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Die Gartenlaube (1881)/Heft 43

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 43.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Ein Friedensstörer.

Erzählung von Victor Blüthgen.


1.

Die klare Herbstsonne schien auf Pelchow so warm, wie sie nur je einem vorpommerschen Gutsdorfe den Nachgeschmack des Sommers gespendet. Freilich stand sie im Augenblicke auf der Höhe ihrer Mission; denn es war gegen drei Uhr Nachmittags. Bei der kristallenen Klarheit, welche die Luft in dieser Jahreszeit namentlich in Gegenden hat, wo die Nähe der See sich bemerklich macht, gewinnt der ungedämpfte Sonnenschein leicht etwas Blendendes, und wohl darum zog das junge Mädchen, welches vom Herrenhause her über den Gutshof schlenderte, an einer Gummischnur den vordern Rand des gelben Schwingers thunlichst tief über das hübsche, lebhaft gefärbte Gesicht.

Sie nahm den Weg zum Dorfausgange, über uraltes holpriges Steinpflaster, zwischen dessen Ritzen in dreister Ueppigkeit Gras, Löwenzahn und Wegebreit wucherten; rechts die Verbalkung des Kuhringes, links ein gänzlich sich selbst überlassnes Stück Land, das die ziemlich verfallene und verbröckelte Lehmmauer des Gutes abschloß. Der Kuhring war leer; die Kühe konnte man weit jenseits des Hofes im Wiesenlande beobachten, wo sie eingekoppelt mit erhobenen Schwänzen herumgaloppirten oder friedlich weideten. Nur Spatzen, Tauben und Hühner trieben sich in dem Ringe umher, in diesem Augenblick das einzige Lebendige, welches die junge Dame auf dem Hofe gewahrte; denn die Störche, welche während des Sommers das halbe Dutzend struppiger Nester auf den Scheunen und Ställen da oben bewohnt hatten, waren bereits vor geraumer Zeit auf die Wanderschaft gegangen. Das öde Stück Land links, zwischen Herrnhaus und Mauer, war durch Nesseln fast unzugänglich; dieselben beschützten mit ihrer abschreckenden Eigenschaft ein paar Obstbaumruinen, welche kaum noch Blätter, geschweige denn Früchte trugen, und gegen die Mauer hin eine Wucherung fettstrotzender Hollundersträucher, deren bläulichdunkles Grün den bekannten fatalen Geruch bis zu der Spaziergängerin herüberströmte.

Ihr feines Näschen, das nur ein wenig kurz gerathen war, zuckte denn auch mißmuthig, während die muntern braunen Augen mit Wohlgefallen dem Fluge etlicher Nesselfüchse und Pfauenaugen folgten; die Finger machten sogar einmal den Versuch, eines der letztern einzufangen, wiewohl vergeblich. Diese Finger waren gut geformt, verriethen aber den Einfluß von Luft und Sonne; denn sie zeigten die Farbe leicht angerauchten Meerschaums. Eine andere Handbekleidung als diese Halbhandschuhe aus Zwirnmaschen, wie sie jetzt den vom Aermel nicht bedeckten Unterarm schützten, hatte die junge Dame wohl nur ausnahmsweise getragen.

Sie trat durch den Thorweg, dessen in Ziegel aufgemauerte Pfeiler durch zwei stattliche Findlingsblöcke aus Granit als Prellsteine geschützt waren; von den nicht so gut verwahrten Pfeilerköpfen war der eine herabgestürzt, das Material bis auf den Rumpf des Sandsteinlöwen, der in Gras und Nesseln halb verborgen ruhte, verschleppt worden. Der andere Löwe hatte seinen Platz behauptet, zeigte sich aber – vermuthlich durch Steinwürfe der Jugend - bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Alles trug den Charakter des Ruinenhaften, selbst die Thorflügel, deren halb vermorschtes aschgraues Holz mit grünglänzendem Moose bewachsen war und an ein paar Stellen in breiten Lücken klaffte.

Für das junge Mädchen hatte das offenbar nichts Befremdliches. Mit der heiteren Unbekümmertheit ihrer Jahre – sie konnte deren kaum mehr als achtzehn zählen – summte sie irgend etwas vor sich hin, während der Mund wiederholt wie von einem munteren Einfall in leisem Lächeln zuckte und die braunen Augen nach Art von Kinderaugen, bald hier, bald da, an irgend etwas Unbedeutendem hafteten, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie schritt links an den verwitterten Kopfweiden eines Tümpels hin, dessen tintenfarbenes Wasser zur Hälfte mit Wasserlinsen bedeckt war, wogegen zur Rechten aus einem sumpfigen Terrain die Stämme von Eschen, Erlen und Birken ragten, die Blätter bereits von den Farben des Herbstes angekränkelt.

Am Teiche saßen Kinder und belustigten sich damit, Klümpchen von dem tief ausgefahrenen Erdreich des Weges loszubröckeln und sie nach den Enten zu werfen, welche zwischen den Wasserlinsen schnatterten.

„Fräulein Anne-Marie, Fräulein Anne-Marie!“ rief es plattdeutsch aus der Gesellschaft, und eines der Mädchen, ein dralles, barfüßiges Ding von etwa fünf Jahren, sprang zu der Nahenden her und sah sie aus den großen blauen Augen halb verlegen, halb vergnügt an.

„Na, Dirning, wie geht es Dir? Du bist schon lange nicht auf dem Hofe gewesen. Gott bewahre, wie siehst Du aus! Den halben Syrup hat sie wieder im Gesicht.“

„Ich kann’s auch noch, Frölen,“ nickte das flachshaarige Ding und machte ganz verschmitzte Augen dazu.

„So? Na, da sag’s mal auf!“

Und ohne Stocken plapperte das Kind:

„Gösselken, Glattsnut,
Süht so gel as Rapp ut,
Het ’n Kleed von Sanftmanschester;
Schenk mi dat för mine Swester!“

[710] „Siehst Du, was Du klug bist, Frieding! Du mußt nun wohl bald zum Herrn Mederow in die Schule gehen. Wenn Du wieder zu mir auf den Hof kommst, sollst Du was Neues lernen. Wo hast Du denn Lütt-Jehann heute gelassen?“

„Da,“ sagte die Kleine, nachdem sie den Finger aus dem Munde genommen, und deutete zu einem dürftigen kleinen, vielleicht anderthalbjährigen Geschöpf hinüber, welches auf dem Bauche im Grase lag und das junge Mädchen aus großen Augen wie ein Meerwunder anstarrte.

Die nicht allzu schlanke, blühende und doch unbewußt vornehme Gestalt glitt mit einer weichen Bewegung nieder, um den ziemlich schmutzigen Lütt-Jehann auf die andere Seite zu drehen, worauf sie ihn nach einer weiteren Anstrengung glücklich zum Sitzen brachte.

„Wie der Junge gewachsen ist!“ rief sie mit naivem Staunen. „Wie kann so ’n kleiner Kerl in ein paar Monaten so wachsen! Aber ein kleines Ferkel bist Du, mein süßes Pathchen, und ich wollte Dich wohl gern abwaschen, wenn ich nicht vorher wüßte, daß Du fünf Minuten nachher gerade wieder so aussehen würdest, wie jetzt. Na, Adschüs, Frieding, und laß Deinen Bruder nicht in’s Wasser fallen, und ihr Kropzeug: werft mir die Enten nicht todt, sonst fliegen sie in den Himmel und verklagen Euch beim lieben Gott.“

„Adschüs, Frölen Anne-Marie!“ scholl es hinter ihr drein, immer vollstimmiger, immer lauter und lustiger, und gleich drauf patschten wieder ein paar Erdklumpen in das hoch aufspritzende Wasser.

Die junge Dame schritt lächelnd den Weg zwischen den Häuschen des Dorfes hin. Die niedrigen Hütten, strohgedeckt, zum Theil sichtlich sehr alt, gehörten sämmtlich zum Gute und wurden von dessen Arbeitern bewohnt: das war für jeden aufmerksamen Beobachter außer Zweifel, der ähnliche Gutsdörfer in der Gegend einmal studirt. Zwischen Fachwerk und Lehm, mit mehr oder weniger sauberem Anstrich, überall dieselben niedrigen Fenster, grüne, halbblinde Butzenscheiben, dahinter wohl die rothe Blüthe von Geranium oder die lichtere von Nelken. Nur die Schmiede, zugleich Stellmacherei oder Radmacherei, wie man hier sagt, und Tischlerei, zeichnete sich durch ihre aparte Form aus: zum Hause kam noch die angebaute Werkstatt mit dem überdeckten Schuppen daneben und einem Unterstandsdache vor der halben Front.

In der Thür der Werkstatt stand eine Frau; sonst war die Dorfstraße wie ausgestorben: es war Herbstbestellung draußen, dazu der Anfang der Grummetmahd. Die Frau hatte ein rothes geblümtes Kopftuch übergebunden, und ihre Kleidung war die einer einfachen Städterin. Sie sprach noch ein paar Worte in den Raum hinein, aus welchem der knirschende Ton des Hobels drang, wandte sich dann herum und kam lebhaft die niedrige Böschung heruntergesprungen, als sie die junge Dame gewahrte.

„Guten Tag auch, gnädiges Fräulein; ich wollte eben einen Gang zu Ihnen thun; nun kann ich’s wohl gleich unterwegs abmachen.“

Sie reichte der Ankommenden vertraulich die Hand; war sie doch mit ihr als Pflegerin der Zwölfjährigen nach Pelchow gekommen und in dieser Stellung verblieben, bis sie den Radmacher, das Gutsfactotum, geheirathet hatte, und bei Lütt-Jehann, ihrem Jüngsten, hatte Anne-Marie von Lebzow Gevatter gestanden.

„Habt Ihr etwas auf dem Herzen, Radmacherin?“ fragte die junge Dame. „Ich will ein Bischen in’s Holz hinauf gehen, und Ihr könnt mich ja ein Stück begleiten; da wollen wir’s besprechen. – Ah, guten Tag, Herr Mederow!“

Aus dem schmalen Wege, der hinter der Schmiede herum führte, stieß eine dritte Person zu der Gruppe, eine lange, schmächtige Figur in ziemlich abgeschabtem schwarzem Anzuge, welche eilfertig einen ungewöhnlich hohen alten Cylinderhut vom Kopfe riß und sich ein paarmal so tief verbeugte, daß die langen Arme fast bis zum Erdboden reichten.

„Ich erlaube mir, das gnädige Fräulein devotest zu fragen,“ stotterte der Schullehrer, „ob Dero Herr Onkel zu Hause sind?“

„Ich bedaure, mein lieber Herr Mederow, er ist seit gestern in Branitz auf der Jagd und wird frühestens diesen Abend zurückkommen. Wünschen Sie etwas von ihm?“

„Ich möchte wohl so kühn sein. Der Herr Baron haben die Gnade gehabt, mir zu versprechen, daß der Schweinebehälter hinter dem Schulgebäude neu aufgemauert werden sollte; das ist nun schon ein Jahr her, und mittlerweile ist das Behältniß von Tage zu Tage schadhafter geworden, bis vorhin auch die zweite Wand und mit ihr die Bedachung dem ungestümen Drängen der Vierfüßler erlegen und eingestürzt ist. Wie durch eine besondere Gnade ist dem Vieh kein Schade weiter geschehen, nur daß dasselbe anjetzt obdachlos ist. So wollte ich denn unterthänigst anfragen, ob ich hoffen dürfte –“

„Mein guter Herr Mederow,“ fiel die junge Dame hier ein, „Onkel Boddin ist jetzt in einer schwierigen Lage. Wie Sie wohl gehört haben, geht in der Verwaltung des Gutes eine Aenderung vor, und es ist ungewiß, wieweit die Befugnisse des Onkels noch reichen –“ die blühenden Wangen der Sprecherin übergoß plötzlich ein dunkles Roth, und zwischen die Augen legten sich feine Fältchen des Unmuthes – „kurz, ich würde Ihnen nicht rathen, jetzt seine Hülfe anzurufen. Warten Sie wenigstens ein paar Tage noch!“

„Sie können die Schweine zu uns her treiben, Herr Mederow; wir haben Platz für sie,“ wandte sich die Radmacherin an den Lehrer. „Ich habe doch immer gedacht, daß das alte Gerümpel eines Tags zusammenbrechen würde.“

„Wenn ich mir das erlauben dürfte!“ sagte der Höfliche mit einer Verbeugung zu dieser. „Wir müssen die Creaturen aber erst einfangen. Ich empfehle mich bestens und bitte, auch dem Herrn Baron meine unterthänigste Empfehlung auszurichten.“

„Adieu, Herr Mederow! Grüßen Sie Ihre Frau schönstens!“ nickte Fräulein Anne-Marie und schritt mit der Radmacherin weiter, während der Lehrer den Rückweg antrat.

Anne-Marie stieß einen Seufzer aus, und ein Schatten lag auf ihrem sonst so klaren Gesicht.

„Ich fürchte, ich kann auch Euch nichts Besseres sagen, Radmacherin,“ meinte sie. „Was habt Ihr auf dem Herzen?“

„Ach, mein Mann wollte gern noch das zweite Stückchen Acker hinter unserm Hause dazu pachten. Es ist gestern umgepflügt worden, und wir möchten die Sache in’s Reine bringen, ehe es vom Gute aus bestellt wird. Es wäre so vortheilhaft für uns; denn wir könnten dann Alles, was wir im Hause brauchten, selber ziehen. Der Radmacher hat schon einmal mit dem Herrn Baron darüber gesprochen, und er hat gemeint, er werde sich die Sache bis zum Herbst überlegen. Und nun wollte ich das gnädige Fräulein bitten, ein gutes Wort für uns einzulegen.“

Die junge Dame schüttelte traurig den Kopf.

„Ihr kommt ein paar Tage zu spät, Radmacherin,“ entgegnete sie, und es mischte sich ein Klang von wehmüthiger Resignation in ihre Worte. „Der Onkel darf bezüglich der Verwaltung von Pelchow nicht mehr selbstständig verfügen. In den nächsten Tagen wird ein Administrator eintreffen, der ihm die Mühe abnehmen wird, ein Vetter von mir, von den Teterower Boddins; an den müßt Ihr Euch wenden. Ich will aber wenigstens dem Statthalter sagen, daß er das Stück vorläufig nicht bestellen soll.“

„Nun aber!“ machte die Radmacherin verwundert. „Das Gut gehört doch dem gnädigen Herrn, und er kann doch darauf thun, was er will? Ich habe wohl gehört, daß so was im Gange ist, aber ich habe das für dummen Schnack gehalten.“

„Ich kann Euch das nicht Alles so aus einander setzen,“ meinte Anne-Marie, der es sichtlich widerstrebte, die intimen Familienangelegenheiten zum Gegenstande einer Erörterung mit der Frau zu machen. „Aber es ist so. Wer weiß, ob der Onkel je wieder die Verwaltung zurückbekommen wird.“

„Na, Pelchow bleibt Ihnen doch mal,“ nickte die Radmacherin lächelnd.

„O nein! Das fällt an die Teterower. Ich bin so arm wie eine Kirchenmaus. Höchstens was der Onkel gespart hätte, das würde er mir geben dürfen.“

„Das wird freilich nicht viel sein,“ sagte die Frau verblüfft. „Ja, dazumal, wo er noch durch die Straße von Trebbin geritten ist und die Jungens mit harten Thalern gegen die Köpfe geworfen hat – aber er ist doch so reich gewesen! Alles kann er ja wohl nicht –“

Anne-Marie machte eine ungeduldige Bewegung.

