholtze, Leipzig, erscheinende Monatsschrift „Sirius“. Wir können Ihnen dieselbe aus das Wärmste empfehlen.

G. J. 205. Wiesbaden! Ein deutsches Mädchen und H. St. in Wien. Ungeeignet! Verfügen Sie gefälligst über das Manuscript!

L. in L. Wir bedauern, Ihnen einen Rath nicht ertheilen zu können.

J. B. in Wien. Den W. v. Hillern’schen Roman „Aus eigener Kraft“ finden Sie in unserem Jahrgang 1870.

W. H. in B. Anonyme Anfragen werden grundsätzlich nicht beantwortet.

H. A. B. Die gewünschte Adresse ist uns unbekannt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. gemeint vielleicht: Jahrg. 1859, S. 62