„Lassen wir die Frage, Radmacherin! Das ist seine Sache. Was ich Euch nützen kann, thue ich gewiß germ – das wißt Ihr. In den nächsten Tagen wird allerlei Umwälzung bei uns vorgehen. Mein Gott, ich wollte, die Aufregung für den Onkel wäre erst vorüber!“

[711] Das Letzte sprach sie mehr zu sich selber, als zu ihrer Begleiterin, welche etwas verschüchtert und stumm noch ein paar Schritte weiter mitging und endlich Halt machte.

„Ja, da soll ich dann wohl wieder umkehren, gnädiges Fräulein?“ fragte sie. „Entschuldigen Sie auch, daß ich mir die Freiheit genommen habe! Ich bin wohl schuld, daß Sie sich etwas aufgeregt haben, aber ich wußte das Alles nicht so.“

„Nein, nein,“ wehrte Anne-Marie hastig ab, und ihr Gesichtchen zeigte schnell wieder den ihm eigenen Zug von Frische und Liebenswürdigkeit, „Sie können nichts dafür, Radmacherin, und vielleicht wird sich auch Alles gut abwickeln. Die Männer sind nur immer etwas unverträglich und hartköpfig. Und was mein Onkel ist – na Adschüs, Fieken!“

„Adschüs auch, und nichts für ungut! – Nein, was sie doch für ein gutes Mädchen ist, und ein kluges Mädchen, unsere Anne- Marie,“ dachte die Radmacherin vor sich hin, indeß ihre Lippen glücklich lächelten; „und Fieken hat sie mich wieder mal genannt, gerade wie dazumal, als sie noch so’n Gör war.“

Anne-Marie von Lebzow ging rascher dem Walde zu, dessen bunte Färbung schon von Weitem den Buchencharakter des Bestandes deutlich genug aussprach. Zuerst mochten es noch trübe Gedanken sein, welche ihr junges Herz beschäftigten; denn die Fältchen hatten sich wieder zwischen die Augen gelegt, und diese Augen waren unruhig und nachdenklich, und einmal sagte sie sogar vor sich hin: „Der arme Onkel thut mir zu leid. Er ist ja ein sonderbarer Mann, und mit dem Gelde weiß er gar nicht umzugehen, aber daß sie ihm auf seine alten Tage diesen Aerger anthun – ob das wirklich nöthig war? Ich verstehe freilich nichts von ‚Fideicommissen‘ oder wie die Dinger heißen.“ – Aber dann kamen ein paar frische Athemzüge, zu denen die reine sonnige Luft so unabweisbar einlud, und da spannte sich ein schneeweißes Band von Altweibersommer leicht schwebend quer über den Weg und legte sich plötzlich über Nase und Wangen, daß sie aus dem Nachdenken aufschrak, und dann lachend die herbstliche Ueberraschung ablöste, und nun hatten Himmel und Erde das gesunde junge Blut wieder. Sie merkte mit einem Male, daß die klarblaue Luft voll fliegenden Gespinnstes war. So weit und frei lag auf beiden Seiten das Land, bis zu fernen Wäldern. Hier und da ein ackerndes Gespann; auf der Bruchwiese weit drüben Arbeiter und Arbeiterinnen beim Heumachen und ein Stück davon auf dem Acker – richtig, da stelzten schon wieder ein Dutzend Kraniche herum. Es war doch eigentlich ein himmlischer Tag und eine himmlische Welt!

Sie näherte sich dem Walde mehr und mehr. Wie doppelte Erfrischung wehte es von ihm her; selbst die leise Beimischung von Sterbeduft hatte nichts Störendes. Die stattlichen Buchenkronen sahen noch so voll aus, als dächten sie nicht an ein Kahlwerden und die Blätter der üppigen Haselbüsche, welche sich unter ihnen fast undurchdringlich dicht am Waldsaume hinzogen, waren noch grün. Nur selten rieselte ein abfallendes Blatt droben und wirbelte zu Anne-Marie nieder, als sie vom Feldwege nach rechts abbog und zwischen dem Waldrande und einem tief eingesenkten Wiesenbande auf schmalem Pfade hinschlenderte. Im Sonnenscheine glitzerten die Blätter der Hasel; bunte Falter, Fliegen, seltsam langbeiniges Wespen- und Schnakenvolk flogen auf und ab, zuweilen einen Abstecher in die Wiesensenkung hinab unternehmend. Auch Anne- Marie stieg ein paarmal nieder, um leuchtend violette Orchideen zu pflücken; mit den Blumen im Schooße, saß sie dann eine Weile still im Grase der Böschung. Sie dachte an ihre verstorbenen Eltern, an die Jugendzeit in Greifswald, an das wunderliche Leben in der Nähe des Onkel Boddin, das sie einst gefürchtet hatte. Und doch war es hübsch in der Verwilderung um sie herum; sie konnte thun und lassen, was sie wollte; die rauhe Art des Barons, seine Seltsamkeiten und Extravaganzen war sie nun gewohnt, und seine Derbheiten hatte er ihr gegenüber verschlucken gelernt. Als Vermittlerin zwischen den Leuten und ihm war ihr sogar eine Art von diplomatischem Wirkungskreis geworden, während freilich die alte Dürten Schoritz sie von wirthschaftlichen Bemühungen eifersüchtig fern hielt.

Wie würde es nun werden?

In der Buche über ihr rasselte und knatterte es; ein Eichkätzchen hatte droben den Halt verloren und fiel dicht neben ihr zu Boden, daß sie erschrocken zusammenfuhr. Ein paar Secunden genügten für das Thierchen, um sich zu sammeln; dann richteten sich die klugen Augen auf Anne-Marie, und im Husch war das anmuthige Geschöpf zwischen den Haselstauden verschwunden. Die junge Dame lachte halblaut; die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück, und sie erhob sich, um weiter zu gehen.

Ein schmaler Weg lockte sie in die sonnendurchspielte Einsamkeit des Waldes. Häher kreischten in den Buchenwipfeln; Meisen schwangen sich mit feinem Metalltone hin und her. Zuweilen raschelte es in dem morschen Laube an ihrer Seite, und sie hätte gern gewußt, ob es von Eidechsen oder den feinen Schlänglein herrührte, die sie wohl auch schon hatte über den sonnigen Pfad schlüpfen sehen.

Eine halbe Stunde mochte Anne-Marie auf bekannten Wegen geschritten sein – da stand sie vor einer Schneiße wieder in der Nähe des Fahrweges. Ueber ihr ragten Tannen; sie fand Champignons und Steinpilze; mit plötzlichem Einfalle zog sie ein frisches Taschentuch und begann zu sammeln. Sie hatte kaum die ersten Pilze aus dem Boden gezogen, als sich Wagengerassel näherte. In rascher Wendung fuhr sie empor, neugierig den Einspänner betrachtend, ein Demminer Fuhrwerk, das sie kannte; nur den jungen Mann im Strohhute, der hinter dem lahmen Lorenz im Wagenfond lehnte, suchte sie in ihrem Gedächtnisse vergebens. Sie stand kaum dreißig Schritte von der Straße entfernt, und der mäßige Trab des Miethgauls verstattete ihr recht wohl, dieses nicht sehr volle, intelligent geschnittene Gesicht mit dem Schnurrbärtchen und dem Klemmer auf der Nase, der so moquant saß, auf einen Blick zu erfassen.

Anne-Marie ließ sich wieder zu den Pilzen hinab; sie konnte nicht sehen, wie der junge Mann sich erhob und etwas zu dem Kutscher sagte, und wie er auf dessen Antwort hin mit dem Zeigefinger auf dem Rücken des Alten trommelte. Aber ihr Kopf bog sich verwundert herum, da das Fuhrwerk plötzlich anhielt, und eine beklemmende Ahnung überkam sie, als sie den Fremden mit sehr entschlossener Bewegung vom Wagen springen und elastischen Schrittes auf sich zukommen sah. Sie richtete sich hastig auf, und in der Verwirrung schlug sie das aufgeraffte Taschentuch aus einander und ließ die Pilze zur Erde rollen.

Der Ankömmling lächelte mit leisem Anflug von Spott, indem er ein wenig den Strohhut lüftete. Er mochte im Anfang der Dreißiger stehen, eine stattliche Figur, deren Formen durch die Raschheit und knappe Entschiedenheit des ganzen Auftretens eckiger schienen, als sie in Wirklichkeit waren. Nein: die breiten, zu wenig abgeschrägten Schultern bedingten den Eindruck wesentlich mit.

„Habe ich das Vergnügen, meine Cousine Lebzow vor mir zu sehen? Mein Name ist Curt von Boddin, von der Teterower Familie,“ sagte er mit etwas hartem Accent und einem schwachen Näseln im Ton. „Auch Doctor von Boddin, wenn Sie wollen; denn ich bin Jurist von Studium und Landwirth von Beruf. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch meiner Person erinnern? Ich war vor zehn Jahren einmal bei Ihrer Familie in Greifswald zum Besuch und mußte Ihnen täglich eine Tüte mit Bonbons liefern, welche Sie gewissenhaft aufaßen.“

„Ach ja!“ meinte Anne-Marie nach kurzem Nachdenken, „ich erinnere mich jetzt dunkel.“

„Nun, dann wären wir ja über die Personenfrage einig. Sind Sie ganz allein hier im Walde, wenn ich fragen darf?“ Die junge Dame sah ihn verwundert an.

„Allerdings,“ war ihre Antwort.

„Hm! Das sollten Sie aber nicht sein. Eine Dame darf nicht so sans façon und ohne Schutz Ausflüge in die Wälder machen - aus verschiedenen Gründen nicht.“

„Ich fürchte mich nicht, Herr – von Boddin.“

Sie wußte nicht, was sie eigentlich verhinderte, ihn Vetter zu nennen. Vielleicht, weil sein Auftreten so etwas halb Väterliches, halb Polizeimäßiges hatte.

„Ich werde mir erlauben, Sie zu begleiten,“ fuhr er fort. „Darf ich Sie bitten, mein Fuhrwerk mit mir zu benutzen? Oder nein –“ unterbrach er sich plötzlich; „entschuldigen Sie einen Augenblick!“ – und er wandte sich ohne weitere Umstände ab, ging zu dem Wagen zurück und sprach ein paar Worte zum Rosselenker, worauf dieser nickte. Die Peitsche knallte; der Schimmel zog an, und das Gefährt rollte vorwärts. Curt von Boddin war bereits wieder auf dem Wege zu dem jungen Mädchen, das ihn mit einem Gemisch von Interesse und Scheu, um nicht zu sagen heimlicher Furcht, erwartete.

[712] „Sie haben hoffentlich nichts dagegen, Cousine, daß ich den Wagen vorausschickte. Sie waren ja darauf gefaßt, zu Fuß nach Pelchow zurückzugehen. Wie weit rechnen Sie bis dahin?“

„Auf directem Wege gehen wir vielleicht dreiviertel Stunden,“ war ihre Antwort.

„So? Ich denke, wir wählen diesen directen Weg, also vermuthlich den dort.“

Er zeigte auf den Fahrweg, auf den sich der Rest des aufgewirbelten Staubes niederließ.

„Darf ich um Ihren Arm bitten? Aber ich sehe, daß Ihre unglücklichen Pilze noch immer da herumliegen. Ich habe nicht die Absicht gehabt, Sie um die Frucht Ihrer idyllischen Bemühungen behufs Vervollständigung der Pelchower Speisekammer zu bringen.“

Er trug Glacéhandschuhe von apfelgrüner Farbe zu seinem lichtgrauen Herbstanzuge; diese apfelgrünen Finger langten vorsichtig hinab, und nur die äußersten Spitzen faßten die verstreuten Pilze und legten sie zu einem Häufchen zusammen.

„So,“ sagte der Vetter, während er sich aufrichtete und den Klemmer wieder auf die Nase setzte, der ihm beim Bücken entfallen war. „Und nun haben Sie die Güte, mir Ihr Taschentuch zu überreichen, damit ich diese Kinder des Waldes einwindeln kann!“

Anne-Marie von Lebzow stand abgewandten Gesichtes und blickte steif zu dem Wege hinüber; als er etwas zur Seite trat und mit einiger Verwunderung ihr Profil in’s Auge faßte, bemerkte er, daß ihr braunes Auge feucht war, und daß es bitter um ihren Mund zuckte.

„Um’s Himmels willen, Cousine, was ist Ihnen?“ fragte er. „Tragen Sie in Ihren jungen Jahren schon Leid um die Unvollkommenheiten unserer irdischen Laufbahn, oder besitzen Sie sentimentale Anlagen?“

Die junge Dame hatte die Herrschaft über ihre Empfindlichkeit gewonnen, welche von dieser saloppen Art, mit der man hier bei der ersten Begegnung sie zu behandeln beliebte, tief gereizt war. So neu war ihr diese Art, daß sie aus dem Schwanken, ob sie ihr Taschentuch hingeben sollte oder nicht, erst herauskam, als er dasselbe bereits erfaßt hatte und auf dem Boden ausbreitete. Bald war es gefüllt; Curt von Boddin knüpfte die Zipfel zusammen und nahm das Bündel auf.

„So,“ sagte er, „und um Sie ganz zufrieden zu stellen, Cousine, werde ich eigenhändig das Ding hier bis Pelchow tragen, obwohl ich nicht die mindeste Anlage zu ländlichem Schäferdienste habe. Wenn ich also bitten darf: gehen wir!“

Er hielt ihr seinen Arm hin, mußte es indessen erleben, daß sie ihn ausschlug. Der Weg bis zur Landstraße hinüber sei zu schmal, meinte sie kurz und schritt voraus; nur flüchtig musterte der Nachfolgende die anmuthige Figur und das dicke strohblonde Haargeflecht, das unter dem italienischen Hut hervorquoll.

„Jetzt, Cousine,“ nahm er das Gespräch wieder auf, nachdem er mit kurzem Sprunge den Fahrweg erreicht hatte, „jetzt möchte ich Sie bitten, mir allerlei von Pelchower Zuständen zu erzählen. Ich werde zwar Zeit genug haben, sie in Person zu studiren – vielleicht ahnen oder wissen Sie gar, meine Beste, daß ich mit der Vollmacht betraut bin, in dieser verlotterten Wirthschaft Ordnung herzustellen.“

„Ah!“ machte Anne-Marie unwillkürlich. Wie hatte sie auch nur einen Augenblick in Zweifel sein können, was dieser Besuch zu bedeuten habe! Vorhin erst hatte sie zur Radmacherin von der künftigen Verwaltung durch einen Teterower Boddin gesprochen.

„Hoffentlich können Sie mir nützen, indem Sie mir auf dieses verrückte Original von Onkel einwirken helfen, damit er ruhig geschehen läßt, was nicht zu ändern ist und was er mit seiner Zerfahrenheit und Verschwendung selber verschuldet hat. – Aber haben Sie eigentlich keinen Sonnenschirm mit, Cousine? Wie kann eine Dame am lichten Tage dreiviertel Stunde Weges hin und zurück ohne Schirm gehen! Sie sollten auch Ihre Hände mehr schonen.“

Er hielt einen Augenblick inne, als erwartete er eine Antwort. Allein Anne-Marie schwieg.

(Fortsetzung folgt.)




Die erste elektrische Weltausstellung.

Paris, das Herz der französischen Nation, in dem noch vor einem Jahrzehnte der rasende Fanatismus bethörter Massen verwüstend und zerstörend hauste, bietet uns heutigen Tages ein lächelndes Bild des Friedens und der Ruhe dar. Verrauscht sind scheinbar die Stürme des Haders und der Zwietracht, und nur noch ein Wahrzeichen jener traurigen Tage schaut wehmüthig auf uns hernieder – die geschwärzten, zerfallenen und geborstenen Trümmer weltlicher Herrlichkeit des einst allmächtigen Herrscherhauses der „Napoleoniden“, die Tuilerien. Unweit aber von dieser historisch denkwürdigen Stätte, bei deren Anblick man sich des Gefühls des Mitleides nicht erwehren kann, dort in den luftigen, von seinen weiten Eisenrippen überzogenen, aus schimmerndem Krystallglas erbauten Hallen des Palais de l’Industrie der Champs-Elysées entfaltet sich heute ein anderes Bild des friedlichen Wettkampfes der Völker. Dort strahlt in funkelndem Lichte die „Internationale elektrische Ausstellung“, auf deren Resultate man seit fast Jahresfrist in allen technischen, industriellen und Verwaltungs-Kreisen auf’s Höchste gespannt war. Nach dem Vorbilde der deutschen Initiative zur Arrangirung von „Fach-Weltausstellungen“ schlug der französische Minister Cochery zu Anfang dieses Jahres dem französischen Senate die Idee einer „Elektrischen Weltausstellung“ zu Paris vor. Dieser Gedanke fand nicht nur bei der französischen Nation, sondern auch bei allen hervorragenden Culturvölkern sofort volle Anerkennung und ungetheilten Beifall. Die vorbereitenden Schritte wurden schleunigst gethan, und schon am 19. August konnten die Pforten des Ausstellungspalastes während der Tagesstunden und vom 26. August an auch des Abends dem Publicum geöffnet werden.

Wie unaufhaltsam schreitet heute die Menschheit vorwärts! Kaum ein Jahrhundert ist es her, daß die „Kraftmaschine“ der Neuzeit geboren wurde, erst ein halbes Jahrhundert ist verrauscht, seit die erste „Locomotive“ ihren unvergleichlichen Siegeszug begann, und schon zeigt sich heute am Horizonte der entfesselten Naturgewalten ein junges, vielverheißendes Gestirn, das seine Strahlen bereits in hundert Richtungen befruchtend entsendet: die Elektricität.

Alle jene verdienstvollen Männer: Thales von Milet, Otto von Guericke, Franklin, Volta, Arago, Ampère, Galvani, Weber, Faraday, Oersted, Ohm, Jacobi und Steinheil, denen hier im Palast der Elektricitäts-Ausstellung von Lorbeeren umwobene Gedenktafeln und Büsten errichtet sind, sie legen klares Zeugniß davon ab, daß sämmtliche Nationen ihre besten Kräfte eingesetzt haben für die Entwickelung und Förderung der elektrischen Technik.

Die Kraft, welche in dem Gewande des atmosphärischen Blitzes Tod und Verderben unter die Menschheit schleudert und früher als Ausdruck göttlichen Zornes gefürchtet war, ist heute, in tausendfachen Apparaten gefangen, eine neue Helferin des Menschen, sein willig folgender, dienstbarer Geist geworden, und schon droht dieser junge funkelnde Rival ein gefährlicher Concurrent der brausenden irdischen Dampfkraft zu werden. Das seltene fesselnde Bild, welches sich uns im Ausstellungspalaste darbietet, alle die Tausende der hier vorgeführten sinnreichen Apparate, Mechanismen und Erfindungen besiegeln den Beginn des modernen „elektrischen Zeitalters“.

Es ist erstaunlich, sogar oft überwältigend, hier das Functioniren des kleinen knisternden, unscheinbaren elektrischen Funkens in allen seinen mannigfachen praktischen Anwendungen studiren und kennen zu lernen. Da ist, außer der Telegraphie und Telephonie, die Photophonie oder Verwandelung des Lichtstrahls vermittelst Elektricität in Tonschwingungen. Dort am Eingange des Palastes in der Richtung nach dem Obelisk von Luxor des Place de la Concorde fährt eben der „elektrische Waggon“ von Siemens mit fünfzig Personen ruhig und geräuschlos mit großer Schnelligkeit ab, während zur selben Zeit hoch oben in den Lüften der fischähnliche, 4 Meter lange „elektrische Ballon“ von Tissandier lustig herumkreist, und unten im klaren, von aromatischem Blüthendufte und anmuthigen Cascaden umgebenen Bassin, im Centrum der Ausstellung, die „elektrische Gondel“ des Herrn Trouvé allabendlich mit großer

[713]

Deutsche Abtheilung der ersten elektrischen Weltausstellung in Paris.
Nach einer Skizze von Ernst Hinkefuß auf Holz übertragen von Martin Lämmel.

[714] Präcision und anerkennenswerther Schnelligkeit unter allgemeinem Beifall um den aus dem Bassin sich hoch erhebenden Leuchtthurm und durch glitzernde Felsengrotten ihre kleinen Rundfahrten vollzieht. Nur allein dieses Triumvirat: „Waggon, Ballon und Gondel“ genügt schon, um den elektrischen Strom in all seiner Herrlichkeit und Macht wirken zu sehen.

Herr Trouvé, der außer seiner vielbewunderten Gondel auf elektrischem Gebiete in unserem Jahrzehnt eine der ersten Autoritäten der französischen Nation ist – wir erinnern nur an seine zahl- und sinnreichen Erfindungen auf dem Felde der Anwendung des elektrischen Stromes in der Heilkunde – hat in allerjüngster Zeit wiederum die Welt mit einer ganz eigenartigen Schöpfung seines Genies beglückt. Es sind dies lebende, elektrische Schmucksachen: Schmetterlinge, welche ihre Flügel lustig hin und her bewegen, Häschen, welche emsig mit ihren kleinen Pfoten einer silbernen Glocke feine, helle Trillertöne entlocken etc.

Der Verfasser bemerkte diese Schmucksachen an der Coiffüre der Baronin von Rothschild, der Fürstin von Metternich und anderer distinguirter Personen. Nur reiche Leute können sich diesen Luxus erlauben; denn diese reizenden Schmucksachen, welche von den Damen in der Frisur, dagegen von den Herren meist als Busennadel in der Cravatte getragen werden, sind ziemlich theuer und kosten 100 bis 5000 Franken das Stück. Sehr beliebt sind diese elektrischen Kleinodien unter den reichen Radjahs von Ostindien und Birma, welche dieselben vorn an ihrem mächtigen Turban tragen und, so geschmückt, wohl einen sehr fashionablen Eindruck bei Gesellschaften und Gelagen der asiatischen Granden bewirken.

Doch kehren wir zurück von den braunen Fürsten des Ganges in den schimmernden Palast der Elektricität an der Seine, und wenden wir unsere Aufmerksamkeit auf ernstere Gegenstände. Hier stürzen mächtige Wassermassen in Etagenhöhe herab – sie sind vor wenigen Secunden gehoben worden durch die kleine, unscheinbare, dicht danebenstehende elektrische Maschine; dort sitzen zehn junge Mädchen vor zierlichen Nähmaschinen und fertigen allerhand nützliche Wäschestücke und Garderobe, aber sie mühen sich nicht mehr durch das anstrengende Treten der Kurbel ab; das besorgt heute die kleine elektrische Maschine. Gehen wir einige Schritte weiter, der deutschen Abtheilung zu! Hier steht ein großer Pavillon in geschmackvoller Ausstattung, eine Maschinenwerkstatt bildend. Es ist die Ausstellung der rühmlichst bekannten Maschinenfabrik von Heilmann, Ducommun und Steinlen zu Mühlhausen im Elsaß. Große, starke Dreh-, Hobel- und Bohrmaschinen für Eisenbearbeitung sind hier aufgestellt, und zahlreiche dunkle Lederriemen schwirren emsig durch die Luft. Fragen wir: „wer treibt alle diese 20 nimmer rastenden Werkzeugmaschinen?“ Nun, hier unsere kleine elektrische Maschine! Aber sie bewirkt noch mehr. Nicht allein bewegt sie alle diese Arbeitsmaschinen, sondern sie versorgt auch jede dieser Arbeitsstätten durch praktische konische Milchglasglocken mit dem angenehmsten und hellsten „Glühlicht“ nach dem System Edison, jener Beleuchtungsmethode, die bis noch vor wenigen Wochen die ärgsten Anfeindungen erfahren mußte und heute auf der Pariser Ausstellung durch ihre vorzüglichen Eigenschaften bereits alle Gegner besiegt hat.

In die schaurigen Tiefen der meilenlangen Tunnels dringt sie ein, die elektrische Maschine, und treibt hier völlig präcis und sicher die langen Bohrer, welche die Oeffnungen für die Dynamitpatronen zu schneiden haben. In die Oper, in’s Concert zu gehen, haben wir heute nicht mehr nöthig, das besorgt uns die Elektricität einfacher und bequemer. Dort an der Seite des purpurfarbenen Fauteuils hängt ein kleiner silberner Bügel an einer dünnen, seidenen Schnur. Wir lassen uns auf den weichen Sessel nieder und legen den Metallbügel an unser Ohr, um uns sofort inmitten eines wundervoll einherbrausenden Orchesters zu befinden. Wie alt erscheint uns heute dieses kaum vor wenigen Jahren zum ersten Mal vorgezauberte Wunder des Telephons! Und wenn auch alle diese Apparate noch keineswegs den Stempel der Vollkommenheit tragen, wenn auch manche von ihnen für das praktische Leben noch zu unpraktisch und zu theuer sind, so beweisen sie dennoch, daß es möglich ist, diese vielfältigen Arbeiten durch die elektrische Kraft zu vollbringen, und sie alle eröffnen eine bisher ungeahnte Aussicht auf neue Reformen in unserem Culturleben.

Da der elektrische Strom heute fast ausschließlich durch schnelle Rotation erzeugt wird und diese Rotation, außer mittelst Dämpfen und Gasen, durch jede beliebige elementare Kraft, wie Wind und Wasser, billig erhalten wird, so leuchten die weiteren nationalökonomischen Vortheile der allgemeinen Einführung der Elektricität in sämmtlichen Zweigen der Industrie und der Gewerbe sofort ein.

Die in einem einzigen Wasserfall der Erde, dem Niagarafall, enthaltene lebendige Kraft ist gleich derjenigen Dampfkraft, welche jährlich aus 270 Millionen Tons Steinkohlen erhalten wird, und das ist genau die Fördermenge der Kohlen aller Länder während eines Jahres. Es ist unbegreiflich, daß die amerikanische Nation, die sonst stets bei allen großartigen Unternehmungen schlagfertig dasteht, hier am Niagara in jedem Jahre die nützliche Kraft von 16 Millionen Pferden unbenutzt läßt.

Aber nicht allein der Niagara, sondern alle minder großen Wasserfälle der Erde, alle Stromläufe, sowie das continuirliche Phänomen der Ebbe und Fluth, können gezwungen werden, eine billige und außerordentlich gewaltige Elektricitätsmenge zu erzeugen. Sehen wir uns jedoch nach dieser allgemeinen Betrachtung die einzelnen in der Ausstellung vertretene Fächer der elektrischen Technik genauer an.

Diejenige Anwendung der Elektricität, die zur Zeit wohl das größte allgemeine Interesse in Anspruch nimmt, und welche demzufolge auch auf der Pariser Ausstellung außerordentlich cultivirt erscheint, ist unstreitig die Erzeugung des „elektrischen Lichtes“. Diese Errungenschaft der Neuzeit datirt im Großen erst seit der letzten Pariser Weltausstellung des Jahres 1878, obwohl bereits im Jahre 1813 Davy den ersten Volta’schen elektrischen Lichtbogen erzeugte. Was sich hier des Abends von 8 bis 11 Uhr dem Publicum im Ausstellungspalast darbietet, versetzt uns aus dem Reiche des Irdischen hinaus in das Reich des „Idealen“, in das Reich der wunderbaren Feenmärchen, die wir in unserer Jugend so oft geträumt.

Schon lange, ehe man den Palast der Ausstellung betritt, wird man getroffen von den lang gezogenen Strahlen zweier mächtiger elektrischer Reflectoren, die, gleich großen glänzenden Gestirnen, vom dunklen hohen First des Palastes ihre blitzenden Strahlen in die weitesten Entfernungen senden. Wunderbar geisterhaft erscheint der hierdurch grell erhellte berühmte Obelisk von Luxor des Place de la Concorde. Kommt man dem Palast näher, so erblickt man die Statuen zweier edel geformter Nymphen, welche mit ihren Händen eine starke elektrische Lichtquelle emporhalten, gedämpft durch eine in echt griechischem Stil gehaltene, die lang gezogene Form eines Prismas darstellende Laterne.

Bei jedem Schritt, den wir jetzt weiter zurücklegen, empfangen uns größere und zahlreichere elektrische Candelaber. Aber im Innern des Palastes, den wir nun betreten, strahlt und blitzt es aus circa 3000 elektrischen Flammen, von der stärksten möglichen hier benützten Lichtintensivität zu 4000 Normalkerzen bis zur kleinen elektrischen Glühlichtzimmerflamme von 8 Normalkerzen. Circa 50 verschiedene Systeme der Erzeugung elektrischen Lichts sind hier auf der Ausstellung vertreten und wetteifern allabendlich mit einander. Es würde uns jedoch zu weit führen, die Vorzüge und Nachtheile aller der einzelnen elektrischen Lampen zu besprechen. Wir theilen im Folgenden nur über diejenigen, die ein besonderes Interesse erwecken, Näheres mit.

Während die einen Aussteller das elektrische Licht frei von den glühenden Kohlenstäben herabstrahlen lassen, hüllen es andere in Milchglasglocken ein, um so die grelle Wirkung desselben zu mildern, und Andere wiederum fangen das in Souterrainräumen erzeugte Licht in großen Spiegeln auf und lassen alsdann den milderen, aber auch matteren Schein in die zu erleuchtenden Hallen sich ergießen. So hat ein Erfinder seinen elektrischen Beleuchtungsapparat, der speciell für Straßen- und Platzbeleuchtung bestimmt ist, tief in die Erde verlegt und läßt die elektrischen Lichtstrahlen von unten durch eine kleine Bodenöffnung im Trottoir vertical zu imposanter Höhe emporschießen, wo sie hoch oben in der Luft von einem gigantischen, von hoher Säule getragenen Reflector aufgefangen und, von diesem zurückgestrahlt, ihrem eigentlichen Wirkungskreise, dem Trottoir und Fahrdamm wieder nach unten zugeführt werden. Jedenfalls eine originelle Idee, deren Verwendung möglicher Weise bei unserer modernen „Theaterbeleuchtung“ zu erwägen wäre. Auf diesem letzteren Gebiete kommt es ja vor Allem darauf an, eine Beleuchtung zu schaffen, welche den Innenraum des Theaters nicht erhitzt und jede Feuersgefahr ausschließt. Beide dieser Bedingungen sind aber bei letzterem Systeme vollkommen gelöst.

[715] Ungleich günstiger als alle großen Kohlenregulatoren des Volta'schen Lichtbogens erweist sich, was die Erzeugung eines ruhigen und geräuschlosen Lichtes anbelangt, das kleine „Glühlichtsystem“ Edison's. (Vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1880, Nr. 5.<) Der Ruhm dieses amerikanischen Erfinders ließ seine Neider nicht ruhen, und so finden wir denn hier auf der Ausstellung außer Edison'schem Glühlichtsystem diejenigen von Swan, Maxim und Lane Fox. Bekanntlich entsteht hier das Licht in einer luftleeren kleinen Glaskugel, in welcher der elektrische Strom einen schwachen Kohlenfaden durchlaufen muß. Das Glühen dieses Kohlenfadens giebt das Licht. Alle vier Glühlichtsysteme sehen sich einander ähnlich wie ein Ei dem anderen und unterscheiden sich nur durch die Form des angewandten Kohlenfadens. Während Edison seine einfache ursprüngliche Form „U“ oder „“ beibehalten, bringt Swan den Kohlenfaden in Form einer doppelten Schlinge, Lane Fox ist noch sorgloser und wendet nur einen um einen Millimeter größeren Krümmungsradius des Edison'schen Bogens an, während Maxim geistreich und selbstgefällig den Kohlenfaden in Gestalt seines Anfangsbuchstabens, des „M“, anwendet. Die Erfinder behaupten zwar außerdem eine ganz besondere Präparation der Kohle entdeckt zu haben; der wesentliche Unterschied derselben dürfte jedoch schwerlich von Belang sein.

Man war bei der Eröffnung der Pariser Ausstellung nicht wenig gespannt, was Edison, der viel bewunderte und viel geschmähte Amerikaner, hier der Kritik vorführen werde. Der Erfinder des „Phonographen“ scheint sich aber der Bedeutung der Pariser Elekricitäts-Ausstellung wohl bewußt gewesen zu sein; denn der Eindruck seiner Glühlichtsalons, die allabendlich von circa 500 an 2 kostbaren Krystalllüstres und einer großen Anzahl kleinerer Wandleuchter brennenden Glaskugeln erhellt werden, ist nach allgemeinem Urtheile ein überwältigender.

Hier ist kein Flackern; nicht das mindeste Geräusch vernimmt man; keine Hitze verspürt man mehr in den Salons, nur eine außerordentlich behagliche reine Luft; dazu kommt noch das angenehm belebende Colorit des kleinen Glühlichtbogens: wahrlich, wir haben hier fast das „Ideal der Beleuchtung“ vor uns. Zur Zeit ist der Ingenieur der Edison'schen Abtheilung, Mr. Batchelor, im Palais de l'Industrie damit beschäftigt, einen neuen Dampfkrafterzeuger zur Speisung von weiteren 500 Glühlichtern aufzustellen Der Preis des Glühlichts wird vorläufig gleich demjenigen des Steinkohlengases normirt werden. Für Paris ist die Organisation des Glühlichtsystems Edison's bereits für Wohnhäuser und Industrielle Etablissements in Angriff genommen.

Die allabendlich im Ausstellungspalast entwickelte elektrische Lichtmenge von rund 1/2 Million Gasflammen wird erzeugt durch Rotation von 50 Dampfmaschinen und Locomobilen, sowie einer größeren Reihe Gaskraftmaschinen. Die Gesammtstärke aller dieser Kraftmotoren kann man auf rund 1500 Pferdekräfte normiren, und sind außerdem zur Erzeugung der elektrischen Ströme für die Telegraphenapparate etc. circa 2000 Elemente thätig.

Elektrisches Licht in luftverdünntem Raume finden wir noch in einer vorzüglich ausgestatteten Collection der beiden Firmen Dr. Geißler’s Nachfolger (Müller) in Bonn und Müller in Hamburg. Hier entsteht das prachtvollste Licht, sobald man einen Inductionsfunken durchschlagen läßt. Die in allen möglichen Formen, Windungen und Figuren gebogenen Glasröhren und Kugeln sind zum Theil mit phosphorescirenden und fluorescirenden Stoffen, als Cosin, Aesculin, Chlorophyll etc., präparirt und geben die verschiedenartigsten, wunderbarsten Lichteffecte. Voraussichtlich wird dieses Glühlichtsystem sehr bald praktische Verwendung finden in Personen- und Eilzügen der Eisenbahnen, sowie Schiffskajüten. Alle Grundbedingungen zur Erzeugung und Verwendung des elektrischen Lichts sind hier vorhanden: schnelle Rotation, genügende disponible Dampfkraft und kleine, mäßig zu erhellende Räume. Da Amerika auf diesem Gebiete vorangegangen, wird die übrige Verkehrswelt wohl bald folgen.

Sehr hohes allgemeines Interesse erregen ferner auf der Pariser Ausstellung die „galvanoplastischen“ Niederschläge und Präparate. Nachdem im Jahre 1888 Jacobi das erste gelungene galvanoplastische Experiment gemacht, finden wir heute hier galvanoplastische Niederschläge von Kupfer, Gold, Silber etc. in Platten von 1 Quadratmeter Größe und 11/2 Centimeter Dicke von chemisch reinster Beschaffenheit, Kupferbarren und Stäbe von 1 Quadratdecimeter Querschnitt und bedeutender Länge, mächtige Gold- und Silberbarren, alles durch Elektricität niedergeschlagen, ferner an die zahlreichen architektonischen und künstlerischen Anwendungen der Galvanoplastik in den Kunstgewerben: die gediegensten Formen und Schöpfungen der Ciselirarbeit, auf galvanischem Wege verschönert und bis zu höchster Stufe vollendet, galvanoplastische Nachbildungen des berühmten Hildesheimer Silberfunds, Verkupferungen von natürlichen Fröschen und allerhand Amphibien und anderer eigenartiger Gegenstände.

Für das technische Publicum besonders sehr anziehend sind die reichhaltig vorgeführten „historischen Originalapparate“ aller großen Physiker und Gelehrten der elektrischen Wissenschaft. Da sehen wir die erste Reibungs - Elektrisirmaschine von Otto von Guericke in Gestalt einer massiven großen Schwefelkugel, welche, mit einer Handkurbel gedreht, die Elektricität erzeugt. Da steht ferner in der deutschen Abtheilung das erste elektrische Ei, der Urahn des Edison'schen Glühlichts, in wunderlicher mittelalterlicher Holzeinfassung, ebenfalls von Otto von Guericke erfunden. Hier, in einem simplen Glaskasten, hängt das Bild von Ph. Reis, daneben sein erstes Telephon.

Auch die erste elektrische Eisenbahnlocomotive, welche Siemens auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung zum ersten Mal öffentlich gezeigt hat, ist da; ebenso erblicken wir die ersten Telegraphenapparate von Steinheil, Weber, Gauß, die erste dynamo-elektrische Maschine (1888) von Siemens – Beweise genug, daß die deutsche Nation auf elektrischem Gebiete ebenso tüchtig und erfahren wie im Kriegswesen ist. In den Collectionen anderer Staaten finden wir ferner die „erste Säule Volta's“, den „ersten Nadeltelegraphen“, Originalbriefe elektrischen Inhalts von Newton, Ampere und Volta, sowie eine große Anzahl alter Werke der hervorragendsten Autoren wie Franklin, Priestley und Anderer.

Was das weite Gebiet der „Zeiger-, Schreib- und Drucktelegraphen“ betrifft, so hat besonders Frankreich eine vorzügliche anschauliche Sammlung seines Ministeriums der Post und Telegraphen vorgeführt. Von anderen Staaten sind besonders das deutsche Reich, Oesterreich und Amerika im Telegraphen- und Signalwesen hervorragend vertreten. Hier finden wir den elektrochemischen Apparat von Sömmering vom Jahre 1809, der auf der Zersetzung des Wassers basirte, ferner alle die zahlreichen Erfindungen von Siemens, Schmidt (Sachsen), den ersten Farbschreiber von John (Böhmen) und den erst vor wenigen Monaten erfundenen Harmonic Telegraph von Gray (Amerika), der es ermöglicht, mit Hülfe nur eines Drahtes gleichzeitig zwischen sechs Apparaten hin und zurück zu correspondiren. Das Princip des Gray’schen Systems beruht auf der continuierlichen Erzeugung von kleinsten Schwingungen durch einen fortwährend vibrirenden Theil, Stimmgabel genannt. Hebt man diese feinen Vibrationen durch das Lösen eines Hebels in dem einen Apparat auf, so ist die Communication nach den anderen Apparaten augenblicklich unterbrochen. Die Ausführung der Apparate, welche in Chicago gebaut sind, zeugt vom feinsten und gediegensten Geschmack, sowohl was Exactheit der Function, wie auch künstlerische Ausstattung betrifft.

Zur Isolirung der elektrischen Apparate verwendet man in neuester Zeit außer den früher üblichen Stoffen: Holz, Elfenbein, Guttapercha mit großem Erfolge den „Glimmer“, der in sehr umfangreichem Maßstabe von Max Raphael, Glimmerfabrik zu Breslau zu diesem Zwecke verarbeitet wird. Raphael, ein geborner Holländer, bezieht seit dem Jahre 1835 das Rohmaterial aus seinen reichen Glimmerminen Ostindiens und liefert für den gesammten europäischen Continent, sowie auch nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika (Edison bezieht seine Telephon-Membrane sämmtlich von Breslau) seine Fabrikate als: Compaßrosen, Platten und Scheiben in jeder Form, Telephon-Membrane und matte Scheiben für elektrisches Licht, Glimmerspiegel zu Reflectoren und Signalgebungen bei Leuchttürmen Platten zu Condensatoren und Blockapparaten etc. Der jährliche Export Raphael's nach Ostindien beläuft sich auf 400,000 Dutzend, nach New-York auf eine halbe Million Glimmerpräparate.

Auf unserer beigegebenen Illustration haben wir die Abtheilung des deutschen Reichs dargestellt. Im Centrum erblickt man die Büste der Germania auf hoher, von Telegraphenkabeln gezierter Säule, modellirt von Eberlein. Rechts von ihr erhebt sich der große elektrische Candelaber von Siemens nach den Entwürfen der Architekten Kyllmann und Heyden. Wir sehen ferner [716] weiter rechts die Ausstellung der historischen elektrischen Apparate des deutschen Reichspostamts mit den Büsten von O. von Guericke, Steinheil und Anderen, links die Collection der Kabel von Felten und Guilleaume, im Hintergrunde den Pavillon von Siemens und Halske, links im Vordergrunde den mächtigen elektrischen Leuchtthurm, der sich aus einem klaren sprudelnden, von Fächerpalmen und anderen exotischen Pflanzen gezierten Bassin stolz emporhebt, während unten im Wasser Herr Trouvé in seiner elektrischen Gondel durch die kleine Felsengrotte steuert und hoch oben in der Luft der elektrische Ballon von Tissandier seine Fahrten vollzieht. Das Arrangement der deutschen Abtheilung hat in anerkennenswerther Weise der Geheime Oberregierungsrath Elsasser unter Assistenz der Herren Zappe, Keerl und Schulze geleitet. Doch wir brechen heute ab, um Weiteres in unserem zweiten Berichte nachzuholen.

Die Elektricitäts-Ausstellung zu Paris wird am Horizonte der Wissenschaft, der Industrie und des Verkehrs auf lange Zeit ein leuchtendes Gestirn bleiben und dem Menschengeist eine Mahnung sein, nimmer zu rasten auf dem Pfade der Erkenntniß des Weltalls und der Naturkräfte. Immer weiter und weiter dringen wir vor in das Geheimniß der Natur; immer näher gelangen wir dem Ziel unserer Wünsche, unserer Arbeit; doch, wenn wir wähnen, es erreicht zu haben, siehe da, wie ein neckisches Irrlicht wandert es vor uns einher bis in die unendlichsten Fernen und Zeiten.

     Paris, im September 1881. E. Hinkefuß.




Ein aus Deutschland verjagtes Königsgeschlecht.

Einst, in grauer Vorzeit, war das Elch der König unter den Thieren des deutschen Waldes. Gewaltig war seine Erscheinung, wenn es rudelweise seine weiten Reviere, die Urwälder Germaniens, durchstreifte. Die stärksten Rosse an Höhe überragend und seine buschige Mähne emporsträubend, bahnte es sich gewaltsam den Pfad durch die Wildniß; mit seinem eigenthümlich geformten, oft gegen fünfzig Pfund schweren Geweih zerbrach es die dicht herabhängenden Aeste des jungfräulichen Waldes; es schwamm über die breitesten Ströme und glitt geschickt über die gefährlichsten Moorbrüche; selbst den Raubthieren des Nordens wußte es wohl zu trotzen und tödtete den Angreifer mit einem einzigen Stoß seines schaufelartigen, gezackten Geweihs oder einem Schlage seiner mächtigen Hufe. Es war ein königliches Thier, dem gern die Fürsten nachstellten, wie es in dem Sagengedicht von Siegfried heißt:

„Darnach schlug er wieder ein Wisent und ein Elk,
Starker Auer viere und einen grimmen Schelk.“

Elenthiere in dem ostpreußischen Forste zu Ibenhorst.
Originalzeichnung von T. F. Zimmermann.

Die ersten römischen Krieger, die in die germanischen Wälder eingedrungen waren, erzählten nach ihrer Rückkehr in die Stadt mit den sieben Hügeln fabelhafte Dinge von dem „deutschen Hirsch“, und selbst Julius Cäsar berichtet noch, daß der „Alces“ des hercynischen Waldes Füße ohne Gelenke habe, um zu ruhen, sich an Bäume lehne und, wenn er einmal gefallen sei, nicht wieder aufstehen könne. Später zeigten die Legionisten das Elch als Curiosum auf den Straßen Roms und in dem Circus.

Im Mittelalter begann ein förmlicher Vernichtungskrieg gegen dieses stolze Edelwild. Die damaligen königlichen und fürstlichen Jagden dienten nämlich keineswegs zur ausschließlichen Belustigung des höfischen Adels; das Waidmannswerk war nicht nur eine Vorschule des damaligen Kriegswesens, sondern auch ein wichtiges Moment in der Vorbereitung der kriegerischen Ausrüstung.

Bevor man in das feindliche Land zog, ging man in der Regel zunächst auf die Jagd, deren Ausbeute den Proviant des ritterlichen Gefolges bildete. In solchen Fällen war das Elch, auch Elenthier genannt, ein willkommenes Jagdwild; denn es lieferte außer seinem [717] schmackhaften Fleische, noch ein vorzügliches Leder, welches, dank seiner Festigkeit, den Krieger vor feindlichen Geschossen in hohem Maße beschützte. Selbst als die Feuerwaffe allgemein eingeführt wurde, trug der Soldat mit Vorliebe Kleidungsstücke aus Elenleder, und die Helden des dreißigjährigen Krieges sehen wir in Elenkollern streiten und fallen. Sagt doch in „Wallenstein’s Lager“ der Wachtmeister von seinem Feldherrn:

„Ja, daß er fest ist, das ist kein Zweifel;
Denn in der blut’gen Affair bei Lützen
Ritt er euch unter des Feuers Blitzen
Auf und nieder mit kühlem Blut.

Durchlöchert von Kugeln war sein Hut,
Durch den Stiefel und Koller fuhren
Die Ballen, man sah die deutlichen Spuren;
Konnt ihm keine die Haut nur ritzen,
Weil ihn die höllische Salbe thät schützen.“

Worauf der mehr nüchterne „erste Jäger“ erwidert:

„Was wollt ihr da für Wunder bringen!
Er trägt einen Koller von Elendshaut,
Das keine Kugel kann durchdringen.“

Daß der Glaube an die schützende Eigenschaft des Elenkollers wohl auf Uebertreibung beruhte, beweist uns übrigens dieselbe Lützener Schlacht, in welcher auch Gustav Adolf ein Elenkoller trug und doch das Leben lassen mußte.

Mit der zunehmenden Ausrottung der Wälder lichtete sich bedeutend der Bestand des Elchwildes in Deutschland, bis in Sachsen das letzte Elen im Jahre 1746 und in Schlesien im Jahre 1776 erlegt wurde. Gegenwärtig findet man dasselbe in geringer Anzahl von höchstens 100 Stück nur an der äußersten nord-östlichen Kante des deutschen Waldgebietes in dem Forste von Ibenhorst bei Memel. Auf diesem Waldcomplex, welcher aus etwa 2000 Morgen mit Kiefern, Fichten und Birken bewachsenen Höhenboden, aus 6000 Morgen Torfmooren und etwa 40,000 Morgen Erlenbruch besteht, fristet der ehemalige König unseres Waldes ein kümmerliches Dasein, vor dem todbringenden Blei des Feuerrohres durch strenges Jagdgesetz geschützt.

Die Erscheinung des gewaltigen Thieres gemahnt uns durch das eigenthümlich geformte Geweih und das sonderbare fast viereckige Maul an die Ungeheuer der vorsündfluthlichen Zeiten. Die Leibeslänge eines erwachsenen Hirsches beträgt 2,6 bis 2,9 Meter, die Höhe am Widerrist 1,9 Meter. Das Weibchen, welches in der Jägersprache das „Thier“ genannt wird, steht in der Größe dem Elchhirsche kaum nach, ist jedoch ein wenig schmäler gebaut und trägt kein Geweih.

Außerhalb Deutschlands lebt noch das Elen in Skandinavien und in den Ostseeprovinzen, von denen eine, Kurland, diesen „Roßhirsch“ der alten Deutschen in seinem Wappen führt. In ziemlich bedeutender Zahl findet sich ferner das Elch auf dem asiatischen Festlande und in Nordamerika, wiewohl auch dort sein Bestand bereits stark gelichtet wurde.

Die Elche in dem Ibenhorster Forste zeigen in letzter Zeit eine sehr geringe Fruchtbarkeit, sodaß die Befürchtung nahe liegt, daß auch diese letzten Repräsentanten dieses Hochwildes auf deutschem Boden bald aussterben werden. Um so mehr hat man also das Recht, sie schon heute als eine aus Deutschland verjagte Art zu bezeichnen, und um so größeres Interesse dürfte unsere heutige naturgetreue Abbildung des Thieres bei unseren Lesern erwecken.




Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)
30.

Der Eindruck, welchen Paris auf Siegmund machte, war überwältigend. Diese glänzende, tausendfarbige Welt, die mannigfaltige, immerwährende, ungeheure Bewegung, diese imposanten Paläste und Boulevards, die wimmelnden Straßen mit all den reizvollen Einzelbildern berauschten sein Auge, während er vom Bahnhofe nach dem „Grand Hôtel“ fuhr, um in diesem Riesenpalaste vorläufig abzusteigen. Jede Reisemüdigkeit war verschwunden; nachdem er sich umgekleidet und sich über die einzuschlagende Richtung orientirt hatte, drängte es ihn vorwärts – hinaus.

Der Weg nach dem Bankhause Selettier, seinem nächsten Zielpunkte, ließ sich zu Fuße zurücklegen. Warmes goldenes Licht fiel über den schönen Boulevard des Capucines, umspielte die gewaltigen Stufen der Madelaine, in deren Nähe alle Blumen, welche die Gärten noch versagten, verschwenderisch ausgebreitet lagen. Siegmund eilte mit leichtem Tritt über das breite Trottoir der schönen Straßen, alle Sinne lebhaft beschäftigt, aber dennoch mitten unter dem überall sich zudrängenden, lächelnden Neuen nur von einem Gedanken beherrscht. Jeder schnelle Pulsschlag galt diesem einen Gedanken: Heute noch werde er seine Mutter wiedersehen, ihre Stimme hören, ihren Augen begegnen – davor trat jetzt Alles in den Hintergrund; nur diese Gewißheit fieberte in ihm.

Das Bankhaus lag vor ihm, ein Palast. In die Comptoirräume eingeführt, übergab Siegmund einem jungen Manne, der nach seinen Wünschen fragte, seine Karte mit dem Ersuchen, dieselbe dem Chef des Hauses zuzustellen, den er zu sprechen wünsche. Nach sehr kurzem Verzug öffnete sich ihm das Privatcabinet des Banquiers; dieser, ein noch junger Mann, erhob sich bei seinem Eintritte vom Schreibpulte und fragte in höflichster Weise, aber ohne zum Niedersitzen einzuladen, womit er dienen könne.

„Entschuldigen Sie die Störung!“ sagte Siegmund; „ich komme, mir die Pariser Adresse Mr. Alfred de Clairmont’s zu erbitten, dessen Geschäfte Ihr Haus führt und der gegenwärtig hier anwesend ist.“

Der Banquier zuckte die Achseln:

„Kein Irrthum, Monsieur? Ich möchte die Anwesenheit Monsieurs in Paris bezweifeln.“

„Frau von Riedegg, meine Mutter, die dem Hause ihres – unseres Verwandten vorsteht, gab mir kürzlich Nachricht von hier aus –“

Der Banquier ließ einen neugierigen Blick über die elegante Erscheinung des in Civil gekleideten jungen Mannes gleiten.

„Ah!“ sagte er – und dann: „Die Beziehungen sind nur geschäftlichen Charakters, wahrscheinlich kein Anlaß vorhanden, das Haus zu benachrichtigen. Erlauben Sie –“

Er stand auf, öffnete die Thür und rief einen der im Comptoir arbeitenden Herren herbei.

„Mr. Pinel, sehen Sie doch gefälligst das Datum der letzten Eintragung für Madame Geneviève Clairmont nach –“

„Riedegg,“ verbesserte Siegmund.

„Pardon, Monsieur! Die Zusendungen Madames werden nach Weisung auf den Namen Monsieurs gebucht.“

Siegmund’s frappirter Aufblick begegnete einer Miene, die ihn reizte. Nun kehrte der Comptoirist zurück.

„Ancona, 5. März, Madame Geneviève Clairmont, zwanzigtausend Franken.“

„Sie wissen von keinem Avertissement einer Rückkehr nach Paris, Mr. Pinel?“

Der junge Mann verneinte schweigend und zog sich zurück.

„Bedauere –“ sagte der Chef.

Das Wort hätte ebenso gut Adieu heißen können.

Siegmund empfahl sich. Verstimmt, unbefriedigt wanderte er auf dem Trottoir ohne Ziel und Richtung. Mehr noch als die erlittene Täuschung ging Anderes ihm im Kopfe herum. Weshalb streifte seine Mutter hier den Namen ab, den sie daheim trug? Hatte sie im Anschlusse an Clairmont diesen Namen seines Vaters überhaupt freiwillig aufgegeben? Die quälenden Zweifel regten sich neu; auch die offenbare Unlust des Banquiers, ihm Rede zu stehen, eine gewisse Geringschätzung, die nicht in dessen Worten, wohl aber in seinem Tone gelegen, als von Frau von Riedegg die Rede gewesen, wirkten nun auf seine Stimmung nach. Er überlegte, ob es zweckmäßiger sei, sich an die österreichische Botschaft oder an die Polizeipräfectur zu wenden, um das Domicil seiner Mutter zu erforschen. Jedenfalls schien es rathsam, sich im Gesandtschaftshôtel über die localen Verhältnisse zu orientiren. Sein Paß sicherte ihm dort jedes Entgegenkommen.

Während er ganz vertieft immer vorwärts, vorwärts ging, ohne weiteren Blick für das schöne Paris, das ihn zuvor so sehr bezaubert, rief eine Stimme ihn lebhaft an:

[718] „Riedegg?“

Er blickte erstaunt auf und sah dicht vor sich ein elegantes Cabriolet, dessen Insasse, ein österreichischer Genie-Officier in Uniform, bereits das Pferd angehalten hatte, dem Groom die Zügel zuwarf und hinabsprang. Siegmund erkannte einen jungen Cameraden, mit welchem er während der Feldzugszeit im gleichen Corps gestanden und häufig verkehrt hatte. Lieutenant Edler von Horn war ein Verwandter Friesack’s und schloß sich damals den beiden Freunden als gern gesehener Dritter an.

„Also Du bist es wirklich, Camerad! Bravo! Seit wann bist Du hier? Erst seit heute? Na, dann darf ich Dir keinen Proceß darüber machen, daß Du mich nicht aufgesucht hast.“

„Was auch nicht geschehen wäre; ich hatte keine Ahnung –“

„Du weißt also nicht, daß ich seit Neujahr als militärischer Attaché zur hiesigen Gesandtschaft commandirt bin? Neue Mode des Kaiserreiches, gar nicht übel für Den, der sie mitmachen darf! Uebrigens wärest Du mir keinenfalls entronnen; denn Du hättest Dich doch einmal im Botschaftshotel gezeigt. Hast nichts vor? Begleite mich! Ich bin im Begriff, nach Hause zu fahren und mit Freunden zu diniren. Du wirst gut speisen und charmante Leute kennen lernen. Einverstanden?“

Siegmund überlegte. Der erste Impuls, sich über den Zweck seines Hierseins zu äußern, ward durch die instinctive Unlust zurückgedrängt, mit Einem, der ihn kannte, von seinen ihm selbst so wenig klaren Privatangelegenheiten zu sprechen. Jedenfalls wollte er das erst noch bedenken. Da erwachte ihm ein plötzliches Besinnen, das nur durch die Schärfe- der erfahrenen Eindrücke zurückgedrängt worden: der letzte Brief seiner Mutter hatte ihn angewiesen, seine Antwort an sie Paris, poste restante zu richten. Das hob jede Schwierigkeit. Nachdem ihm nicht geglückt war, ihre Adresse sofort zu erfahren, war es das Einfachste, ihr die seinige durch zwei Zeilen zugehen zu lassen. Der Wunsch, zu überraschen, lag ohnedies schon hinter ihm.

„Nun, Zauderer?“ mahnte der Andere. „Hast Du keine Lust, oder sonst etwas in petto?“

„Nichts! Nur müßte ich zuvor auf der Centralpost ein Wort abgeben.“

„Ich bringe Dich zum Bureau! En avant!“

Siegmund stieg ein. Es war ihm nicht unwillkommen, die für heute unvermeidlichen Wartestunden auszufüllen, und als er dem Vorschlage des Cameraden zustimmte, nahm er sich vor, sich aller fruchtlosen Grübeleien so gut wie möglich zu entschlagen. Sein Gefährte war wie geschaffen dazu, ihm dies zu erleichtern; sein rascher, sprühender Geist rührte an hunderterlei Interessantes, dessen Stoff bald der Vergangenheit, bald der Gegenwart angehörte. In seiner echt süddeutschen Freude am „alten bekannten Gesicht“ ließ er Siegmund nicht mehr los. Nachdem dieser auf dem Postbureau zwei Zeilen geschrieben und zurückgelassen hatte, mußte er ihm nach dem Quai d’Orsay folgen, sich das reizend kokette Hotel der Botschaft zeigen lasten und in Horn’s nahe gelegener Wohnung mit ihm die Herren erwarten, welche ihn dort, nach Abrede, abzuholen kamen.

Bald fanden sich zwei Attachés der österreichischen Gesandtschaft und ein Officier der Garde du Corps ein; die jungen Leute fuhren nun nach dem Rocher de Cancale, um dort zu diniren. Es war zwischen sechs und sieben Uhr, die Sonne im Untergehen, alles Glänzende, Verführerische, Reizende der Straßen und Plätze von goldener Helligkeit überflutet, jede Thurmspitze erglühend. Lebhaft angeregt durch Alles, was er sah, gab sich Siegmund wirklich, wie er sich vorgenommen, ganz der Stunde hin. Sein feiner, energischer Geist erfaßte im Fluge jedes Thema, das während der Stunden des ziemlich verlängerten Diners berührt wurde, und die Courtoisie, mit der er von seinen Landsleuten und dem französischen Officier aufgenommen worden, nachdem ihn Lieutenant Horn in auszeichnender Weise vorgestellt, nahm den Ausdruck unverhohlenen Interesses an. Die Herren wetteiferten in Anerbietungen, ihn mit Paris, dem Pariser Leben bekannt zu machen. Es gab schließlich kaum ein allgemeines Thema, das unberührt geblieben wäre, und der wechselnde Gebrauch deutscher und französischer Sprache, wie er in Anwesenheit eines Franzosen nicht ausbleiben konnte, gab der Conversation noch mehr Pikantes. Geist und Sitten der Nationen kamen zur Sprache. Obgleich Siegmund sich mit der taktvollen Zurückhaltung eines hier Fremden äußerte und seine Bemerkungen meist als Fragen formulirte, ward seine Auffassung der Pariser Sitten, wie sie sich unter dem Kaiserreiche gerade in den Sechsziger Jahren gestaltet hatten, von dem französischen Officier lebhaft bekämpft. Dieser behauptete, daß die Sittlichkeit in allen großen Städten Europas so ziemlich auf gleichem Niveau stünde.

„Paris hat nur mehr Accent als Ihre deutschen Großstädte,“ schloß er; „deshalb drücken sich seine Humore lebhafter aus – im Uebrigen können Sie eben so gut vom Winde verlangen, daß er sich nicht rege, als Unverdorbenheit von einer Weltstadt.“

„Ich selbst bin ein Kleinstädter und spreche aus keiner Erfahrung,“ erwiderte Siegmund. „Doch interessire ich mich für alle Erscheinungen des modernen Culturlebens; gestatten Sie mir eine Frage: galt, was Sie eben sagten, den Individuen oder der Gesammtheit? In letzterem Falle glaube ich nicht, daß Sie Recht behalten. Ihr Land war mir von je besonders interessant; ich wünschte längst, hoffte bestimmt Paris zu besuchen, und las, erfuhr Manches über Pariser Leben. Davon blieb mir aber ein bestimmter Eindruck zurück: mir scheint, daß hier fatalistische Zerstörungen keimen, die bei uns ihres Gleichen nicht haben und in ihren Folgen verhängnißvoll werden müssen.“

„Zum Beispiel?“ fragte der Officier.

„Zum Beispiel das verderblichste aller Systeme, das Spionensystem oder auch die Masse von Spielhöllen, welche neuerdings hier wie Pilze aufschießen sollen.“

„Bah,“ warf der Officier ein – „dieses Wort, deutsch gesprochen, klingt schwarzroth wie die Hölle selbst und bezeichnet schließlich doch nur einen Zeitvertreib, den Viele sich erlauben können, ohne Schaden an Leib und Seele zu nehmen, gegen das Ihre Homburger und Wiesbadener öffentlichen Banken weit schwerer in das Gewicht fallen.“

„Darum eben werden sie aufgehoben – Sie hörten sicher, daß sich dieses vorbereitet –“

Soit! nun fragt es sich, was verdammen Sie so energisch? Wer diese Sitten haßt, kann durch Fernbleiben persönliche Censur dagegen üben. Spielhöllen! Was nennen Sie so? Man geht in diese Häuser, um überhaupt auszugehen, um hier und da ein ernsthaftes Spiel zu machen, ohne daß unsere Vorgesetzten uns im Club zuschauen. Mon Dieu! Diese Salons gehören oft Leuten aus ganz guten Familien, mit denen Jeder umgeht, so lange kein öffentlicher Eclat stattgefunden.“

„Und wenn nun ein solcher Eclat entsteht?“

Der Officier zuckte die Achseln.

„Dann verschwindet Monsieur oder Madame, um anderwärts wieder aufzutauchen.“

„Mir unbegreiflich, wie man sich entschließen mag, den Fuß über die Schwelle solcher. Leute zu setzen, die von der Infamie leben,“ warf Siegmund lebhaft ein.

„Wirklich, Herr Lieutenant, Sie sind zu rigorös,“ bemerkte einer der Attaches.

„Sie sollten sich das in der Nähe ansehen,“ meinte der französische Officier; „nur um Ihrer Strenge die Spitze abzubrechen. Ein Vorschlag, Messieurs! Wie war’ es, wenn wir nach dem Theater einen Abstecher zur Place Royale machte? Es handelt sich um einen Salon des eben besprochenen Schlages,“ wandte er sich zu Siegmund, „einen Salon, dem ein vollendeter Weltmann präsidirt und wo eine süperbe Frau die Honneurs macht.“

„Eine Dame?“ fragte Siegmund wegwerfend.

„Nur die Dame des Hauses. Eine Französin, der man aber einen Beinamen gegeben hat, welcher aus einer Ihrer Opern stammt. Wir nennen sie die Königin der Nacht. Nun, stimmen Sie zu? Man muß die Gelegenheit wahrnehmen, seine Vorurteile abzulegen“

„Von Vorurtheilen kann hier keine Rede sein,“ antwortete Siegmund etwas trocken; „mir sind dergleichen Existenzen in der Seele zuwider, was aber kein Grund ist, die Herren in Ihrem Programm zu stören. Ich bin für heute ganz der Ihre und schließe mich jeder Excursion an, welche Sie belieben.“

„Bravo!“ rief Horn. „Wir nehmen Dich beim Wort.“




31.

Als die jungen Leute das Theater verließen und einen der dort stationirten Wagen anriefen, um nach der Place Royale zu fahren, war es einhalbzwölf Uhr. Waren auch die glänzenden [719] Magazine nun geschlossen, so blieb doch Parts durch seine zahllosen Gasflammen auch jetzt noch mit einem Gefunkel übersäet, das Siegmund’s ungewohntem Auge märchenhaft erschien. Seine Lebensgeister waren hochgespannt; das Interesse an all dem Neuen, das ihm bei jedem Aufblick entgegensprang, wuchs, je mehr er davon genoß, und neugierig sah er der letzten Scenerie entgegen, die sich ihm als Schlußtableau dieses bilder- und gestaltenreichen Abends aufthun, seine noch so beschränkte Weltkenntniß nach einer fremden Sphäre hin erweitern sollte.

Der Wagen hielt vor einem Gitter, das einen nur schwach erleuchteten, mit Bäumen besetzten Hof oder Vorgarten abzugrenzen schien; das Thor war unverschlossen. Als sie ausgestiegen und das innere Terrain betraten, vernahm Siegmund das gleichmäßige Plätschern eines Springbrunnens, das etwas so Einschläferndes hat, wenn man das Wasser nicht sieht.

Alles, was seinem Auge begegnete, widersprach den Schilderungen, die er von ähnlichen Etablissements kannte. Ein altes Haus, zwischen Hof und Garten gelegen, von stillem, vornehmem Eindrucke, alle Fenster der Parterreräume, einzelne der Beletage mild erleuchtet. Keine Blumen, nur eine dunkle Pflanzenpyramide in der weiten Halle, die als Entreé diente. Dort nahm ein Diener ohne Livree, mit grauem Haar, den Herren die Ueberzieher ab und öffnete, nach einem schnell recognoscirenden Blicke, ohne sie zu melden, die Thür zu einem langen Saal ebener Erde. Siegmund’s Falkenblick überflog neugierig den mit kostbarer, fast strenger Eleganz ausgeschmückten Raum. Tiefdunkles Getäfel mit Einfassungen von Silber, einige hohe Spiegel in gleichfalls silbernen Renaissancerahmen, mehrere alte Oelgemälde, ein prachtvoller Kamin von weißem Marmor, das Ameublement von Palisanderholz mit silbernen Inkrustationen. Kein Gas, nur Wachskerzen in großer Fülle an den Wänden, auf den Tischen vertheilt. Dunkle Sammetvorhänge mit silbernen Fransen besetzt verhüllten die Fenster und teilten den Saal von anstoßenden Räumen ab.

Eine halbrunde Ottomane, von Plauderern besetzt, ein runder Tisch davor, der einige Karaffen mit Wein trug, füllte die Ecke links am Eingange, während im tieferen Theile des Saales eine Anzahl von Spieltischen vertheilt war, die, alle besetzt, zum Theil von Zuschauern oder Wettenden zwei- und dreifach umringt wurden. Die Unterhaltung war keineswegs laut, schien aber animirt; Niemand nahm von den den Eintretenden Notiz.

Voilà le Chevalier“ sagte der Officier vom Garde du Corps zu Siegmund, indem er mit den Wimpern einen eleganten, nicht mehr jungen Mann bezeichnete, der, die Karten in der Hand, mit dem Rücken gegen die Thür, an einem der Ecarté-Tische saß. „Er ist beschäftigt; wir wollen ihn nicht stören, sondern uns lieber gleich in den kleinen Salon begeben, damit ich Sie der Dame des Hauses vorstelle.“

„Ist das notwendig? Sonst lassen Sie mich lieber hier!“

„Unerläßlich,“ winkte der Franzose und bewegte sich vorwärts. Die Anderen folgten. Siegmund’s aufmerksame Augen erblickten, nachdem sich die Portieren geteilt, einen mäßig großen Salon, dessen anmutige Ausstattung den Eindruck gewählten Comforts machte.

Ganz in der Tiefe des Zimmers war eine Reihe von bequemen Fauteuils um einen großen Tisch gruppirt, momentan aber nicht besetzt. Die acht oder zehn Herren, welche sich in diesem Salon aufhielten, umgaben eine in der Nische eines Bogenfensters stehende Dame, welche durch das Gespräch ebenso in Anspruch genommen schien, wie es der Chevalier durch das Spiel war. Sie bemerkte die Eintretenden nicht sogleich. Als es geschah, waren dieselben bereits näher getreten. Die Gruppe, welche die Hausfrau umgab, teilte sich nun, eine hohe, in dunkle Seide gekleidete Frauengestalt trat einen Schritt vorwärts; sie blieb mitten in der Bewegung plötzlich stehen, wie eine schreitende Statue. Ihre großen dunklen Augen hafteten starr auf Siegmund – Mutter und Sohn standen sich gegenüber.

(Fortsetzung folgt.)




Heimstätten deutscher Rheinweine.

Von Ferdinand Hey'l.

„Dort weht ein Odem lebensprühend,
Dort tönen Lieder jugendglühend,
Und Weinesdüfte wonnig quellen
Weit auf des schönsten Stromes Wellen.
Wie Stern an Stern, so reiht sich dort
In Hügelketten Ort an Ort,
An jedem Ort ein neuer Wein,
Hier goldig, dort im Purpurschein
Man wandert aus; man wandert ein –
Man glaubt im Himmel gar zu sein.“

O. Roquette.


Ist das ein „seliges Wandern“ in diesem weinseligen Herbste durch die Dörfer und Städtchen des Rheingaues! Fröhliche Menschen allerwegen! Denn endlich hält Gott Bacchus wieder Einzug an den Stromufern; endlich lohnt der Erntesegen die saure Mühe, den Schweiß des Winzers. Der grüne Strauß, der Tannenbaum – diese unfehlbaren Zeichen, daß der „Neue“ schon im Faß, daß der „Federweiße“ schon genießbar – grüßen von den Häusern und ein fröhlich Leben ist eingezogen in jenen Orten, wo in den letzten Jahren manchen Herbst hindurch und trotz des sprüchwörtlichen rheinischen Humors nur ernste Mienen den Wanderer willkommen hießen. Nun aber, wie Simrock singt.

„Hörst du die Glocken tönen!
Stets wechselt Ton mit Ton um.
Bonum vinum! Bonum vinum!

Aller Wohlstand des Winzers, wie seine Hoffnungen und Befürchtungen beruhen auf dem Ergebniß der Lese. Er bemißt Alles nach dem Quantum Wein, „das er macht“! Und wehe, wenn die Glocken Herbst für Herbst in’s Land hinaus läuten: „Bämpelwein! Bämpelwein!“ In diesem Herbste aber ist der Rheingauer zurückhaltend mit der „Traube der Freundschaft“ – mit den Sendungen an Vettern und Freunde, wie das zur Zeit der Lese sonst wohl üblich. Er kauft diesen Bedarf lieber drüben – über’m Rhein, aber von dem Edelgute aus seinem Wingert „wird Nichts gereicht“. Gern zahlt er besonders dafür, daß ihm die Leseweiber und Wingerknechte nur ja nicht das köstliche Gut verkosten. Jeder „Berkel“ in erster Lage wird sorgsam behütet.

Wie schwer die Arbeit, wie mühsam das Bestellen der Wingerte mit den segenspendenden Rebstöcken, haben wir den Lesern der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1867) schon vorgeführt

Heute mag uns eine weinfröhliche Stimmung durch eine Anzahl der Hauptstätten des deutschen Weinbaues am Mittelrhein führen! Unbestritten gedeiht der edelste Wein der Welt an jenem sanft emporstrebenden Hügelgelände des Rheingaues; welches sich an die waldumsäumten Höhenzüge des Rheinkamms anlehnt, hinabsteigend bis dicht an die Stromufer, bis dicht an das vielbesungene „Silberband“ des alten Rheins.

Da klingt jeder Name schon weinselig und weinfröhlich – und hier auch ist die Hochschule des deutschen Weinbaues. Nur in einzelnen Strichen und Lagen der Pfalz und bei Würzburg gedeihen dank der Sorgsamkeit der dortigen Weinindustriellen, ähnliche Tropfen – immerhin aber nicht erreichend, was Nauenthal, Johannisberg, Rüdesheim, Steinberg uns wein- und feinduftig bieten. Diese vier Weinorte sind es auch, die mit dem Marcobrunner, Hochheimer und Gräfenberger den ersten Rang beanspruchen, während der rothe Aßmannshäuser alle anderen Rotweine des Rheins um ein Bedeutendes im Werte überragt.

Da liegt hoch droben auf einem etwa fünfundsechszig Morgen umfassenden Berghügel der vielbesungene Johannisberg, das Besitztum der fürstlich Metternich’schen Familie seit 1818, ehedem Benedictiner-Abtei, dann Eigentum des Herzogs von Valmy, des Marschalls Kellermann bis 1814. Den Mönchen danken wir die Urbarmachung des Geländes, und mehr als das – auch die Pflege und Veredelung des Gewächses.

Nur etwa dreißig Stück Wein – der rheinische Weinbauer rechnet immer noch nach Stück – erzielt der Johannisberg durchschnittlich im Jahr, während in seiner Umgebung in Dorf und Klaus (Klus) Johannisberg fast ebenso bevorzugte Edelsorten reifen, wie auf dem eigentlichen Terrain „Schloß Johannisberg“.

„Johannisberg, wie jauchzt mein Herz dir zu!
Wohl zeugst von alter, gold’ner Zeit auch du,
Du, den der Sündfluth Grimm einst übrig ließ,
Der Hügel einen aus dem Paradies.“

[720]

Heimstätten deutscher Rheinweine. 0 Originalzeichnung von Ferdinand Lindner.
1. Johannisberg. – 2. Steinberg. – 3. Rüdesheim. – 4. Rauenthal. – 5. Liebfrauenkirche bei Worms. – 6. Hochheim. – 7. Ingelheim. – 8. Aßmannshausen. – 9. Hattenheim. – 10. Geisenheim. – 11. Marcobrunn. – 12. Scharlachberg.

[721] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [722] So singt Gustav Pfarrius. – Nicht die gesammte Fruchtbarkeit des Johannisbergs kommt in den Handel. Indeß wird immerhin noch ein gut Theil trefflichen Stoffes der öffentlichen Auction – wie dies rheinische Sitte ist – ausgesetzt. So gelangt der Johannisberger auch an minder hohe Sterbliche, wenn sie nur des edlen Metalles genug besitzen, um den Edeltrank damit aufwägen zu können – denn er bietet sich dem Trinker nicht um „schnödes Kupfer“. Mit Gold will er heute aufgewogen sein. –

Nicht allzu fern von diesem hochgerühmten Weingarten wächst der Steinberger auf einem Flächenraum von etwa achtzig Morgen in nächster Nähe der bekannten Weinorte Hallgarten und Hattenheim, kaum eine Stunde vom Rhein entfernt. Auch diesen Rebberg rodeten geistliche Herren – die Mönche vom Kloster Eberbach – an, und schon seit siebenhundert Jahren half der Steinberg den Ruhm des Rheingaues verbreiten. Leiteten doch von hier aus die frommen Herren des Klosters ihren ausgedehnten Weinhandel, der später seinen Hauptstapelplatz in Bacharach zur Verladung rheinab fand. Bis heute hat sich das Lob der frommen Mönche erhalten Vielbesungen und vielbeneidet waren die feinen Zungen ihrer weinkundigen Kellermeister, deren Stopfenzieher stets ebenso bereit waren wie ihre geistlichen Breviere. Auch der Steinberg verdankt seinen bedeutenden Ruf der trefflichen Behandlung und Bewirthschaftung, welche er von jeher bis auf unsere Tage erfahren, und unter nassauischer wie preußischer Domainenverwaltung ist sein Werth und sein Name nur gesteigert und gefordert worden. Die Ergebnisse der einzelnen Abtheilungen: des Rosengartens, des goldenen Bechers, des Plänzers und Zehnthäuschens – wie diese Abtheilungen des ummauerten Steinberges heißen – lagerten und lagern schon seit Jahrhunderten in den „heiligen Hallen des Rheinweines“, in den Kellern des Klosters Eberbach, welche wir unseren Lesern ebenfalls in der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1868, S. 276 und 1871, Nr. 45) schon geschildert haben. Hier ist das berühmte „Cabinet“ – und daher der Name „Cabinetswein“ – vielleicht auch weil die ausgesuchtesten Weine an Cabinete versendet wurden.

„Seht, im Herzogsglanz
Rückt der vom Steinberg an, bewußt, bedächtig.
Den Helm umblüht ein stolzer Siegeskranz:
Sein Wesen ist wie eines Fürsten prächtig.“

Den beiden Vorgenannten gesellt sich im Rufe als würdiger Genosse der Rauenthaler, ein kräftiger, kerniger Bursche, der sich eines hervorragenden Bouquets, einer absonderlich feinen Blume rühmen darf. Auf den Höhen des vielbesuchten Winzerdörfchens Rauenthal, und hauptsächlich nur in Berglage, geschützt vor rauhen Winden und ebenfalls kaum ein Stündchen vom Rhein entfernt, „kommt er zur Welt, auf sonnigem Stein“. In mancher Ausstellung, in manchem Wettkampf hat er im Verein mit dem Steinberger schon über den Johannisberger gesiegt, und ein unbestrittenes Verdienst des Procurators A. Wilhelmi (Vater des weithin bekannten Violinvirtuosen August Wilhelmi) ist es, diesen Edelwein zu erneutem Rufe und Glanze geführt zu haben.

Alle diese Edelsorten, wie auch die nächst denen zu nennenden entstammen der Rieslingtraube, die an feinem Arom von keiner andern Rebgattung übertroffen wird. Aber gerade ihre edle Natur bedarf der größten Sonnenwärme, um zur vollständigen Reife zu gelangen. Dies ist auch die Ursache, weshalb mancher Mittelwein in einzelnen Jahren an anderen Orten leidlich reifen kann, während die Edelgewächse des Rheingaues bei ungünstigen Bedingungen die Erwartungen oft genug täuschen, indem sie den Zustand der eigentlichen Edelfäule nicht immer erreichen. „Edelfäule“! Ein wunderliches Wort für den Laien. Und doch so wesentlich für den Weinbauer.

Als im Jahre 1811 die Lesezeit bereits unbenutzt vorüber – ob in Folge der Invasion oder, wie Andere wollen, durch einen Rechtsstreit um den Zehnten veranlaßt – als Frost und Schnee die Beeren bereits in hohem Grade angegriffen, wollte man auf die Lese in der Gemarkung Johannisberg ganz verzichten. Man las dennoch – und der Lohn war eine Crescenz, die bis dahin nicht erreicht war.

Der Frost hatte die wässerigen Theile der Beeren ausgeschieden; Zuckerstoff und Alkohol blieben zurück. Seit jener Zeit erwartet man in den besten Lagen den Eintritt dieser „Fäule“ und läßt dann den Berg mit Stäbchen, Traube für Traube „aus- und ablesen“, sodaß nur die reifsten Beeren zuerst in kleinen Schalen gesammelt und für sich gekeltert werden, ehe die ganze Traube dem Schnitte der Winzer fällt. Daher die Bezeichnung „Auslese-Wein“, d. h. nicht Wein aus ausgelesenen Trauben, sondern aus ausgelesenen Beeren. Mancher Winzer macht sogar eine erste, zweite und dritte Auslese, ehe er den Rest der Trauben der Kelter überantwortet. Solche Weine können nicht billig sein.

Begünstigt aber ein glückliches Sommerwetter die Reife, dann ist jahrelanger Schaden durch Mißwachs mit einem Schlage gebessert und hoch steigen die Preise der Ausleseweine. Nur trage sich der Wanderer am Rhein nicht mehr mit dem kühnen Gedanken daß ihm mit jedem Glase Rheinweines einer Heckenwirthschaft ein solches Tröpfchen credenzt werde! Diese Weine haben auch am Rhein jeder Zeit einen hohen Preis.

Vielleicht der älteste, nach seinem Umfange jedenfalls der bedeutendste Weinort des Rheingaues ist Rüdesheim, jenes Städtchen, welches auf quarzhaltigem Thonschieferboden einen kräftigen Feuerwein hervorbringt. Hochan streben die Terrassen des Rüdesheimer Berges, gestützt durch Mauerwerk, ausgenutzt bis in das kleinste Winkelchen; nunmehr ist der Berg auch gekrönt durch das Nationaldenkmal, errichtet zur Erinnerung an die Wiedervereinigung aller deutschen Stämme, umduftet in der Frühsommerzeit von der edelsten Rebblüthe des Rheins.

Dem Rüdesheimer Berge gleichwertig und an ihn örtlich grenzend sind die Auslesen des Bischofsberges, der sogenannte Hinterhäuser und Rottläder.

Der nächste Verwandte des Rüdesheimer Goldtrankes ist der Geisenheimer, der mit seinen bevorzugten Lagen: Kosakenberg, Rothenberg, Moosberg und – Katzenloch, bis an die Gemarkungen Rüdesheims heranreicht und, wie dieser, auf keiner besseren Weinkarte fehlen darf. Etwas milder und doch ein feuriger Rheinwein, zählt er zu den gelobtesten der Rheingauer Edelsorten und hat sich – dank der Fürsorge der seit Jahrzehnten dort heimischen Weinfirmen – den Ruf großer Reinheit und vorzüglicher Behandlung erworben. Lieblich muthet der saubere Ort mit seinen rothen Sandsteinthürmen, weithin leuchtend in dem Panorama des eigentlichen Rheingaues, den Wanderer an.

Da liegt dicht an der Landstraße unfern des Rheines, zwischen Hattenheim und Erbach, der Marcobrunn, eine Weinlage, die indessen nur geringen Flächenraum beherrscht. Marcobrunn! Nach früherer Auslegung war dieser Brunnen dem heiligen Marcus geweiht, sicherer ist die Herleitung von Marktbrunnen oder Brunnen an der Gemarkungsgrenze; denn er liegt auf der Scheide zwischen Erbach und Hattenheim. Und als eines Tages die Erbacher einen Grenzpfahl an dem klaren Brünnlein aufrichteten mit der Inschrift: „Marcobrunn Gemeinde Erbach,“ antworteten die Hattenheimer auf ihrer Seite mit dem öffentlichen Anschlag:

„So ist es recht, und so muß es sein:
Für Erbach das Wasser, für Hattenheim den Wein!“

Ernst entbrannte die Fehde nicht; denn beide Ortschaften reichen sich über der Höhe des Strahlenberges (so heißt der eigentliche Weinberg von Marcobrunn) die nachbarlichen Hände, zufrieden, daß Jeder sich eines hervorragenden Edelweines rühmen kann. Das Eisenbahngleis hat den Berg mitten durchschnitten – leider! denn es ist schade um jeden Zoll Erde, der hier dem Schienenweg gewichen. Der Rheinreisende eilt im Fluge mitten durch die hochgelobte Pflanzung, nur zur Zeit der Rebenblüthe daran erinnert, daß hier wohl „Außergewöhnliches“ sich zur Reife vorbereitet.

„Es heißt, zu Marcobrunn ist er geboren,
Ein Minnesänger, recht ein Hochhinaus,
Er scheint verliebt dazu bis an die Ohren.“

Das Winzerdörflein Hattenheim nannten wir schon. Es herbergt jetzt das „große Faß von Hattenheim“, ein Gebinde, das volle 84,000 Flaschen hält. War das eine fröhliche Taufe, als die Theilnehmer des in Wiesbaden tagenden Journalistentages, zufällig unter der officiellen Führung des Verfassers, dem Kindlein die erste Weihe angedeihen ließen! War das ein weinseliger Tag – eine Tafelrunde kundiger Ritter und Knappen, die sich dort im Hause des schon oben genannten Großproducenten, des Procurators Aug. Wilhelmi trafen, um durchzukosten, was der Rheingau in seiner besten Laune zu spenden vermag! Und als H. Dickmann (Franz Othen) im geheimnißreichen, magisch beleuchteten Riesenkeller, vor dem Weinkoloß den Weihespruch gethan und [[Emil Rittershaus]] das Wort ergriff, wie klangen da die Gläser, die rheinischen Lieder, die Hochrufe hinauf und hinaus zum Lobe des Hattenheimers und seines Spenders! Gar Manchem stieg da erst [723] ein richtig Bild herauf von jenen Schätzen des Rheines; die nicht gleich dem Nibelungenhort auf dem Grunde des Stromes, sondern auf dem Grunde der rheinischen Keller lagern.

Trefflich improvisiere Freund Rittershaus unter Anderem:

„Ich sag: Gott segne dich, du alter,
Du edler, dunkler, goldner Saft!
Du bist der Schöpfer und Erhalter
Der echten rechten Lebenskraft.
Auch dich, du junger Wein, ich grüße,
Ich schlürfe dich – mir ist’s fürwahr,
Als hättest du geborgt die Süße
Von einem ros’gen Lippenpaar.“

und wohl darf man behaupten, daß kaum anderwärts, nicht nur die Weine so mannigfaltig sich zur Probe bieten wie hier beim Faß zu Hattenheim, im Etablissement Wilhelmi’s, sondern daß auch selten die zur Weinkelterung und Behandlung erforderlichen Räume, wie Brühraum, Kelterhaus, Gährkeller, Lagerkeller etc., sich so belehrend für den Laien in ihrer Einrichtung erweisen wie hier. Möge der Wanderer sich den Besuch des ehemaliger Schlacht- und Siegesfeldes der deutschen Journalisten nicht versagen, wenn ihn der Weg am Dörflein Hattenheim vorbeiführt; die Pforte wird mit rheinischer Gastlichkeit gern aufgethan.

Mit den bisher genannten Edelsorten ist die Karte des Rheingaus noch nicht erschöpft; denn der Gräfenberger, der Neroberger, der Winkler Hasensprung, wie der Schiersteiner Hellenberg, der Vollradsberg, die Hallgarter, Kindricher, Erbacher, Mittelheimer, Oestricher und Wallufer, Eibinger und sogar weit drunten die Lorcher Bodenthaler sind guten und besten Klanges, ist doch der ganze Strich des rechten Rheinufers, von Biebrich bis hinab zur ehemaligen und eigentlichen Grenze des mittelalterlichen Rheingaus bei Lorch, ein großer Weinberg.

Eigentlich gehören zu den Rheingauer weißen Weinen noch der Hochheimer und der Scharlachberger, der erstere ein Mainwein, der zweite ein Nahewein. Sie sind aber beide so verwandt mit den früher genannten Weinen, daß unser Künstler ihre Heimstätten mit Recht dem Rahmen seines Bildes einreihte.

Wie zwei stattliche Vorposten schiebt das Rheingau oberhalb und unterhalb die genannten Rebberge vor. Der Hochheimer ist ein voller dunkelgelber Herr, dessen Edelgewächs (der Dom-Dechant, unterhalb und seitwärts der Ortskirche wachsend) an Kraft mit allen anderen Rheingauer Weinen wetteifert.

Der Hochheimer ist der Bahnbrecher für die Weine des Rheingaus in England geworden. Durch seinen kräftigen Gehalt erwarb er sich dort, wo Klima und Lebensweise derartige Getränke erheischen, zumeist seinen verdienten Ruf. Nach ihm nennt der Engländer jeden Rheinwein Hock. „Good hock keeps off the Doctor. Guter Rheinwein spart den Arzt.“

Hoch über Bingen seitwärts des vielbekannten, durch Goethe verewigten Rochusberges, am rechten Ufer der Nahe, am linken des Rheines erhebt sich der Scharlachberg, eine alte Römerbrücke überragend, durch welche die Nahe ihrer Mündung in den Rhein zueilt. Kobell singt in seinem „Lob von Binge“:

„Die herrlischt Gegend am ganze Rhei’,
Des is die Gegend vun Binge’;
Es wächst der allerbeschte Wei’,
Der Scharlach wächst bei Binge’!“

Und nicht übertrieben ist dieses Lob des Scharlachbergers, obgleich derselbe jeder Kehle und Zunge nicht so „süffig“ erscheinen mag wie die eigentlichen Rheingauer Gewächse. Edelwein ist auch er, und wie in allen Dingen ist über Geschmacksachen schwer zu streiten. Aber nirgends tritt der Unterschied für eine feine Weinzunge so hervor, wie hier; denn bei allem Feuer hat der Scharlachberger in Folge des wesentlich verschiedenen Bodens, auf dem er wächst, eine wenn auch schwache Erinnerung an Erdgeschmack, wie dieser den Naheweinen eigen ist.

Weitab von diesen Weingärten allen liegt ein Kirchlein oben am Rhein, das seinen Namen einer Weinsorte verliehen, der gleich dem Weine poetisch anmuthet: die Liebfrauenkirche bei Worms, deren Umgebung die „Liebfrauenmilch“ erzeugt. Freilich ist’s nur ein Stück Landes von wenigen Morgen, wo alle die Liebfrauenmilch wachsen soll, die uns der Handel als solche bietet.

Nahebei liegt der gelobte Kapuzinergarten, begrenzt von einem weiteren Terrain von etwa zehn Morgen Weingelände, dessen Crescenzen mit noch einer großen Menge anderer hessischer Weine ersten Ranges als Liebfrauenmilch verkauft werden. Indessen Schlechtes stiehlt sich nicht unter diese Firma, und so mag diese oft umgetaufte Milch auch weiter ihre Bewunderer erfreuen, wenn sie nur nicht „sauer“ auf den Markt und auf die Zunge kommt.

Aßmannshausen! Dies durch seine Weine und durch Freiligrath für alle Zeiten denkwürdige Dörflein grüßt uns dicht am Rheinufer, unten am Fuße des Niederwaldes, und ladet zur traulichen, lauschigen Ruhe ein.

„Zu Aßmannshausen in der Kron,
Wo mancher Durst’ge schon gezecht“ –

sang Freiligrath, und ach! nach ihm, was haben da so viele Tausende dem Rauschen der Wellen im Bingerloch gelauscht und im Genusse des milden und doch feurigen Rebensaftes sich echt rheinisch – berauscht! Unstreitig der beste rheinische Rothwein von mildem Mandelgeschmack, gedeihend auf den südlichen Abhängen der Aßmannshäuser Schlucht, wird er aus blauen sogenannten Burgundertrauben gekeltert und darf die Auszeichnung in Anspruch nehmen, daß er in seiner Eigenartigkeit nirgends auch nur einen ähnlichen Mitbewerber findet. Kein Dorf am Rhein ist poetischer gelegen; kein Wein am Rhein entspricht der Stimmung des Poeten mehr – und deshalb darf das Dörflein sich auch rühmen, schon oft das Ziel deutscher Sänger geworden zu sein.

„Das war zu Aßmannshausen
Wohl an dem grünen Rhein.
Da zog ich frisch und wohlgemuth
Zum alten Thor hinein.
Zu Aßmannshausen wächst ein Wein,
Ich mein’, das müßt’ der beste sein,
Der Aßmannshäuser Wein.“

Drüben – gegenüber dem Rheingau – auf linkem und hessischem Ufer des Rheines, wächst noch ein rother „Freudenbringer“ guten Rufes, der Ingelheimer, zwischen und bei den Ortschaften Ober- und Nieder-Ingelheim. Er ist leichter als der Aßmannshäuser, mild und feurig und durch seine Würze sehr beliebt. Als Zweiter im Range, repränsentirt er würdig die rothen Hochgewächse des Rheines, wird aber jetzt viel zur rheinischen und selbst französischen Schaumweinfabrikation verwendet.

Ingelheim ist der Ort, wo nach der Sage Kaiser Karl der Große von seinem Palaste aus, dessen sparsame Reste sich noch alldorten finden, den Schnee auf den gegenüberliegenden rheinischen Bergen so frühzeitig – namentlich drüben bei Rüdesheim – schmelzen sah, daß er sich hierdurch veranlaßt fand, den Weinbau daselbst einzuführen, indem er Orleans-Trauben aus Frankreich zur Anrodung des Rüdesheimer Berges kommen ließ. Ist auch diese Sage längst widerlegst so mag Geibel’s treffliches Poem uns doch den „hohen Schatten“ herbeizaubern, „der an den Hügeln wandelt, mit Schwert und Purpurmantel, die Krone von Golde schwer“.

Und mit Geibel schließen wir diese weinselige Rundschau in unseren Heimstätten des Rheinweins, erfreut, daß endlich wieder ein günstiges Jahr uns gestattet:

„Zu füllen die Rheinwein-Römer,
Zu trinken im goldenen Saft
Uns deutsches Heldenfeuer
und deutsche Heldenkraft.“




Blätter und Blüthen.

Alle deutschen Männer an die Wahlurne! Die deutsche Nation steht am Vorabende zur Wahl der neuen Abgeordneten zum Reichstage. Wer nicht beide Augen vor den Ereignissen auf dem Theater des öffentlichen Lebens geschlossen gehalten hat, der weiß, was bei dieser Reichstagswahl auf dem Spiele steht. Bei den bevorstehenden Wahlen wird die Entscheidungsschlacht geschlagen werden zwischen dem freien Geist eines gesunden Fortschritts, der dem deutschen Namen überall Ruhm und Achtung errungen hat, und der gleißnerischen Unterwürfigkeit rückschrittlicher Gesinnung, welche das freie Denken knechtet und in Rom ihre Stütze sucht zwischen dem Patriotismus, der nach langer Zerrissenheit Deutschland geeinigt, und den Sonderinteressen, welche sich gegen die festere Knüpfung der auf den Schlachtfeldern von 1870 errungenen Einheit feindlich aufbäumen – zwischen all Denen, die auf der ruhmreich eingeschlagenen Bahn freiheitlicher Entwickelung beharren, und Denen, welche die Rückkehr einer

[724] längst überwundenen und jedes großen, aufgeklärten Volkes unwürdigen Willkürherrschaft heraufbeschwören möchten – kurz: zwischen dem Liberalismus und der Reaction.

Wohl wissen wir, daß wir unsere Leser nicht erst davon zu überzeugen brauchen, daß das Heil Deutschlands in dem Siege der Freiheit liegt, und wenn wir trotzdem mitten in der Wahlagitation das Wort ergreifen, so geschieht es nur, um die Lässigen zur Urne zu rufen; die Kurzsichtigen dagegen auf die uns drohende Gefahr aufmerksam zu machen; es geschieht aber auch, um die lautgewordene Verleumdung Lügen zu strafen: Alles, was jetzt im deutschen Reiche schlecht und faul stehe, habe der Liberalismus verbrochen.

Wir brauchen, um diese unwürdige Beschuldigung zu widerlegen, nicht weit in unsere Geschichte zurückzugreifen: nur bis in jene Zeiten, da der sogenannte „Deutsche Bund das Volk im Innern knechtete und nach außen hin seinen politischen Einfluß schmälerte. Angesichts der geschichtlichen Thatsachen fragen wir vor allem Volk: Wer waren die Männer, die schon in jener Zeit die Nation aus schmählichem Verfall zu neuer Blüthe und Macht emporgehoben, wer waren sie, die in der langen Reihe von Jahren, in den Tagen des Sturmes und in der Zeit des Friedens für die auf Einheit begründete Machtstellung, für das volkswirthschaftliche Aufblühen, für die sittliche und geistige Bildung der Nation mutig und aufopferungsvoll eintraten?

Die Antwort daraus lautet:

Wenn wir die Namen der Männer aufführen wollten welche in dem halbhundertjährigen Kampfe für Deutschlands Erlösung aus der Bundesmisere das Lebensglück und das Leben selbst einsetzten, so müßten wir die Ehrentafel der edelsten deutschen Märtyrer aufstellen Sie, in deren Seele das Bild des alten „Reichs mit neuem Geiste lebte, hatten die große Aufgabe, das (im Anfang des Bundes) in einundvierzig souveraine Gebiete und Gebietchen geschiedene Volk für den nationalen Gedanken erst wieder empfänglich zu machen und in der deutschen Nation, die in Wissenschaft und Kunst, in Industrie und Verkehr so Großes vollbracht, endlich auch die Politik auf bessere, auf nationale Bahnen zu lenken, damit das Dichterwort sich bewahrheite:

„Daß, wenn Deutschland einig blieb,
Es einer Welt Gesetze schrieb. “

Und wer waren dagegen Diejenigen, welche sich unter der Bundesherrschaft so wohl befanden, daß sie dieselbe mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln rücksichtslosester Machtausübung aufrecht zu halten suchen?

Es gäbe ein langes Register, das uns sogar in die Gefahr eines politischen Preßprocesses bringen würde, wollten wir alle jene Namen nennen. Als kennzeichnend für sie erscheint es, daß ihre oberste Sorge in der „Conservierung“ alles dessen bestand, was ihre bevorzugte Lebensstellung sicherte. Dazu gehörten vor Allem die vielen souverainen Höfe mit dem Genuß der höchsten Stellen im Hof- und Staatsdienst und der Beeinflussung der Kirche und Schule: dazu gehörten Vorrechte und Privilegien, welche der anstürmende „Liberalismus“ zu Gunsten des Gemeinwohles des Volkes bedrohte. Darum war ihnen jeder nach Deutschlands Einheit und nach Nationalvertretung Strebende ein „Staatsverbrecher“ - und eben darum konnte es nur in Deutschland verkommen, daß die damalige Soldateska bei einem Angriff auf das Volk ausrufen durfte: „Schlagt ihn todt! Er ist ein Patriot.„[1]

Und selbst nachdem nach schweren Stürmen und Erfahrungen der Metternich’sche „Quietismus“ und die russificirte Allianzpolitik abgethan und der Paragraph 13 der Bundesacte (welcher allen Bundesstaaten landständische Verfassungen verhieß) endlich zur Wahrheit geworden war, standen sich auch hier beide alte Gegnerschaften in den Schranken der Landtage gegenüber. Sollte es schon ganz vergessen sein, wer, wie früher, so auch jetzt für die Rechte des Volkes eintrat? Wer hat den Landmann von Zehnten und Frohnden und anderen alten Lasten befreit? Die Liberalen! Wer hat das Handwerk aus dem Bann der Zunft zu erlösen gesucht? Die Liberalen! Wer hat die Arbeiter zu ihrer Aufhülfe zu Genossenschaften vereint? Die Liberalen! Wer hat den Verkehr von seinen Hemmnissen zu befreien, wer gleiches Recht für Alle zu erstreben gesucht? Die Liberalen! Wer aber waren in allen diesen Kämpfen die erbittertsten Widersacher dieser Bestrebungen? Die Conservativen! Und welche Mittel wandten sie an, um die Männer des Volkes „unschädlich“ zu machen? Wir wollen nicht bis zu Weidig und Sylvester Jordan zurückgreifen, wir wollen aber daran gemahnen, was noch gegen einen Waldeck möglich war, um dem Volke der Gegenwart anzudeuten, wo es seine Freunde zu suchen hat und wo seine alten Widersacher.

Wir sind weit davon entfernt, in den alten politischen Fehler zu verfallen, in den Gegnern unserer Ueberzeugung auch sofort Feinde des Staates zu erblicken; wir wollen gern glauben, daß jeder Verfechter seiner Ansicht es ehrlich meint, der öffentlich seine Treue zum Reich versichert. Wenn wir aber Parteien begegnen, bei deren Festlichkeiten man auf deutschem Boden das erste Hoch dem Papst ausbringt und erst das zweite dem Kaiser, so dürfen wir wohl darauf schließen, daß diesen Herren nicht „Deutschland über Alles“ geht, sondern Rom.

Und wenn wir einer anderen Partei begegnen, deren Mitglieder noch heute über die Beschränkung der Souveränität ihrer Heimathstaaten grollen und die souveräne Herrlichkeit zu Zeiten des Bundestages nicht vergessen können, so dürfen wir auf die Unerschütterlichkeit auch ihrer Reichstreue wenig bauen. Wenn wir nun aber gar vor der Gefahr stehen – und wir stehen vor solcher Gefahr – daß diese Parteien durch ihr vereintes Vorgehen im Reichstage die Macht in ihre Hand bringen könnten, um bestrittenen Gesetzen und Einrichtungen zum Siege zu verhelfen, von welchen das Schicksal von Millionen abhängt, so ist die erste Pflicht aller wahren Vaterlandsfreunde, sich gegen eine solche Gefahr zu rüsten.

Zunächst sehen wir bereits den Jesuitismus in der Politik seine giftigen Blüthen treiben: Mit unvergleichlicher Keckheit sucht man vom conservativen und ultramontanen Lager aus dem deutschen Volke den Liberalismus zu verdächtigen. Er soll der Sündenbock sein, dem die ganze dermalige bedrängte Lage zu verdanken ist. Ganz offen sprechen dies fünf Resolutionen aus, welche zu Bonn von der „achtundzwanzigsten Generalversammlung der Katholiken Deutschlands“ einstimmig gefaßt wurden; sie fordern unter Anderem „volle Liebe und Hingabe, wie ganze und unbedingte Unterwerfung unter die Autorität des apostolischen Stuhls“, baldige und vollständige Beseitigung der Maigesetze, unverkürzte Herrschaft über die Schule und Wiederherstellung der klösterlichen Genossenschaften.

Es klang wie eine Jubelouvertüre, als der siegesgewisse Führer dieser Schaar zum Schluß die Worte sprach: „Unser Programm werden wir voll und ganz aufrecht erhalten, kein Titelchen daran ändern. Denn was verlangen wir. Nur die Wiederherstellung des vorherigen Zustands. Wir wünschen, daß wir damit, wenn nicht um zwölf Uhr, so doch um ein oder zwei Uhr anfangen und zum Mindesten um sechs Uhr fertig sind. Wenn die Franzosen den Rhein haben wollen, so singen wir: ,Sie sollen ihn nicht haben.‘ Den Liberalen gegenüber, die die Schule haben, sagen wir: ‚Sie sollen sie nicht behalten!‘ Bald wird man wahrscheinlich dieses eine Frechheit nennen; ich bin so frech zu sagen, daß wir nicht ruhen wollen, bis Eltern und Kirche die Schule wieder haben.“

So sprach Windthorst, und somit stehen nun die Thore von Canossa sperrangelweit offen.

Wird Der, zu dessen Ehren das Denkmal „Nicht nach Canossa“ erhöht ist, dem „frechen“ Winke noch vor sechs Uhr folgen?

Wir stehen vor dem Manne, dessen gewaltiger Geist und unbeugsamer Wille so Außerordentliches vollbracht, daß wir stets voll Ehrfurcht und Dankbarkeit zu ihm aufschauen werden, auch wenn wir ihn auf Bahnen wandeln sehen, auf denen wir ihm nicht folgen können. Als Leiter der äußern Politik Preußens und Deutschlands wird er an Großartigkeit des von ihm Erreichten, wie an Schwergewicht des durch ihn Verhüteten wohl ohne Gleichen bleiben. Ebenso hat er in der innern Politik während der ersten Jahre seines deutschen Reichskanzlerthums Großes und Segensreiches gefördert, bis er den volkswirthschaftlichen Zankapfel auf den Reichstisch warf. Seitdem ist der kaum begrüßte Friede aus den Parteien, aus dem Hause und aus der Nation gewichen, und der Reichskanzler steht wieder, wie vor dem Krieg von 1866, auf dem Standpunkt, die Mittel zur Durchführung seiner Pläne zu nehmen, wo er sie findet. Da nichts betrübender und gefährlicher ist, als Unklarheit über das Wesen eines solchen Mannes, so greifen wir mit höchstem Interesse eine Erklärung auf, die uns für den gegenwärtigen Augenblick ganz besonders wichtig erscheint. Wir geben sie aus dem „Berliner Tageblatt“ im Auszuge hier wieder:

„Der Abgeordnete Berger (Witten),“ so heißt es dort, „ein Mann, der in volkswirthschaftlicher Hinsicht keineswegs zu den Gegnern des Reichskanzlers gezählt werden kann, in diesem Betracht also bei den Anhängern der reichskanzlerischen Politik um so mehr Glaubwürdigkeit beanspruchen dürfte, hat seinen Wählern in Dortmund dieser Tage erzählt, der Reichskanzler habe ihm privatim offen erklärt, ,was er sich wünsche, sei eine Majorität, wie sie Louis Napoleon in seinem Corps législatif gehabt‘ – – ,in constitutioneller Weise lasse sich nur regieren, wenn, wie in England, der Premierminister zugleich der Führer der Majorität des Parlamentes sei‘. Herr Berger erwiderte dem Reichskanzler darauf, ,daß der Satz umgekehrt richtig sei, daß nämlich in England der Führer des Unterhauses Ministerpräsident sei‘. In dieser verkehrten Anwendung eines an sich richtigen Princips aber liegt die Klippe, an welcher die innere Politik des Fürsten Bismarck scheitern muß. Gegen den reaktionären nackten Absolutismus sträubt sich seine Staatsklugheit und seine Verfassungstreue; mit dem liberalen Parlamentarismus, den er als consequente Entwickelung unserer verfassungsmäßigen Zustände anerkennen muß, stehen seine politischen Traditionen, seine autokratischen Neigungen und seine augenblicklichen Pläne im Widerspruch. Das von ihm erstrebte Mittelding aber, der Scheinconstitutionalismns, der Absolutismus in parlamentarischen Formen nach dem Muster des napoleonischen Corps législatif, muß, wie die Geschichte lehrt, an seiner inneren Unwahrheit zu Grunde gehen.“

Die freiheitsgefährlichen Bestrebungen Bismarck’s, das Gebahren des Centrums, die Angriffe der Ultramontanen und der officiösen Presse gegen die Parteien und die Männer, welche im schweren Dienst der Freiheit von jeher auf der Seite des Volks gestanden – all dies sollte in diesem hochwichtigen Momente die gesamten Liberalen in Deutschland zu einmütigem Handeln auffordern. Aber dennoch sehen wir in beklagenswerter Verblendung von den einzelnen Fraktionen der ehemaligen großen liberalen Partei jede für sich allein oder sogar gegen die anderen in Thätigkeit. Und doch sind die Gegensätze, welche zwischen ihnen bestehen, verschwindend klein im Vergleiche mit der Gefahr, die nicht ihnen allem, sondern auch dem so schwer errungenen höchsten politischen Gute der Nation, dem Recht und der Würde des Reichstags, droht. Das Schlimmste, das Entwürdigendste kann uns vor den Augen der Welt widerfahren. das Verfeilschen der Rechte der deutschen Nation und die Rechte des römischen Stuhls. Das sollte jeden deutschen Mann von freiem Geist und Herzen mahnen, allen kleinen und oft genug kleinlichen Hader abzuwerfen und dem übermütigsten Feind, der sich selbst seiner „Frechheit“ erfreut, gemeinsam entgegenzutreten. Können die Fractionsführer den gemeinsamen Weg nicht finden, gut, dann mögen sie wenigstens das gesammte freisinnige und vaterlandstreue Volk nach einem Ziele hinweisen, zu gemeinsamer Wahl im liberalen Sinne: mögen sie doch vor dieser großen Gefahr, in welcher die deutsche Reichsvertretung schwebt, endlich dem Heerspruch unseres großen Strategen folgen: Getrennt marschiren, aber vereint schlagen!




  1. Vergl. „Gartenlaube“, Jahrg. 1872, S. 364